AN DER QUELLE

DES LÖWEN

 

 

UND ANDERE JAGDGESCHICHTEN

VON

KARL MAY

 

 

HERAUSGEGEBEN

VON KARLHEINZ ECKARDT

 

 

Herausgeber der Grünen Bände:

Lothar und Bernhard Schmid

© 2007 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1610-6

 

 

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

 

Vorwort

Assad-Bej, der Herdenwürger

Bärenjagd in Kurdistan

Der Tod des Mübarek

Der erste Büffel

Das Greenhorn und der Graue Bär

Das Blut der Kojoten

Am Wadi el Kantara

Elefantenjagd auf Ceylon

Winnetou im Tal der Bären

Die Bären und Old Surehand

Der Löwe von el Teitel

Der Geisterbär

Der Kampf mit dem Nilpferd

Der Rentiermörder

Zwei Elks und die Höhle

Das Strafgericht und ein Bär

Der Löwe der Blutrache

Der Sohn des Bärenjägers

Masser Bob und das Stinktier

Die Geschichte des Hobble-Frank

Forellenfang am Bighorn-Fluss

Im Land des Krumir

Wie Sam Hawkens sein Maultier fing

Der Schwarze Mustang

Der Vater der Tücke

Ein Häuptling, ein Büffel und ein Bär

Jemmys Bärenabenteuer

Der König und der Bär

Der Jaguar von La Poza

Im Tal der Biber

Eine Fuchsjagd

Der ‚Herr mit dem dicken Kopf ‘

Ibn el ’amm

Cäsar auf dem Baum

Ein Kind, ein Tiger und die Alligatoren

An der Quelle des Löwen

Auf Nilpferdjagd

Der Elefantenbraten

Geierschnabel schießt einen Bock

Eine Nacht am Nil

Der wilde Büffel

Die Kaimane vom Paraná

Ein toller Wolf

Gämsenjagd auf Stapleton Island

Potomba und der Hai

Bob und der Opossum-Grizzly


Illustrationen von Carl-Heinz Dömken

 


Vorwort

 

„Bei mir ist alles Wirklichkeit und keine Fantasie“

 

Karl Mays unerschöpflicher Ideenreichtum ließ ihn Episoden erfinden, die einer nüchternen wissenschaftlichen Betrachtung oft nicht Stand halten. Sein Reich war die Fantasie und aus diesem Märchenreich fand er nur schwer in die reale Welt zurück. Klara May schreibt in ihrem einzigen Buch Mit Karl May durch Amerika auf Seite 19:

„Ich war gewöhnt, still neben ihm herzugehen, um ihn nicht in seinem Sinnen zu stören. War es doch ein Traumleben, worin er sich bewegte und aus dem er mit seinen Erzählungen wieder auftauchte.“

Auf Seite 25 ergänzt sie:

„Karl May lebte ein Traumleben in seinen aus Wahrheit und Dichtung zusammengesetzten Büchern. Außerhalb dieser Bücher gab er nicht gern und auch dann nur unbestimmte Antwort auf diesbezügliche Fragen. Er trat aus der Welt, die er sich selbst geschaffen hatte, ungern heraus, auch mir gegenüber.“

In seinem Arbeitszimmer hatte May einen ausgestopften Löwen aufgestellt, gleichsam als Mittler zwischen seiner Scheinwelt und der Realität. Beim Anblick des weit aufgesperrten Rachens des Untieres lösten sich die Wände seines Arbeitszimmers auf und gaben den Blick frei auf den Sand in der Weite der sonnendurchfluteten Wüste und auf zerklüftete Felsen, zwischen denen Löwen wohnten. Von fern drangen die kläglichen Angstschreie verstörter Kamele an sein Ohr.

Vielleicht auch trat aus den Rosensträuchern, die seinen Garten zierten und sich nun zu dichtem Gestrüpp in der Wildnis verwandelten, ein mächtiger Bär hervor, richtete sich auf und hob die Tatzen. Er kam näher und näher – „Er oder ich!“, schrieb Karl May später in einem seiner Bücher. Dann knallte der Schuss, der Bär blieb wie angewurzelt stehen und brach dann zusammen. Die Kugel war genau ins Herz gedrungen. Wie oft mag er sich – auf die Knie niedergelassen, vor dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, das altertümliche Gewehr im Anschlag – in ein solches Jagdabenteuer hineingeträumt haben.

Das war seine Welt, aus der er nur herausfand, um das soeben Erlebte in Worte fassen und niederschreiben zu können. Noch während er schrieb, verdichteten sich Sprache und Visionen zu abenteuerlichen Erzählungen, die Millionen von Lesern in ihren Bann zogen und durch dem ihm eigenen Stil für Wahrheit gehalten wurden.

In den 1890er-Jahren erlag Karl May zunehmend der suggestiven Kraft seiner eigenen Schöpfung und begann sich mit den Helden seiner Fantasie, mit Old Shatterhand in Nordamerika und mit Kara Ben Nemsi im Orient, zu identifizieren. Mit dem ersten Band des Winnetou vollendete er das Bild des omnipotenten Weltenläufers, dessen erste Abenteuer im Wilden Westen in jenem Buch als eigene Erlebnisse geschildert werden.

Nachfolgende Auszüge aus Briefen an Freunde und Verehrer sowie Zitate aus einigen Erzählungen illustrieren Mays Bemühen, sich selbst als Helden der von ihm geschilderten Ereignisse und als großen Jäger darzustellen.

Am 2.10.1898 beispielsweise schrieb er in einem Brief an den Buchhändler Gotthart Hammer in Berlin, der einen Koran geschickt hatte:

„Den Kuran behalte ich, obgleich ich verschiedene Exemplare schon besitze, darunter einige von Mekka selbst mitgebrachte Hamails. [...] Bei mir ist alles Wirklichkeit und keine Phantasie. Was ich erzähle, das habe ich erlebt, und keine einzige meiner Gestalten ist ersonnen. Aber da ich nicht nur nackte Erzählungen bringen sondern meine Leser zu Gott führen und für alles Gute, Hohe, Edle und Schöne begeistern will, so bin ich allerdings gezwungen, meine Feder, so wie der Maler den Pinsel in die Farben, zuweilen in diejenigen Tinten zu tauchen, welche zur Erreichung dieser mir so sehr am Herzen liegenden religiös-sittlichen Zwecke nöthig sind. [...] Ich bin ein armes Werkzeug, eine kleine Schriftstellerfeder in Gottes allmächtiger und allweiser Hand, für meine Arbeit zugeschnitten durch die Gefahren, Entbehrungen etc. fast vierzigjähriger Reisen in fremden Erdtheilen. Im October, spätestens November gehe ich wieder nach Arabien, um meine braven Haddedihn und ihren Scheik, den lieben Hadschi Halef Omar aufzusuchen. [...] Haben Sie die Güte, für Ihre Zeilen beifolgendes Bild anzunehmen! Der Halsschmuck besteht aus den Zähnen selbsterlegter Löwen, Tiger, Panther und Grizzlybären. Wenn ich nächstes Jahr wieder zu den Apatschen gehe, werde ich mir meine letzten Grizzlies holen; sie sterben aus, so wie die Büffel und Mustangs längst schon entschwunden sind.“

Schon im Jahr zuvor, am 15.4.1897, schrieb May an einen Adressaten in Düsseldorf, dessen Name bzw. Person leider nicht mehr zu ermitteln ist:

„Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle. Daß ich dabei, wie der Maler, die Feder in die Farbe tauche, versteht sich so von selbst, daß ich es gar nicht zu erwähnen brauche. Wer da behauptet, daß ich nicht aus der Erfahrung, sondern aus der Phantasie schöpfe, der mag, und sei er der begabteste Mensch, sich doch einmal hinsetzen und den Versuch machen, auch nur einen einzigen ‚May-Band‘ einfach zu erdichten.“

Am gleichen Tag beantwortete er auch eine Anfrage, die Freiherr Hans von Laßberg im Auftrag der Prinzessinnen Wiltrud und Helmtrud von Bayern einige Wochen zuvor gestellt hatte:

„1) Ich bin wirklich Old Shatterhand. 2) Alle Westmänner, von denen ich erzähle, haben gelebt oder leben noch, wenn auch nicht mehr in dieser Eigenschaft. 3) Ich war 21 mal in Amerika und werde nächstens zum 22ten Male hinübergehen, um mir noch einige Grizzlies zu schießen und die Apatschen zu besuchen.“

Aus dem Buch Am Stillen Ozean (Band 11 der Gesammelten Werke) erfährt der staunende Leser, der mit dem Verfasser identische Erzähler habe „mit dem gebrechlichen indianischen Rindenkanu den Missouri und Red River, mit dem Hautkanu der Brasilianer den Orinoko und Marannon und mit dem fürchterlichen Katamorin der Ostinder den Indus und Ganges befahren.“

In Sand des Verderbens (Band 10 der Gesammelten Werke, ursprünglich unter dem Titel Orangen und Datteln erschienen) erklärt May:

„Wir [= der Erzähler und sein Freund Lord Percy] hatten miteinander auf Ceylon den Elefanten und in Indien den Tiger gejagt“, und weiter: „Glücklicherweise waren mein Gesicht und Gehör während meiner vielen Irrfahrten zur Genüge geschärft worden. Auch war mir jenes eigentümliche Witterungsvermögen eigen geworden, das der Bewohner des Wilden Westens in so hohem Grade besitzt.“

Ein Irrtum, wie bekannt ist. Auch wenn May sich mit den erwähnten „Irrfahrten“ in die Nähe der Abenteuer des sagenhaften Odysseus begibt, verliefen die Irrungen seines realen Lebens doch in völlig anderen Bahnen.

Schon in der frühen Erzählung Die Rose von Kahira (heute in Band 71 der Gesammelten Werke, Old Firehand ) lesen wir:

„Ich habe den Bären gejagt und bin dem Nilpferd nachgeschwommen; der Elefant hat meinen Schuss gehört und meine Kugel hat den Löwen, den ,Herdenwürgenden‘ getroffen.“

Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Sätze hatte Karl May Deutschland noch nie verlassen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde May sein fast zwanghafter Wunsch, sich mit seinem perfekten Helden zu identifizieren, schließlich zum Verhängnis.

Der Dresdner Polizeipräsident Albin Hugo Le Maistre bezeichnete ihn in einem Schreiben an den Amtshauptmann von Burgsdorff vom 14.10.1898 gar als „Hochstapler, namentlich auch in der Richtung, daß er seine schriftstellerische Tätigkeit auf dem Gebiet von überseeischen Reiseschilderungen pp. entfaltet, wobei er sich den Anschein gibt, als ob er über Selbsterlebtes und Selbstgesehenes berichtet, während er in Wahrheit dem Vernehmen nach über die deutschen und österreichischen Grenzen nicht weit hinausgekommen sein dürfte.“

Ebenfalls im Oktober 1898 teilte Václav Cecetka, administrativer Direktor von Mays Prager Verlag Vilímek, einem seiner Redakteure mit, er „habe den Eindruck, daß der Schriftsteller an Größenwahn leide. Seine üppigen Schilderungen der eigenen Taten [...] beruhen nicht auf eigener Anschauung, sondern seien bloße Aufschneiderei.“

Bald mehrten sich derartige Stimmen und für Karl May begann ein wahres Spießrutenlaufen in der Öffentlichkeit.

 

 

 

Die bekanntesten Gewehre der Welt

 

Henrystutzen, Bärentöter und Winnetous Silberbüchse zählen sicher zu den bekanntesten Gewehren überhaupt. Der Held der Mayschen Romane ist natürlich neben den besten Pferden der Welt auch mit wahren Wunderwaffen ausgerüstet. Die Treffsicherheit des Schützen ist überwältigend und auch seine Gewehre versagen niemals im Kampf oder auf der Jagd.

Im Ernstfall – und dieser tritt in Mays Abenteuerromanen ja oft genug ein – greift der Held meist zuerst zum Bärentöter. Schon in der frühen Erzählung Unter Würgern (1879) ist der Protagonist im Besitz einer urtümlichen Waffe, die als „Büffeltöter“ oder „Büffelrohr“ vorgestellt wird. Im ersten Teil des Winnetou (Band 7 der Gesammelten Werke) wird dann geschildert, wie der später als Old Shatterhand berühmte junge Deutsche den Bärentöter zum ersten Mal in die Hand bekommt. Der Erzähler ist zu Gast bei dem berühmten Büchsenmacher Henry in St. Louis, man spricht über das Schießen und Henry beschließt, das junge Greenhorn zu testen.

„‚So ein Greenhorn und Bücherwurm, wie Ihr seid, will schießen können! Hat sogar in türkischen, arabischen und anderen dummen Scharteken herumgestöbert und will dabei Zeit zum Schießen gefunden haben! Nehmt doch einmal die alte Gun dort hinten vom Nagel und legt sie an, als wolltet Ihr zielen! Es ist ein Bärentöter, der beste, den ich jemals in den Händen gehabt habe.‘

Ich ging hin, langte die Büchse herab und legte sie an.

‚Hallo!‘, rief Henry da und sprang auf. ‚Was ist denn das? Ihr geht ja mit dieser Gun um wie mit einem leichten Spazierstock, und doch ist sie das schwerste Gewehr, das ich kenne! Besitzt Ihr eine solche Körperkraft?‘

Statt zu antworten, nahm ich ihn unten bei der zugeknöpften Jacke und beim Hosenbund und hob ihn mit dem rechten Arm empor.“

Karl May gab in seinen Büchern und Briefen zahlreiche – allerdings teilweise auch widersprüchliche – weitere Darstellungen dieses Wundergewehres.

Gegenüber Carl Jung aus Montabaur beschrieb er die Waffe in einem Brief vom 2.11.1894 folgendermaßen:

„Der Bärentöter ist ein doppelt Vorderlader mit 2-lötigen Kugeln, Treffsicherheit 1800 m. Gewicht 20 alte Pfund; es gehört also ein sehr kräftiger Mann dazu. Verfertigt von der berühmten Firma M. Flirr, San Francisko. Er ist das einzige Gewehr nach dieser Art.“

In der Erzählung In den Schluchten des Balkan (Band 4 der Gesammelten Werke) heißt es, der Bärentöter sei „schwerer als fünf lange türkische Flinten“, und das mächtige Gewehr wird mit einem „alten Feuerspeier aus der Zeit vor zweihundert Jahren“ verglichen.

Angesichts dieser Beschreibung verwundert es dann doch, wenn der Ich-Erzähler in Der Löwe der Blutrache (Band 26 der Gesammelten Werke) folgende Kampfszene schildert:

„Dabei wirbelte ich den schweren Bärentöter nach rechts und links, nach hinten und vorn, um einige Burschen, welche sich zu nahe an mich machten, von mir abzuhalten.“

Der Held schlägt hier mit seiner riesigen Donnerbüchse um sich, als halte er eine Reitgerte in der Hand; und auch den gewaltigen Bären schlägt er mit dem Monstrum k.o., indem er der Bestie den Lauf in die Rippen rammt.

Im Karl-May-Museum in Radebeul wird heute jenes Monstrum von Schießeisen aufbewahrt, das Karl May für den in seinen Büchern beschriebenen Bärentöter ausgab. Es wiegt genau 10,04 kg, eine gewaltige Last für den im realen Leben eher schmächtigen Old Shatterhand. Es wird berichtet, dass ein Mitarbeiter des Museums beim Versuch, die Schlaggewalt des Bärentöters seinen Besuchern bildhaft vor Augen zu führen, mit der Urkanone zu kräftig ausholte und infolge des enormen Rückwärtszuges der Donnerbüchse von dieser nach hinten umgerissen wurde und unsanft auf den Rücken fiel.

Es handelt sich um einen Perkussionsvorderlader, wie sie in dieser Form um 1840 auf dem Markt waren. Der Zündfunke wurde noch durch den Aufschlag des Feuersteins auf den Stahlrand der Zündpfanne erzeugt. Aber durch die Erfindung des Zündnadelgewehrs durch Nikolaus von Drape im Jahr 1836 verloren Gewehre wie der Bärentöter ihre Bedeutung. Nur Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi schleppten die Kanone weiter durch Wüsten, Savannen und Gebirge.

Karl May besaß das Gewehr bereits im Jahr 1896, als er sich von Alois Schießer damit fotografieren ließ. Mit der Verbreitung dieser Aufnahmen beging er allerdings einen verhängnisvollen Fehler: Die Fotos zeigen ihn mit dem auf den Boden aufgestellten Gewehr; da die Länge des Bärentöters durchaus bekannt war, konnte durch die besagten Fotos eine Körpergröße Karl Mays von ungefähr 1,63 Meter angenommen werden. Die Riesengestalt des Old Shatterhand schrumpfte auf ein Mittelmaß zusammen. Für so manche Leser müssen damals ganze Welten der Illusion zusammengebrochen sein.

Mit der Wandlung des ‚Abenteurers‘ Karl May zum nachdenklichen Symbolisten und Anhänger der Friedensgöttin Eirene verschwand der Bärentöter in der Rumpelkammer der Literaturgeschichte.

Noch überstrahlt wird der Ruhm des Bärentöters schließlich aber vom ebenso geheimnisvollen wie wunderbaren Henrystutzen, obwohl Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi bei der Jagd auf Großwild doch meist der mächtigen, alten Donnerbüchse treu blieb. Nur bei gelegentlicher Pirsch auf kleineres Wild wie Präriewölfe oder wenn er, um seine Fertigkeiten zu demonstrieren, auch einmal einen Vogel vom Himmel holte, legte er den zierlichen Stutzen an. Die unvergleichliche Waffe kam vor allem dann als Renommierobjekt zur Anwendung, wenn es galt, abergläubische Beduinen oder Indianer zu beeindrucken. Wenn Kara Ben Nemsi beispielweise mit seinen Kugeln den Schaft einer senkrecht im Boden steckenden Lanze in schier unaufhörlicher Schussfolge und in genau gleichem Abstand durchlöcherte, konnte dies nur eines bedeuten: Solch ein Gewehr musste der Schejtan, der Teufel selbst, angefertigt haben! Diese Tatsache allein flößte den Söhnen der Wüste allen denkbaren Respekt ein – und den roten Kriegern Nordamerikas nicht minder.

Doch wie gelangte dieses ‚Zaubergewehr‘, mit dem man scheinbar ununterbrochen schießen konnte, ohne laden zu müssen, in den Besitz des berühmten Weltläufers?

Karl May schildert in einer kurzen Episode im 2. Band des Winnetou (Band 8 der Gesammelten Werke) einen weiteren Besuch Old Shatterhands bei seinem väterlichen Freund Henry in St. Louis. Der alte Henry ist außer sich vor Freude, er umarmt den jungen Helden und sagt:

„‚Seid Ihr ein Kerl! Erlebt in einigen Monaten mehr als andere in vielen Jahren. [...] Habe meine helle Freude gehabt, wenn ich so von Euch hörte, denn ich bin es ja gewesen, der Euch diesen Weg zeigte. Für diese Freude muss ich Euch dankbar sein. Seht her, was ich da habe!‘

Er öffnete seinen Gewehrschrank, nahm – den ersten fertigen Henrystutzen heraus, erklärte mir den Bau und den Gebrauch der Waffe und führte mich dann zu seinem Schießstand, wo ich das unübertreffliche Gewehr erproben und beurteilen sollte. Ich war geradezu entzückt von dem Stutzen, machte jedoch den Alten nochmals darauf aufmerksam, dass die Verbreitung dieser Schnellfeuerwaffe für die Tier- und auch für die Menschenwelt des Westens die nachteiligsten Folgen haben müsse.“

Soweit der Text aus Winnetou II; später fertigte Henry zwar, wie May erzählt, noch einige weitere Exemplare dieser Waffe an, doch sind diese Gewehre allesamt mit ihren Besitzern in den Weiten des Wilden Westens verschollen.

Laut einem Bericht des Bayerischen Courier vom 7.7.1897 erzählte Karl May während einer Versammlung seiner Anhänger, er werde „...seine wunderbare Henry-Repetirbüchse, mit der er nach seiner Versicherung 100 Schüsse per Minute abzugeben vermag, ohne daß der Lauf heiß wird, dem deutschen Kaiser für Militärzwecke zur Verfügung stellen.“

Nach den 1901 publizierten Erinnerungen Ernst Webers soll er sogar noch hinzugefügt haben:

„Dann aber werde ich vor den deutschen Kaiser treten: ‚Majestät, wir wollen einmal miteinander schießen.‘ Ich werde ihm meinen Henrystutzen vorführen. Derselbe wird in der gesamten deutschen Armee eingeführt werden, und kein Volk der Erde wird dann je den Deutschen widerstehen können.“

Schlimmer konnte Karl May seine Aufschneidereien nicht in der Öffentlichkeit verkünden, doch seine Anhänger lagen ihm zu Füßen, er konnte sagen, was er wollte.

Karl May hat ‚seinen‘ Henrystutzen, der die Wand seines Arbeitszimmers ab 1902 zierte, über den Büchsenmacher Fuchs erworben, der ihm auch den Bärentöter und die Silberbüchse gebaut hatte. Aber niemand hat ihn jemals beim Schießen beobachten können. Wenn Besucher das ‚Zaubergewehr‘ betrachten wollten, gab er stets vor, es sei zur Reparatur gegeben worden, da es neugierige Gäste durch unsachgemäße Behandlung beschädigt hätten. Auch war Karl May niemals Mitglied eines Schützenvereins oder zumindest als Gast auf einem Schießstand. Es wäre sicher der Wunschtraum eines jeden Schützen oder Jägers gewesen, einmal mit Old Shatterhand um die Wette schießen zu dürfen. Karl May indes hat vermutlich nie einen Schuss aus einem Gewehr oder irgendeiner anderen Waffe abgegeben. Nur in den Gefilden seiner Fantasie schoss er traumhaft sicher, und in diesen fernen Traumländern traf er mit seinen spannenden Erzählungen stets ins Schwarze. Im wahren Leben jedoch hat Karl May so manchen ‚Bock‘ geschossen.

Nun fehlt noch ein Name im Dreiklang der Wunderwaffen: die Silberbüchse, die erst Winnetous Vater Intschu tschuna gehörte und nach dessen Ermordung mitsamt der Häuptlingswürde an den Sohn überging. Über dieses Gewehr erfahren wir aus Mays Erzählungen vom Aussehen abgesehen seltsamerweise am wenigsten. Zwar ist auch die Silberbüchse sowohl bei den Indianern wie auch bei den weißen Westmännern berühmt und bekannt, soweit die Prärien und Felsenberge reichen, und dient als unverwechselbares Erkennungszeichen Winnetous – besondere unüberwindliche Eigenschaften wie Old Shatterhands Gewehren werden ihr aber nie zugeschrieben. Der Erzähler erwähnt nur seine fast heilige Scheu, mit der er die Büchse – wenn überhaupt einmal – berührte, sowie ihr unverwechselbares Schussgeräusch, an dem er sie und damit ihren Besitzer über große Entfernungen hinweg erkennen konnte. Dass Winnetous Können als Schütze dem Old Shatterhands in nichts nachstand, erfahren wir natürlich aus vielen Abenteuern, von vergleichbaren Kunststückchen aber, wie sie sein Blutsbruder immer wieder gerne mit dem Henrystutzen demonstrierte, ist im Zusammenhang mit der Silberbüchse nie zu lesen. So kommt es auch, dass sie innerhalb der in diesem Band gesammelten Jagdabenteuer nicht so sehr im Mittelpunkt steht wie Old Shatterhands Gewehre.

Eine seiner seltsamsten Geschichten rund um die legendären Waffen erzählt Karl May in Old Surehand. Im dritten Band von Winnetou hatte er ja geschildert, wie der tote Apatschenhäuptling am Metsurfluss mit der Silberbüchse im Arm begraben worden war.

Nun aber ließ May Fotografien von sich vertreiben, die ihn in Trapperkleidung und mit Winnetous Silberbüchse in der Hand zeigten. Zahlreiche Leser, denen dieser seltsame Umstand aufgefallen war, verlangten nach einer Erklärung.

Doch auch aus dieser Klemme fand der gewitzte May einen fantasievollen Ausweg und schob in die lange erwartete Fortsetzung des Old Surehand, an der er gerade arbeitete, einen kleinen gedanklichen Exkurs Old Shatterhands ein:

„Ich halte noch heute meine Waffen hoch. Mein Henrystutzen und mein Bärentöter sind meine wertvollsten Besitztümer. Noch kostbarer als sie ist mir Winnetous Silberbüchse, die ich schon, als er noch lebte, stets mit einer gewissen heiligen Scheu betrachtet oder in die Hand genommen habe. Als er erschossen worden war, haben wir ihn hoch zu Ross und mit allen seinen Waffen, also auch mit ihr, begraben. Einige Jahre später kam ich mit meinen damaligen Gefährten bei der Verfolgung eines Trupps Ogellallah-Indianer gerade dazu, dass die Sioux sein Grab öffnen und berauben wollten. Wir vertrieben sie nach hartem Kampf. Sie hatten es auf die Silberbüchse abgesehen. Ich konnte nicht als Hüter seines Grabes stets im Tal des Metsurflusses bleiben, und da zu erwarten war, dass sich die Entweihung des Grabes wiederholen werde, nahm ich die Silberbüchse heraus und sorgte dafür, dass dies überall bekannt wurde. Die Sioux erfuhren, dass die begrabene Waffe wieder auferstanden sei, und ließen das Grab nun unversehrt. Jetzt hängt dieses herrliche Gewehr neben meinem Schreibtisch zwischen Sam Hawkens’ alter Gun und meinem Bärentöter.“

Auch die Silberbüchse ließ sich May anfertigen, um sie Besuchern in seiner Villa präsentieren zu können. Heute steht sie zusammen mit Bärentöter und Henrystutzen in einer Vitrine des Karl-May-Museums in Radebeul; allerdings fehlt der Ladestock, den sie als Vorderlader eigentlich benötigt. Doch das tut der Ehrfurcht, mit der sie von den vielen Besuchern – vor allem von denen, die noch Träume haben – betrachtet wird, keinen Abbruch.

Warum auch? Es sind die schlechtesten Träume nicht, die uns dort umfangen, und niemand braucht sich zu schämen, auch heute noch den Märchen Karl Mays, deren Wurzeln in die Urzeit des Erzählens zurückreichen, zu lauschen.

 

 GRAFIK 1

 

 cover

Allerlei Jägerlatein

 

Was Karl Mays Erzählweise über die vieler anderer Abenteuerschriftsteller hinaushebt und ihm eine nach Millionen zählende Lesergemeinde bescherte, ist das Geschick, ungebremste Fantasie und genau recherchierte, realistische Details so zu verweben, dass daraus etwas ganz neues, eigenes entsteht – eine Traumwelt, die doch immer authentisch wirkt.

Das gilt für die Beschreibung ferner Länder, Völker und Sitten, für die Erlebnisse unter Indianern und Beduinen, für die Kämpfe mit Schurken aller Art und für die Wunderwaffen seiner Helden – und natürlich auch für die vielen größeren und kleineren Jagdabenteuer, die sich innerhalb seiner Erzählungen finden. Mays fantastisches Vorstellungsvermögen gestaltete nicht nur immer neue spannende Verwicklungen und Auseinandersetzungen mit menschlichen Gegnern, auch bei den Jagdbeschreibungen schöpfte er aus den unaufhörlich sprudelnden Brunnen seiner Fantasie. Diese Jagdszenen bilden ein unverzichtbares Spannungselement in seiner Welt der Abenteuer.

Wenn Karl May das Erlegen wilder Tiere schildert, dann sind die Geschehnisse fast immer einer von vier erzählerischen Grundsituationen zuzuordnen:

Am häufigsten ist die Jagd auf Raubtiere zum Schutz menschlicher Siedlungen oder von Nutztieren. Vor allem im Orient werden Löwen und Panther meist zur Strecke gebracht, um die Herden und die Zeltdörfer der Beduinen zu schützen.

Danach folgt das Töten gefährlicher Tiere in direkter Selbstverteidigung, weil der Held oder die Helden überraschend von einem hungrigen, wilden Räuber angegriffen werden. Zu diesen unerfreulichen Konfrontationen zählt besonders oft die mit einem gereizten bösartigen Bären.

Natürlich beschreibt May aber auch die ganz profane Jagd in ihrer ursprünglichsten Form: zur Beschaffung von Fleisch für den Kochtopf und das Lagerfeuer.

Schließlich gibt es daneben auch Schilderungen des damals üblichen – und leider immer noch nicht ausgestorbenen – Abschlachtens wilder Tiere, beispielsweise von Elefanten, durch herrschaftliche Großwildjäger und Trophäensammler. In den frühen Erzählungen aus Ceylon steht May dieser Art von Jagd noch recht unkritisch gegenüber, was sich später gründlich ändern sollte. Man denke an seine deutlich ausgesprochene Verachtung vermeintlicher ‚Jäger‘, die vom Eisenbahnwaggon aus sinnlos Büffelherden niederknallten.

In seiner letzten Schaffensperiode, als er sich der Mystik zuwandte und sein tiefsinniges, symbolträchtiges Alterswerk schuf, nahm May gänzlich Abstand von der Jagd.

Im Roman Die Sklavenkarawane (Band 41 der Gesammelten Werke) gibt Karl May eine detaillierte Beschreibung des Verhaltens eines auf der Jagd befindlichen Löwens. Wir wissen heute, dass der Autor niemals einen Löwen in freier Wildbahn gesehen hat. Unbekannt ist, ob er je einen Zoo oder einen Zirkus besuchte; zumindest aber muss er einmal von den scharfen Ausdünstungen der in engen Käfigen gehaltenen Tiere gehört haben. Da erscheint der Gedanke ganz naheliegend, ein besonders kundiger Jäger könne an diesem speziellen ‚Odeur‘ die gefährliche Nähe einer großen Katze schon frühzeitig bemerken, und darum hat May das Motiv auch in mehreren Jagdgeschichten eingesetzt. Tatsächlich ist dieser Geruch bei frei lebenden Tieren allerdings nur aus nächster Nähe zu spüren. Aber trotz dieses Schnitzers wirkt die Mischung aus halb Realem und frei Erfundenem derart stimmig, dass auch der heutige Leser es immer noch akzeptiert, wenn May zum Beispiel in der Sklavenkarawane über das erste Löwenabenteuer des Afrikareisenden Dr. Schwarz schreibt:

„Nun mussten die Augen doppelt angestrengt werden. Aber nicht sie waren es, welche den mächtigen Feind zuerst bemerkten, sondern der Geruch überzeugte die peinlich Wartenden, dass der Augenblick der Entscheidung gekommen sei. Jene scharfe, durchdringende Ausdünstung, die den Raubtieren eigen ist und in jeder Menagerie beobachtet werden kann, erfüllte plötzlich die Luft, und da – – da trat er um das dichte Gestrüpp, nicht schleichend nach Tiger- oder Pantherart, sondern stolz aufgerichtet, langsamen und sicheren Schrittes wie ein Herrscher, der sich in seinem Reich weiß und es verschmäht, das, was er durch offenen Befehl erlangen kann und muss, durch niedrige Heimlichkeit zu erreichen.“

Karl May ist hier noch gänzlich dem traditionellen Bild vom ‚König der Tiere‘ verbunden, eine sicher allzu starke Vermenschlichung, die jedoch das Empfinden der Leser seiner Zeit widerspiegelt.

Er berichtet weiter:

„Seine weit geöffneten Augen durchforschten den Rand des dichten Buschwerks nach einem Durchweg zu der gesuchten Beute. Da fiel sein Blick auf die drei bewegungslosen Gestalten. Er zuckte und warf sich schnell auf die Erde nieder, um den Feinden nicht die leicht verletzliche Brust zu bieten. Dann musterte er sie mit einem großen, mächtigen Blick.“

An dieser Stelle lüftet Karl May den Vorhang zur Wahrheit ein wenig, indem er die Empfindungen des – gleich dem Verfasser – in der Großwildjagd vollkommen unerfahrenen Dr. Schwarz beschreibt:

„Schwarz empfand ein Gefühl, als ob man ihm mit einem Eiszapfen über das Rückgrat streiche, doch gelang es seiner Willenskraft, es zu überwinden. Er hatte die Berichte berühmter Löwenjäger gelesen und er kannte daher das Benehmen des Tieres in einer Lage wie der gegenwärtigen.“

Vielleicht kannte May ja sogar Alphonse Daudets 1872 erschienenen satirischen Roman Tartarin de Tarascon um einen aufschneiderischen Möchtegern-Abenteurer und -Löwenjäger aus der Provence, dessen Erlebnisse im Orient aber meist wesentlich grotesker sind als die der Mayschen Helden. Auf jeden Fall hatte er einiges von oder über Jules Gérard, den französischen Löwenkiller, gelesen, der im Atlasgebirge im Wadi el Kantara den Tod fand und von May in verschiedenen Erzählungen erwähnt wird.

May setzt die Beschreibung des sich anpirschenden Löwen fort:

„Tut der Löwe den Sprung nicht sofort, nachdem er den Feind erblickt hat, so legt er sich nieder, die hinteren Pranken eingezogen und die vorderen nach vorn gestreckt. Er schließt die Augen fast ganz und betrachtet den Feind durch einen dünnen Spalt der Lider. Hat er seinen Entschluss gefasst, so hebt er den Hinterkörper ein wenig empor, um dadurch die Schnellkraft seiner Schenkelmuskeln zu erhöhen, seine Augen öffnen sich langsam, und in dem Augenblick, wo die Lider ganz emporgezogen sind und die sich wie ein Feuerrad bewegende Pupille voll zu sehen ist, tut er den verderblichen Sprung.“

Der heutige Leser weiß aus zahlreichen Tierfilmen und ähnlichen Fernsehsendungen natürlich einiges mehr über das tatsächliche Jagdverhalten der Löwen und über ihr Familienleben als die Zeitgenossen Karl Mays.

So dürfte weitgehend bekannt sein, dass das Beschleichen der Beute und die anschließende Jagd ausschließlich von den Löwinnen des Rudels durchgeführt wird, die übrigens alle miteinander verwandt sind. Ein Teil der Tiere zeigt sich dem zum Opfer ausersehenen Wild, während die anderen Löwinnen im hohen Gras der Steppe versteckt auf den Moment des Angriffs warten. Der ‚König der Tiere‘ aber, der imposante männliche Löwe, liegt währenddessen faul im Lager; höchstens erlaubt er dem Nachwuchs, mit seinem Schwanz zu spielen.

Nach erfolgreicher Jagd schleppen die Löwinnen die erlegte Beute in das Lager und nun beansprucht der Herr der Steppe das beste Stück für sich; erst wenn der Pascha satt ist, dürfen die Jägerinnen fressen.

Gewöhnlich liegen die Tiere am Tag dösend oder schlafend an ihren Ruheplätzen, die sie sich im Schilf, im dornigen Dickicht oder an zerklüfteten Felsen herrichten. Wasser aber muss stets in der Nähe zu finden sein. Erst in der Abenddämmerung schleichen die Löwinnen zur Jagd. Der Angriff wird mit kurzem Spurt blitzschnell durchgeführt, ein Sprung und das Beutetier wird niedergerungen und durch einen Biss in das Genick oder durch Zuschnüren der Kehle getötet.

Der Löwe ist übrigens – das steht bei Karl May ganz richtig so – die einzige Großkatze die tatsächlich brüllen kann; und das durchdringende dumpfe Rollen der gewaltigen Stimme ist zweifellos für die allermeisten Menschen Furcht erregend.

Mitunter hat man bei den Mayschen Jagdgeschichten den Eindruck, der Autor habe diese Abenteuer gleichsam auf Vorrat geschrieben und die Episoden dann bei Bedarf in seine Romane eingeflochten, denn der Ausgang der Jagd hat nur in den wenigsten Fällen direkten Einfluss auf den Verlauf der Erzählung. Es sind zumeist eigenständige Intermezzi, die man auch an anderer Stelle innerhalb des Romans einschieben könnte, ohne dass der Fortgang der Haupthandlung dadurch gestört oder verändert würde. Doch hat es May ausgezeichnet verstanden, durch das Einbringen von Jagdszenen in vielerlei Variationen immer wieder das Spannungsmoment seiner Bücher noch zu erhöhen – zur Freude seiner Leser.

 

Karlheinz Eckardt

 

 

 

Assad-Bej, der Herdenwürger

 

Kara Ben Nemsi wird vom Scheik der Haddedihn in der Nähe des Tigris als Späher gegen die feindlichen Stämme der Dschowari, der Abu Hammed und der Obeïde ausgesandt. Doch schon bald gerät er in die Gefangenschaft dieser Stämme, sein Schicksal scheint besiegelt. Er liegt schlaflos in einem Zelt, doch in der Nacht umschleicht ein Löwe das Lager.

 

Ich wurde in ein kleines, niedriges Zelt geschafft und dort angebunden. Zu meiner Rechten und zu meiner Linken kauerte sich je ein Beduine nieder, die dann später abwechselnd schliefen. Ich hatte geglaubt, die Entscheidung über mein Schicksal noch heute zu vernehmen, sah mich aber getäuscht; die Versammlung ging später, wie ich hörte, auseinander, ohne dass mir etwas über ihren Beschluss gesagt worden wäre. Ich schlief ein.

Ein unruhiger Traum bemächtigte sich meiner. Ich lag nicht hier im Zelt am Tigris, sondern in einer Oase der Sahara. Das Wachtfeuer loderte, der Lagmi[1] ging von Hand zu Hand und Märchen wurden erzählt. Da plötzlich ließ sich jener grollende Donner vernehmen, den keiner vergessen kann, der ihn einmal gehört hat, der Donner der Löwenstimme. Assad-Bej, der Herdenwürger, nahte, um sein Nachtmahl zu holen. Wieder und näher ertönte seine Stimme – ich erwachte.

War das ein Traum gewesen? Neben mir lagen die beiden Abu Hammed und ich hörte, wie der eine die heilige Fâtiha betete. Da grollte der Donner zum dritten Mal. Es war Wirklichkeit – ein Löwe umschlich das Lager.

„Schlaft ihr?“, fragte ich.

„Nein.“

„Hört ihr den Löwen?“

„Ja. Heute ist es das dritte Mal, dass er sich Speise holt.“

„Tötet ihn!“

„Wer soll ihn töten, den Mächtigen, den Erhabenen, den Herrn des Todes?“

„Feiglinge! Kommt er auch in das Innere des Lagers?“

„Nein. Sonst ständen die Männer nicht vor ihren Zelten, um seine Stimme vollständig zu hören.“

„Ist der Scheik bei ihnen?“

„Ja.“

„Geh hinaus zu ihm und sage ihm, dass ich den Löwen töten werde, wenn er mir mein Gewehr gibt.“

„Du bist wahnsinnig!“

„Ich bin vollständig bei Sinnen. Geh hinaus!“

„Ist es dein Ernst?“

„Ja, pack dich!“

Es hatte sich eine ganz bedeutende Aufregung meiner bemächtigt, ich hätte meine Fessel zersprengen mögen. Nach einigen Minuten kehrte der Mann zurück. Er band mich los.

„Folge mir!“, gebot er.

Draußen standen viele Männer mit den Waffen in der Hand, aber keiner wagte es, aus dem Schutz der Zelte zu treten.

„Du hast mit mir sprechen wollen. Was willst du?“, fragte der Scheik.

„Erlaube mir, diesen Löwen zu erlegen.“

„Du kannst keinen Löwen töten! Zwanzig von uns reichen nicht aus, ihn zu jagen, und mehrere würden sterben dabei.“

„Ich töte ihn allein, es ist der erste nicht.“

„Sagst du die Wahrheit?“

„Ich sage sie.“

„Wenn du ihn erlegen willst, so habe ich nichts dagegen. Allah gibt das Leben und Allah nimmt es wieder, es steht alles im Buch verzeichnet.“

„So gib mir mein Gewehr!“

„Welches?“

„Das schwere und mein Messer.“

„Bringt ihm beides“, gebot der Scheik.

Der gute Mann sagte sich jedenfalls, dass ich ein Kind des Todes und er dann unbestrittener Erbe meines Pferdes sei. Mir aber war es um den Löwen, um die Freiheit und um das Pferd zugleich zu tun, und diese drei konnte ich haben, wenn ich in den Besitz meiner Büchse gelangte.

Sie wurde mir nebst dem Messer gebracht.

„Willst du mir nicht die Hände frei machen lassen, o Scheik?“

„Du willst wirklich nur den Löwen erschießen?“

„Ja. Ich werde mit dieser Büchse nur auf den Löwen schießen.“

„So löst ihm die Hände!“

Jetzt war ich frei. Die anderen Waffen lagen im Zelt des Scheiks und vor diesem stand der Rappe. Ich hatte keine Besorgnis mehr.

Es war die Stunde, in der der Löwe am liebsten um die Herden schleicht, die Zeit kurz vor dem Morgengrauen. Ich fühlte an meinen Gürtel, ob der Patronenbund noch vorhanden sei, dann schritt ich bis zum ersten Zelt vor. Hier blieb ich eine Weile stehen, um mein Auge an die Dunkelheit zu gewöhnen. Vor mir und zu beiden Seiten gewahrte ich einige Kamele und zahlreiche Schafe, die sich zusammengedrängt hatten. Die Hunde, die sonst des Nachts die Wächter dieser Tiere sind, waren entflohen und hatten sich hinter oder in die Zelte verkrochen.

Ich legte mich auf den Boden nieder und kroch leise und langsam vorwärts. Ich wusste, dass ich den Löwen noch eher riechen würde, als ich ihn bei dieser Dunkelheit zu Gesicht bekommen konnte. Da – es war, als erbebte der Boden unter mir – erscholl der Donner seiner Stimme seitwärts von mir und einige Augenblicke darauf vernahm ich einen dumpfen Schall, wie wenn ein schwerer Körper gegen einen anderen prallt – ein leises Stöhnen, ein Knacken und Krachen wie von zermalmt werdenden Knochen – und da, höchstens zwanzig Schritte vor mir, funkelten die beiden Feuerkugeln: – Ich kannte dieses grünlich rollende Licht. Ich hob das Gewehr trotz der Dunkelheit, zielte, so gut es gehen wollte, und drückte ab.

Ein grässlicher Laut durchzitterte die Luft. Der Blitz meines Schusses hatte dem Löwen seinen Feind gezeigt; auch ich hatte ihn gesehen, wie er auf dem Rücken eines Kamels lag und dessen Halswirbel mit seinen Zähnen zermalmte. Hatte ich ihn getroffen? Ein großer dunkler Gegenstand schnellte durch die Luft und kam höchstens drei Schritte vor mir auf dem Boden nieder. Die Lichter funkelten abermals. Entweder war der Sprung schlecht berechnet gewesen oder das Tier war doch verwundet. Ich kniete noch fast im Anschlag und drückte den zweiten und letzten Schuss los, nicht zwischen die Augen, sondern mitten in das eine Auge hinein.

 

 GRAFIK 2

 

Dann ließ ich die Büchse blitzschnell fallen und nahm das Messer zur Hand – aber der Feind kam nicht über mich; er war von dem tödlichen Schuss förmlich zurückgeworfen worden. Trotzdem zog ich mich einige Schritte zurück, um wieder zu laden. Ringsum herrschte Stille, auch im Lager war kein Hauch zu hören. Man hielt mich wohl für tot.

Sobald aber der schwächste Schimmer des Tages den Körper des Löwen einigermaßen erkennen ließ, trat ich hinzu. Er war tot und nun machte ich mich daran, ihn aus der Haut zu schälen. Ich hatte meine Gründe, nicht lange damit zu warten. Es fiel mir nicht ein, diese Trophäe zurückzulassen. Die Arbeit ging mehr nach dem Gefühl, war aber doch beendet, als der Morgenschimmer etwas kräftiger wurde.

Jetzt nahm ich das Fell, schlug es mir über die Schulter und kehrte ins Lager zurück. Es war jedenfalls nur ein kleines Zweiglager der räuberischen Abu Hammed. Die Männer, Frauen und Kinder saßen erwartungsvoll vor ihren Zelten. Als sie mich erblickten, erhob sich ein ungeheurer Lärm. Allah wurde in allen Tönen angerufen und hundert Hände streckten sich nach meiner Beute aus.

„Du hast ihn getötet?“, rief der Scheik. „Wirklich? Allein?“

„Allein!“

„So hat dir der Schejtan beigestanden! Oder hast du einen Zauber, ein Amulett, einen Talisman, mit Hilfe dessen du diese Tat vollbringst?“

„Ja.“

„Wo ist er?“

„Hier!“

Ich hielt ihm die Büchse vor die Nase.

„Das ist es nicht. Du willst es uns nicht sagen. Wo liegt der Körper des Löwen?“

„Draußen rechts vor den Zelten. Holt ihn euch!“

Die meisten der Anwesenden eilten fort. Das hatte ich gewünscht.

„Wem gehört die Haut des Löwen?“, fragte der Scheik mit lüsternem Blick.

„Darüber wollen wir in deinem Zelt beraten. Tretet ein!“

Alle folgten mir; es waren wohl nur zehn oder zwölf Männer da. Gleich beim Eintritt erblickte ich meine anderen Waffen, sie hingen an einem Pflock. Mit zwei Schritten stand ich dort, riss sie herab, warf die Büchse über die Schulter und nahm den Stutzen in die Hand. Die Löwenhaut war mir infolge ihrer Größe und Schwere sehr hinderlich; aber es musste doch versucht werden. Rasch stand ich wieder unter dem Eingang des Zeltes.

„Zedar Ben Huli, ich habe dir versprochen, mit dieser Büchse nur auf den Löwen zu schießen...“

„Ja.“

„Aber auf wen ich mit diesem anderen Gewehr schießen werde, das habe ich nicht gesagt.“

„Es gehört hierher. Gib es zurück.“

„Es gehört in meine Hand, und die wird es behalten.“

„Er wird fliehen – haltet ihn!“

Da erhob ich den Stutzen zum Schuss.

„Halt! Wer es wagt, mich zu hindern, der ist eine Leiche! Zedar Ben Huli, ich danke dir für die Gastfreundschaft, die ich bei dir genossen habe. Wir sehen uns wieder!“

Ich trat hinaus. Eine Minute lang wagte niemand mir zu folgen. Diese kurze Zeit genügte, den Rappen zu besteigen und die Haut vor mich hinzunehmen. Als sich das Zelt wieder öffnete, galoppierte ich bereits am letzten Zelt vorbei.

 

(Gesammelte Werke Band 1 „Durch die Wüste“)