Impressum


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© 2013 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

Lektorat & Korrektorat: Simone Munz, Martina Leiber

Satz & Layout: Sonia Lauinger

Umschlaggestaltung und -foto: Sonia Lauinger

E-Book Konvertierung und Formatierung: Angela Hahn


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E-Book ISBN: 978-3-942637-36-7


Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:

ISBN: 978-3-942637-03-9


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Das Buch

„... wenn man lange genug zwischen diesen Gipfeln herumläuft, fällt alles Negative von einem ab. Man muss nur fest stehen und die Nase mutig in den Wind halten.“

Bevor Hannelore Bahl ihrer Bergbekanntschaft Marga zustimmen kann, muss sie weit gehen. Ihr Weg führt sie ganz nach unten, und, nach dem Tod der Mutter, zu Fuß über die Alpen. Es ist keine Kleinigkeit, 140 kg Körpergewicht über Geröllhalden und schmale Pfade zu manövrieren. Besonders, wenn man gerade frisch genesen und so unsportlich wie Hannelore ist. Im Gepäck trägt sie zusätzliche Lasten: Ihre nicht alltägliche Kindheit, die Erinnerung an eine aussichtslose Liebe und ihr Gewissen, das sie nicht zur Ruhe kommen lässt.

Die Autorin

Angela Hornbogen-Merkl, am 2.6.1956 in Bretten/Baden geboren, hat sich schon als ABC-Schützin mit dem Schreibvirus und extremer Fabulierlust infiziert. Die gelernte Goldschmiedin, Zahntechnikerin und Therapeutin schreibt seit 2000 hauptberuflich als Mensch über Menschen.


Ich widme dieses Buch seinem wichtigsten Geburtshelfer:

Meinem Ehemann Thomas.

1955

Neben Rosas riesigem Bauch schrumpften die Hügel zu Kleinigkeiten zusammen.

Sie verbrachte die Tage halb sitzend, halb liegend auf dem alten Küchensofa, kämpfte um jeden Atemzug und verwünschte die Idee, ein Kind zu bekommen. Immer wieder hatte sie Franz das Bild einer Familie vor Augen geführt, ihm vorgeschwärmt von seinem Stammhalter.

Jetzt bekam sie kaum noch Luft und musste in immer kürzeren Abständen hinaus zum Abort.

Auf dem Weg über den Hof trug sie den riesigen Bauch in ihren Armen. Sie hatte das Gefühl, ohne diese Unterstützung müsse die straff gespannte Haut entlang der vielen Schwangerschaftsstreifen früher oder später aufplatzen. Wie ein Stein lag der Junge auf ihrer Blase. Die Angst vor der Geburt war erträglicher geworden, seit sie sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als ihren Körper wieder für sich zu haben.

Umständlich rückte sie sich auf dem Ausschnitt des Holzbretts zurecht. Im Hochsommer drang aus dem Loch oft infernalischer Gestank, man überlegte sich zweimal, ob man sich nicht lieber hinter die Johannisbeeren im Garten hocken oder den Nachttopf benutzen sollte. Im Winter entstanden zwischen den Wandbrettern des Häuschens breite Lücken, durch die einem der Eiswind den Hintern mit Schnee puderte. An den Fallgeräuschen erkannte man den Füllstand der Abortgrube. Im vergangenen Winter hatte Franz das gefrorene Gebirge aus Exkrementen und Zeitungspapier mit der Hacke abtragen müssen, um Platz zu schaffen, bis es taute. Doch jetzt, Ende Mai, roch es sogar hier drinnen hauptsächlich nach warmer Erde und Fruchtbarkeit.

Als Rosa endlich in der richtigen Position saß, schlug ohne jede Vorwarnung der Blitz ein und spaltete ihren Leib. Etwas brach auf, ein Schwall Flüssigkeit spritzte in die Grube, Rosa krümmte sich und spürte einen warmen Klumpen zwischen ihren Beinen heraus gleiten. Ohne nachzudenken, zog sie ein Knie hoch, griff unter sich und bekam eine feuchte Schnur zu fassen. Daran hievte sie einen großen blutverschmierten Wurm nach oben.

Breitbeinig taumelte sie aus dem Verschlag. Im Hof sank sie auf die Knie, legte das Neugeborene in ihren Schoß und starrte auf die pulsierende Nabelschnur, dann fiel sie in Ohnmacht.

Kindergeschrei und sachkundig tastende Finger weckten Rosa auf. Das Schlafzimmer roch nach Desinfektionsmittel und Hühnersuppe. Die Hebamme half ihr beim Aufsetzen.

„Muss ja ein ordentlicher Schreck gewesen sein.“

Die stämmige Frau legte ihr lächelnd das Kind in den Arm. Sein schrumpeliges Gesichtchen leuchtete rot, die Augen waren fest zugekniffen.

„Ist er gesund?“, fragte Rosa ängstlich.

„Ein gesundes Mädchen, soweit ich sehe.“

„Ein Mädchen ...?!“

Die Hebamme beschloss, die Enttäuschung in Rosas Stimme zu überhören.

„Wie soll sie heißen?“

Wochenlang hatte sich Rosa mit Franz über den Namen gezankt, bis sie sich schließlich auf Johannes geeinigt hatten. Aber statt daraus nun Johanna zu machen, nannte sie den Namen ihrer verstorbenen Mutter. „Hannelore.“

„Dann also herzlichen Glückwunsch zu eurer Hannelore.“

Rosa ließ sich das Bündel aus dem Arm nehmen, löffelte die Suppe, die ihr die Hebamme gereicht hatte, und fürchtete sich vor der Heimkehr ihres Mannes.

„Hannelore …“, murmelte der, „ausgerechnet Hannelore, na, mir soll es recht sein“.

Das Kind wimmerte, als er sich über den Stubenwagen beugte.

„Sie wird wachsen und zunehmen“, versicherte Rosa eilig.

Sie hatte alles verdorben. Sie hatte ihm einen Sohn versprochen und eine Tochter geboren. Eine unansehnliche Tochter obendrein. Für Rosa stand fest, dass das Kind schleunigst herausgefüttert werden musste, sie würde alles daran setzen, aus diesem Neugeborenen wenigstens einen vorzeigbaren Säugling zu machen.

Aber Hannelore hatte keinen Hunger. So sehr sich die Hebamme und Rosa auch mühten, das Kind trank viel zu wenig. Der größte Teil von Rosas Milch musste abgepumpt werden.

Obwohl der Säugling Gewicht verlor, konnte der Dorfarzt keinen Hinweis auf eine Krankheit finden.

Bald entschloss man sich, den Kinderarzt in der Stadt aufzusuchen. Der war jedoch genauso ratlos. Außer einem zu geringen Gewicht ließ sich an Hannelore nichts Ungewöhnliches feststellen.

Nach ein paar angstvollen Tagen trank sie gerade so viel, dass sie am Leben blieb, aber es genügte nicht, um die faltige Haut auszufüllen.

Rosa versuchte mit allen erdenklichen Mitteln, Hannelore zum Essen zu bringen. Sie musste endlich zunehmen. War es nicht schlimm genug, dass sie ein Mädchen war? Musste sie auch noch so dürr und faltig im Kinderwagen liegen? Im Dorf erzählte man sich, dass das Kind krank sei. Franz wurde immer wortkarger und machte einen Bogen um den Stubenwagen. „Verreckerling“ wurden solche Kinder hier in der Gegend genannt. Und für die Heuringer war es keine Überraschung, dass ein Paar wie Franz und Rosa einen Verreckerling in die Welt setzte. Wie zum Hohn strotzte Rosa vor Gesundheit.

Dann, von einem Tag auf den anderen und ohne jeden erkennbaren Anlass, begann Hannelore alles in sich einzusaugen, was in die Reichweite ihrer Lippen kam. Im Eiltempo entwickelte sie sich zu einem dicken Säugling, der selten schrie. Bald reichte Rosas Milch nicht mehr aus, tellerweise wurde Brei in den rosigen Mund geschaufelt.

Immer mehr ähnelte Hannelore dem molligen Baby auf der Kindergrießpackung. Nun war Rosa zufrieden, ihre Fähigkeiten als Mutter waren unter Beweis gestellt.

Niemand hatte länger das Recht, ihre Tochter Verreckerling zu nennen. An ihrem ersten Geburtstag saß Hannelore auf einer Decke im Schatten der Johannisbeersträucher.

Die dicken Ärmchen standen vom drallen Körper ab.

Reglos, aber voller Neugierde beobachtete das Kind eine Kohlmeise, die sich im Garten zu schaffen machte.

1961

Sie hatte sich im alten Aborthäuschen eingeschlossen.

Zwischen verstaubten Körben und anderem Gerümpel, das hier aufgehoben wurde, seit es ein Wasserklosett im Haus gab, saß sie auf dem speckigen Brett und schlug mit den Hacken der neuen Lackschuhe gegen das Holz des Kastens. Die Welt roch nach feuchter Erde, Staub und Sonne. Hannelore hatte keine Lust, in die Schule zu kommen. Das vor vier Wochen gekaufte Wollkleid kratzte, es war schon zu eng geworden und sie schwitzte darin. Sie hatte sich vorgenommen, im Aborthäuschen zu bleiben, bis die Mutter die Idee mit der Schule aufgeben würde.

„Hanni! Komm jetzt raus, wir sind sowieso schon zu spät dran, der Lehrer wird böse werden.“

Hannelore schwieg, nur das dumpfe Trommeln ihrer Schuhe war zu hören. Es war ihr egal, ob der Lehrer böse werden würde, sie kannte ihn ja noch nicht einmal.

„Ich habe hier deine Zuckertüte“, lockte die Mutter.

Noch immer gab das Kind keinen Laut von sich.

„Da ist Schokolade drin, Lakritze, Kaugummi, Kekse, Brausestäbchen und echte Muscheln zum Ausschlecken.“

Es war eine Litanei, eine Beschwörung, ein Gebet.

Hannelore schob sich heraus, den Blick starr auf die Schultüte gerichtet. Noch nie hatte sie echte Muscheln gesehen. Kaum war sie in die Reichweite der Mutter gekommen, wurde sie mit hartem Griff fortgezogen.

„Na Hanni, freust du dich schon aufs Lernen?“, erkundigte sich der Lehrer.

Hannelores Kopfschütteln brachte ihr einen Klaps von der Mutter ein. Der Lehrer wendete sich lachend zwei anderen Kindern zu, die ebenfalls zu spät gekommen waren.

Die drei Nachzügler gingen durch ein tuschelndes Spalier, zwischen zeigenden Fingern hindurch, zur vorderen Bankreihe. Hannelore nahm sich vor, nie wieder zu spät zu kommen.

Am zweiten Schultag sagte einer der größeren Jungen in der Pause zum ersten Mal „Elefant“ zu Hannelore. Danach dauerte es nur noch wenige Tage, bis der Spottvers gerufen wurde, der Hannelore ein treuer Begleiter werden sollte.

„Hannibal, Hannibal, fraß die ganzen Alpen kahl, denn dort zog sie übers Land, Hannibal, der Elefant“.

In den Pausen stellte sich Hannelore in die Nähe des Aufsichtslehrers, nur dort fühlte sie sich sicher. Sie schlang ihre Vesperbrote hinunter, dann starrte sie in die Luft und wartete, bis sie in den Klassenraum zurückkehren konnte.

Hannelore wünschte sich, unsichtbar zu sein. Sie schaute kein anderes Kind an, sprach mit niemandem und keiner redete mit ihr. Daheim erzählte sie den Käfern oder einem Vogel, was sie in der Schule gesehen und gelernt hatte.

Die Mutter fragte nie danach und durfte bei ihrer Arbeit nicht gestört werden. Den Vater musste man ganz in Ruhe lassen, wenn er von der Arbeit zurückkam. Er war müde und wurde schnell zornig.

Eines Tages entdeckte sie auf dem Pausenhof den Jungen.

Er trug sein dunkles Haar so lang, dass es an den Schultern aufstieß. Manchmal stand er an die Wand gelehnt und las in einem Buch, aber oft war er auch von anderen Kindern umringt. Sie beobachtete ihn wochenlang, ehe sie den Mut fand, sich neben ihn zu stellen.

„Bist du auch aus Heuringen?“

Sie stieß die Worte hastig hervor, damit sich nicht in letzter Sekunde eines von ihnen im Hals querstellen und sie verstummen lassen konnte.

Der Junge war kein Käfer und kein Vogel, es war nicht leicht, zu ihm zu sprechen. Er schaute sie verdutzt an und lachte dann.

„Woher soll ich denn sonst kommen?“

„Wie heißt du?“

„David Tress.“

„Aha.“

„Und du?“

„Hannelore Bahl.“

„Geht der Spottvers über dich?“

Ohne zu antworten, wendete sich Hannelore ab und ging zu ihrem Platz zurück. Dort lehnte sie sich an die Wand, wie es David sonst tat, und starrte in den Himmel, als hätte der kurze Wortwechsel nicht stattgefunden.

Wenige Tage später wurde Hannelore auf dem Heimweg von einer Schar Buben verfolgt, angeführt von einem vierschrötigen blonden Jungen. Der grölte den Spottvers und schubste sie vor sich her. Ein paar der anderen Kinder feuerten ihn mit lautem Gejohle an. „Hannibal, Hannibal, fraß die ganzen Alpen kahl ...“

Sie stolperte, fiel, versuchte sich aufzurappeln, aber immer wieder wurde sie in den Staub zurückgestoßen.

Zwei Frauen schüttelten im Vorübergehen die Köpfe, aber niemand half ihr. David war unbemerkt von hinten an die Horde herangekommen. Er rief dem großen Blonden zu: „Ah, der Georg, willst du nicht lieber noch einmal ausprobieren, wer von uns beiden der Stärkere ist, anstatt ein wehrloses Mädchen herumzuschubsen?“

Während die anderen Kinder sich davonmachten, als wüssten sie, was kommt, krempelte David lächelnd die Ärmel seines karierten Hemdes hoch. Der Blonde stand mit geballten Fäusten und mahlendem Unterkiefer da.

Nachdem er in Hannelores Richtung gespuckt hatte, ohne sie zu treffen, stapfte er breitbeinig davon. David zog sie hoch.

„Hat er dich gehauen?“

„Nein, geschubst, aber er hat mich nicht mehr aufstehen lassen.“ Hannelore schluckte gegen die aufsteigenden Tränen an.

„Alles in Ordnung?“, fragte David.

Sie schaute an ihrem schmutzigen, zerrissenen Kleid hinunter. Nichts war in Ordnung.

„Ja, danke“, sagte sie, während die ersten Tränen rollten.

Sie wendete sich schnell ab. Nach ein paar Schritten schaute sie über die Schulter. David schlenderte in die entgegengesetzte Richtung davon.

Daheim bekam sie Ohrfeigen für das ruinierte Kleid.

„Trampel“, schimpfte die Mutter.

Von dem blonden Jungen erzählte sie nichts, und auch nicht von David.

Zum Abendessen gab es Pfannkuchen mit Zucker und Zimt. Hannelore aß ihre Portion auf und machte sich anschließend über das her, was die Eltern übrig gelassen hatten.

„Nur nichts verkommen lassen, nicht wahr, Hanni?“

Der Vater bedachte sie mit seinem schiefen Lächeln, das sie nie deuten konnte. Als Strafe für das zerrissene Kleid wurde sie früher als üblich ins Bett geschickt.

Sie träumte, dass der blonde Georg ihr den Bauch aufschnitt. Alle Pfannkuchen kamen herausgeflogen. Als gelbe Scheiben flatterten sie über dem Pausenhof hin und her. Wie fettige Schmetterlinge. Jedes Mal, wenn sie glaubte, einen einfangen zu können, verbrannte sie sich die Hand, weil sie aus Versehen in die Sonne gegriffen hatte. Schweißgebadet erwachte sie, zwei Stunden, bevor sie aufstehen durfte.

Frühjahr 1963

Sobald Hannelore sich unbeobachtet fühlte, hüpfte sie vor Freude. Sie hatte die zweite Klasse mit fast lauter Einsen abgeschlossen. Die Drei in Sport und die Zwei in Religion hatte der Lehrer lächelnd als „kleine Schönheitsfehler“ bezeichnet. Sie war vor der ganzen Klasse gelobt worden.

Die gehässigen Bemerkungen der Schulkameraden störten ihr Glück wenig, denn für schlechte Noten hätte es auch keine freundlichere Reaktion gegeben. Seit David sie ab und zu begleitete, wurde sie in Ruhe gelassen. Sogar die größeren Jungen und Mädchen hatten Respekt vor ihm.

„Warum haben die Kinder Angst vor dir?“, hatte Hannelore ihn gefragt.

„Die können weder denken noch kämpfen“, hatte er lachend geantwortet.

Hannelore verstand nicht genau, was er damit meinte, verzichtete aber auf weitere Fragen. David sollte sie nicht für dumm halten. Aus den Augenwinkeln schaute sie sein Haar an. Es war dick, glänzend und hatte die gleiche Farbe wie das Holz des Wohnzimmerschranks.

David erzählte ihr, was er gelernt oder erlebt hatte. Seine Stimme und seine Gesten hatten eine hypnotisierende Wirkung auf Hannelore. Ab und zu stellte er ihr eine Frage. Oft dachte sie sehr lange nach, um nichts Verkehrtes zu sagen. David nickte, wenn ihre Antwort richtig war.

Die Haare, die ihm dabei ins Gesicht fielen, schüttelte er in einer fließenden Bewegung wieder nach hinten. Für dieses Nicken lernte sie. Sobald Hannelore ihre Pflichten im Haushalt erledigt hatte, saß sie mit einem ihrer Schulbücher im Garten oder am Küchentisch.

„Hat sie keine Arbeit, dass sie dauernd mit ihren Büchern herumsitzen muss?“, hatte der Vater die Mutter gefragt.

Danach las sie an Sonntagen, Feiertagen, und immer wenn der Vater daheim war, nur noch in irgendwelchen Verstecken. Sie freute sich auf die Schultage. Vater kam dann erst zum Abendessen heim. Sobald am Nachmittag die aufgetragenen Arbeiten erledigt waren, durfte sie lernen. Die Mutter hatte sich anfangs nach den Schularbeiten erkundigt und ihr manchmal sogar dabei geholfen. Von dieser Hilfe mehr behindert als unterstützt, hatte Hannelore mit ihr am Küchentisch gesessen und ihre Aufgaben gemacht.

Obwohl die Mutter streng und wortkarg war, mochte Hannelore ihre Nähe. Sie genoss die Wärme des großen Körpers, niemand sonst kam ihr jemals so nahe.

Eine Klassenkameradin hatte einen kleinen Bruder bekommen und erzählte, dass Frauen von Zeit zu Zeit aus ihrem Bauch Kinder herauskommen lassen könnten.

Hannelore grübelte lange darüber nach, wie das gehen sollte. Dann, nach vielen Tagen, in denen sie für diese dringende Frage keine Antwort gefunden hatte, fasste sie sich ein Herz und fragte die Mutter.

„Kommt aus deinem Bauch auch mal ein kleiner Bruder heraus?“

Hannelore war von der Ohrfeige so überrascht, dass sie das übliche Ducken vergaß. Am Tag darauf waren die vier Striemen auf der dicken Wange kaum verblasst. Noch Monate später ermahnte sie das helle Pfeifen im linken Ohr, ihre Fragen für sich zu behalten.

„Na, habt ihr Zensuren gekriegt?“, fragte die Mutter, als Hannelore in die Küche kam.

Voller Stolz hielt sie ihr das Zeugnisheft entgegen, die richtige Seite war schon aufgeschlagen. Doch Mutters Mundwinkel sanken nach unten. Der von roten Rüben verfärbte Finger schoss nach vorne, als ob er den Sport-Dreier durchbohren wollte.

„In Turnen eine Drei? In Religion eine Zwei? Na, da wird dein Vater sich nicht drüber freuen.“

Hannelore bangte dem Abend entgegen. Die Mutter hatte das Zeugnisheft aufgeschlagen auf den Wohnzimmertisch gelegt. Anklagend starrten die Einser zur Zimmerlampe empor. Vorbei an der blamablen Zwei und der grauenvollen Drei.

Der Vater setzte sich seufzend an den Tisch. Er hatte noch das Jackett an. Mit gerunzelter Stirn besah er sich das Zeugnis und sagte lange Zeit nichts. Hannelore knetete nervös ihre Finger. Schwitzend wartete sie darauf, dass der Vater das Wort an sie richtete.

„So Hannelore, du hast ja jetzt Ferien, da wirst du der Mutter ein paar Arbeiten abnehmen, damit du Muskeln bekommst und besser mitturnen kannst. Außerdem lesen wir jeden Abend im Religionsbuch. Ich will doch mal sehen, ob das im nächsten Jahr nicht besser wird.“

Hannelore schleppte Holz aus dem Schuppen und stapelte es unter dem Dachvorsprung, so weit sie hinauf reichte. Sie schrubbte Böden und trug schwere Einkaufstaschen. Abends fragte sie der Vater aus dem Religionsbuch ab. Sie wusste jede Antwort. Der Vater ging zum Pfarrer, der den Religionsunterricht in der Schule erteilte. Von ihm erfuhr er, dass nicht etwa Unwissen, sondern vielmehr zweifelnde Fragen bezüglich der göttlichen Gerechtigkeit die Eins im Zeugnis verhindert hatten. Der Vater versicherte dem Geistlichen, er werde seiner Tochter den Unsinn austreiben. Dazu wählte er das nach seiner Meinung probateste Mittel: einen Haselstecken. Der Mutter war es egal, sie war schwanger und wollte nur, dass bald wieder Ruhe einkehrte.

Als die Ferien vorüber waren, fiel Hannelore ein, was sie so lange zur Seite geschoben hatte. David würde nicht mehr da sein. Er besuchte jetzt das Gymnasium in der Kreisstadt. Schon am dritten Schultag kam sie mit aufgeschürfter Nase und aufgeschlagenen Knien nach Hause. Die Strümpfe konnte sie mittlerweile selbst stopfen und die Schürfwunde schien die Mutter nicht sonderlich zu interessieren.

Hannelore sog das neue Wissen auf, das ihr der Unterricht und die Schulbücher anboten. Manchmal traf sie David zufällig im Dorf. Er sollte sie ruhig ausfragen, sie würde die Antwort parat haben. Tage, an denen sie ihn nicht traf, waren bedeutungslos. Bald stand ihr Plan fest: Sie wollte die gleiche Schule besuchen wie David. Eines Tages blieb sie nach dem Unterricht im Klassenzimmer stehen, bis der Lehrer sie fragte, was sie auf dem Herzen hätte.

„Kann ich auch einmal in das Gymnasium in der Stadt gehen?“

Hannelore sprach stockend und hielt mit hochgezogenen Schultern den Blick auf den Boden gerichtet.

„Selbstverständlich, da musst du sogar hin, du hast die besten Noten in der ganzen Klasse.“

Hannelore schaute staunend in das lächelnde Lehrergesicht.

Sie brauchte also nur noch eine Weile zu lernen und durchzuhalten, bis sie mit David zusammen in die Schule gehen konnte.

Ein paar Wochen später wurde sie von einem Großonkel befragt, was sie einmal werden wolle. Der alte Mann hatte wohl mit einer Antwort wie „Prinzessin“ oder „Indianerin“ gerechnet oder mit einer anderen kindlichen Traumvorstellung.

„Gymnasiumschülerin“, antwortete sie stattdessen mit fester Stimme. Der Vater stieß ein abgehacktes Lachen aus.

„Ha! Da siehst du es, an hochtrabenden Ideen mangelt es unserer Hanni nicht. Dabei müssen wir froh sein, wenn wir sie unter die Haube bringen.“

Hannelore konnte sich nicht vorstellen, was sie unter einer Haube tun sollte. Sie begehrte auf: „Aber der Lehrer hat gesagt, ich muss aufs Gymnasium wegen meiner guten Noten.“

„Was du musst, das bestimme immer noch ich und nicht der Herr Lehrer, außerdem haben wir das Geld nicht zum Aus-dem-Fenster-Werfen“, entgegnete der Vater.

Hannelores einziges Ziel war in Gefahr, und ohne sich zu besinnen, rief sie:

„Ich gehe aber doch aufs Gymnasium, wenn doch der Lehrer sagt, dass ich muss!“

Sie stampfte dabei zum ersten und für lange Zeit letzten Mal mit dem Fuß auf. Die Ohrfeige des Vaters fiel dank der Anwesenheit des Besuchers sanfter aus, als sein Zorn es hatte befürchten lassen. Hannelore wurde in die Küche geschickt, um der Mutter zu helfen. Die sah den roten Fleck auf der Wange der Tochter, sagte aber nichts.

Zwei Wochen später rief der Vater Hannelore kurz vor dem Abendessen ins Wohnzimmer.

„Ich habe mit dem Lehrer gesprochen“, sagte er. Sie zog die Schultern nach oben. Der Vater hörte sich verärgert an. „Von mir aus kannst du aufs Gymnasium gehen, ich will mir ja nicht nachsagen lassen, deiner Bildung im Weg zu stehen.“

„Aber nach dem Abitur ist Schluss, nur damit du dir nichts einbildest.“

Hannelore klammerte sich mit klopfendem Herzen an die von neuem aufkeimende Hoffnung. Als der Vater beharrlich schwieg, wandte sie sich zur Tür.

„Wenigstens bedanken könntest du dich“, rief er ihr erbost nach.

Voll Angst, das gerade wiedergewonnene Glück erneut zu verlieren, machte Hannelore einen unbeholfenen Knicks und suchte fieberhaft nach etwas, das sie sagen konnte.

„Danke, dass ich aufs Gymnasium gehen darf“, stotterte sie.

„Na also, es geht doch, jetzt lauf und erzähl es der Mutter.“

Aber die wusste es schon. Hanni sollte rasch noch Holz hereinholen, den Tisch decken und das Essen hinstellen.

Es gab Kartoffeln und Kümmelquark. Eines der wenigen Essen, die Hannelore von Herzen verabscheute.

„So“, drohte der Vater, „jetzt darfst du nicht mehr wählerisch sein. Ab heute müssen wir sparen, damit das Fräulein Tochter aufs Gymnasium kann. Wenn erst das Brüderlein da ist, dann soll das ja auch nicht verhungern, oder?“

Hannelore wollte alles tun, um aufs Gymnasium gehen zu können. Selbstverständlich würde sie dafür sorgen, dass ihr ersehnter kleiner Bruder nicht hungern musste. Ihm würde sie zur Not auch ihr eigenes Essen überlassen. Sie hatte sich wie eine Schneekönigin gefreut, als die Mutter ihr sagte, dass sie bald ein Brüderchen haben sollte. Hannelore versuchte, trotz ihres mit Quark und Kartoffeln gefüllten Mundes, den Vater dankbar anzulächeln. Obwohl sie schon nach ihrer eigenen Portion eine Gänsehaut hatte, nahm sie sich noch die Reste der Erwachsenen vor, um sich das Wohlwollen des Vaters nicht zu verscherzen.

„Brav“, grinste der, „ganz unsere Hanni, so ist es recht, nur nichts verkommen lassen“.

Unsicher schaute Hannelore in die eisblauen Augen unter den dunklen Brauen. Die aufsteigende Übelkeit ignorierte sie, so gut es ging.

Frühjahr 1995

HANNIBAL

Der Friedhof lag am Hang zwischen Dorf und Waldsaum. Hannelore musste sich kräftig gegen das eiserne Tor stemmen, bis es mit kreischenden Angeln nachgab.

Der Mond, schmal wie ein abgeschnittener Fingernagel, beleuchtete den Hauptweg nur spärlich. Spukgestalten huschten in die Schatten hinter den Grabsteinen. Einige Male hatte sie sich schon vor Kindern oder Jugendlichen verstecken müssen. Nach Einbruch der Dunkelheit kamen sie her, um ihren Mut unter Beweis zu stellen. Nachts war der Friedhof Hannelores Reich. Hier richtete um diese Zeit niemand spöttische Blicke auf sie. Keiner drehte sich mit angewiderter Miene nach ihr um. Es wurde nicht getuschelt und niemand bedachte sie im Vorübergehen mit gemurmelten Beleidigungen. Das Schlurfen ihrer ausgetretenen Schuhe verstummte an Johannes‘ Grab.

Noch immer stand hier eine kleine Holzbank. Die letzte einer langen Reihe von Bänken, die der Vater angefertigt hatte. Alle hatten unter dem wachsenden Gewicht der Mutter Dienst getan und waren, eine nach der anderen, unter ihrer Last zerbrochen. Sie wusste nicht, ob es eine von Vaters Bosheiten war, dass er die Konstruktion niemals dem unaufhaltsam steigenden Gewicht seiner Frau anpasste. Die letzte Bank, die nun von Flechten und Moos aufgezehrt wurde, hatte ihre Mutter nur einmal benutzt.

Am Tag vor dem Sturz.

Hannelore hatte damals auf Geheiß des Vaters die Stufen, die zur Haustür führten, mit Seifenlauge geschrubbt. Sie wollte eine Warnung rufen, da war es schon zu spät. Noch heute konnte sie den schweren Leib der Mutter auf sich zufliegen sehen. Wieder und wieder lief der kurze Moment vor ihrem inneren Auge ab.

Manchmal schnell, manchmal wie in Zeitlupe: der große segelnde Körper, die flatternden Vorderteile der grauen Strickjacke, die ausgebreiteten Arme, der tonlose Schrei, der wie eine gläserne Blase vor dem offenen Mund stand, die vor Schreck geweiteten Augen. Hannelores Keuchen nach dem Aufprall vermischte sich mit einem dumpfen Röcheln aus der Kehle der Mutter. Drei Männer waren nötig, um die Verunglückte auf eine Trage zu betten. Sie regte kein Glied, aber ihre Augen waren offen. Als der Sanitäter dem Vater mitteilte, man werde seine Frau nun in die Klinik bringen, beschimpfte sie den überraschten Mann lautstark und befahl, man solle sie sofort ins Haus tragen.

Schon am nächsten Tag offenbarte ihnen ein junger Arzt, dass sich die Mutter die Wirbelsäule gebrochen habe.

Ihr Überleben sei ein Wunder. Nach dem Unfall blieb sie bis zum Hals gelähmt.

Hannelore klagte nicht über ihre Schmerzen. Die Rippen heilten auch ohne Behandlung zusammen.

Verglichen mit der Tragödie ihrer Mutter erschienen ihr die Stiche im Brustkorb geradezu läppisch.

Wenige Wochen später wurde die Gelähmte nach Hause gebracht. Das Pflegebett stand im Wohnzimmer.

Der Vater leerte den Schrank, der Hannelore an Davids Haar erinnerte, und packte hinein, was man für die Pflege benötigte. Er bezog ohnehin Frührente und widmete sich nun ganz seiner kranken Frau. Hannelore arbeitete tagsüber in der Metzgerei und versorgte abends den Haushalt. Ins Wohnzimmer ging sie selten. Die Mutter wollte sie nicht in ihrer Nähe haben. Musste sie trotzdem einmal hinein, rief die Kranke:

„Da kommt sie ja, die Mörderin. Den Garaus hat sie mir machen wollen, aber nicht mal das hat sie können. Schau mich ruhig an, Hanni, daran bist du schuld, du ganz allein.“

Hannelore antwortete nie, sondern beeilte sich, um schnell wieder aus dem Zimmer zu kommen. Die Mutter war keine einfache Patientin, der Vater brauchte seine abendlichen Biere und Schnäpse in immer größerer Anzahl.

Dabei magerte er zusehends ab. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er Hannelores Essen für Schweinefraß hielt.

Manchmal ließ er sich abends zu einem Mettwurstbrot überreden. Sie gab ihr gutes Zureden jedoch auf, nachdem er sie darauf hingewiesen hatte, dass nicht jeder so fett sein könne wie sie.

Hannelore setzte sich in Bewegung, um ihr eigentliches Ziel zu erreichen: das Grab ihres Vaters. Drei Monate war es her, dass sich der alte Mann eines Abends vor seiner zweiten Flasche Bier kerzengerade aufrichtete und mit seltsam klarer Stimme verkündete: „Ich kann nicht mehr.“

Anschließend war er vornüber gekippt. Sie hatte seinen Oberkörper hochgerissen, gegen die Lehne gedrückt und fassungslos in die starren eisblauen Augen geschaut.

Schwarze Stoppeln stachen aus der gelben Haut hervor. An Nase, Mund und Kinn klebten Teile des Mettwurstbrotes, auf dem sein Gesicht gelegen hatte.

Nachdem Hannelore den Arzt angerufen hatte, band sie den toten Vater mit seinem dunkelblauen Schal, den sie ihm vor vielen Jahren zu Weihnachten gestrickt hatte, an der Stuhllehne fest. Sie räumte den Tisch ab, wusch die Reste der Mettwurst vom Gesicht des Toten, wischte die Krümel von der Tischplatte und legte eine mit roten Geranien bestickte Decke auf. Ruhig und umsichtig arbeitete sie, bis alles so war, wie sie es haben wollte.

Dann knotete sie den Schal auf und ließ den Oberkörper vorsichtig zurück auf die Tischplatte gleiten.

Das provisorische Holzkreuz ragte schräg aus der weichen Erde. Hannelore wühlte in ihrer Schultertasche.

Wortlos, als erteile sie ein Sakrament, schwenkte sie die Flasche über dem Grab. Ein paar Tropfen des Cognacs goss sie zwischen die Stiefmütterchen. Den Rest trank sie in kleinen Schlucken aus. Auf der Bank in der Nähe des Grabes verbrachte sie hin und wieder ein paar ungestörte Nachtstunden. Doch dieses Mal wurde sie schon nach kurzer Zeit durch knirschende Schritte aus ihren Gedanken aufgeschreckt. Sie verbarg sich hinter der Rückwand der nahe gelegenen Wasserstelle. Atemloses Mädchengekicher war zu hören, Bubenstimmen sprachen laut, waren sehr darauf bedacht, sich keine Unsicherheit anmerken zu lassen.

„Hast du gehört?“, flüsterte eines der Mädchen, „da raschelt doch was“.

„Klar – ist ja gleich Mitternacht. Die schrauben die Deckel auf“, antwortete lachend eine dunklere Stimme.

Eine kleine Flamme zischte empor und beleuchtete zwei Jungengesichter. Die Konturen traten scharf hervor. Im Flackern des Feuerzeugs wirkten die Züge der Jugendlichen wie Teufelsfratzen. Schließlich blieben von dem hellen Schein nur zwei kleine rote Punkte übrig. Sie glühten in unregelmäßigen Abständen auf, hüpften im Takt der Schritte auf und ab, verschwanden für Momente und tauchten von Neuem auf. Sie rollte die Zunge der Länge nach zusammen und ließ Luft durch die fleischige Rinne streichen, bis sich an der Zahnreihe ein Wirbel bildete und das täuschend echte „Schuuuuhuuuuh“ eines Käuzchens ertönte. Das Knirschen des Kieses verstummte, sekundenlang hörte man keinen Ton. Endlich hauchte eines der Mädchen:

„Was war das denn?“

„Ein Käuzchen“, flüsterte einer ihrer Begleiter, „nur ein Käuzchen.“

Seine Stimme klang nicht mehr ganz so selbstsicher wie zuvor.

„Da! Schon wieder.“

„Die schreien eben so, sind doch nur Vögel.“

„Ich habe so einen hier aber noch nie gehört.“

„Du warst ja auch noch nie in der Nacht auf dem Friedhof, Käuzchen sind Nachtvögel, am Tag schlafen sie.“

„Klugscheißer“, spottete die zweite Jungenstimme.

Ein kurzes Scharren von Füßen und die Geräusche eines spielerischen Handgemenges waren zu hören.

„Wohin gehen wir eigentlich?“, fragte das Mädchen, als es seine Fassung zurückgewonnen hatte.

„Zum Grab von meinem Opa“, bestimmte einer der Jungen.

„Draufpinkeln?“, fragte der andere herausfordernd.

„Von mir aus“, antwortete der Erste.

Die Mädchen kicherten.

Die Gruppe näherte sich der Wasserstelle, hinter der sich Hannelore versteckt hielt. Da sprang sie ohne langes Überlegen aus ihrem Versteck. Sie hielt die Zipfel ihrer Strickjacke in den Fäusten und hob die Arme weit nach oben. Die Jacke spannte sich wie ein riesiges finsteres Segel hinter ihrem Kopf auf. Was war bloß als Nächstes zu tun?

Sie fuchtelte wild mit den Armen und stieß quiekende Schreie aus. Sie sprang hin und her, so lebhaft es ihr Gewicht zuließ. Dabei stieß sie eine Reihe Plastikgießkannen um, die polternd vom Rand des Wasserbeckens stürzten.

„Haaraaaah“, röhrte sie. Sie krächzte und hechelte, fiepte und jaulte und rollte einen Teppich gruseliger Geräusche aus, der ihr selbst eine Gänsehaut verursachte.

Die Schreie der flüchtenden Kinder gaben Hannelore ein Gefühl von Stärke. Sie ließ die Arme sinken und gab keinen Laut mehr von sich. Hastiges Rennen war zu hören. Die Kinder schienen sich in Richtung Ausgang zu entfernen. Dann wurde ihre Gestalt vom Lichtkegel einer Taschenlampe aus der Dunkelheit gerissen.

„He, Leute! Kommt zurück und guckt euch euren Geist an“, grölte der Junge, der auf das Grab seines Großvaters hatte pinkeln wollen. „Es ist bloß die Bahl aus der Metzgerei.“

Mit dem Unterarm versuchte Hannelore, ihre Augen vor der schmerzenden Helligkeit zu schützen. Sie hörte, dass die Kinder zurückkamen. Sie tuschelten miteinander, eines der Mädchen kicherte. Dann begann einer zu rufen: „Hannibal, Hannibal, fraß die ganzen Alpen kahl, denn dort zog sie übers Land, Hannibal, der Elefant.“

Nach und nach stimmten alle in den Spottvers ein, den sie wahrscheinlich von ihren Eltern gehört hatten. Die Jungen und Mädchen trieben die plumpe Gestalt mit dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe zum Friedhof hinaus. Sie verfolgten sie mit ihrem Gegröle bis zum ersten Haus des Dorfes. Erst dort ließen sie von der atemlosen Frau ab.

Als Hannelore die Haustür aufstieß, kam ihr Bilbo entgegen. Mit begeistertem Schwanzwedeln warf er sich vor ihre Füße. Sie musste ihm den Bauch kraulen, ehe er sie eintreten ließ. Der große Hund folgte ihr in die Küche.

Sie sank auf einen Stuhl, eine Hundepfote legte sich auf ihr Knie.

Drei Monate war es her, dass sie den hellbraunen Mischling aus dem Tierheim in Hügeln geholt hatte. Sie hatte ihn ausgewählt, weil er am räudigsten aussah. Sein Fell wirkte wie von Motten zerfressen. Er ließ die Ohren hängen, die Augen trieften und er hörte auf den albernen Namen Bimbo. Genau ihn wollte sie haben, denn nachdem sie der Mutter die Idee mit dem Hund vorgetragen hatte, verbot ihr die Kranke, eines dieser „räudigen Viecher“ ins Haus zu schleppen.

Hannelore empfand für den Hund anfangs keine besondere Zuneigung, aber sie pflegte ihn, so gut sie konnte. Nach acht Wochen glänzte sein Fell und jetzt, nach einem Vierteljahr, schien er vor Gesundheit zu strotzen. Sie sprach oft mit ihm. Nicht wie andere Leute mit Hunden sprechen, sondern so, wie man mit Partnern, Verwandten oder Freunden spricht. Sie nannte den Hund Bilbo. Damals las sie gerade Tolkiens „Der kleine Hobbit“ und Bilbo Beutlin hatte es ihr besonders angetan. Weil sich der Name für den Hund vertraut anhörte, reagierte er von Anfang an darauf. Sie war überzeugt, dass sie die vergangenen Wochen ohne Bilbo nicht durchgestanden hätte.

Der Onkel hatte sie gleich nach dem Tod des Vaters mit dem halben Lohn freigestellt.

„Damit du dich richtig um deine Mutter kümmern kannst.“

Der einzige Mensch, mit dem Hannelore regelmäßig sprach, war der Arzt, der fast täglich ins Haus kam.

Zweimal in der Woche ging sie einkaufen, doch im Dorf redeten die Leute zwar über sie, aber nicht mit ihr. Als der Vater noch lebte, gab es wenigstens den Streit mit ihm und die Auseinandersetzungen über das Essen. Auch mit der Mutter hätte sie sich unterhalten, wenn diese, über ihre ewigen Beschuldigungen hinaus, das Wort an sie gerichtet hätte.

Seit sie herausgefunden hatte, dass jeder Versuch, sich zu verteidigen, alles nur noch schlimmer machte, ließ sie die Kranke ihr Gift verspritzen, ohne zu antworten. Sobald das Schimpfen verstummte, las Hannelore etwas vor. Ob das ausgewählte Buch die Zustimmung der Mutter fand, konnte sie lediglich an der Dauer der Schimpfkanonaden ablesen. Manchmal kam sie schon nach wenigen Sekunden zur Ruhe, um Hannelore Gelegenheit zu geben, mit dem Vorlesen anzufangen. Ein anderes Mal versiegte der Strom der Vorwürfe erst, wenn die Mutter in Schlaf fiel. Dann tauschte Hannelore die Lektüre stillschweigend aus und hoffte, beim nächsten Versuch mehr Glück zu haben.

Sie stemmte sich vom Stuhl hoch, schlurfte über den dunklen Gang und öffnete vorsichtig die Tür. Im rötlichen Licht der Nachttischlampe sah sie die Augen im Gesicht der Mutter glitzern.

„Kommst du mich wieder vergiften?“, zischte sie gereizt.

„Ich gebe dir nur die Medikamente, die der Arzt verordnet hat“, beschwichtigte Hannelore.

„Papperlapapp, vergiften willst du mich, brauchst doch kein Geheimnis draus zu machen. Jetzt, wo dein Vater nicht mehr am Leben ist, hast du ja freie Hand.“

Hannelore drückte die Ampulle in den Anschluss der Sonde und schickte sich an, den notwendigen Windelwechsel vorzunehmen. Lautstarkes Keifen begleitete ihre Handgriffe. Als die Mutter versorgt, die Windel hinausgetragen und das Deckbett rundherum gut festgesteckt war, öffnete Hannelore beide Fenster, um den Gestank hinauszulassen. Schon fast aus dem Schlaf heraus murmelte die Mutter:

„Soll ich Lungenentzündung kriegen? Hast ja nur Angst, dass du mir morgen vom Geburtstagskuchen abgeben musst.“