Epub cover


AUF LEBEN UND TOD

Martin S. Burkhardt

Impressum


Deutsche Erstausgabe
Copyright Gesamtausgabe © 2015 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Mark Freier
Lektorat: Heike Müller

ISBN E-Book: 978-3-95835-115-8

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag auf

Facebook   Twitter    Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an info@luzifer-verlag.de melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen und senden Ihnen kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kapitel 8

Februar 2004

So viele Gewichte hatte sie bisher noch nie gestemmt. Aldiana atmete prustend aus, während sich ihre Arme in die Höhe streckten. Zunächst war ihr der Gedanke nicht geheuer gewesen, die glänzenden Metallringe zehnmal nach oben zu hieven, aber es gelang ihr besser, als erwartet. Sie hatte in den letzten Monaten hart gearbeitet und erstaunliche Fortschritte gemacht. Ihr Körper hatte nie besonders viel Masse gehabt. Christina hatte immer erklärt, das läge in den Genen. Ihre Mutter war ebenfalls sehr schlank und zeichnete sich nur durch gestärkte Muskeln, nicht aber durch allzu viele Fettreserven aus. Ihr Vater soll ebenso dünn gewesen sein. Christina hatte kaum mehr als zwei Sätze über ihn verloren, seit Aldiana alt genug war, ihr die eine oder andere Frage zu stellen. Irgendwann hatte Aldiana aufgehört, Einzelheiten über ihren Erzeuger erfahren zu wollen. Wem nützte es? Wahrscheinlich war er längst tot oder schlich als verseuchtes, missgestaltetes Monster durch die sterbende und verstrahlte Welt. Bestimmt schmerzten Christina die Gedanken an ihn. Auch deshalb zog Aldiana es vor, sie nicht weiter mit diesem Thema zu belästigen. Letztendlich spielte es doch überhaupt keine Rolle, wer den Samen in Christina gebracht hatte.
  Als Aldiana sich erhob, kribbelte ihr gesamter Oberkörper. Einen Moment kreiste ihr Blick im Trainingsraum umher. Es war später Abend und niemand befand sich dort. Selbst Delia trainierte in letzter Zeit nicht mehr so intensiv wie früher. Was für ein Glück. Aldiana verspürte wenig Lust, gemeinsam mit dieser Schlange zu üben.
  Breitbeinig stellte sich Aldiana vor dem Spiegel auf und fixierte für einen Augenblick ihr Konterfei. Wer sollte heute ihre Stärke zu spüren bekommen? Meistens verwandelte sich ihr Spiegelbild in Delia, aber diesmal wollte Aldiana ihre Schattenspiele an einen anderen imaginären Gegner ausprobieren. Spontan fiel ihr Alona ein. Alona würde sie niemals in Wirklichkeit verletzen können, doch in Gedanken konnte man ihm ja mal ordentlich die zarte Visage demolieren.
  Mit einem heiseren Schrei hob Aldiana die Arme und machte einen Ausfallschritt nach vorne. Dann schwang sie sich einmal um die eigene Achse und schmetterte die Hände ihrem Spiegelbild entgegen. Gerade rechtzeitig, bevor die Handballen auf das Glas trafen, bremste Aldiana die Bewegung ab.
  Zufrieden begab sie sich wieder in die Ausgangsposition. Bei einer der letzten Trainingseinheiten hatte Aldiana ihren Schlag nicht mehr rechtzeitig verlangsamen können und war mit voller Wucht auf den Spiegel getroffen. Das riesige Ding hatte vibriert, als hätte es plötzlich ein Eigenleben bekommen. Aldiana war überzeugt, dass es in Tausend Teile zersplittern würde, aber außer einem haarfeinen Riss direkt über dem unteren Rahmen, war es heil geblieben. Und diesen Riss hatte bisher sicherlich niemand bemerkt.
  Nicht auszudenken, wenn der Spiegel in seine Einzelteile zerbrochen wäre. Der König hatte von erstaunlich vielen Gegenständen noch den einen oder anderen Vorrat angelegt, doch einen zweiten Spiegel würde er ganz gewiss nicht in seinem überirdischen Lager haben. Bestimmt hätte man sie für solch ein Vergehen wochenlang in die Zelle gesperrt.

Gerade als Aldiana die Arme hob, um die nächste Angriffsbewegung zu üben, wurde die Tür zum Trainingslager aufgestoßen und Celia und Elina stürmten herein. Als die beiden Mädchen Aldiana sahen, blieben sie überrascht stehen.
  »Was machst du denn hier?«, fragte Elina.
  »Trainieren. Und ihr?«
  Die beiden Mädchen tauschten einen schnellen Blick aus.
  »Hast du es etwa noch nicht gehört?«, fragte Celia aufgeregt.
  Aldiana nahm die Arme herunter, drehte sich um und musterte Celia einige Sekunden mit gekräuselter Stirn, bevor sie den Kopf schüttelte.
  »Marjan soll getötet werden«, schrie Elina und ihre Stimme hörte sich hysterisch, erwartungsvoll und überrascht zugleich an.
  »Was?«
  »Ja. Der König hat es eben im Wohntrakt verkündet. Du bist anscheinend die Einzige, die nichts davon mitbekommen hat.«
  »Getötet werden? Marjan?«, wiederholte Aldiana fassungslos. »Wieso das?«
  »Den genauen Grund kennen wir nicht«, sagte Elina.
  »Aber der König wird es erklären, sobald sich alle Bewohner hier eingefunden haben«, sagte Celia. »Deshalb dürfen wir jetzt auch keine Zeit mehr verlieren. Wir sollen alles vorbereiten. Du kannst uns ja helfen.«
  Aldiana schaute mit großen Augen zu, wie die beiden Mädchen die Trainingsgeräte dicht an die Wände schoben und an deren Stelle mehrere lange Holzbänke im Trainingsraum verteilten.
  »Was soll das denn?«, fragte Aldiana verwirrt.
  »Hier findet nur die Urteilsverkündung statt«, erklärte Elina, während sie ein Holzpult schräg vor die Bänke platzierte. »Die Vollstreckung wird natürlich im Kampfraum vollzogen.«

Den sogenannten Kampfraum betraten sie nicht oft. Dieses kreisrunde Gewölbe, das mit einer feinen Sandschicht ausgelegt war, wurde nur zu besonderen Anlässen vom König geöffnet. Elina schloss die Eisentür auf, die in etwa so aussah, wie die geheime Tür neben dem Ventilator, aber nur halb so breit war.
  Celia drückte die Lichtschalter und kurz darauf summten unzählige Leuchtstoffröhren auf. Mit einem hörbaren Zischen erwachten auch die fünf Halogenscheinwerfer zum Leben und bestrahlten den Platz mit gleißendem, weißen Licht. Aldiana hatte sich schon oft gefragt, warum der Kampfraum so unglaublich hell sein musste. Die Zuschauer an den Seiten konnten die Kämpfe selbst bei dezenterer Beleuchtung genau und in allen Einzelheiten verfolgen.
  Während Elina die königliche Loge inspizierte, ein abgetrennter, erhöhter Bereich aus Holz, auf dem ein futuristisch anmutender Sessel stand, schlenderte Aldiana in die Mitte des Platzes und drehte sich einmal um die eigene Achse. Warum ausgerechnet Marjan? Natürlich, Alonas Vater war ziemlich aufmüpfig. Ihm fehlte oft der nötige Respekt vor dem König oder den Mitbewohnern, aber musste man ihn deshalb gleich töten? Oder hatte der alte Narr sich wieder etwas Neues zuschulden kommen lassen? Hatte er einen der Jugendlichen beleidigt oder gar in Gegenwart anderer schlecht über den König gesprochen? Wie ging es Alona damit, dass sein Erzeuger kurz vor der Hinrichtung stand? Am liebsten hätte Aldiana ihn jetzt gesucht, ihm Trost gespendet und in die Arme genommen, aber dafür war keine Zeit. Hinter ihnen im Trainingsraum zeugte ein leises Gemurmel davon, dass die ersten Leute bereits eingetreten waren. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das geschäftige Treiben um sie herum. In aller Öffentlichkeit konnte sie Alona sowieso ihm nicht zu Nahe treten. Das wurde überhaupt nicht gern gesehen.
  »Alles bereit«, stellte Elina fest und sprang vom Podest herunter.
  Celia, die inzwischen mit einer Eisenharke durch den Sand gefahren war und aus den kleinen Haufen eine ebene Fläche gemacht hatte, nickte.
  »Aldiana, geh zur Seite. Nur noch die Mitte.«
  Aldiana schaute Celia einen Atemzug lang verwirrt an, bevor sie begriff und mit langen Schritten an den Rand der Sandfläche ging, damit die Harke auch den Rest des Bereiches begradigen konnte.

Viele der Plätze waren schon belegt, als sie den Trainingsraum betraten. Aldiana suchte nach Alona, aber von ihm war nichts zu sehen. Auch Marjan befand sich noch nicht hier, überhaupt hatte sich noch keiner der Erwachsenen eingefunden. Aldiana nahm neben Elina und Celina auf der vordersten Reihe Platz und schaute gespannt zu dem provisorischen Podest.
  »Wurde gesagt, wie er getötet werden soll?«, flüsterte Aldiana den anderen Mädchen zu.
  Während Celina den Mund verzog, und dabei heftig den Kopf schüttelte, machte Elina eine vage Bewegung nach hinten.
  »Schau dich doch um. Bis auf Alona, Bela und Delia sind sämtliche Jugendlichen anwesend. Bestimmt treten die drei zusammen gegen Marjan an.«
  Aldiana schluckte schwer. Es war nicht besonders angenehm, wenn man dazu verdonnert wurde, den eigenen Vater zu Brei zu hauen und anschließend genüsslich zu töten. Sie stellte sich gerade vor, welche Schläge sie ansetzen könnte, wenn ihr eines Tages Christina im Ring gegenüberstehen würde, als die Tür zum Trainingsraum aufflog.

Die Erwachsenen kamen mit gesenkten Köpfen hintereinander durch die Tür. Mit den Händen mussten sie ihre Vordermänner an den Schultern festhalten und man hätte denken können, dass es sich um einen fröhlichen Umzug handelte, wenn nicht die gequälten Gesichter gewesen wären. Aldiana entdeckte Christina etwa in der Mitte der merkwürdigen Prozession. Ihr Blick war starr geradeaus gerichtet und es sah nicht so aus, als ob sie Notiz von ihr oder den anderen Jugendlichen nahm. Auch die übrigen Erwachsenen wirkten seltsam bedrückt und verunsichert. Die Gruppe blieb an der Seitenwand stehen und machte keine Anstalten, sich auf die noch freien Bänke zu setzen. Marjan befand sich nicht in der Reihe. Aber wenn ihm heute wirklich der Prozess gemacht werden sollte, würde der Unglückliche sicherlich nicht mehr so frei herumlaufen können. Als hätte jemand ihre Gedanken aufgefangen, wurde die Tür erneut geöffnet und Marjan und Alona erschienen. Marjans Füße waren gefesselt, sodass er nur tippelnd gehen konnte. Die Arme waren ihm hinter dem Rücken zusammengebunden. Als einer der wenigen Männer besaß Marjan noch sämtliche seiner Gliedmaßen. Dafür litt Alonas Vater unter epileptischen Anfällen. Seit seiner Kindheit spielte sein Körper verrückt und es verging keine halbe Stunde, an dem Marjan nicht wenigstens von einer ordentlichen Schüttelattacke heimgesucht wurde.
  Momentan jedoch hielt er sich aufrecht neben Alona und wirkte äußerst gefasst. Die beiden stellten sich rechts an das Pult und drehten sich in Front zu den Bänken.
  Einige Minuten passierte nichts. Ein paar der Jungen tuschelten leise miteinander, aber Aldiana war nicht zum Reden zumute. Sie blickte in Alonas Gesicht und spürte, wie mühsam Alona sich beherrschte. Für jeden, der ihn nicht so gut kannte, musste sein gelangweilter Gesichtsausdruck furchtbar authentisch wirken, doch Aldiana ließ sich nicht täuschen. Immer, wenn Alona nervös war, mahlte er unentwegt mit den Kiefern, als würde er lauter kleine Lutschbonbons kauen. Und er blinzelte fast doppelt so oft, wie sonst. Genau das konnte Aldiana nun bei ihm beobachten und es brach ihr fast das Herz, dass sie momentan nicht zu ihm gehen und ihn trösten durfte.

Plötzlich erschien Delia an der Tür. Sie schaute aufreizend langsam durch die Reihen der Jugendlichen, bevor ihr Blick einige Sekunden auf Marjan ruhen blieb. Dann huschte ein gemeines Lächeln über ihre Lippen. Mit einer Hand griff Delia hinter sich und schob Bela unsanft über die Schwelle. Bela stolperte hilflos in den Raum und blieb wie angewurzelt stehen.
  Aldiana verzog das Gesicht. Seit dem Kampf mit Delia war Bela beeinträchtigt. Die äußeren Wunden waren zwar schon längst wieder verheilt und nur eine wirklich heftige Narbe unterhalb des Kinns sowie zwei verlorene Zähne zeugten noch von Delias brutalem Angriff, aber geistig war Bela nicht mehr auf der Höhe. Es war, als hätte Delia mit ihren Fausthieben auch Teile von Belas Gehirn zu Matsch geschlagen. Bela sprach kaum mehr ein Wort, igelte sich ein, wo immer es ging, und nahm auch sonst nicht am öffentlichen Leben teil.
  Aber kämpfen konnte sie nach wie vor. Im Gegenteil, ihr Siegeswille schien nach der verheerenden Niederlage gegen Delia bis ins Unermessliche gestiegen. Bela war früher eine besonnene Fighterin gewesen, stets darauf bedacht, aus einer sicheren Verteidigung heraus platzierte Angriffe zu setzen. Doch seit der Erfahrung mit Delia war es anders.
  Schon als Bela nach langer Pause wieder ins Training eingestiegen war, hatte Aldiana ihren veränderten Kampfstil bemerkt. Auf ihre eigene Deckung nahm Bela überhaupt keine Rücksicht mehr. Es war fast, als hätte sie das Schlimmste, was jemand erleben konnte, bereits erlebt und daher keinen Grund, vorsichtig zu sein. Bela stürmte auf ihre Gegnerinnen los wie eine Besessene und prügelte wild, zügellos und ohne erkennbares Muster auf sie ein. Seit dieser Zeit hatte sie noch kein Match verloren und selbst zwei der Jungen windelweich geschlagen.

Aldiana beobachtete, wie Delia ihre Hände besitzergreifend in Belas Haare legte und sie grob Richtung Pult drückte. Delia schien es eindeutig zu gefallen, dass Bela nach ihren Schlägen von damals die meiste Zeit nur noch als wandelnde Puppe unterwegs war. Ein schlechtes Gewissen war ihr jedenfalls nicht anzumerken. Als die beiden Mädchen auf der anderen Seite des Pultes Aufstellung genommen hatten, riss Delia ihr einstiges Opfer ein weiteres Mal mit aller Kraft an den Haaren, bevor sie schließlich von Bela abließ. Aldiana konnte sehen, wie Delia es genoss, Bela derart vorzuführen. Wie gern wäre sie jetzt aufgesprungen und hätte dieser widerlichen Kuh eins auf die lächerliche Visage gegeben.
  Doch natürlich bewegte Aldiana sich nicht. Und das war nur gut, denn Sekunden später erschien der König an der Tür. Aldiana hatte ihn selten so aufgebracht gesehen. Seine Wangen glühten rot vor Zorn und sein ganzer Körper zitterte.
  Der König machte einen schnellen Schritt in Richtung Pult und wäre beinahe auf dem eigenen Umhang ausgerutscht. Er taumelte und fluchte und seine Laune schien augenblicklich noch weiter zu sinken. Behutsam und auf seine Füße achtend, setzte er den Weg fort.
  »Ich habe euch herbestellt, weil an meiner Kompetenz gezweifelt wurde«, polterte der König los, als er schließlich hinter dem Pult stand. Er vermied es, zu den Erwachsenen zu schauen und auch die beiden Zweiergruppen neben sich beachtete er nicht. Stattdessen starrten seine unruhigen Augen die Mädchen in der ersten Bankreihe an, wobei Aldiana das Gefühl hatte, besonders ausgiebig gemustert zu werden.
  »Deshalb muss ich heute Abend, zu so fortgeschrittener Stunde, ein Exempel statuieren. Marjan hat mich bloßgestellt, sich in ungebührlicherweise über mich geäußert. Und das zum wiederholten Male. Lange habe ich mir sein ungehöriges Verhalten mit angesehen, aber nun ist Schluss. Ich bin nicht mehr bereit, Marjan zu tolerieren, ihn mit durchzufüttern. Ihr seid privilegiert. Ihr dürft in meinem unterirdischen Königreich überleben. Oben auf der Erde sterben die letzten Menschen qualvolle Tode, aber euch braucht das nicht zu interessieren. Ihr seid in absoluter Sicherheit.«
  Der König machte eine bedeutsame Pause und schaute fast flehend die Mädchen auf der ersten Bank an. Diesmal glitt sein Blick glücklicherweise erstaunlich schnell an Aldiana vorbei.
  »Für eure Geborgenheit und das Sonderrecht, in einer sterbenden Welt zu den wenigen Überlebenden zu gehören, habe ich mir ja wohl etwas mehr Respekt verdient. Marjan hat sich seit Jahren benommen, als legte er nicht besonders viel Wert, unsere Gemeinschaft tatkräftig zu unterstützen. Nun muss Marjan die Konsequenzen tragen.«
  Mit einer kreisenden Bewegung der rechten Hand forderte der König Delia und Bela auf, vorzutreten. Er drehte sich zu ihnen um und lächelte breit.
  »Euch beiden gebührt die Ehre, die Strafe zu vollziehen. Ihr werdet auf dem Sandplatz gegen Marjan antreten und erst entlassen werden, wenn der Mann seinen letzten Atemzug getan hat. Habt kein Mitleid. Für besonders markante Treffer werden euch Extrabelohnungen zuteil.«
  Delia grinste, als hätte man ihr sämtliche Fleischrationen der nächsten Jahre versprochen. Bela ließ sich zu keiner Gefühlsäußerung hinreißen und starrte geradeaus ins Nirgendwo. Aldiana bemühte sich, nicht allzu deutlich den Kopf zu schütteln. Seit wann versprach der König irgendwelche Belohnungen für wirkungsvolle Schläge? Das war unüblich. Und völlig unangebracht. Delia kämpfte immer so, als wäre ihr Gegenüber der leibhaftige Teufel. Da musste man sie doch nicht noch extra aufstacheln. Als der König ihren Blick auffing, bekam Aldiana augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Ihr stand es nicht zu, über solche Dinge nachzudenken. Der König wusste schon, was er sagte und mit welchen Mitteln er die Leute in Kampfeslaune brachte. Dennoch kreisten auch ihre Gedanken kurz um die versprochene Belohnung. Was mochte es vom König geben? Bestimmt hatte der König noch das eine oder andere spannende Teil oben in seinem geheimen Lager bei den Stromaggregaten.
  »Jetzt nehmt Marjan in eure Mitte und führt ihn in den Kampfraum«, befahl der König.
  Delia griff Bela erneut grob in die Haare und riss sie herum. Als die beiden Mädchen sich vor Marjan und Alona postierten, hielt Aldiana eine Sekunde den Atem an. Kurz sah es so aus, als ob Alona nicht zur Seite gehen, und die Arme seines Vaters nicht loslassen würde. Delia trat dicht an ihn heran und flüsterte ihm etwas zu. Aldiana bemerkte, wie sich ihre Armmuskeln spannten und ihre Hand sich zur Faust ballte. Alona hatte das Training in den vergangenen Monaten sträflich vernachlässigt. Früher war er einer der Besten gewesen, aber diese Zeit war vorüber. Wenn Delia ihn jetzt attackieren würde, hätte Aldiana nicht unbedingt auf seinen Sieg gewettet.
  Doch im letzten Moment ließ Alona seinen Vater los und bewegte sich zwei Schritte nach hinten. Triumphal lächelnd umklammerte Delia mit der freien Hand Marjans Handfessel. Aldiana war sicher, dass sie ihm liebend gern ebenso grob in die Haare gefahren wäre, wie Bela, aber Marjan war zu lang. Delias Arm reichte nicht bis zu seinem Kopf.
  »Gehen wir«, sagte der König und schritt voran. Dann fiel sein Blick auf die Erwachsenen, die noch immer nebeneinander an der Wand standen und allesamt verunsichert wirkten.
  »Ihr werdet euch bestimmt fragen, warum die Großen heute nicht Platz nehmen durften«, sagte er an Aldiana und die anderen Jugendlichen gewandt. »Ich glaube, meine Autorität wurde nicht nur von Marjan untergraben. Ich habe zwar keine konkreten Beweise, aber es schadet sicher nicht, wenn einem jeden wieder deutlich bewusst wird, wer in diesem Reich das Sagen hat. Die Erwachsenen dürfen dem Kampf im Stehen beiwohnen und sich dabei gern noch einmal vor Augen führen, wie es überhaupt zu dieser Situation kommen konnte.«

Der König warf einen abschließenden, funkelnden Blick hinüber zu der Wand und wandte sich dann endgültig um. Aldiana schaute ihm mit gekräuselter Stirn nach. Ihr war nicht wirklich klar, was seine Aussage zu bedeuten hatte. Anscheinend schwelte zwischen dem König und den Älteren schon seit Längerem etwas Unausgesprochenes.
  Neben ihr stand Celia auf und auch die anderen Mädchen und Jungen machten sich bereit, den Standort zu wechseln. Delia hatte Marjan und Bela inzwischen durch die Tür in den Kampfraum geführt. Dicht hinter ihr folgte der König, der die Schwarzhäutige mit seinen Augen förmlich aufspießte. Dann setzten sich die Erwachsenen in Bewegung. Als hätte es einen geheimen Befehl gegeben, nahmen sie hintereinander Aufstellung und bewegten sich im Gleichschritt zwischen den wuselnden Jugendlichen hindurch.
  Aldiana ließ Celia und Elina vorausgehen und drehte sich zu Alona um. Der Arme stand noch immer dort, wohin er vor Delias giftigen Blick geflüchtet war und machte keine Anstalten, der Gruppe zu folgen.
  »Wie geht es dir?«, fragte Aldiana und nahm seine Hände. Sie fühlten sich kalt und trocken an.
  »Einigermaßen.«
  »Hast du vorher etwas davon gewusst? Ich meine, hast du geahnt, dass der König Marjan zur Rechenschaft ziehen will?«
  Alona schüttelte den Kopf.
  »Wir müssen uns das nicht ansehen«, stellte Aldiana fest. »Wir können in den Wohntrakt gehen, in alten Zeitungen oder Katalogen blättern.«
  »Das geht leider nicht«, antwortete Alona traurig. »Der König hat mich vorhin zur Seite genommen und deutlich gemacht, dass er meine Anwesenheit wünscht.«
  »Scheiße«, sagte Aldiana leise.
  »Du sagst es.«
  »Dann komm. Ich halte dich fest.«

Aldiana und Alona betraten als Letzte den Kampfraum. Der König hatte es sich bereits auf dem extravaganten Sessel gemütlich gemacht. In einer langen Reihe neben ihm standen die Erwachsenen und wirkten noch immer unfähig, irgendwelche Reaktionen zu zeigen. Aldiana fiel es schwer, in ihren Gesichtern zu lesen. Auch Christina gab sich alle Mühe, ihre Gefühle so gut wie möglich zu verbergen.
  Marjan saß im Schneidersitz vor ihnen. Man hatte ihm die Fesseln abgenommen. Seine Hände zitterten leicht. Es war unmöglich festzustellen, ob der Unglückliche Angst hatte oder ob sich ein neuerlicher Anfall ankündigte.
  Die Jugendlichen hatten sich in Grüppchen in dem Bereich daneben versammelt, der vom Kampfplatz durch ein einfaches Seil abgetrennt war.
  Delia und Bela standen im knöcheltiefen Sand am Rande des Raumes und dehnten sich. Zumindest teilweise. Während Delia ihre Übungen sorgsam und voller Konzentration durchführte, wirkte Bela völlig verloren. Sie wartete steif wie ein Brett neben ihr und bewegte nicht einmal den kleinen Finger. Wie so oft kam es Aldiana vor, als wäre Bela überhaupt nicht anwesend. Es war nach wie vor schwierig zu akzeptieren, dass sich ihr Charakter nach Delias Prügelattacke so vollkommen verändert hatte. Aldiana hatte versucht, mit Christina darüber zu reden, aber ihre Mutter hatte das Gespräch jedes Mal abgeblockt.
  »Was ist?«, fragte Alona und drückte sanft auf ihre Hand.
  Erst jetzt fiel Aldiana auf, dass sie stehen geblieben war und die beiden Mädchen gedankenverloren anstarrte.
  »Nichts«, antwortete sie und beeilte sich, zu den anderen Jugendlichen zu kommen.

Alona war es nicht erlaubt, noch einmal zu Marjan zu gehen und sich von ihm zu verabschieden. Aldiana bezweifelte, ob er es überhaupt gemacht hätte. Wahrscheinlich war es einfacher für ihn, seinen Erzeuger nicht weiter zu beachten. Aldiana wusste, dass Alona ein relativ inniges Verhältnis zu seinem Vater pflegte. Ihr war das immer ein wenig suspekt vorgekommen. Sie selbst jedenfalls unterhielt keinen besonderen Kontakt zu Christina. Natürlich sprach sie mit Christina mehr als mit den anderen Erwachsenen, aber das war hauptsächlich auf die Initiative ihrer Mutter zurückzuführen. Aldiana wusste, dass es Christina mochte, sich so oft wie möglich mit ihr auszutauschen. Und solange es niemandem auffiel, war dagegen ja nichts einzuwenden. Aldiana respektierte ihre Mutter und ließ es geschehen, auch wenn ihr selbst längst nicht so viel daran lag. Sie kam ganz gut alleine zurecht. Alle Jugendlichen kamen gut mit sich selbst zurecht. Darauf hatte der König geachtet, seit sie laufen konnten.
  Suez jedoch ging zu Marjan, bevor er auf den Sandplatz geführt wurde. Sie löste sich aus der Schlange der Erwachsenen, strich Alona im Vorbeigehen flüchtig durch die Haare und gab Marjan einen dicken Kuss, den er augenblicklich erwiderte. Erst als der König sich räusperte, trat Suez zurück in die Reihe.

Der König höchstpersönlich führte den Verurteilten in den Sand. Mit einer herrischen Geste forderte er ihn auf, ihm zu folgen. Als Marjan losschritt, konnte Aldiana sehen, dass sich sein Zittern eher noch gesteigert hatte. Natürlich mochten ihm vor Angst die Knie schlottern, aber so wie es aussah, stand Marjan unmittelbar vor einem weiteren Anfall. Das schien jedoch niemanden sonderlich zu interessieren. Der König ließ es sich nicht nehmen, Alonas Vater gegen den Hinterkopf zu boxen und ihm ein paar eindringliche Worte ins Ohr zu flüstern. Dann strich der König Delia sanft über die nackten Oberarme, bevor er auch ihr etwas zuflüsterte. Während Marjan keine Regung gezeigt hatte, begann Delia laut zu kichern und nickte mehrmals.
  Dann war es so weit.
  Der König hatte es plötzlich eilig, zurück auf seinen Sessel zu kommen. Noch ehe er in die Hände klatschte, was das übliche Zeichen für den Start eines Kampfes darstellte, hatte sich Delia vor Marjan aufgebaut und grinste ihn an. Sie ging ihm allenfalls bis zur Brust, aber das änderte nichts an der Bedrohung, die ihre Körperhaltung ausstrahlte. Das war eines der wenigen Dinge, worum Aldiana Delia beneidete. Delia zog sofort die Aufmerksamkeit an sich, schaffte es, innerhalb von Sekunden den ganzen Raum für sich einzunehmen. Delia strahlte eine Dominanz und Stärke aus, die jeden Gegner unvermittelt in die Defensive geraten ließ. Selbst Marjan wirkte auf einmal hoch konzentriert, auch wenn sich Alonas Vater nicht die Blöße gab, vor Delia zurückzuweichen.
  Noch bevor der Klang des Händeklatschens verhallt war, setzte Delia zum Angriff an. Mit voller Wucht trat sie Marjan gegen die Kniescheiben und nur Augenblicke später attackierten ihre Fäuste seine Brust. Marjan taumelte einen Schritt rückwärts, behielt aber das Gleichgewicht. Mit wachsender Sorge beobachtete Aldiana, dass er jedoch keine Anstalten machte, sich zu wehren. Als Delia auf seinen Brustkorb eindrosch, ergab sich für ihn die Gelegenheit, die Furie mit einem platzierten Tritt zu Fall zu bringen. Doch Marjan dachte überhaupt nicht ans Angreifen. Auch seine Abwehrarbeit war alles andere als effektiv. Selbst mit zittrigen Armen hätte er die Wucht von Delias Schlägen mindern können, aber die meiste Zeit über hingen sie nur schlaff an seinem Körper herunter.
  »Er kann die Arme nicht bewegen«, flüsterte Aldiana.
  Alona schüttelte den Kopf.
  »Vater hat nicht vor, gegen zwei Jugendliche zu kämpfen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man ihm einfach die Pulsadern öffnen oder die Halsschlagader aufritzen sollen.«
  »Aber Marjan muss sich doch wehren.«
  »Welchen Sinn hätte denn das? Selbst wenn er Delia und Bela in Schach hielte, irgendwann würde sein Körper den nächsten Anfall bekommen und dann könnten ihn die Mädchen auseinandernehmen.«
  Aldiana seufzte und blickte starr auf Delia, die Marjan inzwischen als lebenden Sandsack benutzte. Delia stellte sich auf das linke Bein, drehte sich um die eigene Achse, und traktierte mit einer geraden, gezielten Bewegung des rechten Beines Marjans Bauch. Diese Abfolge übte Delia regelmäßig beim Training. Dennoch fand Aldiana, dass Delia fast schon ungeschickt dabei wirkte. Der Schwarzen fehlte die nötige Körperspannung. Es war nicht alles mit Kraft zu kompensieren, man musste auch ein wenig geschickt sein. Delia wirkte eher grobschlächtig. Zum ersten Mal ertappte sich Aldiana dabei, dass sie sich gute Chancen ausrechnete, sollte in nächster Zeit ein Duell zwischen Delia und ihr anstehen.
  Doch zunächst kämpfte Delia gegen Marjan. Und da sich Alonas Vater noch immer nicht zur Wehr setzte, erreichten die im Grunde genommen schlecht ausgeführten Tritte allesamt ihr Ziel.
  Marjan taumelte zurück und nun fiel es ihm schon sichtlich schwerer, das Gleichgewicht zu halten. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte Delia ein paar empfindliche Treffer gelandet. Und die Schwarze dachte gar nicht daran, ihren Bewegungsfluss zu unterbrechen. Immer neue Figuren kamen ihr in den Sinn, die alle nur gemein hatten, dass am Ende ein Fuß oder eine Faust in Marjans ungeschützten Körper donnerte.

Bela nahm bis zu diesem Zeitpunkt nicht am Geschehen teil. Sie hatte inzwischen zwar den Kopf gehoben und schaute Delia bei ihren Attacken zu, machte aber keinerlei Anstalten, selbst in die Kampfhandlungen einzugreifen.
  Nachdem Delia den achten oder neunten Beintreffer gelandet hatte, sank Marjan schließlich auf die Knie.
  »Endlich«, rief Delia triumphierend.
  Die nächsten Schläge verwandelten Marjans ohnehin schon markantes Gesicht in eine rote Schmiermasse. Diesmal vertraute Delia auf ihre Fäuste und landete die Treffer in rasend schneller Reihenfolge, wobei sie jedes Mal laut und angeregt stöhnte, wenn ihre Finger sich in Marjans Haut gruben.
  Zuerst sah es so aus, als würde Marjan wieder auf die Beine kommen. Alonas Vater konnte einstecken, das hatte Aldiana bereits in unzähligen Kämpfen gesehen. Doch diesmal spielten seine Muskeln nicht mit. Sein Körper begann sich zu schütteln, als würden gewaltige Mengen Strom in ihn hineinfließen. Auf halbem Weg nach oben sackte er wie eine Marionette zusammen, der man sämtliche Fäden auf einmal abgetrennt hatte.
  Delia schien ihr Glück zunächst gar nicht fassen zu können. Sie war schon zwei Schritte vor Marjan zurückgewichen und schaute einen Augenblick verwirrt zu, wie Alonas Vater auf den Hosenboden knallte, ehe sie erneut zum Angriff überging.
  Aldiana schauderte, mit welcher Brutalität Delia zu Werke ging. Der arme Marjan war momentan völlig außer Gefecht gesetzt. Sein Kopf wackelte in unkoordinierten Bewegungen hin und her und seine Zunge baumelte ihm aus dem Mund. Die Augen waren verdreht und es sah nicht so aus, als ob Marjan seine Umgebung überhaupt noch wahrnehmen konnte. Die Arme hingen nun nicht mehr kraftlos an ihm herunter, sondern wirbelten umher, als müssten sie einen ganzen Schwarm Mücken vertreiben. Marjans Oberkörper bewegte sich vor und zurück. Nur seine Beine verharrten angewinkelt in vollkommener Ruhe.
  Vielleicht wurde ihm gerade das zum Verhängnis. Delia schaute dem außer Kontrolle geratenen Körper noch einen Moment amüsiert zu, ehe sie ihn mit immer heftiger werdenden Tritten und Schlägen bearbeitete. Es dauerte nicht lange und Aldiana sah das erste Blut auf den Boden spritzen. Kurz darauf knackte etwas hörbar und Marjan wimmerte kläglich. Schließlich holte Delia aus, indem sie ihren Fuß streckte und sich um die eigene Achse drehte, und der darauffolgende Tritt in Marjans Gesicht brachte ihn komplett zu Fall.

Das war der Moment, in dem Bela zum Leben erwachte.
  Marjan fiel mit so einer Wucht in den Sand, dass er sich mit Sicherheit den Schädel gebrochen hätte, wenn der Untergrund auch nur eine Spur härter gewesen wäre. Als Marjan ausgestreckt auf dem Boden lag, fing Bela wie von Sinnen an zu kreischen. Mit einem fulminanten Satz war sie bei ihm und sprang ihn so ungestüm an, als würde es sich bei Marjan lediglich um eine flauschige Matratze handeln. Delia, die ebenfalls gerade Anstalten machte, sich auf Marjans Brust zu setzen, konnte im letzten Moment zur Seite ausweichen.
  Bela begann augenblicklich mit solch einer Gewalt auf Marjan einzuschlagen, als hätte sich ihr Verstand nun endgültig verabschiedet. Mit jedem Treffer stieß Bela ein irres Kreischen aus, bei dem es Aldiana kalt über den Rücken lief. Alona schien es nicht besser zu ergehen, denn er fing nun ebenfalls an, leicht zu zittern. Aldiana zog ihn fester an sich, drückte seinen Kopf gegen ihre Brust und streichelte ihm behutsam den Nacken.
  »Mach einfach die Augen zu«, flüsterte Aldiana, und als Alona nickte und sein Gesicht noch enger an ihre Haut presste, atmete Aldiana erleichtert auf. Er musste dieses Spektakel nicht sehen.
  Kurz kam es ihr in den Sinn, ebenfalls den Blick abzuwenden, doch so grausam die Szene war, sie übte dennoch eine gewisse Faszination auf Aldiana aus.
  Bela bearbeitete mit einer solchen Gewalt Marjans Schädel, dass Aldiana fest davon überzeugt war, dass die Irre sich sämtliche Finger brechen müsste. Alle paar Sekunden kreischte Bela und schrie undeutlich immer die gleichen zwei Wörter, die Nie wieder heißen konnten. Immer größere Blutschlieren flossen über Marjans Wangen, wurden durch die Kraft der Schläge verteilt, und verfärbten den Sand in einem Umkreis von mehreren Metern.
  Irgendwann hörte Alonas Vater ganz unvermittelt auf, zu zittern. Bela schien es nicht wahrzunehmen und steigerte ihr Schlagtempo eher noch. Es vergingen einige unendlich lange Minuten, in denen nichts weiter zu hören war, als die dumpfen Klatscher blutbesudelter Fäuste in einem völlig zerschundenen Gesicht.
  Dann trat Delia plötzlich mit voller Wucht nach ihrer Partnerin.
  Bela fiel neben Marjan in den Sand und ihre Schreie verebbten augenblicklich. Delia beugte sich über Marjan und legte ihm zwei Finger auf den Hals. Diesen Griff hatte ihnen der König schon vor Urzeiten beigebracht, aber Aldiana hätte nicht damit gerechnet, ihn einmal angewendet zu sehen.
  »Der Alte ist Geschichte«, verkündete Delia mit lauter Stimme, in der eine Spur Trotz lag. Wahrscheinlich hätte sie Marjan gern selbst den entscheidenden Todesstoß gegeben.
  Der König stand auf und begann zu klatschen. Auch einige Jugendliche fielen in den Applaus ein, aber die Mehrzahl von ihnen, und sämtliche Erwachsene, blieben still. Aldiana dachte ebenfalls nicht daran, diesen beiden Schlampen auf dem Sand Respekt zu zollen. Außerdem brauchte sie ihre Hände, um Alona festzuhalten, der inzwischen eingekrümmt in ihren Armen lag und leise vor sich hin schluchzte.

Kapitel 9

Juli 1982

  »Allmählich reicht es, oder?«
  Hartmut zog die Stirn kraus und blickte auf den dröhnenden Bagger, der die Reste des Kartoffelfeldes umgrub.
  »Von wegen«, polterte Henrys Vater. »Allein im letzten Jahr ist der Ölpreis um mehrere Pfennige in die Höhe geschnellt.«
  »Und was bringt dir das?«, fragte Hartmut. »Du hast ja noch nicht einmal den ersten Tank mit Öl gefüllt.«
  »Weil der Preis momentan zu hoch ist.«
  »Der wird ja wohl auch nicht fallen, wenn die Ölkrise wirklich vor der Tür steht, so wie du es schon seit Jahren predigst.«
  Henrys Vater musterte den Nachbarbauern mit zusammengekniffenen Augen und stöhnte schließlich übertrieben laut.
  »Du hast doch keine Ahnung«, sagte er böse und stapfte hinüber zu den Bauarbeitern. Hartmut strich Henry flüchtig durch die Haare und wandte sich dann an seine Mutter, die bisher nur schweigend zugehört hatte.
  »Pass ein wenig auf ihn auf. Dein Mann verrennt sich da in etwas.«
  »Ich weiß«, flüsterte Mutter zurück.
  »Habt ihr überhaupt genug Geld, um den neuen Tank zu finanzieren? Das Ding ist in den Ausmaßen doch locker noch einmal ein Drittel größer als der alte.«
  »Das andere Ungetüm ist gerade mal zur Hälfte abbezahlt. Warum, glaubst du wohl, wartet Franz mit dem Befüllen? Wir haben bereits Schwierigkeiten, den Unterhalt für die Landmaschinen aufzubringen.«
  »Dein Mann hat sich da in eine verdammte Scheiße hineingesteigert.«
  »Aber du kennst ihn, er ist ein unverbesserlicher Sturkopf. Nichts bringt ihn von dem eingeschlagenen Weg ab.«
  Hartmut steckte die Hände in die ausgeleierten Taschen des roten Overalls und blickte über die Felder.
  »Man gut, dass ihr so viel Land besitzt.«
  »Willst du was davon kaufen?«
  »Warum nicht? Du weißt ja, dass ich einen streng ökologisch ausgerichteten Bauernhof plane. Glückliche Milchkühe auf saftigen, weiten Wiesen und Mastvieh mit genügend Auslauf. Dafür benötige ich noch etliche Hektar.«
  »Wir haben etliche Hektar. Aber bald können wir uns die Fahrt zu den entlegensten Feldern nicht mehr leisten, weil wir kein Geld für Benzin haben, weil Franz bereits den zweiten Mammuttank für Benzinreserven baut. Ist das nicht ein Hohn?«
  Hartmut verzog das Gesicht zu einer Grimasse und nickte. Bevor der Nachbarsbauer zurück zu seinem Trecker stiefelte, gab er Henry einen freundschaftlichen Knuff auf die Brust und umarmte seine Mutter. Henry mochte Hartmut. Hartmut schien nichts aus der Ruhe bringen zu können und er hatte stets ein paar freundliche Worte für ihn auf Lager. Von seinen Eltern war Henry ein solch fast schon fürsorgliches Verhalten nicht gewöhnt.

Sein Vater wies gerade einen Bauarbeiter an, als Henry sich zu ihm gesellte.
  »Orientier dich an dem anderen Eingang. Sie sollen genau parallel verlaufen.«
  Der Mann nickte und brüllte etwas in einer anderen Sprache zu seinen Leuten. Dann richtete die Truppe ein rundes Rohr auf, an dem innen eine Leiter entlangführte.
  »Das sind exakt die gleichen bequemen Sprossen, wie beim Eingang des ersten Tanks«, erklärte sein Vater und Henry hörte, wie stolz seine Stimme klang. »Sind zwar unverschämt teuer, aber man rutscht nicht so leicht ab.«
  »Aha«, sagte Henry nur. Anfangs war ihm noch nicht einmal klar gewesen, warum ein Öltank überhaupt eine Leiter besaß. Geschweige denn eine Luke, die groß genug war, dass auch der dickste Mensch nicht hätte stecken bleiben können. Reichte nicht ein einfacher Einfüllstutzen für das Öl? Oder gab es Leute, die gern im Öl badeten, so wie Dagobert Duck in seinen Talern?
  Vater hatte ihm erklärt, dass der Zugang nichts anderes als ein Wartungsschacht wäre. Falls es undichte Stellen dort unten gäbe, musste man sie ja irgendwie reparieren.
  Die nächste Frage, die sich für Henry stellte, war, wer solche Lecks abdichtete. Bestimmt nicht sein alter Herr. Warum aber war es dann so wichtig, die teuren Sprossen zu nehmen, wenn doch nur irgendwelche Arbeiter in den Tank hinabstiegen?
  Natürlich hatte Henry seinen Vater nicht mit den Überlegungen konfrontiert. Als Resultat hätte er sich nur einen Satz heiße Ohren abgeholt.
  »Warst du eigentlich schon mal da drinnen?«, fragte sein Vater unvermittelt.
  »Im Tank? Nein.«
  »Du magst doch dunkle Räume. Wirst dich dort bestimmt gleich heimisch fühlen.«
  Noch ehe Henry etwas sagen konnte, stapfte sein Vater zu dem Oberbauarbeiter, der kurz darauf mit einer Taschenlampe zurückkam und sie ihm reichte.
  »Nimm die zwei Eimer Fugenmasse mit und komm«, sagte sein Vater und zeigte auf Bottiche neben einem der Baufahrzeuge.
  »Wozu brauchen wir die?«, ächzte Henry, als er hinter dem Alten hertippelte. Die Eimer wogen jeweils bestimmt zehn Kilo.
  »Die Bauarbeiter brauchen das Zeug morgen. Wir stellen es über Nacht in den anderen Tank.«
  »Kannst du mir was abnehmen?«, fragte Henry keuchend. Der Eingang des ersten Tanks befand sich etwa dreißig Meter entfernt.
  »Machst du Witze?«, knurrte sein Vater und stemmte die Hände in die Hüften. »Ein bisschen Schleppen hat noch niemandem geschadet.«
  Der Zugang zum unterirdischen Behälter war mit einem schweren Eisendeckel gesichert, den Henry beim besten Willen nicht aufbekam, obwohl er nicht abgeschlossen war. Schwer atmend schubste ihn sein Vater zur Seite und hievte den runden Koloss senkrecht nach oben. Bereits nach wenigen Sprossen versank die Leiter in der Dunkelheit. Für Henry sah es aus, als ob der Boden in unerreichbaren Tiefen lag. Dabei handelte es sich doch nur um drei lächerliche Meter.
  »Steig runter und nimm die Eimer in Empfang«, befahl sein Vater ungeduldig.
  Henry nahm sich ein Herz und stieg hinab. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die hier herrschenden Lichtverhältnisse, denn als er den Grund erreicht hatte, wirkte der Behälter längst nicht mehr so bedrohlich wie von oben. Das Tageslicht, welches durch den Eingangsschacht fiel, tauchte die Umgebung in ein ähnliches Zwielicht, wie Henry es von seinem Zimmer her kannte, wenn die einsame Lampe an der Treppe am Anfang des Flurs brannte.
  Der Eingang lag am äußersten Ende des Tanks. Henry ging einige Schritte weiter in die Mitte und sah sich staunend um. Im Grunde genommen war es richtig gemütlich in diesem unterirdischen Verlies. Wenn man sich eine Matratze mitnähme, hätte man bestimmt herrlich und ungestört lesen können. Nur die Luft roch etwas abgestanden. Henry kam es vor, als würde sich zu viel Staub darin befinden. Angenehm kühl war es außerdem. Draußen herrschten sommerlich schwüle Temperaturen, aber in dem Behälter war es wunderbar auszuhalten. Das Echo seiner Schritte hallte von den Betonwänden wider, während seine Füße einen langen Halbkreis beschrieben und er die guten zehn Meter zurücklegte, die der Tank breit war. Was für ein außergewöhnlicher Raum! Viel zu schade, um ihn mit klebrigem Öl zu befüllen.
  »Was zum Teufel machst du denn da?«, rief sein Vater von oben herab. »Nimm mir gefälligst den Kanister ab.«
  Henry eilte zurück, stieg auf die ersten Leitersprossen und wäre beinahe nach hinten geflogen, als ihm sein Vater die Fugenmasse in die Arme drückte.
  Anschließend kam sein Vater mit nach unten, schaltete die Taschenlampe ein und begutachtete die Verbindungen zwischen den einzelnen Betonwänden. Henry zog beeindruckt die Luft ein. Erst jetzt war der 25 Meter lange Raum in seiner ganzen Pracht zu erkennen, wenn auch nur in den kurzen Augenblicken, in dem sein Vater die Taschenlampe von den Wänden nahm und suchend umherleuchtete. Obwohl Henry die verschiedenen Bauteile des Behälters auf dem Lkw gesehen hatte, kam es ihm hier im Inneren des Tanks so vor, als hätten sich die Ausmaße plötzlich gewaltig vergrößert. Zusammengefügt wirkte das Monstrum jedenfalls viel beeindruckender als in Einzelteilen.
  Und der neue Tank übertraf den ersten noch einmal um beinahe zehn Meter in der Länge und sechs Meter in der Breite.
  Es war schade, dass sein Vater so schnell wieder raus wollte. Er hätte sich gern länger an diesem Ort aufgehalten. Mit einem zufriedenen Lächeln schloss sein Vater die Eisenluke.
  »Diese Tanks sind goldwert«, sagte er fröhlich, »goldwert. Bald werden die Araber kein Öl mehr liefern, aber ich werde noch auf Jahre hinaus einen Vorrat haben.«