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Monika Fink-Lang
Joseph Görres

topos taschenbücher, Band 1024
Eine Produktion des Lahn-Verlags

Monika Fink-Lang

Joseph Görres

Ein Leben im Zeitalter von Revolution und Restauration

topos taschenbücher

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1024-4
E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5020-1
E-Pub: ISBN 978-3-8367-6020-2

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
© 2015 Lahn-Verlag in der Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100,
47623 Kevelaer, Deutschland, www.lahn-verlag.de
Umschlagabbildung: © Mittelrhein Museum Koblenz LG 001_007
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

I. Kindheit in Koblenz (1776–1793)

II. Im Bann der Revolution (1793–1800)

III. Naturphilosophische Studien (1800–1806)

IV. In Heidelberg (1806–1808)

V. Altdeutsche und altorientalische Studien (1808–1813)

VI. Der Rheinische Merkur (1814–1816)

VII. Konfrontation mit Preußen (1816–1819)

VIII. Im Exil (1819–1827)

IX. Frühe Münchener Jahre (1827–1837)

X. Späte Münchener Jahre (1838–1848)

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Kindheit in Koblenz (1776–1793)

„Dem Herrn Mauritius Goerres, Bürger und Händler in Koblenz, und seiner Ehefrau Helena Theresia geborener Matza ist am 25. Januar der erste Sohn Johannes Josephus geboren und am selben Tag aus dem Wasser der heiligen Taufe wiedergeboren.“ So heißt es in der Geburtsurkunde im Taufbuch der Pfarrkirche St. Kastor in Koblenz.1 Man schreibt das Jahr 1776.

Joseph Görres’ Geburtsstadt Koblenz, am Zusammenfluss von Rhein und Mosel gelegen, ist damals eine blühende Handelsstadt mit einer selbstbewussten Bürgerschaft, unter der Herrschaft eines geistlichen Fürsten, des Trierer Fürsterzbischofs und Kurfürsten Clemens Wenzeslaus. Wie viele seiner Kollegen auf deutschen Thronen ist er ein aufgeklärter Absolutist, dabei keineswegs der schlechteste, ein frommer und kultivierter, vielseitig gebildeter Mann, dem ein makelloser Lebenswandel bescheinigt wird. Ein Mann, der aufgeschlossen für Reformen ist, in politicis allerdings schwankend und unsicher und von seinen jeweiligen Beratern abhängig.2 Auch die gebildeten Bürger der Stadt und der Amtsadel sind in dieser Zeit ganz von der Aufklärung geprägt; man gründet Lesegesellschaften und Illuminatenzirkel, liest die Schriften Kants und Voltaires, wendet sich von der alten, überkommenen Kirchenfrömmigkeit ab und begeistert sich für eine neue Humanitätsreligion. Es ist eine Zeit des Umbruchs, in der sich die Wandlungen der Revolutionsjahre bereits ankündigen.3

Die Familie, in die Joseph Görres hineingeboren wurde, war nicht besonders reich oder vornehm, gehörte nicht zur gesellschaftlichen Elite der Stadt. Der Vater war Holzhändler, die Mutter, eine geborene Mazza, stammte aus einer ursprünglich aus dem Tessin eingewanderten Kaufmannsfamilie, die in Koblenz einiges Ansehen genoss. Das Haus „zum Riesen“, in dem Görres aufwuchs, lag in der unteren Rheinstraße, nahe der Fliegenden Brücke nach Ehrenbreitstein, am Ufer des Stroms, dem Görres sein Leben lang mit großer Anhänglichkeit verbunden bleiben sollte. Er war das älteste von acht Kindern. Nur zwei Brüder und zwei Schwestern erlebten das Erwachsenenalter.4

In seiner Familie ist Joseph der Einzige, der sich für Bücher interessiert. Sein Sohn wird später von der „geistigen Dürre“ des Elternhauses sprechen, in dem es außer dem Wandkalender und den alten Gebetbüchern keine Lektüre gegeben habe und in dem der „exzentrische Kopf“ allein auf sich gestellt gewesen sei.5

Der kleine Joseph ist ein neugieriges Kind, wissbegierig, begeisterungsfähig, mit einer unbändigen Lesewut, ein kleiner Autodidakt, der in der Dachkammer seines Elternhauses naturwissenschaftliche Experimente zu Elektrizität und Magnetismus, zur Optik und zur Lichtbrechung macht, chemische Versuche mit Säuren, Quecksilber und Schwefel durchführt, und der in einem naturwissenschaftlichen Tagebuch seine Experimente und Beobachtungen notiert; der davon träumt, einmal als Forscher in fremde Länder zu reisen, und sich aus allerlei bunten Reiseberichten sein eigenes geografisches Handbuch zusammenschreibt.6

Das Koblenzer Gymnasium, das Görres seit 1785 besucht, ist ganz vom Geist der Aufklärung geprägt. Der Lehrplan, den der Trierer Domherr Johann Friedrich Hugo von Dalberg für Fürstbischof Clemens Wenzeslaus nach den Prinzipien einer aufgeklärten Pädagogik ausgearbeitet hatte, orientierte sich am Geist der protestantischen Universität Göttingen, der Hochburg des neuen Geistes; er war auf die praktische Anwendbarkeit des Gelernten für künftige Staatsdiener ausgerichtet, legte Wert auf Rhetorik und Staatswissenschaften, auf Naturwissenschaften und Mathematik, vor allem aber auf „sittliche Bildung“. Der Lektürekanon umfasste die Philosophen und Geschichtsphilosophen der europäischen Aufklärung, die Werke Montesquieus, Herders und Kants.7 Die Lehrer des jungen Görres, die nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihn ausübten, waren junge, gebildete Weltpriester, idealistische Anhänger der Gedanken der Aufklärung und – in den Jahren nach 1789 – der Französischen Revolution und der republikanischen Regierungsform, engagierte Gegner des alten Reichs und der alten Hierarchien; sie beschäftigten sich mit Leibniz und Kant und glaubten an die Möglichkeit einer Verbesserung des Menschen durch Bildung und an das Heraufdämmern eines neuen Zeitalters.8 Erziehung zu spekulativem Denken, zu Kritikfähigkeit und politischem Engagement waren ihre Hauptanliegen. Für den jungen Görres hatte diese geistige Atmosphäre zur Folge, dass der katholische Kirchenglaube seiner Kindheit unversehens verloren ging.

Joseph Görres ist ein guter Schüler, dem in seinen Zeugnissen „felicissimum ingenium“ bescheinigt wird, also besonders glückliche geistige Anlagen, nicht übermäßiger Fleiß und ein etwas flegelhaftes Benehmen.9 Regelmäßig gehört er zu den Schülern, die am Jahresende für ihre besonderen Leistungen Auszeichnungen einheimsen.

Während seiner letzten Schuljahre spielt sich auf der politischen Bühne Europas ein spannungsgeladenes Szenarium von einzigartiger Bedeutung ab. Als im Sommer 1789 das aufgebrachte Volk von Paris die Bastille erstürmt und die Revolution ausbricht, besucht er die vierte Gymnasialklasse. Mit seinen Lehrern und vielen seiner Klassenkameraden wird der 13-Jährige über die Nachrichten aus Frankreich gejubelt und auf den Siegeszug der Revolution durch ganz Europa gehofft haben. Während seiner letzten beiden Schuljahre beginnt der erste Koalitionskrieg, wird in Frankreich die Republik ausgerufen, erreicht Robespierres Terrorherrschaft mit der Hinrichtung König Ludwigs XVI. und Königin Marie Antoinettes seinen Höhepunkt. 1792 feiert die französische Armee mit dem Einmarsch in Mainz einen verheißungsvollen Triumph, doch schon im Jahr darauf geht Mainz wieder verloren. Der Kurfürst, der bereits geflüchtet war, kehrt nach Koblenz zurück und nimmt Rache an den Sympathisanten der Revolution. Als Görres im Herbst 1793 die Schule beendet, drohen am Rhein die alten Zustände wiederzukehren.10

Am Ende seiner Schulzeit steht der 17-Jährige in dieser unsicheren chaotischen Zeit ohne persönliche Perspektive da. Das Medizinstudium in Bonn, von dem er wohl geträumt hat, ist für ihn unerreichbar, schon aufgrund der finanziellen Verhältnisse der Familie, nun erst recht durch Krieg und politische Wirren.11 Doch was er aus seinen letzten Schuljahren mit ins Leben nimmt, ist – neben der Vertrautheit mit der philosophischen Literatur seiner Zeit, besonders mit den Werken Kants, den er hoch verehrt, und einem Schatz naturwissenschaftlicher Kenntnisse – eine glühende Begeisterung für die Ideale der französischen Revolution, eine tiefe Aversion gegen die alte Ordnung, die alten verknöcherten Hierarchien und ihre Repräsentanten, vor allem aber der idealistische Glaube an die Möglichkeit eines moralischen Fortschritts der Menschheit. Mit Feuer und Enthusiasmus stürzt er sich nun in den Kampf für diese Ideale.

II. Im Bann der Revolution (1793–1800)

Als am 24. Oktober 1794 die Franzosen unter den Klängen der Marseillaise in Koblenz einzogen und eine fast 20-jährige Epoche französischer Herrschaft für Görres’ Heimatstadt begann, gehörte der 18-Jährige zu dem relativ kleinen Häufchen derer, die die politische Wende begrüßten, die, so schrieb er später, „die beseeligenden Gefühle der Freyheit“ genossen und die anrückenden Franzosen mit Enthusiasmus bejubelten.12

Schon in den Jahren vor dem Einmarsch der Franzosen hatte sich in Koblenz, wie auch in andern Städten des Rheinlands, ein Klub von „Patrioten“ zusammengefunden, der die Ideale der Französischen Revolution und des Republikanismus auf seine Fahnen schrieb. In der Theorie sympathisierte man mit den Zielen der französischen Jakobiner, ohne jedoch deren Bereitschaft zur Gewalt zu teilen, in der Praxis aber setzte man – nach den alten Prinzipien der Aufklärung und eines Moralismus à la Kant – vor allem auf die Besserung des Menschen durch Erziehung. An eine politische oder publizistische Wirksamkeit war vorläufig nicht zu denken. Das Häuflein der Revolutionsanhänger musste sich vielmehr im Untergrund treffen, denn die meisten Koblenzer Bürger, zumal die Männer der Oberschicht, standen, obwohl von den Ideen der Aufklärung geprägt, dem Patriotenklub mehr als skeptisch gegenüber. Sie waren alles andere als Republikaner, hofften vielmehr auch nach dem Einmarsch der Franzosen noch lange auf eine Rückkehr ihres geistlichen Fürsten. Selbst unter denen, die in den ersten Jahren nach der Revolution Frankreich noch als Vorbild ansahen, machte sich seit 1792 ein Stimmungsumschwung bemerkbar. Viele Gemäßigte konnten sich schon mit der Ausrufung der Republik nicht anfreunden, die Nachrichten von der Terrorherrschaft in Paris, vom Wüten der Guillotine, von der Hinrichtung des Königs ließen dann viele am Musterland der Freiheit zweifeln.13

Der junge Görres aber und seine Gesinnungsgenossen vom patriotischen Verein, unter ihnen nicht zuletzt einige seiner ehemaligen Lehrer, sehnten sich danach, auch in ihrer Heimat die Revolution ihren Siegeszug antreten zu sehen. Als bedeutenden Schritt auf diesem Weg feierten sie die Eroberung von Mainz durch die Franzosen im Oktober 1792. Die Mainzer Republikaner, die sich damals als „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ nach dem Vorbild der Pariser und Straßburger Jakobiner zusammenschlossen, wurden bald zum Vorbild und geistigen Zentrum der Revolutionsbegeisterten am Rhein. Diese „Klubisten“ taten alles, um ihre Mitbürger für die Ideale der Revolution zu gewinnen, hielten allabendlich Versammlungen mit Vorträgen ab, verteilten Flugschriften und Zeitungen. Im Februar 1793 gründeten sie unter der Ägide der Besatzungsmacht eine selbstständige Mainzer Republik und organisierten Wahlen zu einem Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent. Doch spätestens mit der Rückeroberung von Mainz im Juli 1793 endete der kurze Traum. Die Koblenzer Republikaner, allen voran Görres’ Lehrer, hatten bereits von Anfang an mit den Mainzern in Verbindung gestanden. Auch der junge Görres hat wohl im Lauf des Jahres 1792 – vermutlich mit einem seiner Lehrer – Mainz besucht und Bekanntschaft mit dem Zirkel der Klubisten gemacht. Das Konzept der Erziehung der Massen durch Wort und Schrift, das die Mainzer praktizierten, und die Perspektive eines möglichen Schritts von der philosophischen Theorie in die politische Praxis haben ihn sicher nachhaltig beeindruckt. Später wird er sich erinnern, dass damals „die Keime zu einem Enthusiasmus“ gelegt wurden, der auf sein künftiges Leben von entscheidendem Einfluss war.14

Als dann im Oktober 1794 mit dem Einmarsch der Franzosen der Traum der Koblenzer Republikaner in Erfüllung ging, verstand es der junge Görres sehr schnell als seine ganz persönliche Aufgabe, sich mit der Feder für seine politischen Ideale einzusetzen. Im Sommer 1795 bereits entstanden seine ersten publizistischen Versuche. In einem bösen kleinen satirischen Gedicht, frei nach einer Ode von Horaz, feierte der 19-Jährige die Hinrichtung des royalistischen Bischofs von Dol – ein geschmackloses Werkchen, das erst einige Jahre später gedruckt wurde.15 Kurz darauf entstand Görres’ erste publizistische Veröffentlichung, die Satire Der allgemeine Friede. Sie erschien, da es in Koblenz noch keine republikanische Presse gab, in Köln, in dem berüchtigten revolutionären Hetzblatt Brutusoder der Tyrannenfeind des ehemaligen Mönchs Franz Theodor Biergans.16 In dieser Parodie eines Friedensvertrags schüttet Görres seinen Spott über die Machthaber der antirevolutionären Koalition aus und lässt sie vom Sieger, der Grande Nation, auf passende Weise entschädigen. So erhält der Kaiser den Planeten Saturn, der König von England den Merkur als Stapelplatz, dazu das Recht, die Menschheit in Zukunft mit Sonnenlicht zu versorgen, die Bouteille für einen halben Pence. Der König von Preußen erhält den Jupiter, der König von Spanien den Uranus, verbunden mit dem Recht, Entdeckungsschiffe zu weiteren etwaig noch vorhandenen Monden zu entsenden. Der König von Sardinien erhält den Mars und freien Sardellenfang, der von Neapel eine Schachtel Bleisoldaten und die freie Jagd auf dem Mond, die Königin von Portugal einen vollkommenen Ablass mit der Auflage, das Muttergottesbild von Loreto neu einzukleiden. Dem Papst wird ein westfälischer Schinken zuerkannt, die Kurfürsten erhalten Ansprüche auf „die nächst erscheinenden Kometen“. Frankreichs König soll wieder in seine alten Rechte und Würden eingesetzt werden und – innerhalb der alten Grenzen, nur 12000 Fuß über dem Meer – in Luftpalästen herrschen. Der Titel des allerchristlichsten Königs aber soll in Zukunft dem Großtürk zufallen.

Damals, im Herbst 1795, sah alles danach aus, als wäre nach dem Kriegsaustritt Preußens und Spaniens im Frieden von Basel und nach dem siegreichen Vormarsch der französischen Sambre-Maas-Armee die Vereinigung des linken Rheinufers – und damit auch der Stadt Koblenz – mit Frankreich und ein von Frankreich diktierter Friedensvertrag nur noch eine Frage der Zeit. Doch schon einen Monat später schien Fortuna wieder auf Seiten der Österreicher zu kämpfen, und in Koblenz kursierten wieder Gerüchte von einem baldigen Abzug der Franzosen. Das wechselnde Kriegsglück der streitenden Parteien in den nächsten beiden Jahren brachte für die Bevölkerung am Rhein beständiges Hoffen und Bangen auf beiden Seiten und ließ abwechselnd Republikaner und Anhänger des Ancien Régime auf den Sieg hoffen. Dabei wurden die Kontributionen und Requisitionen durch die Besatzungsmacht immer drückender, das Land, das die Soldaten ernähren musste, war langsam ausgeblutet und die Franzosen hatten zu tun, die Bevölkerung ruhig zu halten. Die wachsende Unbeliebtheit der Besatzer in der Bevölkerung und die unsichere politische Lage machten es den Koblenzer Patrioten nicht einfacher, Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen. Zudem überging sie General Hoche, der siegreiche Kommandant der Sambre-Maas-Armee und Chef der Zivilverwaltung in Koblenz, bei der Besetzung der Ämter und setzte, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen, die alten monarchisch gesinnten Beamten und Stadträte wieder ein. Nach wie vor mussten sich Görres und seine Gesinnungsfreunde im Geheimen treffen, waren Zielscheibe des Spotts. Ihnen blieb nur die Hoffnung auf einen baldigen Frieden, der die Rheingrenze in ihrem Sinn regeln würde.17

Doch der Vorfriede von Leoben zwischen Bonaparte und Österreich im April 1797 enttäuscht diese Erwartungen, denn er setzt die Integrität des Deutschen Reiches als Grundlage für einen Friedensvertrag fest und bringt somit die Gefahr, dass Frankreich trotz anderslautender Beteuerungen auf die Rheingrenze verzichten könnte, und damit für Koblenz die Gefahr einer Rückkehr des Ancien Régime mit sich. Um diese Horrorvision zu bannen, meldet sich der junge Görres mit einem fingierten Auszug der Friedensbedingungen zu Wort, den er als Extrablatt zum Koblenzer Intelligenzblatt verteilen lässt. Die angeblich in Frankfurt unter Glockengeläut und Kanonendonner verkündeten Vereinbarungen zwischen den europäischen Mächten, die er hier aufzählt, u. a. die Anerkennung der französischen Republik durch den Kaiser und der Verzicht Frankreichs auf das linke Rheinufer – sollen den Territorienschacher der Kabinette ad absurdum führen und „kein unbedeutender Fingerzeig für die französische Regierung“ sein.18

Zur gleichen Zeit, da diese kleine Friedensfarce entstand, beschäftigt sich der 21-Jährige auch erstmals ernsthaft mit der Friedensthematik. In seinem ersten politischen Werk Der allgemeine Frieden, ein Ideal setzt er sich als „philosophischer Politiker“ theoretisch mit den Bedingungen eines ewigen Weltfriedens auseinander.19 Er widmet es „der fränkischen Nation“, denn es soll von seiner „glühenden Liebe für Freyheit und Republicanis’m“ Zeugnis geben und dafür, „daß reiner Republicanis’m auch auf deutschem Boden keimt!“20 Die Schrift ist stark beeinflusst von Kants Kritik der reinen Vernunft und dessen 1795 erschienenem Werk Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, von Herder und Fichte, Saint-Pierre, Condorcet und Rousseau. Görres geht aber über die reine Theorie hinaus, indem er aus der aktuellen Situation heraus argumentiert und aus seinen konkreten politischen Wünschen kein Hehl macht. Was ihm als Ideal vorschwebt, ist eine Völkerrepublik ohne Monopole, ohne Zunftzwänge und ohne Handelsbeschränkungen, frei von „Bücherinquisition“ und vom „Despotismus der Pfaffheit“, in der dem Strom der Aufklärung aus einem Lande in das andere freier Lauf gelassen wird. Erstmals beschäftigt sich Görres hier auch mit einem Thema, das ihn sein ganzes Leben lang immer wieder beschäftigen wird: mit dem Verhältnis von Kirche und Staat. Bereits hier fordert er, dass keiner der beiden sich in die Sphäre des andern einmischen dürfe; der Staat dürfe und müsse lediglich „dafür sorgen, daß die Kirche mit der Aufklärung des Zeitalters ziemlich gleichen Schritt“ halte. Niemand dürfe in der Ausübung seiner religiösen Pflichten gehindert werden. Letztlich aber seien solche theologischen „Spinnwebziehereien“ obsolet, denn Ziel für die Zukunft sei die Herrschaft der praktischen Vernunft und der „von Rousseau so genannten Religion des Menschen“.21

Wie Kant glaubt Görres an die Möglichkeit einer schrittweisen Verbesserung des Menschen und der Völker. Die Menschheit bewegt sich demnach von einem primitiven Stand der Barbarei in vielen Sprossen einer Stufenleiter bis hinauf zur bisher unerreichten höchsten Stufe der Humanität, in der Menschenwürde, Sittengesetz und allseitige Bildung herrschen. Analog zur Entwicklung des Embryos vom niedrigen pflanzenähnlichen Stadium zur höchsten Humanität sieht Görres auch bei den Staaten verschiedene Entwicklungsstufen. Ein ewiger Friede ist nur zwischen den höchstentwickelten demokratischen Staaten möglich. Frankreich hat, da es eine höhere Stufe in der Rangfolge der Staatsformen erreicht hat, das Recht, die Friedensbedingungen zu bestimmen, und die Aufgabe, Europa von seinen Despoten zu befreien, die Idee einer großen Völkerrepublik zu verwirklichen und auf einem allgemeinen Völkerkonvent eine Völkerkonstitution zu entwickeln. Es hat das Recht, ja die Pflicht, die umgebenden barbarischen Staaten, wenn dort eine Mehrheit Veränderungen und Revolutionen wünscht, der Völkerrepublik einzuverleiben.

Der Koblenzer vergisst dabei nicht, auf die Bedeutung der natürlichen Grenzen und damit der Rheingrenze als einer der wichtigsten Bedingungen für einen dauerhaften Frieden hinzuweisen. Staaten kämen nicht eher zur Ruhe, so schreibt er, „bis sie die von der Natur gezeichneten Umrisse aufsuchen“. Der Rhein müsse deshalb „die Düne der Republik“ werden. Der Gewinn der linksrheinischen Länder bedeute für Frankreich nicht zuletzt einen kulturellen Zugewinn, denn Deutschland habe auf philosophischem Gebiet – vor allem durch den „unsterblichen Kant“ – eine Revolution hervorgebracht, die fast ebenso bedeutend sei wie die politische Revolution Frankreichs.22

Diese Worte waren nicht zuletzt an das Direktorium in Paris gerichtet, dem Görres ein Exemplar noch im Manuskript zuschickte. Denn dort war man sich damals noch keineswegs einig über die Zukunft der linksrheinischen Gebiete. Von Kriegsbeginn im April 1792 an hatte Konsens darüber geherrscht, dass die Rheingrenze unabdingbare Voraussetzung der Sicherheit Frankreichs war. Doch darüber, ob die linksrheinischen Gebiete einen Pufferstaat in Form einer eigenständigen Republik bilden oder gänzlich mit Frankreich vereinigt werden sollten, waren die Meinungen gespalten. Manch einer in Paris vertrat die Ansicht, die Rheinlande seien noch nicht reif für die Reunion, und befürwortete deshalb eine république séparé. In jedem Fall aber gedachte man, eine Volksbewegung zu initiieren, um sich auf den erklärten Willen der Bevölkerung berufen zu können.23

Hier kamen die Republikaner am Rhein ins Spiel. Die Koblenzer Gruppe wurde nun aktiv, trat an die Öffentlichkeit, sammelte Unterschriften für Adressen ans Pariser Direktorium, in denen „Vereinigung oder wenigstens Independenz“ eingefordert wurde und die französische Republik „beym Genius der Freyheit“ beschworen wurde, die linksrheinischen Gebiete nicht den Despoten zur Beute zu überlassen. Einer der Aktivsten war, Seite an Seite mit seinen ehemaligen Lehrern, Joseph Görres.24

In enger Abstimmung mit dem französischen General Hoche begannen die Koblenzer „Freunde der Freiheit“ im August 1797, das Projekt einer selbstständigen „Cisrhenanischen“ Republik am Rhein zu verfolgen.25 Sie brachten flammende Proklamationen unters Volk, gründeten ein „Bureau de fédération Cis-rhénane“. Auf Flugschriften und Plakaten forderten sie die Bevölkerung auf, die cisrhenanische Kokarde anzustecken und die Republik auszurufen. Im September fand sich eine kleine Schar Männer in Begleitung französischer Soldaten – unter ihnen sicher auch Görres – zu einer feierlichen Zeremonie zusammen. Sie marschierten unter den skeptischen Blicken der Bürger in eigens dafür erfundenen Uniformen auf den Paradeplatz unter dem Schloss, schwenkten ihre Hüte mit der cisrhenaischen Kokarde, sangen die Marseillaise und pflanzten einen Freiheitsbaum. Nach der wenig spektakulären Proklamation der Cisrhenanischen Republik wurde die Stadtregierung abgesetzt und ein neuer Magistrat gebildet, der in der Hauptsache aus den Freiheitsfreunden bestand. Görres war buchstäblich federführend an den Ereignissen beteiligt: Als Sekretär des „Geheimen Ausschusses“ aus fünf Personen, der sich täglich zur Behandlung der wichtigsten Fragen traf, gehörte er zum inner circle der Cisrhenanen.26

Ehe sie so recht begonnen hatte, war die kurze „fröhliche Cisrhenanenzeit“ jedoch schon wieder Vergangenheit. Im September 1797 gewannen die Radikalen im Pariser Direktorium wieder die Oberhand, der Plan einer cisrhenanischen Republik wurde nun zugunsten einer direkten Annexion der Länder links des Rheins fallengelassen. Mit dem Frieden von Campo Formio am 17. Oktober 1797, der die Anerkennung der Rheingrenze durch den Kaiser brachte, war die Bildung einer selbstständigen Tochterrepublik am Rhein für Frankreich nicht mehr erstrebenswert. Ende Oktober wurden die Koblenzer Freiheitsfreunde angewiesen, die cisrhenanischen Farben und Uniformen abzulegen und die blau-weißrote Kokarde der Mutterrepublik anzunehmen. Im November begann die Neuorganisation der linksrheinischen Gebiete in vier Departements unter Einführung des französischen Rechts.27

Görres war es nun, dem die undankbare Aufgabe zufiel, der Öffentlichkeit das Umschwenken der Koblenzer Freiheitsfreunde zurück zum ursprünglichen Ziel der Vereinigung mit Frankreich zu erklären.28 In einem Flugblatt strich er heraus, dass man die Union im Grunde immer schon als die bessere Lösung angesehen habe, da nur die Vereinigung mit der „Riesenmacht“ Frankreich sicheren Schutz gegen alle Angriffe von außen gewährleiste und „ungeheure Handelsmöglichkeiten“ mit sich bringe. Für die Unabhängigkeit habe man sich nur eingesetzt, weil General Hoche sich entschieden für sie erklärt habe. Nur die Farbe hätten die Cisrhenanen geändert, unerschütterlich aber bleibe ihr Bund für die Freiheit. Ob Reunion oder cisrhenanische Republik: Für Görres war es damals wohl entscheidend, dem unerträglichen „Schwebezustand“ der linksrheinischen Gebiete schnell ein Ende zu machen, denn: „Alles war besser als die Rückkehr der alten Zustände.“ Um das zu verhindern, war kühler Pragmatismus nötig: Man musste sich eben für das einsetzen, was augenblicklich die größte Hoffnung auf Erfolg versprach. Für den Idealisten Görres waren damals ohnehin beide Pläne nur Übergangslösungen. Sein Fernziel war eine große europäische Völkerrepublik.

Nach dem Ende der Cisrhenanen-Episode tritt Görres aus dem Schatten seiner ehemaligen Lehrer, die sich nun mehr und mehr zurückziehen. In der patriotischen Gesellschaft hält der 22-Jährige leidenschaftliche und zündende Reden, in denen er den Untergang des altersschwachen Heiligen Römischen Reichs bejubelt und Frankreich als die große Retterin Germanias feiert. Mit dem Fall von Mainz am 30. Dezember 1797, dem letzten Bollwerk der antifranzösischen Koalition auf dem linken Rheinufer, der „Sternschanze des Despotismus“, ist für Görres das Schicksal des alten Reichs mitsamt seinen Hierarchien, mit Adel, Reichsritterschaft, Reichstag, Kaiser und Kurfürsten endgültig besiegelt. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, so ruft er seinen republikanischen Freunden zu, bis auch in Deutschland alle Mönche „entkuttet“ werden und die Guillotine „schrecklich die Stammbäume dahin mähen“ werde.29

In diesen Jahren wird sich der junge Görres der Bedeutung der öffentlichen Meinung bewusst. „Willst du auf den Namen Republikaner Anspruch machen“, so hatte schon der 21-Jährige geschrieben, „so sey keine Memme, tritt ans Licht, handle mit Muth und Energie, kümmre dich nicht um das Gekläff und Gesummse jener verächtlichen Menschenklasse, die alles Edle und Gute mit Koth bewirft, die Nachwelt wird dich richten, wenn die Mitwelt dich verkennt.“30 Nun macht er mit diesem Anspruch ernst und gründet seine eigene Zeitung. Am 19. Februar 1798 erscheint das erste Heft seines Rothen Blatts. Es soll zu allererst dem Verfall der moralischen Kultur, der mit dem Krieg eingetreten ist, entgegenwirken, die Bevölkerung erziehen, den Menschen Begeisterung für Freiheit und Republikanismus einpflanzen. „Der Pfaffheit werden wir die Larve abziehen, Heuchler und Hypokriten verfolgen, gesunde Ideen überall in Umlauf zu setzen suchen, und soviel an uns ist, dem Republikanis’m einen vollständigen Sieg über seine lichtscheuen Gegner erkämpfen helfen.“31

Die „Publizität“, also die Presse, so schreibt er in einem der ersten Hefte, sei die einzige wirksame Waffe gegen „die Blutsauger, Selbstsüchtler und Schleppenträger des Despotism“, eine Waffe, die dem souveränen Volk die Aufsicht über seine Beamten und Stellvertreter ermögliche. Die „öffentliche Opinion“ – und als ihr Organ der „Zeit-Schriftsteller“ – müsse als unbestechlicher Beobachter und Richter alle Missstände anprangern und alle schlechten Handlungen aufdecken. „Wohl weiß ich, daß mir, indem ich auf diese Art allen großen und kleinen, mächtigen und ohnmächtigen Despoten, Aussagern, Blutigeln, Egoisten, Bösewichten, Usurpatoren, Schwachköpfen und Dunsen den Krieg ankündige, ein schwerer Kampf bevorsteht; aber es sey darum! Für die gute Sache bin ich zu jeder Aufopferung bereit.“ Görres ist Hauptautor seines Blatts und zeichnet ausdrücklich für alle Beiträge verantwortlich. Sein Hauptanspruch: Unbedingte Wahrheitsliebe und „Unpartheylichkeit im strengsten Sinne“, denn „Es giebt nur eine Parthey, die der Tugend und Wahrheit“, mutiger Kampf gegen jede Ungerechtigkeit, „ewiger Krieg allen Spitzbuben“. Sein „leitender Fixstern“: der Glaube an das Ideal einer veredelten Menschheit und „an ein immerwährendes Fortschreiten der Menschheit zum Ideale der Kultur und Humanität“.32

Görres’ Zeitung ist zunächst eine Gesinnungszeitung, ein revolutionäres Jubelblatt, wird aber zunehmend zum Organ eines engagierten Enthüllungsjournalismus. Vom ersten Heft an und später in immer zunehmendem Ausmaß prangert Görres Amtsmissbrauch und Korruption an, die Ungerechtigkeiten im Einquartierungswesen, die maßlosen und drückenden Kontributionen, die Missbräuche im Forstwesen, die Geldgeschäfte französischer Beamter, die Unkenntnis von Richtern und Polizeibeamten. Er scheut sich dabei nicht, selbst die führenden Köpfe der Zentralverwaltung und der Polizei anzugreifen, nennt die schwarzen Schafe beim Namen – ohne Rücksicht und ohne Angst vor den Folgen.33 Dadurch zieht er sich zusätzlich zur Feindschaft der Anhänger des Ancien Regime auch noch die der Besatzungsmacht zu.

Die Zeitschrift wolle „belehren und unterhalten“, so sagt Görres, belehren, indem sie die Bürger mit der republikanischen Regierungsform vertraut macht, unterhalten durch „lebhaften Vortrag“ und vor allem durch satirische Beiträge.34 So wird die Satire zu einem wesentlichen Mittel des Kampfes, sowohl gegen die korrupten Beamten, als auch gegen die alten Hierarchien und die Anhänger des Ancien Regime. Für kurzweilige und vergnügliche Lektüre sorgt Görres durch bunte satirische Fortsetzungsromane, in denen er seinem überbordenden Erfindungsreichtum und seinem bizarren Humor freien Lauf lässt.35

Dem Rothen Blatt folgt nach zwei Trimestern, also einem halben Jahr, der Rübezahl: Es ist zunächst eine Etikettenänderung, die einem drohenden Verbot zuvorkommen soll. Die Namensänderung ist aber auch eine interessante Programmkorrektur. Der uneingeschränkte Glaube an das große Ideal des revolutionären Frankreichs hat erste Risse bekommen. In den sieben Monaten der Herausgeberschaft sei, so schreibt er, manche Täuschung verschwunden. Ausgestattet „mit einem Fonde von Erfahrung und Menschenkenntniß“ betrachte er die Dinge nun kühler, manch blühende Auen hätten sich als „wucherndes Unkraut und Disteln“ entpuppt. Deshalb finde er sich „reduzirt auf die ewig unwandelbaren Grundsätze des Rechts und der Menschheit“ und werde „diesen Rest seines ehemaligen Wohlstandes mit umso größerer Wärme vertheidigen, je kostbarer er ihm durch den Verlust all des Übrigen, was ihm einst so werth war, geworden ist.“36 Zum ersten Mal verleiht Görres hier seiner Desillusionierung über die politische Entwicklung Ausdruck.

Auch im Rübezahl führt Görres seinen Kampf gegen die Korruption in der Verwaltung weiter. Der Name ist nicht zufällig gewählt, denn der Riese aus dem Märchen ist ein „Kraftgenie“, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, „Tugend und Menschenglück zu verbreiten, die Tücke des Lasters unschädlich zu machen, Verbrecher und Bösewichte zu entlarven.“37 So veröffentlicht er neue Enthüllungen über schmutzige Geldgeschäfte der französischen Beamten, organisiert einen Feldzug gegen die unverhältnismäßige Höhe der von Frankreich geforderten Kontributionen und die ungerechte Verteilung der Lasten in den einzelnen Departements, die das Land auszubluten drohen, eine großangelegte Aktion, die letztlich im Sande verläuft, da die kommunalen Behörden ihre Mitarbeit versagen. Am Ende bleibt „eine getäuschte Hoffnung, ein mißlungenes Unternehmen“38. Die Anfeindungen und der Druck der Behörden werden dabei immer schärfer; er sieht sich sogar tätlichen Angriffen ausgesetzt.

Noch einmal bringt ein politischer Umschwung neue Hoffnung für die zunehmend desillusionierten Republikaner am Rhein. Der Staatsstreich des Abbé Siéyès im Juni 1799 scheint einen Wendepunkt zu verheißen. Görres feiert den Sieg der Jakobiner im Direktorium als einen Sieg des Republikanismus über den „Despotism der Diktatoren“39. Ein neuer Regierungskommissar bringt auch wirklich die Koblenzer Patrioten anstelle der konservativen Beamten in den Magistrat. Sofort machen sie sich daran, die Stadt zu revolutionieren, führen stärkere Handelskontrollen ein, machen alle Ratssitzungen öffentlich.40 Die Spannungen zwischen der mehrheitlich konservativen Bürgerschaft und den Patrioten im Magistrat verschärfen sich dadurch nur noch mehr.

In der Euphorie über den Machtwechsel und das Ende der „Gaunerperiode“ hält Görres zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren wieder eine Rede im Dekadentempel.41 In einer Akte an das neue Direktorium, die er im Rübezahl abdruckt, fasst er noch einmal alle bisherigen Missstände im Departement zusammen und fordert schnelle Abhilfe, damit „der Glanz der Prinzipien“ wenigstens in der nächsten Generation zum Durchbruch kommen könne.42

Der Rübezahl stellt gleich danach sein Erscheinen ein. Görres konzentriert sich nun auf ein neues politisches Projekt: auf eine Deputation der vier rheinischen Departments nach Paris. Schon seit Monaten hatte er ein solches Unternehmen gefordert. Es sollte dem unerquicklichen, rechtlosen Besatzungszustand durch eine schnelle Union mit Frankreich ein Ende machen.43

Anfang November tritt Görres mit seinen Begleitern, ausgestattet mit einer Generalvollmacht der Koblenzer Patrioten und mit dem Auftrag, zusammen mit den Deputierten der andern Departements in Paris die definitive Reunion mit der französischen Republik zu verhandeln, die Reise an. Bereits in Trier überrascht sie die Nachricht vom Sturz ihres Hoffnungsträgers Siéyès durch Napoleon Bonaparte. Einige der Deputierten der andern Departements sehen die Reise nun als sinnlos an, nur der Vertreter der Mainzer, General Eickemeyer, schließt sich den Koblenzern noch an.44 Als sie am 21. November in Paris ankommen, ist dort alles im Umbruch, der Wind hat sich gedreht, die Situation ist völlig neu und unberechenbar, der Zeitpunkt für die Delegation gänzlich ungeeignet. In der nun wieder antijakobinischen Stimmung sind die Jakobiner vom Rhein alles andere als willkommen. An ein Vorsprechen bei der neuen Regierung ist für den Augenblick nicht zu denken. Görres hat also Zeit, die Stadt und ihre Menschen kennenzulernen, sich als kühler Beobachter umzusehen. Paris ekelt ihn an. Für ihn ist es nur ein „mit Blumen überwachsener Sumpf“, ein „Menschenmeer, das immer wogt und fluthet und tobt!“, voll des entsetzlichen die Sinne betäubenden Lärms. Aus der Nähe betrachtet sind ihm die einst bewunderten Frankenbrüder nur noch fremd. „Das sind meine Menschen nicht, die hier ihr buntes Charivari treiben.“45

Die zentrale Erkenntnis seiner Parisreise ist für Görres die „tiefe Kluft“ zwischen deutschem und französischem Nationalcharakter. Das Wesen der Franzosen sei, so schreibt er, im Vergleich mit dem der Deutschen flatterhafter, leichtblütiger, genussorientiert und oberflächlich. Die beiden Nationen würden einander „immer unbegreiflich immer räthselhaft bleiben“. Unter diesem Eindruck wirft er nun das Schlagwort der natürlichen Grenzen über Bord. Nicht die Linien, die der Geograf auf der Karte zeichne, nicht jenes „geologische Netzwerk, aus Wasser und Felsen zusammengestrickt“ seien ausschlaggebend, sondern die „scharfen Grenzen in der innern moralischen Natur der Völker“. Das große gemeinsame Band sieht er nun mit Herder in der Sprache.46

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