KEINE
MENSCHENSEELE

FAYE HELL

© 2015 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Covergestaltung: Mark Freier

Lektorat: Carmen Weinand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-222-0

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alexander.
Wie grausam meine
Gedankenwelt auch ist,
du scheust sie nicht.
Mehr noch bist du mir
im Schatten die Muse
wie im Leben das Licht.
Ich liebe dich.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Blanke Zahlen

Teil 2: Makellos

Teil 3: Vier Minuten

Teil 4: Stillschweigend

Teil 5: Fegefeuer

Teil 1
Blanke Zahlen

Herzlich Willkommen.

»Falls Sie noch etwas brauchen, frische Handtücher, ein weiteres Kopfkissen, Briefpapier, eine Waffe, eine Überdecke ...«. Das fahle Gesicht der jungen Frau verändert sich kaum merklich, aber ihr unbewusstes Zusammenzucken unterbricht meine einstudierte Höflichkeit. Es ist dieser eine Teil einer Sekunde, dieser Bruchteil Wirklichkeit, in dem sie etwas gehört hat, das für sie nicht in ihre momentane Welt passt. Der Ausdruck elementarer Verblüffung auf ihrem Gesicht ist von bitterer Süße und unendlich kostbar. Doch bereits der nächste Moment versichert ihrem blassen Geist, dass es nicht die Welt um sie herum sein kann, die mit ihrer profanen, über Lebensabschnitte hinweg einstudierten Erwartung bricht. Dass zu Gunsten der Sicherheit nicht die Wirklichkeit an sich verrückt geworden ist, sondern ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit verrücktspielt. So wankt ihr Dasein, wankt ihr Selbstverständnis nur für einen Moment.

Sicherheit.

Alle seid ihr so armselig in eurer selbstverordneten Sicherheit. Beton an euren Füßen.

Ich lächle, obwohl mir nicht danach ist. Aber es gehört sich so, deshalb lächle ich.

»Ich habe gedacht, Sie hätten vielleicht gerne eine Überdecke. Es kann sehr kalt werden in diesen alten Mauern. Nachts. Da lernt die Kälte zu kriechen. Wir haben zu dieser Jahreszeit nicht viele Gäste. Es werden nicht mehr alle Räumlichkeiten beheizt. Sie besuchen uns in einer Phase des Übergangs. Eine Decke?«

Ich bin ein geduldiger Mensch. Kaum jemand versteht auf Anhieb, was ich ihm zu sagen habe. Also spreche ich, zum Beispiel jetzt in diesem Moment, über Decken. Vorerst. Aber es ist die Zeit, um genau zu sein die vergangene Zeit, die auf meiner Seite ist. Und irgendwann verstehen sie.

Sie verstehen alle.

»Danke, sehr freundlich von Ihnen«, antwortet die Frau zögernd. Ihre zarte Stimme ist durscheinend wie ihr Gesicht.

In der Tat, ich bin sehr freundlich, auch wenn es keine meiner Eigenschaften ist. Es ist mehr ein Talent, kein Teil von mir. Freundlichkeit ist überflüssiger Tand.

»Sie wollen also eine Decke?«

»Ich glaube, ich ... danke nein. Ich brauche keine.«

Mein nachdrückliches Offerieren mag den Anschein erwecken, dass mir sehr viel an dieser Decke liegt. Tut es nicht, aber das Gespräch ist noch nicht vorbei und die unerwünschte Decke ist das Durchatmen vor dem Nachsatz. Ich bleibe und lächle weiterhin. Meine unbeirrbare Höflichkeit zwingt die Fremde dazu, das Gespräch wieder aufzugreifen und in eine andere Richtung zu lenken. Weg von der Decke. Obwohl, Zwang? Niemand muss hierher kommen.

Doch wer schon einmal hier ist, der muss auch hier sein.

Die Mundwinkel der Frau mit dem unscheinbaren aber ebenmäßigen Gesicht zucken. Eine Sympathiebekundung, möglicherweise Unsicherheit, vielleicht sogar Verwunderung über das Zimmermädchen, das in seiner unnatürlich steifen und altmodischen Uniform eher an ein Relikt aus einer hochherrschaftlichen Zeit, als an eine Reinigungskraft erinnert. Streng gebundener Pferdeschwanz, strenger Gesichtsausdruck. Schwarzer Rock, weiße Bluse, weiße Schürze. Um den steifen Hals eine dünne, silberne Kette mit einem spiegelnden Herzanhänger, der zwischen den abgerundeten Kanten des hochgeschlossenen Blusenkragens hervorblitzt.

Spiegelglatte Dienstbarkeit.

Verwechselbar, ungreifbar, fremd - bereits beim Verlassen des Zimmers vergessen.

Ich.

»Es wundert mich nicht, dass Sie um diese Jahreszeit wenige Gäste haben«, fährt die Frau fort. »Eigentlich würde ich mich eher wundern, hätten Sie viele Gäste, egal zu welcher Jahreszeit. Ich persönlich fahre diese Strecke mehrmals im Jahr, und das seit Jahren, aber dieses Hotel ist mir bisher noch nie aufgefallen. Es liegt sehr versteckt.«

»Es ist nicht versteckt. Es liegt an der Straße. Die Leute sind es. Sie haben verlernt, auf das Hotel zu achten, sie achten nur auf die Straße.«

Sie verliert sich beinahe im Gedanken, doch spricht sie weiter. Abwesend, sich an eben erst Geschehenes, kaum Vergangenes bereits nur noch erinnernd.

»Ich war ... ich habe mich in einem vagen Bild verloren, wollte nicht nach Hause fahren. Es ist wohl nur ein paar Kilometer weiter die Straße lang, doch ich konnte nicht. Das Hotel war meine Rettung.«

»Das tut das Hotel. Es rettet Menschen.«

Die Frau lacht ungläubig. »Davon bin ich überzeugt.«

»Ich weiß.«

Das Gespräch verebbt, bis die Sprechenden schließlich verstummen, und zärtlich kriecht die prophezeite Kälte ins Zimmer. Ein zeitgerechtes Willkommen. Ich kann sehen, wie das vage, kleine Tier Ahnung am Rücken der Frau hinaufkriecht, sich an ihre linke Schulter schmiegt und wispert:

»Ich bin es. Ich bin da.«

Als könnte man die Ahnung kichern hören. Sie kichern sehen. Scharfe kleine Zähnchen, die durch ein verschlagenes Lächeln blitzen. Einfach da. Die Frau fasst sich irritiert an den Nacken. Unfassbar. Die beinahe ertappte Ahnung lässt sich fallen, wie Tau, gleitet den Rücken hinab wie ein beinloser, silbern schimmernder Nerz, verzieht sich hinter die einen Spaltbreit geöffnete Schranktür.

Mir gefällt deine sanfte Zurückhaltung.

Eigentlich will ich mich nicht trennen, aber es ist an der Zeit. Und es gilt Besorgungen zu machen. Ich habe mich zu kümmern. Ich nicke zum Abschied höflich, wende mich zum Gehen, doch die wiedererwachten Worte der Frau halten mich zurück.

»Haben Sie an der Rezeption Broschüren über die Umgebung? Wenn ich schon hier bin, und wenn ich Zeit habe. Ich könnte spazieren gehen, vielleicht rund um den Teich auf der anderen Seite der Straße. Oder gibt es ein Museum, eine Ausstellung? Kunsthandwerk?«

Man muss nachsichtig sein, muss Geduld haben mit den Menschen. Und wie gesagt, ich bin ein geduldiger Mensch. Ich gebe unseren Gästen gerne die Zeit, sich der Erinnerung hinzugeben. Selbst den ungläubig Ahnungslosen.

Denn alles braucht seine Zeit.

Und alles geschieht zu seiner Zeit.

»Bitte glauben Sie mir, Sie werden das Hotel erst gar nicht verlassen wollen.«

Die Frau sinkt auf den brokatbezogenen Ohrensessel neben dem zierlichen, ebenhölzernen Schminktisch. Plötzlich ist sie unendlich müde. Sie weiß, dass der Schlaf auf sie wartet, dass er dazu bereit ist, ihr für die nächsten Stunden einen sicheren Unterschlupf zu gewähren. Doch auch der Schlaf wird vergehen, der Unterschlupf dem Erwachen nicht standhalten. Aus dem sich mit jedem bleischweren Wimpernschlag verkleinernden Augenwinkel sieht sie noch, wie das eigentümliche, das echsenglatte Zimmermädchen ihr zunickt und sich anschickt, das Zimmer zu verlassen.

»Ich bringe Ihnen später die Decke, die Sie wollen.«, flüstere ich.

Und ich weiß, dass sie versteht.

DRITTER STOCK, ZIMMER 314

Mir scheint, selten zuvor habe ich das Bedürfnis verspürt, einen Gast bevorzugt zu behandeln. Jeder Gast zu seiner Zeit. Einer nach dem anderen. Und jetzt eben ein anderer. Nicht nach meinen Regeln oder meinen Vorlieben. Weder meiner Weisung noch Wertung unterworfen. Dennoch, ich kann mich nur schwer trennen, etwas bindet mich an diese Frau, brennt für ihre Erinnerung, ihre Geschichte. Etwas Persönliches. Obwohl es das immer ist, etwas Verborgenes, etwas Persönliches. Und es ist diese Hingabe an jede einzelne Geschichte, die mich zu dem macht, was ich bin. Es ist diese Hingabe, die mich zu dir geführt hat. Du bist die Idee, ich bin das Werkzeug. Und es ist noch keine Erinnerung verloren gegangen, blieb keine Geschichte unerwähnt. Ich habe sie alle gehört, und ich habe keine vergessen. Gehasst, verdrängt und unterdrückt. Lauernd, bohrend, um Gehör und Leben ringend. Emotionale Stiefkinder, Lücken in einer gequälten Seele.

Die weiße Stelle.

Wir lassen die Erinnerungen frei. Befreien sie aus dem Gefängnis Mensch.

Die, die hierher kommen, sprechen nie wieder darüber.

Oder sie sprechen nie wieder.

Den Gang entlang. Der schwere, weinrote Samtteppich, die Ecken von der Zeit zerschlissen, die Struktur von den Menschen zertreten, dämpft meinen besonnenen Schritt. Matte Seidentapeten, heute vergilbt, damals froh. Alte Bilder auf altem Leinen, die Fenster zu einer alten Welt. Eine Szene am See, kleine Boote, Menschen am Ufer, Seerosen. Ein sonniger Tag in verblassten Farben. Ein Sonntagnachmittagsausflug in impressionistisch unaufdringlicher Manier. Die Frau trägt einen Sonnenschirm, der Hund tollt voraus, die Kinder ziehen sich an den Händen. Gelächter. Wenige Schritte weiter eine idyllische Landschaft. Ländlich, in der Ferne eine Kirche, vielmehr Kapelle. Kleiner Turm, Zwiebeldach. Dahinter eine Wiese. Das Heu steht hoch, ein saftiger Herbst, der auf einen strahlenden Sommer folgt. Reiche Ernte. Bedeutungsleerer Frohsinn, an den Ecken Schimmel angesetzt.

Unmerklich bröckelnder Stuck an der Decke, vom Staub durchzogen. Geschwärzt an den Kanten, ein Andenken an einstige Kandelaber und ihre wächsern rußenden Kerzen. Das Motiv wie kleine Kraken, die Enden zu gierig klaffenden Mäulern verdickt. Daneben fratzenhaftes Getier, lauernd in die Ecken gedrückt. Schummriges Licht, das durch stumpf gewordenen Bergkristall fällt, doch nicht aneinander reicht. Zwischen den Lüstern, hinter jedem einzelnen Schatten, ein Geheimnis. Bedrohliche Behaglichkeit und Stille.

Bom. Bom. Bom.

Als wäre mein Schritt dein Herzschlag.

Bom. Bom. Bom.

Bom.

Du lässt mich innehalten, und ich stehe still wie der Augenblick.

Es ist Zimmer 314, zu dem du mich geführt hast. Schritt für Schritt. Herzschlag für Herzschlag. Ein wohliges Gefühl streicht über meinen Kopf, verschwindet im Nacken, schmeichelt sich an mich. Wirklich? Er? Ich habe die Zeichen gar nicht erkannt, die ... aber weshalb hätte ihn der Zufall sonst zu uns geführt? Ich weiß, dass du es als anmaßend empfindest, dass ich denke, dass er sie auch zu mir führt. Dass ich denke, dass es unsere Gäste sind. Aber du hättest nicht all deine Geheimnisse mit mir teilen dürfen, sollte ich nur dein Instrument sein.

Ich kenne dich.

Der Gast aus Zimmer 314.

Ein bildhübscher, rotblonder Mann mit strahlend graugrünen Augen, in denen nahe der Pupille ockergelbe Farbsplitter auf der Iris glühen. Mitte dreißig, wohlerzogen, vornehm gekleidet, aber dennoch von gewinnendem Wesen und natürlicher Offenheit, nahezu ansteckend mitteilsam. Ein Handelsreisender, die Bezeichnung Pharmareferent scheint mir gar zu plump für ein Wesen seiner manierlichen Gestalt. Er hat in mir sofort dieses besondere, dieses geschlechtliche Begehren geweckt.

Zärtlich berühren die Fingerspitzen meiner rechten Hand die Tür ... Vorfreude. Ein Kribbeln dringt durch meine Finger, gleitet sanft meinen Arm entlang, zieht meinen erhitzten Körper nahe an das kühlende Holz. Mit beiden Handflächen streiche ich über die glatte Oberfläche. Mein Atem wird flacher. Ich presse meinen Körper fordernd gegen die Türe, liebkose ihre glatte Oberfläche mit meinen rauen Händen - ein intimes Näherkommen - lege meine rechte Wange daran schmiege mich an sie, lecke sie. Einmal, zweimal. Lasse mich hinabsinken, in eine undeutliche Welt, einen Strudel aus Bildern, Lauten, Gerüchen.

Geordnetes Chaos.

Ich durchkämme seine Erinnerung nach dem einen Gegenstand, dem einen Laut, diesem bestimmten Geruch. Als es sich manifestiert, dieses Etwas, bin ich so überrascht wie gewöhnlich, so überzeugt wie es sich ziemt, aber so erheitert wie selten. Das wird sicher entzückend aussehen. Harmlos, so nicht auf den ersten Blick verdächtig.

Eine Präsenz, die sickern muss.

Sie wird wunderschön sein, in seinem Zimmer. So lieblich und kindlich.

So unschuldig.

Als ich die Türe zu deinem Tresor öffne, kann ich vor freudiger Erwartung ein Jubilieren kaum unterdrücken. Ich möchte die schmalen Gänge zwischen den überladenen, Spinnweben verhangenen Regalen entlangspringen. Ein Tempelhüpfen der Gefühle. Fremde Gefühle, zu meinem vorrübergehenden Wohle geborgt. Ich möchte ein Lied summen, es schmettern, bis sich die Balken unter meinen euphorisch disharmonischen Tönen biegen. Noch die Gläser mit giftigem Sekret küssen, jedes einzelne Tagebuch, jedes Memorandum lesen, die Musikstücke und vereinzelten Klänge aus ihren Konserven befreien, all die verbotenen Gerüche einatmen und in mir fremden Schuhen tanzen. Möchte in den Erinnerungen der anderen leben.

Weil ich zwischen all diesen Erinnerung die bin, die keine hat.

Keine Erinnerung.

Wie ein Kind am Weihnachtsmorgen schlage ich die Hände zusammen, als ich sie im Regal entdecke. Dann zügle ich meinen Enthusiasmus, unterwerfe mich dem meiner Profession gebotenen Maß, strecke beide Arme aus und ziehe sie behutsam zwischen den für dieses Unterfangen bedeutungslosen Dingen hervor. Fürsorglich drücke sie schützend an mich. Sie ist ganz wunderbar, diese kleine, unscheinbare Polsterkatze.

Und sie wird ihn um den Verstand bringen.

NUR EINE BLANKE ZAHL

Robert hat es im Leben zu etwas gebracht. Er hat die Schule mühelos abgeschlossen, ein langweiliges aber zukunftsweisendes - in eine sichere finanzielle Zukunft weisend - Studium mit Auszeichnung und ohne sonderliche Begeisterung absolviert, einen gut bezahlten, identitäts- und emotionsfreien Job angenommen, einen moppeligen, niemals bellenden (aber wahrscheinlich bissigen) Hund aus dem Tierheim geholt, eine zehn Zentimeter kleinere und zwei Jahre jüngere Frau, die gerne bereit gewesen war, Hausfrau und Mutter zu werden, kennengelernt, sie drei belanglose Jahre später geheiratet und bald darauf zwei durchschnittliche Kinder in seine durchschnittliche Welt gesetzt.

Drittes in Planung.

Haus in Planung.

Beförderung in Planung.

Leben verplant.

Ja, er hat es zu etwas gebracht.

Als er sich vom Tag erschöpft auf das, von zahllosen Hotelgästen durchgelegene, aber dennoch einladende Bett des Hotelzimmers fallen lässt, stecken seine Gedanken gerade auf halbem Weg zwischen Bankkredit und Ausbildungskonto fest. Quasi finanzielle Einbahnstraße mit akutem Verdacht auf Sackgasse. Aber auch das ist nichts, das nicht durch eine eingehende Planung lösbar wäre. Planung ist die halbe Miete, der halbe Wohlstand, das halbe Leben. Die andere Hälfte ist bis zum heutigen Tag noch nicht verdient, noch nicht verplant.

Schläfrig klopft er die aufgewühlten Laken – ist das Zimmermädchen nicht hier gewesen? – nach der Fernbedienung ab. Fernsehen ist für ihn nicht Unterhaltung, sondern reine Notwendigkeit. Wirft er seinem ständig Zahlen mahlenden Gehirn nicht sofort sozialpornographischen Sand ins Intellektgetriebe, wird er den Rest des Abends mit Kosten-Nutzen-Rechnung und Planprivatwirtschaft verbringen. Wo bleiben die fettleibigen Teenagermütter, die pädophilen Volksschullehrer, die alkoholkranken, schmarotzenden Frührentner? Versteckt wie die Fernbedienung. Genervt legt er das Extrakissen zur Seite, als sein Blick wie zufällig auf die Polsterkatze fällt.

Mitten auf dem Bett.

Die Katze.

Dunkelbraun melierter Körper, die beiden Ohren zu einer halbmondförmigen Sichel gebogen, eingerollter Schwanz, blaukarierte Masche um den Hals, goldene Augen.

Knopfaugen.

Sein Schrei bleibt ihm im Hals stecken, verkeilt sich in seiner Kehle, verhallt in seiner Seele. Das ist unmöglich. Sie kann nicht hier sein.

Die verdammte Polsterkatze ist tot.

Er hat sie getötet.

An seine Eltern konnte sich Robert nicht erinnern, seine Erinnerung begann mit seiner Großmutter. Lange Zeit war ihm gar nicht bewusst gewesen, was ihn da von den anderen Kindern im Innenhof der Waschbeton-Sozialwohnbausiedlung unterschied. Er hatte dieselben Kleider an, armselig und alt, und er offenbarte dieselben Vorlieben: klebriger Kaugummi und tropfendes Eis, wie jedes andere Volkschulkind. Aber er hatte keine Eltern. Hatte diese auch niemals gehabt. Oder so gut wie niemals. Der Vater unbekannt. Die Mutter verstorben. Seine Großmutter Nana war die einzige Person, die er jemals gehabt hatte und noch immer hatte.

Nana.

Eine alte Frau mit alten Regeln und einer eigenen Vorstellung vom Leben, von der Erziehung. Doch alles verlief, wie es verlaufen musste.

Robert war eigentlich nie unglücklich. Nur bedarf es keiner tiefenpsychologischen Kenntnisse, um zu begreifen, dass die Abwesenheit von Unglück nicht gleich Glück bedeutet. Roberts Kindheit war lieblos, sie war leblos. Nicht, dass ihn Nana nicht geliebt hätte, denn das tat sie, innerhalb ihres von Verantwortung aufgespannten und Konventionen eingeengten Rahmens. Es war Robert, der lebte ohne zu lieben, lebte ohne zu leben. Jeder Tag fühlte sich an wie der Tag zuvor. Und das Gefühl der darauffolgenden Tage brachte auch keine große Überraschung mit sich. Kausal, pragmatisch, einfach.

Dann trat MouchMouch in sein Leben.

Er hatte die kleine, magere Katze immer wieder beobachtet, wenn er beim Steinbruch gespielt hatte. Eigentlich durfte er das nicht, aber er tat es trotzdem. Dieser Ort war ihm heilig, und seit die zierliche, golden schimmernde Katze dort war, gleich noch mehr. Eigentlich durfte er auch keine Katze haben, aber eines Tages war ihm die schmutzige Streunerin bis zur Wohnung gefolgt, und dort war sie geblieben. Nana hatte nur halbherzig protestiert, gar zu liebreizend war das struppige Vieh anzusehen. Robert hatte gebettelt, und Nana hatte schließlich »Ja.« gesagt. Dann hatten sie das dankbare Tier gefüttert, gewaschen und gebürstet. Und sie hatten sie behalten. Mit beschnurrlicher Beharrlichkeit hatte die anschmiegsame Unschuld so ihren Weg vom Steinbruch in die kleine Wohnung gefunden.

MouchMouch war ... sie war perfekt.

Jedes golden glänzende Haar an ihrem sehnig straffen, strammen kleinen Körper war drahtig und samtzart zugleich, wie die zu klein gewachsene Katze selbst. Sie konnte sich anschmiegen wie ein Seidentuch im Wind um den zierlichen Hals eines rotwangigen Mädchens. Konnte sich im nächsten Moment versteifen wie eine fellgewordene Stabheuschrecke, sich ohne Rücksicht auf die irreparable Zerstörung an Polstermöbeln und Teppichen festkrallen, wenn die Berührung der Menschen, deren hartnäckiges Halten und Liebkosen, nicht erwünscht war.

Robert respektierte die Wünsche der Katze, weil er die kleine wassertropfenfangende Individualistin ob ihrer Starrsinnigkeit bewunderte und ja, fast liebte. Stundenlang konnte er sie dabei beobachten, wie sie wiederum ihn beobachtete. Und diese Beobachtung lehrte sie beide zu verstehen. So wuchs das Verständnis für einander, so wuchs die Bindung. Bald verließ MouchMouch ihren wohligen Schlafplatz am warmen Ofen und rollte sich am Fußende von Roberts Kinderbett ein, um jede seiner Nächte mit ihm zu verbringen, über seine Träume zu wachen und nur manchmal, zur Warnung, einen Alb durch ihre bekrallten Traumfängerpfoten schlüpfen zu lassen. Denn ein Mensch, der nie Schlechtes träumt, wird sich eine schlechte Wirklichkeit schaffen.

Roberts erster Weg nach der Schule führte zu MouchMouch, und war diese nicht da, wartete er geduldig am Fenster der Wohnküche, blickte vom ersten Stock aus in den asphaltierten, von wucherndem Unkrautgrün zerrissenen, Innenhof, hoffte auf ihre Rückkehr. Und die Katze ließ ihn niemals unnötig warten. Auf flinken Pfoten kam sie gelaufen, kletterte auf den Schuppen, in dem überflüssig gewordenes Gerät und diverser Unrat lagerten, und sprang auf das Fensterbrett. Sie war wirklich außerordentlich geschickt und mindestens genauso zuverlässig. Ein sanftes Tappen an der Scheibe und eine Entriegelung später lag die kleine Stubentigerin dann in seinen schützenden Armen. Keiner sollte ihr eines ihre steifen Haare krümmen oder gar abbrechen. Nur vorsichtiges Biegen unter seinen behutsamen Berührungen war erlaubt.

Dann kamen die Gedanken.

Die Decke, die sich um seine Beine geschlungen hat, bringt ihn fast zu Fall, als er aus dem Hotelbett springt. Nach Luft und Halt ringend stolpert er zwischen Bett und Kasten entlang. Weg von diesem Bett, weg von dieser Katze.

Wie kann sie hier sein? Er hat seit sicher zehn Jahren nicht einmal mehr an sie gedacht, kein einziges Mal. Zuerst hat es keinen Tag gegeben, an dem er nicht an sie gedacht hat, dann hat er Jahre damit verbracht daran zu denken nicht an sie zu denken. Erst hat er sie gefürchtet, dann hat er sie getötet, danach hat er sie verdrängt, und schlussendlich hat er sie vergessen. Zehn friedliche, knopfaugenfreie Jahre lang.

Er strauchelt, die Finger seiner rechten Hand streifen den Teppichboden, sein linker Fuß verfängt sich in der Bordüre der Bettkante, kann nicht nachgezogen werden und hängt fest. Unsanft geht Robert doch noch zu Boden. Langgestreckt bleibt er vor der beschlagenen Balkontür liegen und wagt nicht zu atmen. Sein verzerrtes Spiegelbild bricht sich im matten Glas. Seine Glieder sind urplötzlich wie steifgefroren. Sein Herz pocht. Die hämmernden Schläge drücken die Adern in seinem Hals von innen gegen die zarte Haut. Er kann das Blut rauschen hören wie einen tosenden Orkan. Dann, unter dem Orkan, hinter den Wellen, zwischen dem Rauschen ...

Das Geräusch.

Das leise Knarzen von Kieselsteinen, die aufeinanderschlagen und sich aneinander reiben. Ganz wenig. Immer. Immer wieder. Und wieder.

Krrrr Krrrr Krrrr

Schabendes Gleiten, geschmeidiges Rutschen auf glatter Seide.

Krrrr Krrrr Krrrr

Ein einzelner salziger Tropfen sammelt sich in Roberts linkem Augenwinkel. Er darf jetzt nicht weinen. Muss weg. Raus. Weg aus diesem Zimmer. Er schlägt seine Fingernägel in den Teppich, krallt sich Hilfe suchend, Rettung suchend fest. Ihm ist, als würde er das gesamte Gewicht seines Körpers an den Nägeln voranziehen. Dann endlich explodieren seine paralysierten Muskeln. Wie ein Panther aus seinem Versteck schießt er vom Boden hoch, taumelt auf die Hotelzimmertür zu. Ein rettendes, weißes Rechteck.

Der Ausweg.

Atemlos streckt er die Hand nach der Klinke aus.

Es musste einen Grund geben, warum sie ihn so lieb hatte. Liebte mit der Unschuld eines Wesens, das noch nie Leid erfahren hatte, dem das Leid an sich und sogar der Begriff selbst fremd waren. Die unschuldige Katze liebte mit einem Vertrauen, das nur durch Unwissenheit entstehen konnte. Völlig frei davon, die Welt in ihrer ganzen Arglistigkeit zu begreifen, weit entfernt davon, von ihrem Kalkül ergriffen zu werden. Er konnte das aufrichtige Gefühl in ihren Augen erkennen, weil er es noch nie zuvor in anderen, und schon gar nicht in menschlichen Augen gesehen hatte. Aber warum liebte sie ihn? Nichts erschien ihm liebenswert an sich selbst. Doch MouchMouch lebte in ihrer eigenen Welt und sie hatte ihre eigenen Werte. Lag sie in seinen Armen, schnurrte sie im Rhythmus seines Herzschlages, bis er nicht mehr wusste, ob sie schnurrte, wie sein Herz schlug, oder ob sein Herz schlug, wie sie schnurrte.

Schlug, weil sie schnurrte.

So konnte er in ihre Welt eintauchen und in ihren Augen verlorengehen.

Aber die bohrende Frage nach dem Warum ließ ihn nicht los. Es musste einen Grund geben. Kein Wesen liebte grundlos, nicht in seiner Welt. Es musste an ihr liegen, tief in ihr verborgen sein. Und je länger er sie beobachtete, desto sicherer war er sich, das Zentrum der Liebe lokalisiert zu haben. Der Grund für ihre Liebe lag hinter ihren Augen. Würde er dort suchen, würde er ihn finden.

Wochenlang beobachtete er nun nicht mehr die Katze. Es waren ihre Augen, die er beobachtete. Diese schimmernden Glasmurmeln mit den gelbgrünen Scheiben in der Mitte. Sachte lodernd, zärtlich lauernd. Das Lauernde und das Zärtliche, tief verwurzelt in der Natur der Katze. Anfang und Ende desselben, vertauschbar aber unausblendbar. Die Augen einer Katze entsprechen nicht menschlichen, vom Leben trüb gewordenen Augen. Milchig, breiig, ohne Feuer. Gebrochen am Gesehenen. Zu oft abgewandt, zu selten erglüht. Die Augen einer Katze begehren und erfahren. Und sie funkeln. Blickt man von der Seite auf die Augen der Katze, wölben sich tiefklare Halbkugeln aus dem felligen Gesicht. Wie zwei glatt geschliffene Kristalle, die das Licht der Welt brechen, um der Katze ein Abbild der Wirklichkeit zu verantworten. Und so spiegelt sich die Welt, in den Augen, in der Seele des Tieres.

Das Beobachten entging ihnen nicht. Diese Augen nahmen wahr, dass sie beobachtet wurden, warnten das zutrauliche Wesen.

Und es war auf der Hut.

Etwas hatte sich verändert und es veränderte sich immer weiter. Aus beobachtender Liebe wurde besitzergreifende Neugier, aus Neugier vernichtende Begehrlichkeit, und aus Begehrlichkeit wurde morbider Drang, der die Unschuld der Katze durchbrach. MouchMouch begann dem Kind aus dem Weg zu gehen, mied seine Berührungen und seinen Blick. Schmiegte sich an Hauskanten und an die Hosenbeine von Fremden, blieb der Wohnung fern, wann immer sie konnte. Kein fröhlich erwartungsvolles Tappen am Fenster mehr. Robert erkannte, dass es an der Zeit war. Wollte er hinter den Augen der Katze noch Liebe finden, dann musste er schnell handeln. Denn bald würden dort, wo es sich einst die Liebe behaglich gemacht hatte, nur noch erlernter Argwohn und beschützende Furcht hausen.

Seine Großmutter liebte Kaffee. Und sie hatte diese wunderbaren, filigranen Tassen mit einem goldenen Rand und einem geschwungenen, goldenen Henkel. Perlmuttfarben schimmernd waren die Tassen, von hauchzarten Linien durchzogen und mit Girlanden verziert. In die kleinen Tassen waren kleine Ortschaften gemalt worden, mit kleinen Kirchen und Häusern sowie einem Fluss vor einem Rathaus.

Wenn seine Großmutter nicht zu Hause war, holte Robert die kostbaren Tassen aus dem Schrank, drehte sie in seinen plumpen Händchen und ließ sie in der Sonne glänzen, wohl wissend, dass er einen Schatz in Händen hielt. Er überlegte sich, was die kleinen Menschen, in den kleinen Städten, an diesem kleinen Tag wohl gerade machen würden. Robert freute sich über ihre Geschichten, ließ sie am Marktplatz feiern und manchmal einen in den Fluss fallen, vielleicht sogar ertrinken. Immer hatte er die zerbrechlichen Tassen rechtzeitig zurück in den schützenden Schrank gestellt und so hatte ihn seine Großmutter nie dabei erwischt.

Aus diesen Tassen trank sie einen besonders starken Kaffee, mit viel Zucker. Und da diese Tassen so wahnsinnig winzig waren, hatte sie winzige Löffelchen für die winzigen Tassen. Und so ein Löffelchen stahl Robert aus der Bestecklade, verstaute es sicher in seiner rechten Hosentasche und wartete auf den richtigen Moment.

An diesem Nachmittag begegneten sie einander im Gestrüpp hinter dem Sozialwohnbau. Robert wollte auf der Wiese ein paar grasgrüne Heuschrecken fangen, um sie in seiner Hand springen zu lassen. Das Gefühl war außergewöhnlich, kitzelnd und mächtig zugleich. Es lag nur ein Moment zwischen lachen müssen und zerstören können und die endgültige Entscheidung war niemals mehr als momentane Willkür.

MouchMouch war hungrig und auf dem Weg zu den Mülltonnen, um den letzten schmackhaften Rest herauszuziehen. Für die Katze waren die Reste ein Festmahl, denn sie war sich der Entbehrlichkeit derer nicht bewusst. Die Wohnung hatte sie seit ein paar Tagen nur äußerst widerwillig und so gut wie gar nie betreten. Eigentlich war sie nur dann dort gewesen, wenn sie das Kind weder riechen noch sehen hatte können, eine sprungbereite Pfote immer knapp über dem Boden. So waren die Tonnen zu einer nahrhaften Abwechslung auf ihren tagtäglichen Streif- und Schleichzügen geworden.

Beide erstarrten, als sie einander gewahr wurden. Mit einem Mal waren Heuschrecken und Tonnen vergessen. MouchMouch war die Erste, die zu einer Bewegung ansetzte, doch noch bevor das Kätzchen ins dornendurchzogene Dickicht flüchten konnte, hatte sich Robert auf sie gestürzt. Gegen jede Regel und fern jeder Erwartung gelang es dem Kind, die Katze zu fangen, sie festzuhalten und niederzuringen. Schreiend, weinend und heulend fuhr die Katze die Krallen aus, wand sich in der Umklammerung, zitterte am ganzen, zuvor vom Schnurren gebeutelten Leib. Doch Robert hatte seinen linken Arm bereits wie einen Schraubstock um ihren zarten Hals gelegt.

MouchMouch strampelte um ihr Leben.

Die kleine Katze war tapfer, sie war sehnig und von einem nahezu unbeugbaren Willen getragen, der bisher ungebrochen geblieben war. Sie war so stolz wie stark, aber an diesem Nachmittag war sie zu schwach. Ihr mit glänzendem Fell bedeckter Körper hatte keine Chance gegen die vernichtende Willkür des Kindes. Robert umklammerte die sich windende Katze mit aller Kraft. Er konnte ihr verzweifeltes Heulen hören, ihre Krallen in seinem Fleisch spüren.

Kein Zurück mehr.

Mit der rechten Hand zog er den Löffel aus seiner Hosentasche. Unbeirrt, von einem kindlich grausamen Forschergeist beflügelt und einer naiven Allmacht legitimiert, bohrte er den scharfkantigen Löffel in das vor Gewissheit trüb werdende Auge der Katze.

Wo war sie, die Liebe?

Wo war der Raum hinter den Augen, der die Liebe verborgen hielt, sie beschützte? Er war bereit, den Raum zu finden und grub sich in das Auge. Manisch suchend wühlte er sich durch den Glaskörper, durch den Sehnerv, tief hinein in die Augenhöhle. Blut spritzte, rann mit jedem Herzschlag durch das goldene Fell der früher immer so zärtlich, beinahe andächtig im Arm gehaltenen Katze.

Strampeln, Treten, Zerren.

Immer weniger, und weniger.

Ein flehendes Katzenauge, das eine fassungslose Träne vergoss. Ein kleines Katzenmaul, das lautlos das Unausweichliche erlitt. Matte Katzenpfoten, die langsam aufgaben.

Vorbei.

Ihr zappelnder Körper erschlaffte zwischen seinen tobenden Händen, gab nach, wurde schlapp, wurde willenlos. Und Robert grub sich durch das zweite Auge.

Hoffend, gierend, suchend.

Nach der Liebe suchend.

Er fand nichts.

Nur Knochen, Blut und Matsch. Fleischige Bestandteile, die einmal Katze gewesen waren. Missmutig warf er die blutverschmierten, sterbenden Überreste der für ihr Alter klein gewachsenen MouchMouch hinter die verfallene Mauer neben dem Kiesweg.

Der Mord ließ ihm keine Ruhe. Die Abwesenheit der Liebe verfolgte ihn. MouchMouch war Liebe gewesen. Sie war Leben gewesen. Jetzt war sie nur noch Leere und nahender Tod. Nahend, denn der kleinen Katze war kein schnelles Ende vergönnt. Schnell hatte sie das Vertrauen in den einst geliebten Menschen verloren, ihr Augenlicht und ihre Liebe. Doch das Ende ließ sich Zeit. Das Leben hing hoffend an ihrem geschundenen, felligen Körper, verzögerte letztlich nur das Ende der kleinen Katze und verlängerte somit ihr Leid. Und Robert stand ihr bei. Oder eher stand neben ihr, neben ihrem sterbenden Körper. Jeden Tag besuchte er die Katze, berührte ihre schlaffen Pfoten, lauschte ihrem gebrochenen Wimmern. Beobachtete erst die Fliegen auf ihrem Gesicht, dann die Maden in ihren hohlen Augenhöhlen. Es dauerte vier Tage, bis MouchMouch von ihrem Leben ließ. Bis die Welt die Katze, die so lange an die Welt geglaubt hatte, gehen ließ.

Robert stand im Augenblick des Todes nicht neben ihr. Er saß in der Schule und lernte, größere Zahlen durch kleinere zu dividieren. Er war nicht da, als ihre Pfoten ein letztes Mal krampften und sie ihren letzten Atemzug tat. Als ihr letztes Wimmern zwischen ihren schwarzen, schmalen Lippen lautlos verging. Robert stand nicht neben ihr, als das Leben der Katze den Körper verließ.

Er war nicht da, als etwas zurückblieb, um auf ihn zu warten.

Robert schließt seine zitternden Finger fest um den kalten Türgriff, zerrt daran, als könne ihn der reine Kraftakt retten. Diese unerwartete Wucht seiner ureigenen Angst sollte eigentlich ausreichen, um das lackierte Stück alten Holzes aus den Angeln zu reißen. Doch die massive Eichentür bewegt sich nur mit bleierner Gelassenheit. Unzusammenhängende Bilder entstehen vor seinem geistigen Auge. Und jedes davon wird, kaum erwacht, sofort wieder zurück in die Zwischenwelt der Verdrängung (Frage: Ist es ungesund, Dinge zu verdrängen? Antwort: Kann man überleben, wenn man es nicht tut?) hinabgezogen, nur um einem noch verrückteren Platz zu machen. Dann ist der Ausweg endlich frei. Er stolpert ziellos aus dem Zimmer, die schwere Tür fällt hinter ihm mit einem dumpfen Knall ins Schloss.

Ausgesperrt, eingesperrt, denkt er.

Seine Beine fühlen sich an wie Wachs. Er sinkt zusammen, lehnt an der Schwelle zu seinem Hotelzimmer und versucht, seinen Atem zu stabilisieren. Er ist verloren zwischen all den Gedanken, die ihn umschwirren wie einem Stechwahn verfallene Killerbienen und all den Erinnerungen, die aufbrechen und undenkbare Bilder produzieren. Verzweifelt will er zwischen all dem Irrsinn diesen einen klaren Gedanken finden. Dieses eine Bild festhalten.

Warum ist die Katze genau jetzt hier an diesem Ort?

Warum ist er es überhaupt?

Hat er nicht eigentlich die Nacht über wach bleiben und schnell nach Hause fahren wollen? Ist es erst seine Reaktion, die aus der Polsterkatze mehr macht als alten Stoff, vollgestopft mit Wollresten?

Aber das in dieser Polsterkatze sind keine Wollreste.

Er weiß es, er hat es gehört.

Das Knarren.

Sie hat wirklich lange gebraucht, um ihn zu finden. Vielleicht hat sie ihn auch nicht gleich gesucht, sondern erst einen diabolischen Plan geschmiedet. Oder sie hat einfach mal Urlaub gemacht, sich eine inoffizielle In-den-Wahnsinn-treib-Auszeit genommen. Fotoshootings mit fetter Gans bei Betten Reiter. Ein Reha-Aufenthalt bei Ikea, in einem Drahtkorb, zwischen einer grinsenden Brokkoli-Rose und einer samtigen, überlebensgroßen Kellerassel eingeklemmt. Vielleicht hat sie sich aber auch Zeit gelassen, bis er erinnerungslos geworden ist.

In Sicherheit.

Ein Wesen, das sich sicher fühlt, ist eine leichte, weil nachlässig, eine besonders zarte, weil entspannte, Beute. Und die Katze ist zwar hartnäckig, aber dank ihrer zu klein geratenen, verkrüppelt und undeutlich genähten Pfoten keine wirkliche Kämpferin. Sie ist mehr eine mentale Kämpfernatur.

Ein schleichender und geduldiger Gegner.

Ihm ist, als könne er ein Schaben hinter der Türe hören. Als könne er, den Kopf schweramtend auf die bebende Brust hinabgesenkt, aus dem Augenwinkel eine Bewegung unten am Türspalt wahrnehmen. Licht und Schatten. Das Licht an Raum verlierend, der Schatten, suchend am Türspalt entlang, nachdrücklich Raum fordernd und auch gewinnend. Als wolle er einfach zu gestaltloser Rache zerfließen und unter der Tür hindurchgleiten, um dahinter wieder Form anzunehmen. Katzenform. Doch die metallene Schwelle erlaubt der Polsterkatze kein Darunterdurchpressen. Ihr weicher Körper würde sich schon fügen, aber sie würde an ihren Augen hängenbleiben. Sie müsste die Messingknöpfe opfern, sich die verhassten Augen an der scharfen Kante selbst ausreißen und somit ihr grinsendes Stoffgesicht zerfetzen. Ihre plumpe Substanz dem höheren Ziel opfern.

Dann ist es still hinter der Tür. Als würde sie die Notwendigkeit der Selbstzerstörung gründlich überdenken. Doch es ist mehr als nur reiner Gedanke. Ihm ist, als könne er sie nicht nur denken, sondern auch lauschen hören. Ganz genau hinhören.

Robert!?

Bist du noch da, Robert?

Es ist ein begehrliches Lauschen aus asymmetrischen, mit Samtflicken überzogenen Ohren. Halbmondohren.

Ein schnurrendes Locken.

Robert!

prrr prrr prrr

Er hält den bereits erstickend flachen Atem an, die Schultern verkrampft hochgezogen, der Brustkorb unnatürlich gebläht. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig ... blechern zwitschernd entströmt fiebrig heißer Atem aus seinem angstgekühlten Körper.

Nein, verdammt.

lllchhhmmm lllchhhmmm lllchhhmmm

Was ist das?

Ein schlotzender Laut. Widersinnig organisch, fleischig. Ein schmatzendes zum Türgriff hochgleitend, auf das ein krafttankendes Festsaugen folgt. Sehnige Stofffetzen, die zu schlingenden Muskelfasern mutieren und sich wie Stricke um den Türgriff legen und daran drehen und zerren. Randlose Knopfaugen, die sich an das Schlüsselloch pressen. Metall, das an Metall schabt, sich klirrend daran reibt.

Hindurchstarrt.

Ein speichelloses Lechzen.

DU HAST ETWAS, DAS MIR GEHÖRT!!!!!!

»WEG!«, brüllt sein Verstand, »WEEEEG!«

Sein Körper ist schwer, lahm und unbeweglich. Die Wände sind blass und näher, als noch einen Atemzug zuvor. Der immer enger werdende Gang wirkt irrsinnig verzerrt und pulsiert gierig. Wie das Innere eines Wesens, das Innere einer Vene. Das geduckte Getier in den Ecken der Decke lechzt begehrlich, die unnatürlich verzerrten Gliedmaßen sind zum Sprung gespannt.

RENN ENDLICH!

Hysterisch taumelt er über Fliesen, die halsbrecherisch glatt zwischen zerschlissenen Teppichen hervorstechen. An den Türen vorbei, den Bildern vorbei, die Treppe hinab, den Halt verlierend, sich am Geländer klammernd, mit den Füßen tretend, verzweifelt Halt suchend. Halt findend, sich fangend, weiterlaufend, an den Menschen vorbei. Verdutzt verwirrtes Starren, ein unverhohlen verständnisloses Lachen, Witze hinter vorgehaltener Hand, schmissige Kommentare, verächtlich betroffenes Schnauben. An der Rezeption und den weinrote Samtsakkos tragenden Rezeptionisten vorbei, auf das Rettung bietende, Freiheit gebietende Eingangsportal zu.

Schnell, schneller.

SCHNELLER!

Atemlos.

Er kann sehen, wie das Glasportal spiegelt, wie es verheißungsvoll glänzt, kann den Park dahinter sehen, läuft auf das glatte Glas zu. Schiebt den schreienden Menschen von sich, der mit erhobenen Armen und beschwichtigenden Gesten, aber sich überschlagenden Worten versucht, ihn aufzuhalten. Schiebt den schreienden Menschen und die geschriene Frage weg.

Worauf willst du antworten?!

ZU SCHNELL.

Er kann nicht anhalten!

Er wird nicht durch das Portal kommen, sondern am Glas zerschellen wie eine Mücke. Mit zerschmetterten Gliedern niedersinken und zerstört liegenbleiben. Nicht mehr als ein klebriger Schmierfleck dunkelroten Blutes an der Scheibe und ein Haufen gebrochener Knochen in einem leblosen Sack Menschenfleisch.

Doch ...

Er muss sie zuvor übersehen haben.

Wie aus dem Nichts jetzt manifestiert steht sie da.

Gerade, als das Zerschellen nur eine Armlänge entfernt ist, stößt das Zimmermädchen mit einer winzigen Bewegung, mit nur einer Hand (vergilbte, dreckige Krallen an alten, knochig verkrampften Klauen) und ohne die geringste Anstrengung, ohne ein Spannen der Muskeln oder ein Zucken des Gesichts, das schwere Eingangsportal auf.

»Über die Straße, den Hang hinauf, etwa fünf Minuten den auf die Straße führenden Weg entlang. Sie werden bereits erwartet.«

Im Vorbeilaufen bleibt sein flüchtiger Blick an ihr hängen und es taucht die eine klare, überlebensnotwendige Frage durch den Nebel in seinem Kopf auf. Er will die Frage festhalten. Will nachfragen, aber seine Beine kennen kein Halten. Doch bevor er weiterstürzt, kann er beinahe die Antwort in ihren quecksilbergrauen Augen aufglimmen sehen.

Die Antwort auf die noch ungedachte Frage.

Ich weiß es, weißt du es auch?

Nachdem Robert MouchMouchs leblosen, endgültig der Verwesung ausgesetzten Körper nach der Schule gefunden hatte, war die Sache für ihn abgeschlossen. Er hatte sogar extra einen spitzen Stock mitgebracht, um zu prüfen, ob die unkontrollierten, auf grausame Art belustigenden Zuckungen der Katze noch durch Stiche mit dem Stock hervorzurufen waren. Sie waren es nicht.

Das Experiment war gescheitert.

Die Katze war tot.

Es bestand keinerlei Bedarf, sich länger um den Kadaver der Katze oder die mit ihr dahingeschiedene Liebe, zu kümmern. Es war an der Zeit, sich anderen Dingen zuzuwenden. Neuen Dingen.

Robert war zäh und ein überraschend guter Schwimmer. Er hatte es sogar in die Schwimmstaffel seiner Schule geschafft. Vor allem deshalb, weil ihn einfach nichts für längere Zeit unter Wasser brachte oder ihm die Puste raubte. Robert schwamm immer obenauf. Gerade hatten sie zwei Stunden lang trainiert, und Robert war müde aber auch angenehm entspannt. Er war zufrieden mit sich und seiner Leistung. Und der Trainer war es auch gewesen. Also war sie in Ordnung, seine kleine Welt, und er konnte sich guter Dinge auf den Heimweg machen.

Seine feuchten Haare juckten unter der selbstgestrickten, kratzigen Wollmütze, aber er konnte sie nicht abnehmen. Wenn er mit nassen Haaren in der herbstkalten Luft umherlief, bekam er Kopfschmerzen. Diese Erfahrung hatte er bereits mehrfach gemacht. Und Schmerzen waren ein perfider Lehrmeister. Also bohrte er seine gleichmäßig zurechtgekauten Fingernägel durch die groben Maschen der Haube und schabte an seiner Kopfhaut. Nachdem er das lang und fest genug gemacht hatte, hatte er immer rosafarbenen Matsch unter den Fingernägeln, den er dann zu Hause mit Vorliebe an die Rückenlehne des beigen Wohnzimmersofas schmierte. Dort hatte er schon beachtlich viele dieser rosa Flecken hinterlassen. Von Popelfeldern hielt er dagegen nichts. Das ging zu schnell, da war kein Opfer zu erbringen. Popel zu entfernen war eine Frage der Reinlichkeit, für die rosaroten Menschenmatschflecken war es vonnöten, sich selbst blutig zu kratzen. Das erforderte einiges. Vor allem erforderte es Selbstbeherrschung, wieder damit aufzuhören. Robert war sich nicht sicher, was ihn mehr befriedigte, das schabende Kratzen oder die Fähigkeit, dem quälenden Drang zu widerstehen. Und er war ausgezeichnet darin zu widerstehen. Robert war der Herr über seine Gewohnheiten und dennoch so gewöhnlich wie kaum ein anderer.

Als er die Fingernägel seiner rechten Hand also genüsslich durch die Haube hindurch in die Kopfhaut bohrte und andächtig dem gleichförmigen, in seinem Gehirn widerhallenden Schaben lauschte, war ihm plötzlich, als habe er unter dem Ellbogen hindurch etwas um die Ecke der Schwimmhalle huschen sehen. Nicht eine der üblichen, braunen Amseln und auch kein gewöhnliches, achtlos weggeworfenes oder unabsichtlich verlorenes, sich im Abendwind blähendes Taschentuch. Dieses Huschen war nicht üblich oder gewöhnlich.

Es war vertraut.

Roberts Neugierde war geweckt. Mehr gehend als schleichend, aber dennoch wachsam, näherte er sich der Ecke der Schwimmhalle. Das steifgefrorene Gras knirschte unter seinen schweren Lederschuhen, als er auf den Rasen trat. Sein Blick streifte das Schild, das er jedes einzelne Mal, als er hier entlang gegangen war, gelesen hatte. Und bevor er zu lesen gelernt hatte, hatte er den Zeichentrickelenfanten darauf, der auf die Blumen trat, angestarrt. Seit er lesen konnte, war es ein Zwang. Gab es etwas zu lesen, musste er es lesen, auch wenn er es längst auswendig kannte. So wie dieses Schild.

»Lieber Leser, merk‘ dir das, geh auf dem Weg und nicht im Gras, damit man leicht und ohne Müh dich unterscheiden kann vom Vieh.«

Über die Illegalität seines Handelns informiert, sich dennoch keiner Schuld bewusst, ging Robert über das Gras auf die Ecke zu. Mit jedem knirschenden Schritt glitt die Hauswand weiter nach links, wurde sein Gesichtsfeld vergrößert, gab die mit rostbraunen Fliesen bedeckte Wand mehr Blick auf den mit kleinen Büschen bepflanzten Rasen hinter der Halle frei. Unter dem nur noch von einzelnen, welken Blättern bedeckten Busch nahe der gefliesten Hallenwand bewegte sich etwas.

Ein Rascheln, ein Tappen.

Robert ging so lautlos wie möglich auf den Busch zu, dann sachte, um was auch immer nicht zu verschrecken, in die Knie. Die hereinbrechende Nacht legte sich bereits zärtlich über die schmutzige Vorstadt. Der Busch warf seinen letzten, kümmerlichen Schatten für diesen endenden Tag schützend über den absterbenden Rasen.

Robert ließ sich nach vorne auf seine Hände sinken. Spitze Steinchen bohrten sich in seine Handballen. Den Atem anhaltend, beugte er seinen Oberkörper, legte gespannt den Kopf schief. Um bessere Sicht zu haben.

Aus der Geborgenheit des Geästs, aus dem Schutz des Schattens heraus, starrten zwei glühende Augen direkt in die seinen.

Ohne Zwinkern, ohne Zucken.

Ein wissendes, ein anklagendes, ein vernichtendes Starren.

Das Geschehene verfolgte ihn. Noch Tage nachdem er schreiend und wahllos über seine diversen Gliedmaßen stolpernd von der braungekachelten Turnhalle davongestürzt war, fühlte er sich beobachtet.

Die Augen waren überall.

In der letzten Reihe im Schülerbus, unter seiner Schulbank, neben den Mistkübeln im Innenhof des Sozialbauwohnblocks, in jeder dunklen Ecke des Treppenhauses, im fensterlosen Badezimmer, bevor er das Licht einschaltete, hinter der geöffneten Wohnzimmertür.

Im Kasten neben seinem Bett, unter seinem Bett.

In seinem Bett.

Sie waren überall, auch wenn er sie nicht sah. Aber das lag nicht daran, dass sie nicht da waren, sondern dass er nicht nach ihnen schaute. Sein kindlicher Verstand negierte das Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass die surreale Bedrohung real war. Für ihn galt: ungesehen ist ungeschehen.

Das ging eine Woche so.

Dann fing das Schnurren an.

Augen konnte man vielleicht spüren, wenn sie einen anstarrten, aber man musste nicht nachsehen, ob sie auch wirklich da waren. Augen konnte man ausblenden.

Aber das Schnurren war gerissen.

Es war überlegen. Es lauerte, erhaschte noch den kleinsten Moment und die vorübergehendste Stille. Senkte sich der Geräuschpegel eines Raumes ab, hob das Schnurren an. Am schlimmsten war es nachts. Da kam es unter dem Bett hervorgekrochen, rollte sich an das Fußende und vibrierte wartend vor sich hin.

Robert hatte seinen alten Walkman, der in Vergessenheit geraten zwischen abgeschundenen Matchboxautos in einer Waschmittelbox gelegen hatte, ausgegraben. Seitdem hörte er Nacht für Nacht dieselbe alte Kassette. Eine Kassette, deren Ursprung ihn so wenig interessierte, wie er ihm klar war, und die er mit dem Walkman aus der Spielzeugblechlawine geborgen hatte.

Das war grauenvoll.

Aber alles war besser als das Schnurren. Sogar der leiernd singende Mann, in seiner düsteren Monotonie, gefangen in der immer undeutlicher werdenden Tonspur der Kassette. Auch wenn er spüren konnte, dass das Bett sachte im Rhythmus eines kleinen, sich regelmäßig hebenden und senkenden, Brustkorbes bebte ... alles war besser, als es hören zu müssen.

Robert schaute nicht in die letzte Reihe des Schulbusses, nicht hinter die Wohnzimmertür, und er schaute nicht unter sein Bett. Er trug seinen Walkman, bis ihn irgendein beliebiger Erwachsener anschrie, er solle ihn abnehmen. Wandte sich der Erwachsene ab, setzte er die abgegriffenen Kopfhörer zurück auf seinen Kopf und drückte die mit bröselndem Schaumstoff überzogenen Halbkugeln auf seine Ohren. Robert sperrte seine Sinne ein und das Sein der Welt aus. Er lebte allein in seiner Blase, allein in seiner Welt. Nicht, dass sich dadurch etwas grundlegend verändert hätte. Er war immer allein gewesen.

Dann tauchten die Schatten auf.

Huschende Schemen am Rand seines peripheren Gesichtsfeldes, die sich duckten und sich an Hausmauern entlang drückten. Und seine Augen, die noch zuvor nicht schauen mussten, um den Kopf wissen zu lassen, gierten danach, die fließenden Bewegungen wahrzunehmen, sie einem bekannten Bild zuzuordnen. Er konnte nicht anders.

Etwas bewegte sich.

Er musste schauen.

Und mit jedem verstohlenen Blick kam der Schatten näher. Bald würde Robert das Kitzeln hauchdünner aber versteifter Schnurrbarthaare im Nacken spüren, dessen war er sich sicher. Aber er konnte die Augen nicht vom Schatten, der sich um jede hinter ihm liegende Ecke schmiegte, lassen. Der wissende, anklagende Schatten war zu begehrenswert.

Und kam so immer näher.

Ein Blick, ein Stück Weg.

Ein Blick, ein Stück Weg.

Sie hatte mit diesem reflexartigen Wissenwollen, das in jeder noch so apathischen Kreatur steckt, gerechnet. Und gewonnen. Das Reptiliengehirn des Jungen wollte die Schemen jagen. Ungeachtet dessen, dass es die Schemen waren, die ihn jagten, einkreisten und an Gestalt gewannen.

Doch ein Schemen war ein Schemen. Was sie brauchte, war Katze.

Was sie brauchte, war Form.

Sie brauchte Hilfe.

Und sie wusste genau, wo sie diese Hilfe bekommen würde. Und vor allem von wem ...

Dann hatte der Spuk schlagartig ein Ende. Eines Morgens hörte er kein Schnurren mehr, sah keine huschenden Schatten und keine glühenden Augen. Robert hatte den Geist der toten Katze irgendwie besiegt.

Er hatte ihn gebannt oder erlöst oder was auch immer. Zumindest war er fort. Vielleicht im wolkenweichen Katzenhimmel, vielleicht in der ammoniakstinkigen Katzenhölle. Wahrscheinlich einfach endgültig tot.

Es verblüffte Robert nicht im Geringsten, dass es offensichtlich, obwohl die Lehrerin in der Schule etwas ganz anderes erzählt hatte, unterschiedliche Stadien des tot Seins gab, man also doch mehr oder weniger tot und demnach auch am totesten sein konnte.

MouchMouch war in Roberts Welt am totesten.

Er hatte sie getötet, ihr Geist hatte ihn verfolgt, doch er hatte Kraft seiner Gedanken den Geist besiegt. Jetzt war es vorbei.