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Christa Langer-Löw

Antonio Congo

Sein Weg von Afrika über Brasilien
nach Hamburg und ins Weserbergland

Roman auf der Grundlage
einer historisch wahren Geschichte

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
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© 2009 by R.G.Fischer Verlag
Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main
Alle Rechte vorbehalten
Schriftart: New Century 11°
Herstellung: SatzAtelier Cavlar / NL
ISBN 978-3-8301-1247-1

Für Rahel und

Inhalt

Februar 1820, Bahia

Hamburg

Hamburg 1842

Hameln 1843

Ottenstein 1843

Nachsatz

Glossar

Dank

Februar 1820, Bahia

Casa Mare

Im gleißenden Licht der Nachmittagssonne strahlte das Meer in der Allerheiligenbucht vor Bahia wie ein Leuchtfeuerteppich aus Milliarden funkelnder Diamanten. Weit draußen in der Bucht ankerten Handelsschiffe aus aller Welt und einige ihrer Beiboote schaukelten ohne den geringsten Hauch einer Windströmung gemächlich im Auf und Ab der kurzen Wellen am Kai. Die Fischerboote waren an Land gezogen. Der sonst so quirlige Hafen schien heute zu ruhen und auch die schmale Hafenstraße, in der sich die Handels- und Lagerhäuser vor der steil aufsteigenden Felswand dicht an dicht reihten, war menschenleer. In flirrender Hitze lag die Unterstadt Bahias genau so ausgestorben wie das Anwesen von Afonso Arrende auf einer weit in die Allerheiligenbucht ragenden Landzunge vor der Stadt.

Das große Tor an der Auffahrt zum Grundstück war fest verschlossen. Im Casa Mare, dem Herrenhaus, befanden sich außer dem Hamburger Kaufmann Carl Ferdinand Schlüter nur die Köchin Benta und die schwangere Küchenhilfe Kisa. Alle anderen Bewohner des Herrenhauses sowie der angrenzenden Sklavenhäuschen vergnügten sich heute, dem letzten Sonntag vor der Fastenzeit, beim Entrudo in der Oberstadt. Das für Schlüters Empfindungen überschwängliche Feiern mit unmäßigem Essen und Trinken an diesem Sonntag entsprach nicht seinem Naturell und somit hatte er die Einladung zum Entrudofest in Arrendes Stadthaus nicht angenommen. Außerdem war ihm sein dröhnender Kopf nach dem Fest im letzten Jahr noch in lebhafter und nicht angenehmer Erinnerung. Heute zog er es vor, den Tag mit dem Schreiben längst fälliger Briefe an seine Familie in der kühlen Halle des Hauses zu verbringen. Die meterdicken Mauern des Gebäudes ließen die Hitze draußen und weder von der Bucht noch vom Innenhof her drang ein Geräusch ins Haus. Selbst die sonst so geschwätzigen Papageien waren nach dem ersten morgendlichen Gezeter immer träger geworden und in der bleiernen Hitze des Mittags schließlich ganz verstummt.

Schlüter empfand die Ruhe als äußerst wohltuend und genoss es besonders, dass er in seinen Gedanken nicht durch Lärm oder andere Störungen unterbrochen wurde. Doch plötzlich schrillte aus dem Kellergeschoss die kreischende Stimme der Köchin Benta in die Sonntagnachmittagsstille der Halle. Bentas Schreiattacken waren für Schlüter nichts Neues und er nahm deshalb auch heute ihre gellenden Laute nicht ernst. Allerdings stellte er gleichzeitig fest, dass diese Zustände bisher niemals tagsüber vorgekommen waren, sie ereigneten sich stets nur nachts und besonders in Vollmondnächten, denn dann schienen Bentas afrikanische Dämonen und Geister ein besonders leichtes Spiel mit ihr zu haben. Der Tag sollte für Schlüter nicht so ruhig enden, wie er bisher verlaufen war.

Afonso Arrende, Eigentümer riesiger Plantagen, einer Reederei und mehrerer Häuser in Bahia, hatte Benta und Kisa vom Vorbesitzer dieses Anwesens übernommen. Die beiden Haussklavinnen bewohnten gemeinsam ein winziges Zimmerchen mit Guckloch zur Bucht im Untergeschoss zwischen Küche und Vorratskammer. Wie alle anderen Sklaven, war auch Benta gleich nach ihrer Ankunft aus Afrika hier in der Kapelle des Innenhofes vom hauseigenen Pfarrer Zephyrin getauft worden. Seit dem war sie eine fromme Katholikin und versäumte niemals auch nur eine Gebetsstunde. Sie sang inzwischen alle Kirchenlieder auswendig und mit ihrer gewaltigen Stimme übernahm sie gerne Solopartien. Es war aber auch kein Geheimnis unter den Bewohnern des Hauses, dass sie an verbotenen Treffen der Schwarzen in der Stadt teilnahm, um ihre Götter aus Afrika weiterhin zu ehren sowie die Riten und Tänze ihres Stammes zu pflegen. Und hinter der Hand wurde gemunkelt, dass sie sogar eine Filha de Santo sei. Da sie aber neben ihrer Kochkunst auch wundersame Kräfte zum Heilen unangenehmer Krankheiten besaß, wurden ihre Eigenarten und Heimlichkeiten nicht nur toleriert, sondern sie war sogar innerhalb kürzester Zeit zur Comadre und Mucama de estimação im Casa Mare aufgestiegen und ihrem Regiment unterstanden nicht nur die Küchenhilfen, sondern auch alle anderen Haussklaven. Als Comadre war sie Heilerin, Besprecherin, Beschwörerin und zugleich Hebamme. Sie stand nicht nur den schwarzen Sklavinnen beim Gebären bei, selbst die vornehmsten weißen Frauen Bahias ließen sie bei komplizierten Geburten, manche sogar vorsichtshalber bei den ersten Wehen, in ihr Haus holen. Ebenso wurden ihre besonderen Fähigkeiten bei verschiedenen Erkrankungen, die kein Medicus oder Chirurgus zu heilen verstand, hoch geschätzt.

Aristido, dem jüngsten Sohn Arrendes, plagte seit Jahren am ganzen Körper ein ständiger Juckreiz und dank Bentas Heilsalbe war diese unangenehme Hautkrankheit für ihn erträglich geworden. Benta behandelte aber auch gewöhnliche Ausschläge, Grind, eitrige Beulen oder Furunkel mit ihren Pasten, Salben und Absuden aus Blättern und Wurzeln verschiedener Pflanzen oder Kräutertees. Sie verstand Hexenschuss, Gelbsucht, Krätze, Räude, Flechten, Mundfäule, Gürtel- und Gesichtsrosen ebenso zu vertreiben wie Wund-, Fleck- und Wechselfieber, Hämorrhoiden, Bandwürmer, Spulwürmer, Läuse oder noch schlimmere Krankheiten und Parasiten, von denen Menschen geplagt werden konnten.

»Senhor Sluter, Senhor Sluter!« schrie Benta von der Kellertreppe her. Schon flog mit Wucht die Tür auf und sie stand schnaufend in der Halle. Atemlos blieb sie kurz stehen, drehte sich aber wieder um und zerrte Kisa durch die Tür.

»Senhor Sluter, er ist wieder hier, er ist wieder hier, Senhor Sluter!«

Bentas sonst goldbraune Gesichtsfarbe war anthrazitgrau verfärbt. Ihre Augen quollen aus den Höhlen heraus und rollten, ihr Atem ging schwer, der fettleibige Körper vibrierte. In einzelnen Silben stieß sie hervor »der Ex-ter-« und nachdem sie wieder Atem geschöpft hatte, »minator ist wiedergekommen!«

Schlüter verspürte allerdings keine Lust, sich Bentas Spukgeschichten anzuhören. Er wollte sie so schnell wie möglich wieder los werden.

»Benta, die Tore und Türen sind fest verschlossen, kein Fremder kann das Gelände oder das Haus betreten. Geht ruhig wieder nach unten.«

Doch Benta fiel auf ihre Knie und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Sie starrte Schlüter mit weit aufgerissenen Augen an, bis der schließlich kurz seufzte und mit gerunzelter Stirn zur Fensternische wies.

»Dann setzt euch dort auf die Bank und erzählt mir doch einmal ganz genau, wen ihr gesehen habt.«

Benta stützte langsam und umständlich beide Hände auf ihre Oberschenkel, um ihr Hinterteil vom Boden hoch zu hieven, was ihr aber nicht gelang. Schließlich half ihr Kisa auf und zog sie bis zur Bank hinter sich her.

Kisa begann zu sprechen: »Ich wollte nicht in die Räucherkammer gehen, weil …«, weiter kam sie nicht, Benta unterbrach sie harsch.

»Ja, heute musste ich selbst die angebrüteten Schildkröteneier in die Räucherkammer bringen, weil Kisa sagt, die kleinen Schildkröten, die kurz vorm Schlüpfen sind, kann sie nicht im Rauch ersticken!« Mit strengem Blick auf Kisa sprach sie weiter.

»Sie sollte sich nicht schwängern lassen, wenn das solche Ausmaße annimmt. Senhor Aristido will morgen zum Frühstück Abunã essen. Ich bin heute mit Kisa allein in der Küche und weil sich Kisa weigerte, musste ich die Eier in die Räucherkammer bringen.«

Sie schnappte laut nach Luft bevor sie stöhnend fortfuhr: »Da sah ich durch das Guckloch den Mann auf dem Pier, ja, wahrhaftig, Senhor Sluter, und er kam direkt auf das Haus zu!«

Dann flüsterte sie noch: »Morgen gibt es kein Abunã für Senhor Aristido.«

Ihre Pupillen verschwanden hinter halboffenen Augenlidern. Der Anblick dieses Mannes hatte panische Angst in ihr ausgelöst. Sie war nicht mehr ansprechbar. Schlüter nahm einen Fächer vom Fensterbrett und wedelte Benta etwas Luft zu. Kisa ergriff ihre schlaffe Hand und sagte leise: »Ja, er ist es. Ich habe ihn auch erkannt. Er kam mit einem Boot.« Diese Worte richteten Benta schlagartig auf.

»Er ist es, Senhor Sluter, er ist es wirklich! Niemals werde ich diesen Unmenschen vergessen, niemals, mein ganzes Leben nicht mehr! Er ist hässlich, hässlich wie nur ein Weißer sein kann, wie der leibhaftige Teufel! Bleich wie der Mond sind Haut und Haare, seine Augen aus gelbem Wasser! Schreckliche Augen, Schlangenaugen! Aber das Schlimmste ist sein Bart, wie rotes Feuer, grauenhaft! Dieser Mann hat uns in sein Schiff gepfercht und wie Wildfleisch an Senhor Teixeira verkauft. Jetzt ist er wieder hier! Senhor Sluter, ich flehe Sie an, lassen Sie ihn nicht ins Haus, bitte, machen Sie, dass er verschwindet!«

Schlüter ging an das Fenster zur Bucht. Tatsächlich hatte ein Boot am Pier festgemacht.

»Ihr braucht keine Angst vor diesem Manne zu haben. Das Gittertor zum Pier ist verriegelt, es kann niemand von dort das Haus betreten. Ihr könnt ganz sicher sein, nichts wird euch geschehen. Ich gehe jetzt zu ihm und werde ihn fragen, was er will. Ihr bleibt solange hier in der Halle.« Benta nickte und sank in Kisas Arme.

Hinter der hölzernen Haustür zum Pier war noch eine weitere Tür aus Eisenstäben angebracht, ebenso sicherten alle Fenster im Kellergewölbe und auch die der angrenzenden Schuppen eiserne Gitterstäbe.

Schlüter öffnete die Holztür. Ein Mann rüttelte an der Eisenstabtür und rief: »Macht auf, ich will zu Paolo Teixeira!« Er lauschte kurz und rüttelte weiter. »Macht auf, ich bin es, Bartolomeu!«

Der Mann war groß und muskulös. Ein roter, wilder Bart und langes, strohblond ausgebleichtes Haar, das in verfilzten Locken bis auf seine breiten Schultern fiel, umrahmten sein vogelartiges Antlitz, aus dem hervorstechende harte Augen jetzt Schlüter erblickten.

»Endlich hört mich einer! Boa tarde, Senhor!« Seine Augen verloren etwas an Härte.

»Boa tarde, Senhor«, erwiderte Schlüter, »was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte zu Paolo.«

»Falls Sie Senhor Paolo Teixeira meinen, den können Sie nicht sprechen, der wohnt nicht mehr hier.«

»Dann hat es Paolo doch wahr gemacht. Er sprach bereits vor Jahren davon, dieses alles zu verkaufen, um nach Portugal zurückzukehren. Haben Sie ihm Casa Mare abgekauft?«

»Nein, der jetzige Besitzer ist Senhor Afonso Arrende.«

»Dann holen Sie den, ich denke, der wird auch an einem Geschäft interessiert sein. Ich habe gute Ware anzubieten.«

»Das tut mir leid, Senhor Arrende ist nicht anwesend.«

»Aha, wohl auch Entrudo feiern, was? Paolo hat diesen Zirkus niemals mitgemacht, niemals. Der war jederzeit für Geschäfte bereit. Tag und Nacht. Das schätzte ich an ihm.«

Ärgerlich stieß der Mann mit seinem Fuß gegen die Gittertür, dann ging er ein paar Schritte auf den Pier zurück und zeigte mit ausladender Hand über die Bucht und auf die Stadt.

»In diesen Tagen müsste man die Allerheiligenbucht in Allersünderbucht umtaufen, so schlimm treiben die es hier, diese lüsternen Heuchler, alle, ob Mann oder Frau, schwarz oder weiß. Aber in ein paar Tagen rennen sie zum Beichten und glauben, mit dem Aschenkreuz sind sie ihre Sünden los. Und den Pfaffen wachsen nur vom Anhören der Missetaten ihrer Schäfchen Elefantenohren.«

Der Mann war verärgert und machte keinen Hehl daraus. Er hatte sich in dieser brütenden Hitze mit einem Ruderboot aufgemacht, um Teixeira zu treffen. Die Mühe war umsonst gewesen und er musste nun wohl unverrichteter Dinge wieder zurück. Schlüter erwiderte nichts auf seine aufgebrachten Worte und ließ ihn weiter schimpfen.

Die Arrendes

Am letzten Sonntag vor Beginn der Fastenzeit feierte ganz Bahia in der Oberstadt den Entrudo. Auf dem abschüssigen Pflaster des Pelourinho, durch die engen Gassen des Maciels, über dem Terreiro de Jesus bis hin zum Casa do Governo tobte eine bunte Menge fröhlicher Menschen, die nach heißen Rhythmen der ohrenbetäubenden Musik aus Pandeiros, Quicas, den mit bunten Schleifen geschmückten Tamburinen, mit Muscheln behängten Kalebassen und Reco-Recos tanzten, dabei klatschten, kreischten, sangen oder sich übermütig mit Mehl bewarfen. Der Entrudo auf den Straßen und Plätzen war ein derbes Vergnügen und erreichte an diesem Sonntag seinen Höhepunkt. Die noblen Hausbesitzer feierten natürlich nicht außerhalb ihrer Salons, sie sahen dem Spektakel von ihren Balkonen oder Fenstern aus zu. Ihr besonderes Vergnügen bestand darin, über die erhitzten und mit Mehl bestäubten Menschen vor ihren Häusern Wasserkrüge zu entleeren, deren Inhalt unter lautem Gejohle und mit weit ausgebreiteten Armen in Empfang genommen wurde.

Mit Mehl um sich zu werfen galt in den Räumen der gehobenen Gesellschaft Bahias ebenfalls als unschicklich. Es erdreisteten sich die jüngeren Männer allerdings, zur allgemeinen Belustigung mit Duftwasser gefüllte Wachskugeln den Damen ins Dekolleté zu zielen.

Auch die Arrendes verlebten den heutigen Tag in ihrem Stadthaus am Terreiro de Jesus. Wegen der bevorstehenden Fastenzeit wollte die ganze Familie mit Freunden noch einmal ausgiebig feiern, sich amüsieren und dabei vor allem in den Hochgenüssen der bahianischen Küche schwelgen, bevor in der kommenden Woche die strenge Fastenzeit begann.

Die schwarzen Köchinnen des Hauses waren seit Tagen mit den Vorbereitungen für das üppige Sonntag vor dem Fasten-Menü beschäftigt.

Dieses Festmahl wurde eingeleitet mit in Dendêöl gebackenen kleinen Bällchen aus feinst gestampften Fradinho-Bohnen und Zwiebeln, die mit getrockneten Krabben gefüllt und mit Malagueta-Pfeffer gewürzt waren. Dazu aus der Pfanne frisch geröstete, extra fett gezüchtete Ameisen, gebratene Leber von Riesenbarschen mit Meeresschildkröteneiern, die entweder in Kokosmilch pochiert oder über Palmenzweigen mild geräuchert auf gekochtem Bananenmus und Reis drapiert wurden sowie Maniok mit Schmelzbutter, gehacktem Geflügelfleisch und verschlagenem Eigelb in Maispasteten.

Zwischendurch gab es in kleinen Schälchen Schildkröten- und Papageiensuppen.

Die Hauptgänge bestanden aus Meeres- und Schalentiergerichten wie Langusten, Krebsen, Krabben, Muscheln und verschiedenen Fischsorten in Kokosmilch oder Dendêöl gekocht. Dazu in Kokosmilch Gesottenes von Rindern, Kälbern, Schweinen und Puten, und auf keinen Fall durfte bei dem Menü das beliebte Xin-Xin-Huhn mit getrockneten Krabben, Zwiebeln, Malagueta-Pfeffer, Jerimum und Dendêöl fehlen.

Zur besseren Verdauung wurde neben Wein aus Portugal auch reichlich Zuckerrohrschnaps gereicht.

Zum Abschluss überhäuften variantenreiche süße Desserts den Tisch: Zuckerrohrstrudel, kandierte Früchte, bunte Bonbons und Konfekt in den unterschiedlichsten Formen, Kuchen aus Reis, Gebäck aus Eiern, Maniokmehl, Kokosnuss, Maismehl, Honig und Erdnüssen.

Nach ausschweifendem Essen und Trinken begab sich die Gesellschaft an die Fenster oder auf die Balkone, um dem bunten Treiben vor dem Haus zuzusehen, aber auch, um Wasserkübel zu entleeren.

Am Abend und zum Höhepunkt dieses Sonntags verkleideten sich die Damen und Herren mit farbenprächtigen Kostümen und tanzten hinter Masken Quadrillen. Arrendes dritte Ehefrau Ana Maria lebte erst seit wenigen Jahren in Bahia. Sie kannte diesen Maskenball aus ihrer Zeit in Portugal und hatte ihn im Hause Arrende eingeführt. Sie war dreißig Jahre jünger als ihr Ehemann, der zwar die sechzig schon überschritten hatte, aber noch immer mit Unterstützung seines ältesten Sohnes Alfredo die Geschäfte führte. Aristido, sein zweiter Sohn, war an keinerlei Arbeit interessiert.

Die Arrendes lebten bereits in der vierten Generation in Bahia. Afonso Arrendes Urgroßvater hatte seine gesamte Habe in Portugal verkauft. Er war mit seiner Familie nach Brasilien gekommen, um hier eine neue Existenz zu gründen. Durch den Sklavenhandel wurde er einer der reichsten Männer Bahias. Afonsos Vater betrieb das Sklavengeschäft allerdings nicht mehr und Afonso selbst, obwohl ein strikter Gegner des Menschenhandels, besaß allein durch sein Erbe fast tausend Sklaven, riesige Landgüter, Zuckersiedereien, Schnapsbrennereien und Häuser in Bahia. Als weitsichtiger Geschäftsmann gründete er eine Reederei und nannte bald mehrere Handelsschiffe sein eigen. Er erwarb ein repräsentatives Wohnhaus in der Oberstadt sowie eine palastartige Villa mit hängenden Terrassengärten über dem Meer in dem vornehmen Vorort Vitoria. Besonders seit den letzten Gelbfieber- und Pestepidemien bevorzugten immer mehr Wohlhabende die angenehme Wohnlage am Ozean, denn hier war es längst nicht so stickig wie in der dicht besiedelten Innenstadt. Diese Residenz an der Steilküste am Atlantik bewohnte Afonso Arrende seit der Heirat mit seiner jungen Frau Ana Maria.

Ana Maria entstammte einem alten portugiesischen Adelsgeschlecht und galt in Bahia als außerordentlich kapriziös. Afonso liebte sie abgöttisch, keinen Wunsch konnte er ihr abschlagen. Er gestattete ihr sogar, ihre gesamte Wäsche und Bekleidung mit seinen Schiffsladungen nach Lissabon zu ihrer früheren Wäscherin zur Reinigung zu geben, da sie den schwarzen Dienstboten ihres Hauses in Bahia nicht genug Sorgfalt bei dieser Arbeit zutraute.

Die Landzunge in der Allerheiligenbucht mit dem Herrenhaus Casa Mare sowie den Nebengebäuden, Kapelle, Kontor- und Torhaus war erst seit knapp zwei Jahren in Arrendes Besitz. Dieser großzügige Landsitz in günstiger Lage vor der Unterstadt mit Pier zum Anlegen von Handelsschiffen sowie der Lagermöglichkeit des Rohzuckers und des Zuckerrohrschnapses von seinen Plantagen hatte ihn schon sehr lange interessiert. Seit ihm bekannt war, dass Paolo Teixeira das Anwesen eventuell verkaufen wollte, spekulierte er darauf, es zu erwerben. Jedoch Teixeira war zunächst recht unentschlossen und ließ sich viel Zeit. Erst nach einem schweren Herzanfall entschied er sich zum Verkauf, um das tropische Klima Bahias zu verlassen und nach Portugal zurückzukehren.

Das Herrenhaus mit sechzehn Zimmern zur Meerseite im Süden und ebenfalls sechzehn Zimmern zum schattigen Innenhof im Norden teilte eine doppelstöckige Halle. Zwei frei schwebende geschwungene Treppen aus weißem portugiesischen Marmor führten in das obere Stockwerk. Die umlaufende Galerie mündete in einen Balkon zur Meerseite. Im Kellergewölbe mit Zugang zum Pier befanden sich Lagerräume sowie die Küche und die Zimmer des Küchenpersonals. Die an das weiträumige Casa Mare angrenzenden kleinen Nebengebäude dienten ebenfalls als Lagerräume, Ställe und als Unterkunft der anderen Haus- und Lagersklaven.

Arrendes Geschäfte nahmen in dieser Zeit einen zunehmend wachsenden Aufschwung, da sich Europa allmählich von Napoleons Kriegen erholte und hier somit der Bedarf an Zucker, Tabak und Kaffee enorm anstieg. Er war mit einem seiner Schiffe nach Hamburg gekommen, um den Kaufmann und Essigfabrikanten Bernhard Schlüter als Makler für seine Rohzuckerladungen gewinnen zu können. Carl Ferdinand, Bernhards jüngerer Bruder und ebenfalls Kaufmann, folgte dem Angebot Arrendes, um in Bahia für zunächst zwei Jahre das Kontor des neuen Zucker- und Schnapslagers an der Allerheiligenbucht zu führen.

Arrendes jüngster Sohn Aristido verwaltete seit Jahren mehr schlecht als recht eine der Zuckerrohrplantagen im Recôncavo. In der Hoffnung, dass sich bei seinem Sohn die Einstellung zur Arbeit durch einen attraktiveren Arbeitsplatz in der Stadt ändern würde, übertrug ihm Arrende die Leitung seines Kontors an der Hafenstraße von Bahia. Doch die vielen Lokale in unmittelbarer Nähe des Handelshauses boten Aristido Zerstreuungen, die er in der ländlichen Abgeschiedenheit des Hinterlandes niemals kennen gelernt hatte und somit verbrachte er seine Nächte ausschweifender als je zuvor mit gleichgesinnten Zechbrüdern beim Glücksspiel oder in Bordellen.

»Sinnlos zu leben gibt dem Leben Sinn« war seine persönliche Philosophie. Am liebsten pflegte er lockere Beziehungen zu grellgeschminkten, üppigen Huren, die älter waren als er. Aristido war an keiner standesgemäßen Frau interessiert und ebenso wenig an einem geregelten Arbeitstag. Seinen Lebenswandel änderte er auch nicht, als ihn sein Vater zu Schlüter ins Kontor steckte, damit er von ihm die Führung eines Handelshauses erlernen sollte und um sich gleichzeitig dabei die Arbeitsmoral eines ehrbaren Hamburger Kaufmannes anzueignen.

Aristido lag, so wie immer, auch im Casa Mare den ganzen Tag nur mit einem offenen Kaftan bekleidet in seinen Tuch- oder fest geflochtenen Hängematten aus Tabuábinsen. Hier amüsierte er sich mit seiner derzeitigen Geliebten Luzibel, die in der Stadt ein Bordell besaß. Im Liegen nahm er seine Speisen ein und empfing Geschäftsfreunde oder Verwalter von den Plantagen seines Vaters. Selbst seine Briefe diktierte er fast nackt aus der Hängematte dem hauseigenen Pater Zephyrin, und niemals wäre ihm eingefallen, dabei das Kratzen an allen Körperstellen oder sein Furzen zu unterlassen.

So nachlässig und ungepflegt Aristido den Tag verbrachte, desto eleganter verließ er abends das Haus. Mit Einbruch der Dunkelheit musste ihn sein persönlicher Sklave Fredo baden, seinen juckenden Körper mit Bentas Heilsalbe und seine Haare mit Kokosöl einreiben und ihn sorgfältig ankleiden.

Er trug stets einen Zylinder, einen langen schwarzen Gehrock, enge weiße Hosen, ein weißes Seidenhemd, eine schwarze Weste und ein tadellos gebundenes Halstuch sowie glänzende Halbschuhe mit silbernen Spangen. Erst so herausgeputzt ließ er sich in der mit schweren Vorhängen drapierten und mit seidenen Kissen ausgepolsterten Sänfte zu seinen Vergnügungen in die Stadt tragen und setzte die Peitsche ein, wenn ihn die Träger nicht schnell genug die steilen Gassen und Treppen hinauf in die Oberstadt brachten.

Aristido und Carl Ferdinand bewohnten jeweils einen Flügel im ersten Stockwerk des Herrenhauses. Da Aristido aber zu keiner festgesetzten Mahlzeit im Speisesaal erschien und abends das Haus verließ, um seine Nächte in Bahias Lasterhöhlen zu verbringen, begegneten sich die beiden höchst selten. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere respektierte aber jeder den anderen in seiner Art. Es gab keine Feindschaft zwischen den beiden Männern. Aristido war froh, dass er sich geschäftlich voll auf Carlo, wie ihn die Familie Arrende nannte, verlassen konnte und er sich somit um fast nichts zu kümmern brauchte, außerdem überließ er Schlüter großzügig auch alle sonst im Haus anstehenden Entscheidungen.

Schlüter verbrachte im Gegensatz zu Aristido lieber die Abende auf dem Balkon zur Meerseite, wenn nach farbdramatischen Sonnenuntergängen in pfirsichgelb bis ochsenblutrot und dunklem veilchenviolett der dann aufkommende Wind über dem Atlantik etwas Abkühlung in die Bucht brachte. Das tropische Klima hier machte ihm zwar noch immer zu schaffen und besonders in den Nächten, wenn er vor Hitze nicht schlafen konnte, bekam er Sehnsucht nach dem Hamburger Wetter mit Regen, Nebel und den starken Winden von der Elbe. Aber trotz der schwer erträglichen Hitze hatte er sich sehr schnell an die leichte Lebensweise gewöhnt, ja, er war heimisch geworden an dieser Küste des hellen Lichtes mit den wechselvollen Blau-, Türkis- und Silbertönen des Ozeans. Den nüchternen Hamburger Kaufmann verzauberten nicht nur die endlosen Strände mit unzähligen Palmen und das üppig grüne Pflanzenwachstum, sondern auch die Farbenpracht und die schweren Düfte exotischer Blüten, die buntgesprenkelten Schmetterlinge, grellgefiederten Papageien und die winzigen Kolibris, die hier zärtlich Blütenküsser genannt werden. Er war fasziniert von diesem Land des Übernatürlichen, der Vielfältigkeit der ungewöhnlichen Speisen und der lasziven Sinnlichkeit, Mystik und rhythmischen Musik der Schwarzen. Er liebte ihr breites herzliches Lachen und ihre Fröhlichkeit, die ihnen trotz Versklavung und menschenunwürdiger Behandlung durch die Weißen nicht abhanden gekommen waren.

Sein korrektes Portugiesisch, das er schon in jungen Jahren durch einen Sprachlehrer aus Lissabon in Hamburg erlernt hatte, war wie von selbst in kürzester Zeit in das weiche und nachlässige Bahia-Portugiesisch übergegangen.

Barthel – Bartolomeu

Der Mann auf dem Pier schimpfte in fließendem Portugiesisch, jedoch fiel Schlüter sein deutscher Akzent sofort auf. Aber ohne darauf einzugehen oder ihn nach seiner Herkunft zu fragen, sprach Schlüter weiterhin mit ihm Portugiesisch und obwohl er wusste, dass er es mit einem Sklavenhändler zu tun hatte, fragte er ihn: »Senhor, welche Waren wollten Sie Senhor Teixeira anbieten?«

Der Mann atmete tief durch und sah Schlüter für Sekunden mit festem Blick in die Augen, bevor er antwortete: »Oh Senhor, ich werde Sie wohl ein wenig über mich aufklären müssen.«

Er drehte sich um und wies voller Stolz auf einen Dreimaster weit draußen in der Bucht. »Sehen Sie den Segler dort? Senhor, dieses Schiff gehört mir. Es ist ein besonderes Schiff, wendig, schnell und hat vor allem wenig Tiefgang. Es kommt ohne Schwierigkeiten über die Sandbänke vor den Küsten Afrikas und sogar in die großen Flüsse hinein. Und bisher ist es jedem Piratenschiff entkommen. Ja, sogar diesen englischen Sklavenrettungspiraten vor Afrika.«

Er trat wieder dicht an das Eisengitter. Jetzt sprühten seine Augen fanatisch.

»Und dieses Schiff ist gefüllt mit bestem Frischfleisch. Sie sehen, ich bin nicht nur Händler, Senhor, ich bin auch Eigner. Die meisten Händler vertrauen ja den Kapitänen ihre Waren an, die dann erst mal für sich selbst schachern. Bei mir liegen Ankauf, Transport und Verkauf allein in meiner Hand. Ich selbst habe mein Schiff in Afrika gefüllt. Junge Böcke, pralle Weiber, einsa-Qualität, beste Bantu-Nigger. Die sind kräftig und bringen den größten Gewinn. Minderwertige Ware, Alte, Kranke und kleine Kinder kommen mir nicht auf meine »Rattenfängerliebe.«

Er nickte nochmals zur Bestätigung seiner Worte: »So ist es und so bleibt es.« Voller Stolz blickte er wieder zu dem Segler hinüber.

»Ein ungewöhnlicher Name für ein Schiff«, sagte Schlüter.

»Ungewöhnlich? Ganz und gar nicht, Senhor, ich bin ein Rattenfänger der heutigen Zeit, aber ich lasse nicht jede Ratte auf meine einzige Liebe. Meine Leute in Afrika sortieren den Schund für mich aus und verhökern ihn an andere Händler. Wenn ich zurückkomme, finde ich meistens beste Ware vor, die ich angemessen bezahle, denn sonst würde ich nicht solche guten Geschäfte machen. Außerdem mag ich mich dort auch nicht länger aufhalten, als unbedingt nötig ist, um mein Schiff zu füllen.«

Er nickte selbstgefällig, dabei hielt er seinen rechten Zeigefinger hoch und wies weit über die Bucht hinaus, bevor er weitersprach.

»Ich kenne die Winde des Atlantiks und bin rechtzeitig aufgebrochen, um noch den Südost-Passat zu erwischen. Wenn die Westwinde erst den Regen bringen, kommt man vor Afrika nicht mehr weg. Also segelten wir nur vor dem Wind und kamen schnell voran. Ich hatte fast keinen Verlust, denn diesmal blieben wir sogar von der Ruhr und den anderen verdammten Plagen wie Pocken, Pest, Skorbut und sonstigem Übel verschont. Insgesamt waren es nur zwei Nigger, die sich gleich ins Meer stürzten und ersoffen, als sie wussten, jetzt geht es ohne Zurück ab in eine neue Welt.«

Der Sklavenhändler unterbrach seinen Redefluss kurz, wischte mit seinem Handrücken den Schweiß von der Stirn und rieb ihn an seiner Hose ab. Dann fuhr er fort: »Die Ware muss jetzt nur noch ein wenig aufpoliert werden. Nach wochenlanger Fahrt sieht das Gesindel nicht gerade appetitlich aus, die Stinktiere müssen sich jetzt täglich waschen. Als erstes wurden die Köpfe kahl geschoren, denn Nigger haben noch mehr Läuse als Affen.

Ein paar Tage an Deck und besseres Essen als auf See wirken wie ein wahres Wunder. Aber eines ist auch klar, Senhor, gute Ware hat einen guten Preis.«

»Senhor, diese Ware, wie sie von Ihnen benannt wird, sind Menschen!«

In die von Sonne und Wind gegerbte Stirn und um die äußeren Augenwinkel des Mannes gruben sich scharfe Falten.

»Menschen? Ho, ho! Sagten Sie Menschen?« Er schwieg kurz, dann umklammerte er die Eisenstäbe mit seinen großen kräftigen Händen und blickte Schlüter durchdringend an.

»Diese Ware ist Ware wie jede andere, wie Kaffee, Zucker, Tabak oder Holz. Nichts anderes. Diese Untiere sind Wilde, die das Glück haben, von Zivilisierten gezähmt zu werden. Sie müssen dankbar sein, dass sie durch Männer wie mich umsonst nach Brasilien kommen.«

»Haben Sie bei diesem verwerflichen Handel keine Skrupel?« fragte Schlüter.

»Was, Skrupel? Senhor, Skrupel ist vielleicht etwas für Menschen, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurden. Dazu gehöre ich nicht. Der einzige Schlüssel zum Reichtum ist für einen wie mich Skrupellosigkeit!«

Er trat an den Rand des Piers, spukte verächtlich ins Wasser und wischte nochmals den Schweiß von der Stirn.

»Auf Fahrt war ja wenigstens Wind, aber in dieser Bucht ist die Hitze unerträglich. Doch, wie sagten Sie, heißt jetzt der neue Besitzer?«

»Arrende.«

»So, so, Arrende.« Der Mann kratzte nachdenklich seinen Nacken.

»Den kenne ich zwar nicht, aber der Name kommt mir bekannt vor. Gibt es hier nicht einen Reeder Arrende?«

Dieser Mann, ein deutscher Sklavenhändler, der offensichtlich mit großem Erfolg das widerliche Geschäft mit afrikanischen Menschen betrieb, denn sonst hätte er es nicht bis zu einem eigenen Schiff gebracht, erweckte Schlüters Interesse. Wie kommt ein Deutscher zum Sklavenhandel, fragte er sich und sprach jetzt Deutsch mit ihm.

»Ja, unter anderem ist Senhor Arrende auch Reeder. Die Arrendes gehören zu den vornehmsten Familien in Bahia. Aber weder Senhor Afonso Arrende noch die übrigen Familienmitglieder handeln mit Sklaven, sondern hauptsächlich mit Zucker und anderen nicht schändlichen Waren.«

Die Augenlider und -brauen des Mannes zogen sich hoch und dann erhellte ein ungläubiges Lachen sein Gesicht.

»Hach! Das nenne ich eine Überraschung. Ich habe Sie für einen aus Bahia gehalten. Unglaublich, dass ein Deutscher dieses Portugiesisch spricht und dazu Ihr Äußeres.«

Schnell reichte er seine rechte Hand durch das Gitter.

»Ich bin Barthel, ebenfalls Deutscher, aber alle nennen mich Bartolomeu, das ist mein portugiesischer Name.«

»Mein Name ist Schlüter, Carl Ferdinand Schlüter, ich bin aus Hamburg und woher kommen Sie?«

»Aus einem Dorf, das Sie bestimmt nicht kennen. Aber haben Sie schon mal was vom Hamelner Rattenfänger im Weserbergland gehört?«

»Ja, natürlich, ich kenne sogar Hameln und das Weserbergland. Also kommen Sie aus einem Nachbardorf von Hameln?«

»Nein, nicht aus einem Nachbardorf. Ich wohnte ungefähr gute drei Postmeilen von Hameln entfernt.«

Schlüter entriegelte die Eisenstabtür und trat auf den Pier.

Der Sklavenhändler schien erfreut zu sein, wieder einmal mit einem Deutschen sprechen zu können.

»Warum leben Sie hier in Brasilien? Ist es das reine Vergnügen oder sollte es eventuell mit Arbeit zu tun haben?«

»Es ist der Handel, der mich in dieses Land geführt hat. Ich wickele für Senhor Arrende die Zucker- und Schnapsgeschäfte ab. Meine Familie in Hamburg unterhält seit langem eine intensive geschäftliche Verbindung mit ihm und es ist für mich eine große Ehre, ein Kontor dieses Handelshauses zusammen mit seinem Sohn führen zu dürfen.«

Der Mann raunzte Schlüter an: »Na, na, nur aus lauter Ehre werden Sie sicher nicht für den feinen Herrn arbeiten.«

Schlüter erwiderte zunächst nichts darauf. Diese Feststellung des Sklavenhändlers ging ihm zu weit. Gleichzeitig wollte er noch ein wenig mehr über diesen grobschlächtigen Mann erfahren und so kamen die Worte: »Es geht Sie zwar nichts an, aber ich sage es Ihnen trotzdem. Ich bin am Umsatz des Zucker- und Schnapslagers beteiligt«, von den Lippen, die er aber schon im selben Moment bereute, und sich über sich selbst wunderte, dass er sich zu dieser Äußerung hatte hinreißen lassen.

»Na, dann können Sie sich ja jede Menge Niggerinnen halten und dabei meine ich die zum Vergnügen«, erwiderte der Sklavenhändler schnell.

Er trat wieder dicht an Schlüter heran und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Wissen Sie was, kommen Sie mit auf mein Schiff und suchen Sie sich eine aus. Die ist garantiert noch syphilisfrei.«

»Nein, nein, danke«, wehrte Schlüter energisch ab. »Ich habe keinen Bedarf.«

Er wich einige Schritte vom Händler ab und blickte zum Hallenfenster. Schnell verschwanden hinter den Vorhängen die schwarzen Köpfe von Benta und Kisa. Schlüter wandte sich wieder dem Sklavenhändler zu.

»Dass an diesem Sonntag die ganze Stadt den Entrudo feiert, müssten Sie doch wissen. Heute sind überhaupt keine Geschäfte zu machen, warum sind Sie trotzdem gekommen?«

»Sie haben Recht. Ich bin auch aus einem anderen Grund hier. Natürlich hoffte ich, Paolo anzutreffen, denn, wie schon gesagt, der machte diesen heutigen Heckmeck in der Oberstadt niemals mit. In all den Jahren, in denen wir miteinander Handel betrieben, niemals. Ich kam auch hauptsächlich, um mich aus Afrika zurück zu melden und um ihm meine Ware anzubieten. Bald ist ja auch dieser ganze Entrudozauber vorbei und wenn die Sünder dann gebeichtet haben, kommen auch die Geschäfte wieder in Gang.« Er unterbrach sich kurz, dann fügte er noch hinzu: »Zu blöd, dass Paolo sein Geschäft hier aufgegeben hat, und noch schlimmer finde ich, dass der neue Besitzer nicht mit Sklaven handelt.«

»Senhor Arrende verabscheut diesen Handel. Nicht nur Dänemark und England verbieten seit langem den Sklavenhandel und wie Sie ja auch wissen, versucht die englische Marine sogar, die Sklavenschiffe vor Afrika zu entern. Seit dem Wiener Kongress besteht für ganz Europa ein allgemeines Verbot des Sklavenhandels, auch wenn sich noch nicht alle Länder daran halten. Der sogenannte »Dreieckshandel« wird für Sie in Zukunft sehr schwer werden. Und auch hier in Brasilien wird eines Tages der Sklavenhandel verboten sein.«

Der Händler brauste auf. In seinen senffarbenen Augen blitzten grüne Funken.

»Der Sklavenhandel wird in Brasilien niemals verboten, niemals! In Bahia habe ich bisher meine besten Geschäfte gemacht und das wird auch in Zukunft so sein! Ich kenne hier noch weitere Händler, die meine Ladung gerne abnehmen. Und mit den Engländern gebe ich mich ohnehin nicht ab. Verbieten seit Jahren den Sklavenhandel, die sogenannten Gentlemen, aber saufen Tee, den sie mit Zucker süßen. Wer soll denn soviel Zuckerrohr anpflanzen und ernten, wenn keine neuen Sklaven aus Afrika kommen? Wollen Sie mir das mal verraten? In den Minen und auf den Plantagen ist der Schwund hoch! Da sind die meisten nach acht Jahren hin! Afrikanische Sklaven sind hier in Bahia das beste Geschäft und Zucker, Tabak und vor allem Holz aus Brasilien habe ich bis jetzt immer bestens in Lissabon verkaufen können. Ich verstehe den Arrende nicht, dass er sich die Gewinne aus dem Sklavenhandel entgehen lässt!«

»Weil kein Mensch das Recht hat, andere Menschen aus ihrer Heimat zu verschleppen und zu versklaven, und das nur, um sich selbst zu bereichern«, antwortete Schlüter in scharfem Ton. Der Händler spuckte nochmals ins Wasser und rieb dabei wieder nachdenklich seinen Nacken.

»Heute ist kein Quacksalber in der Hafenstraße aufzutreiben und in der Oberstadt wird es nicht anders sein. Ich bin hier, weil ich dringend Chinarinde gegen Fieber und etwas hochprozentigen Alkohol zum Desinfizieren haben muss, aber hauptsächlich Zuckerrohrschnaps, um meine Mannschaft auf dem Schiff noch für ein paar Tage bei Laune zu halten. Die Männer müssen vorerst alle an Bord bleiben, um besonders die Nigger, wenn sie an Deck dürfen, zu bewachen. Den hochprozentigen Alkohol und Chinarinde brauche ich für meinen Burschen, der hat seit gestern Fieber von seinen stinkenden Eiterwunden am Fuß. Ich habe ihn vorsichtshalber gleich mitgebracht. Er ist dort im Boot.«

Ohne sich umzudrehen zeigte er mit dem Daumen hinter sich. Der Sklavenhändler fuhr in seinem Redeschwall fort und je länger er redete, desto wütender wurde er.

»Mit diesem Balg hatte ich von Anfang an nichts als Ärger! Er taugt rein zu gar nichts! Normalerweise nehme ich auch keine Niggerbrut auf mein Schiff. Aber ich brauchte einen neuen Burschen und der Lieferant prahlte damit, dass dieser Hundsfott außer portugiesisch auch noch lateinisch sprechen könne, er hatte ihn wohl beten hören. Ave Maria und so weiter, na ja, die üblichen Litaneien der Katholiken. Aber auf der ganzen Fahrt war kein Wort aus dieser Missgeburt herauszuholen! Ich habe ihn deswegen grün und blau geschlagen, was aber sinnlos war. Wenn man diese Farben bei dem Schwarzhäutigen erkennen könnte, würde ein Pfau neidisch werden. Die ganzen Wochen an Bord lebte er wie eine Made im Speck. Alles, was von meinem Essen übrig blieb, hat er bekommen. Aber Undank ist der Welt Lohn! So war das schon immer. Da sind die schwarzen Stinktiere nicht anders als Rothäute oder auch Weiße. Dieser Balg schlief auch nicht in der »Niggersuite«, nein, wie ein feiner Herr direkt vor meiner Kajüte, natürlich angekettet. Der Ring an seinem Fußgelenk war wohl zu eng, da hat sich der Fuß entzündet. Aber ich fand auf dem ganzen Schiff nur diesen einen kleinen Ring, da ich ja normalerweise nur für erwachsene Nigger Ringe brauche und die waren alle zu groß für diesen Niggerpanzen.«

»Kann ich mir Ihren Burschen einmal anschauen?«

»Aber ja, den stinkenden Affen können Sie gern begaffen! Hach, das reimt sich sogar!«

Mit großen Schritten eilte der Händler an das Ende des Piers. Als er in das Boot blickte, raunzte er den Ruderer an: »He, wo ist das Aas?«

Der Ruderer zeigte kurz unter die Bank.

»Da wird die Sonne wohl zu heiß auf seine blanke Birne gebrannt haben. Ich habe ihn alle zwei Wochen vom Maat scheren lassen. Von diesem Krauskopf wollte ich mir keine Läuse einfangen.«

Behände schwang er sich ins Boot und stieß mit dem Fuß unter die Sitzbank.

»He, steh auf, du fauler Hund! Hätte ich dich nur gleich den Haien vorgeworfen, dann wäre mir eine Menge Ärger erspart geblieben! Aber das hat man davon, wenn man mitleidig ist.«

Das Kind gab keinen Laut von sich.

»Unterlassen Sie das!« schrie Schlüter wütend und sprang auch ins Boot. Bevor der Mann wieder zutreten konnte, zerrte ihn Schlüter an den Schultern zurück. Das Boot schaukelte heftig und der Ruderer konnte Schlüter noch gerade halten, während der Sklavenhändler ins Wasser fiel.

Mit »das war die beste Erfrischung in dieser Hitze«, stemmte er sich sofort wieder ins Boot. Schlüter beugte sich vorsichtig unter die Bank. Er blickte in zwei große schwarze, auf das äußerste angespannte Augen, deren Weiß ein Netz roter Äderchen durchzog.

»Hab keine Angst vor mir und komm aus deinem Versteck heraus, ich möchte mir deinen Fuß ansehen«, sagte Schlüter auf Portugiesisch.

Die starke Anspannung in den Augen des Jungen ließ allmählich nach. Auf seinen Ellenbogen schob er sich langsam rückwärts unter der Bank hervor. Dann sah Schlüter den Fuß. Er zuckte zusammen. Bis zum Unterschenkel war nur ein stark geschwollener unförmiger Klumpen mit eitrigen Blasengeschwüren erkennbar.

Schlüter fuhr den durchnässten Händler an: »Dieses Kind braucht keine Chinarinde oder etwas zum Desinfizieren, es braucht sofort einen Arzt, sonst wird es seinen Fuß oder womöglich auch sein Leben verlieren!«

»Hat man so was schon mal gehört? Einen Arzt für einen Niggerbalg? Mann, haben Sie Vorstellungen! Na ja, Sie sind ein vornehmer Kaufmann aus Hamburg und arbeiten hier bei einer dekadenten Familie, da kann man nicht viel Verständnis für den Sklavenhandel erwarten.«

»Was Sie an der Familie Arrende dekadent finden, halte ich für edel, Herr Barthel.«

»Ja, wahrscheinlich haben diese Edlen auch einen edlen Arsch, auf dem sie faul herumsitzen und nicht wissen, was sie mit ihrem vielen Geld anfangen sollen. Für dieses Dreckstück bezahle ich keinen Arzt! Am Ende verreckt er dann doch noch und mein Geld für den Arzt ist flöten!«

Der Junge stemmte sich auf die Bank, sein Oberkörper bäumte sich auf und dabei fixierte er den Händler mit vernichtendem Blick. Er war nur mit dreckigen Lumpen bekleidet, trotzdem strahlte seine Haltung Würde und Überlegenheit aus. Die Qualen, die hinter ihm lagen, hatten ihn nicht gebrochen. Dieses schwarze Kind war anders als jedes, das Schlüter bisher kannte und selbst in diesem armseligen und kranken Zustand ging eine unübersehbare Grandezza von ihm aus. Und es brauchte Hilfe, schnelle Hilfe. Schlüter überlegte, wie er den Jungen zu einem Arzt schaffen könnte.

»Pater noster, qui es in caelis«, begann das Kind zu beten.

»Ich werde verrückt, die Kröte kann tatsächlich sprechen und war das nicht lateinisches Gequake?«

Der Sklavenhändler blickte sich um und höhnte: »… oder palavert hier etwa der Papagei eines Pfaffen?« Er zerrte an Schlüters Ärmel.

»Verstehen Sie jetzt, warum ich dieses Miststück nicht den Haien vorgeworfen habe. Ein Latein sprechender Niggerbalg ist was wert. Nur als Bursche taugt er überhaupt nicht. Er ist faul und obendrein hochmütig wie ein Gockel. Nicht einmal die Peitsche konnte diesem eingebildeten Trampel seinen Stolz brechen.«

»Nun«, antwortete Schlüter, »das mindert seinen Wert erheblich. Ein stolzer Bursche, der auch noch faul ist, ist trotz lateinischer Sprachkenntnisse, die sich wahrscheinlich auch nur auf Gebete beschränken, schlecht zu verkaufen und mit einem solchen Fuß überhaupt nicht. Also, übergeben Sie mir den Jungen, ich werde schon einen Arzt finden, der ihn behandelt.« Der Händler brauste auf.

»Was heißt hier übergeben? Soll ich Ware verschenken? Wenn Sie ihn haben wollen, können Sie diesen Balg nur für gutes Geld kaufen!«

Schlüter schüttelte den Kopf. »Nicht für Geld, ich nehme ihn für zwanzig Sack Zucker.«