Cover

Über dieses Buch

Der karibische Eulenspiegel, der sich das Schreiben und das Lieben: das Leben von Castros Diktatur nicht verbieten ließ, hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Die Romane und Erzählungen sind literarisch durchgeformter als seine dem Tod abgetrotzte Autobiografie, doch wie sie voller Humor, Sehnsucht und Lebenslust. Sein politischer Mut, seine sexuelle Unbezähmbarkeit und sein stolzer Überlebensoptimismus prägen Leben und Sterben des Reinaldo Arenas: »Kuba wird frei sein. Ich bin es schon.«

Das Lesebuch enthält neben umfangreichen Leseproben aus seinen fünf auf Deutsch vorliegenden Romanen unter anderem ein großes Porträt des Autors von Ottmar Ette und ein bisher unveröffentlichtes Gespräch mit Reinaldo Arenas.

»Der Sexus und das Schreiben sind die Stützpfeiler des Reinaldo Arenas, seine Strafe und seine Gnade: Ursache seiner Verfolgung, aber auch Ursprung seiner beispiellosen Widerstandskraft.« (Juan Goytisolo)

Der Autor

Reinaldo Arenas, »einer der ergreifendsten kubanischen Romanschriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Jesús Díaz), 1943 im Osten Kubas geboren. Kind der Revolution, von ihr verfemt und verstoßen. 1980 Flucht in die USA, 1990 in New York gestorben. Seine furiosen Memoiren »Bevor es Nacht wird« – Schelmenroman, éducation sexuelle und politisches Manifest zugleich – wurden zu einem weltweiten Bestseller, der von Julian Schnabel mit Javier Bardem in der Hauptrolle 2000 verfilmt wurde. Sie gehören zu den großen Konfessionen unserer Zeit: eine hymnische Schamlosigkeit.

Die Übersetzer

Klaus Laabs, geb. 1953, lebt als Übersetzer und Herausgeber in Berlin. Vorrangig übersetzt er Werke hispanoamerikanischer, französischer sowie frankophoner Autoren aus der Karibik und Afrika (u. a. César Aira, Reinaldo Arenas, Aimé Césaire und José Lezama Lima).

Monika López (1946–1996) lebte als Übersetzerin hispanoamerikanischer Autoren in Köln. Neben zwei Romanen von Reinaldo Arenas übertrug sie belletristische Werke von Miguel Barnet, Eduardo Galeano, Pablo Neruda, Antonio Skármeta und Mario Vargas Llosa ins Deutsche.

Reinaldo Arenas
Ein Lesebuch

Mit Texten von Ottmar Ette und einer Bibliografie
Herausgegeben von Helmut Lotz

Edition diá

Inhalt

Reinaldo Arenas: Zwei Vaterländer habe ich
Ottmar Ette: Reinaldo Arenas. Ein Porträt
Reinaldo Arenas: Lob auf Fidel Castro
»Ich sehe das Schreiben nicht als Beruf, sondern als Fluch und Bedürfnis.«

Wahnwitzige Welt: Leseprobe
Der Palast der blütenweißen Stinktiere: Leseprobe
Rosa: Leseprobe
Engelsberg: Leseprobe
Reise nach Havanna: Leseprobe

Reinaldo Arenas: Nachruf auf mich selbst

Bibliografie
Impressum

Reinaldo Arenas: Zwei Vaterländer habe ich

Dos patrias tengo yo: Cuba y la noche.

José Martí

Zwei Vaterländer habe ich: Kuba und die Nacht,

in einem Abgrund vis-à-vis.

Kuba oder die Nacht (eins sind sie)

nehmen mich immer in denselben Verdacht:

»Ein Gespenst bist du in der Fremde,

Spuk, Marionette, an dir selber Verrat,

eines bizarren Karrens verlorenes Rad,

rasend hin auf ein schreckliches Ende,

das Atmen ist dort Verschwendung,

die Sonne nicht feurig, und Zynismus

ein Leben für der Schönheit Vollendung.«

Wenn das mein Vaterland ist (das Vaterland die Nacht),

vererbt von jahrhundertealtem Egoismus,

dann hoff ich auf ein anderes: das mir der Wahnsinn gebracht.

Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs

Ottmar Ette: Reinaldo Arenas. Ein Porträt

Reinaldo Arenas Fuentes, geboren am 16. Juli 1943 in einem kleinen Ort zwischen Holguín und Gibara im Osten Kubas; da sein Vater kurz nach der Geburt die Familie verlässt, wächst der Junge unter der Obhut der Mutter im Hause der Großeltern auf und verbringt seine Kindheit auf dem Land. Nach dem Schulbesuch in Holguín schließt er sich »aus Langeweile und Ermüdung« 1958 der revolutionären Bewegung Fidel Castros an. Der Sieg der Revolution ermöglicht ihm eine Ausbildung zum landwirtschaftlichen Buchhalter; 1962 kommt er nach Havanna, wo er zunächst Wirtschafts- und später Literaturwissenschaften studiert. Ohne sein Studium abzuschließen, arbeitet er als Bibliothekar an der Nationalbibliothek in Havanna, widmet sich intensiver Lektüre und nimmt sein schon in früher Jugend begonnenes Schreiben, nun in Kontakt insbesondere mit Mitgliedern der Orígenes-Gruppe, wieder auf. Über seine zeitweilige Tätigkeit am Instituto del Libro hinaus arbeitet er an den kubanischen Zeitschriften La Gaceta de Cuba, Unión, El Caimán Barbudo und Casa de las Américas mit.

Ab 1970 de facto mit Veröffentlichungsverbot belegt; im Januar 1974 wird er verhaftet und im Morro, Havannas geschichtsträchtigem Gefängnis, eingekerkert. Wegen »Immoralität«, »konterrevolutionären Verhaltens« und der Veröffentlichung dreier Bücher im Ausland zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, wird er nach der Haftzeit in ein Rehabilitierungslager eingewiesen. Während der folgenden Jahre lebt er in schwierigen Verhältnissen unter wechselnden Adressen in Havanna, bis er im Mai 1980, in der Welle des kubanischen Massenexodus, über Mariel die Insel in einem Boot verlässt, das einige Tage später von der US-amerikanischen Küstenwacht aus Seenot gerettet wird. Reinaldo Arenas lebt seit 1980 in New York im Exil. Lehrtätigkeit an der Universidad International von Florida, am Center For Inter American Relations und an der Cornell University in New York. Herausgeber exilkubanischer Zeitschriften, insbesondere von Mariel.

Bis zuletzt arbeitet Arenas an seiner Autobiografie Antes que anochezca (Bevor es Nacht wird). An Aids erkrankt, wählt Reinaldo Arenas im Dezember 1990 den Freitod.

»Die Arbeit des Romanciers ist immer eine Arbeit der Rekonstruktion.« Diese Aussage Arenas’ in einem Interview, das er im Juni 1980, kurz nachdem er Kuba verlassen hatte, gab, ist gewiss mehr als nur ein Hinweis für den Leser, der Zugang zu dem Werk eines der bedeutendsten Schriftsteller nicht nur Kubas, sondern ganz Lateinamerikas sucht. Denn Rekonstruktion, Wiederaufbauen, Wiederzusammenfügen, Wiedereinholen, Wiederbeginnen, Wiederschreiben – dies sind die ästhetischen Kraftlinien eines Schreibens, welches immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, ohne doch nur einfach einen Kreis zu schließen. Durch die Kraft der Imagination, durch die Kraft des Sich-Vertiefens, des Sich-in-sich-selbst-Versenkens, gewinnt dieses Schreiben jene dritte Dimension, die das beherrschende Symbol des jungen Kubaners zum Ausdruck bringt, jenes Brunnens nämlich, dessen Zirkel in die Tiefe führt, aus dessen Grund das Bild dem Betrachtenden, dem Schreibenden, gleich einem neuen Narziss, entgegenleuchtet. Der Brunnen, aus dem das Schreiben selbst die Kraft schöpft, aus dem es aber auch kein Entrinnen mehr gibt: Er ist das dunkle Loch (spanisch pozo), das zum Gefängnis, zum finsteren Verlies (spanisch calabozo) geworden ist.

Wenn sich denn alle Texte Arenas’ zu einem einzigen Text zusammenfügen, wenn sie, zwar zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten veröffentlicht, aber häufig parallel entstanden, immer wieder diesem Kreis eine neue Dimension hinzufügen, dann muss zunächst gefragt werden, nach welchem linearen Schema seine Texte anzuordnen und zu besprechen sind. Etwas arbiträr, aber durchaus der Rezeption Arenas’ außerhalb Kubas und insbesondere in Europa entsprechend, soll zu Beginn der Roman stehen, der den Namen des kubanischen Schriftstellers außerhalb seiner Heimat bekannt machte: Wahnwitzige Welt (1969).

1966 zwar vom kubanischen Schriftstellerverband ausgezeichnet, aber bis heute in Kuba unveröffentlicht, wurde der Roman 1969 in Mexiko in spanischer und gleichzeitig in Frankreich, wohl aufgrund einer Initiative des im Pariser Exil lebenden kubanischen Schriftstellers Severo Sarduy, in französischer Sprache publiziert. Von Le Monde zum besten ausländischen Roman des Jahres gekürt – bot sich doch in dem noch ganz von den Ereignissen im Mai ’68 aufgerüttelten Frankreich eine leichte Identifikationsmöglichkeit mit dem »contestataire cubain« (C. Couffon) –, brachte der Roman seinen Autor zu einem Zeitpunkt ins Gespräch, als dieser in seiner Heimat, immer mehr zum Schweigen verurteilt, in Vergessenheit geriet. Freilich war Arenas dadurch von Anfang an der Gefahr ausgesetzt, weniger nach seinen literarischen Qualitäten als vielmehr wegen seiner politischen Aussagen und seines Widerstands gegen das System des revolutionären Kuba rezipiert und beurteilt zu werden, welches bei den europäischen Intellektuellen in Verruf zu geraten begann.

Wahnwitzige Welt beschreibt den Kampf gegen institutionelle Gewalt am Beispiel der Geschichte eines mexikanischen Dominikanermönchs, genauer: Der Roman schreibt die (vor allem autobiografischen) Schriften des Fray Servando Teresa de Mier neu. Fray Servando, auf den bereits der kubanische Dichter und Romancier José Lezama Lima als eine der großen lateinamerikanischen Gestalten des 19. Jahrhunderts aufmerksam gemacht hatte, war durch seine 1794 zu Ehren der Jungfrau von Guadalupe gehaltene Predigt beim spanischen Klerus und der Obrigkeit in Ungnade gefallen; er hatte nämlich in dieser Predigt durch die Verknüpfung der kanonisierten christlichen Legende mit aztekischen Mythen der spanischen Eroberung jede heilsgeschichtliche Legitimation entzogen. Damit beginnt nun das abenteuerliche Leben – Arenas’ Roman trägt in der ursprünglichen Fassung die ironische Gattungsbezeichnung »Abenteuerroman« – jenes Fray Servando, der als belesener Mönch zwischen Mittelalter und europäischer Aufklärung und als Kreole zwischen europäischer Bildung und selbstbewusster Identifikation mit – wie er fast 100 Jahre vor José Martí sagt – »unserem Amerika« steht. Und dieses Leben ist ein nie abreißender Kreislauf zwischen dem »historischen amerikanischen Verlies« (Lezama Lima) und den fantastischen Ausbruchversuchen des Mönches, der niemals seinen Nonkonformismus und seinen Widerstand, ob in der kolonialspanischen Heimat, in Spanien, Frankreich, England, den noch jungen Vereinigten Staaten oder in seinem gerade unabhängig gewordenen Mexiko, aufgibt. Reinaldo Arenas’ Roman entsteht aus dem Verständnis, dass der Dominikaner und er – wie er in einem fiktiven Brief an Servando zu Beginn des Romans schreibt –, »dass wir beide, du und ich, ein und derselbe sind«. Diese Identifikation führt in den Roman gleichzeitig zwei Zeitebenen – die Wende vom 18. zum 19. und die Mitte des 20. Jahrhunderts – und zwei Bedeutungsebenen – die der Memoiren des illustren Vorgängers und des Lebens des jungen Kubaners selbst – ein. Deutlich wird dies bereits im ersten Kapitel des Romans, das die Kindheit des Mönches in Monterrey lückenlos an andere Texte Arenas’ über die eigene Kindheit ankoppelt, deutlich aber auch an vielen eingestreuten Details, die auf beide Zeitebenen verweisen. Der subversive Grundzug dieses Kunstgriffs erweist sich etwa an jener Bemerkung Borundas, des eigentlichen Urhebers der ketzerischen These Servandos, dass seine Schriften in La Gaceta nicht veröffentlicht würden: Gemeint ist die historische mexikanische Zeitschrift, gemeint aber auch jene Gaceta de Cuba, in der Arenas in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre noch einige Texte veröffentlichen konnte: »Immer sagten sie mir, dass ich warten müsse, dass andere Werke an der Reihe seien. Sodass ich dann schließlich immer mit dem Manuskript unter dem Arm stehen blieb.« Das Schicksal des eigenen Romans ist damit gewissermaßen vorgezeichnet. Wenn die Geschichte Servandos im Übrigen auch Aspekte des späteren Lebens Arenas’ vorwegnimmt – er verbrachte einige Zeit in demselben Gefängnis in Havanna, in dem man schon Fray Servando eingesperrt hielt –, so bekräftigt dies nachträglich seine Identifikation mit dem Dominikanermönch; und es veranlasste den noch jungen Autor zu der Bemerkung, dass er dazu verurteilt sei, entweder über das zu schreiben, was er gelebt, oder das zu leben, was er geschrieben habe (und infolgedessen vorsichtig sein müsse mit dem, was er in Zukunft schreiben werde).

Freilich handelt es sich bei Arenas’ »Abenteuerroman« nicht um eine historisch getreue Nacherzählung, sondern vielmehr um eine hochkomplizierte literarische Neuschöpfung, eine réécriture im weitesten und besten Sinne. Arenas’ Roman baut, typografisch häufig abgesetzt, Fragmente aus Fray Servandos Schriften ein, die nicht als »Zitate aus einem fremden Text, sondern als dessen fundamentaler Bestandteil« zu verstehen seien. Bilden die Memoiren auch das Grundgerüst für die Abenteuerfolge, geben sie Anlass zu vielfachen Wortspielen oder auch nur zu einem Wörtlichnehmen des Ursprungstextes, so ist Arenas in seinen rabelaishaften, hyperbolischen Ausgestaltungen dieses selbst bereits fantastischen Textes von diesem in keinerlei Weise determiniert. Von drei unterschiedlichen Erzählerpositionen aus, die am Anfang noch klar getrennt und später immer dichter miteinander verwoben sind, werden dieselben Ereignisse aus jeweils anderer Perspektive beleuchtet; dieses Wiederaufarbeiten desselben mit jeweils anderen »Ergebnissen«, diese Rekonstruktionen, die kraft gegensätzlicher Versionen niemals eindeutig sind, sondern ihre grundsätzliche Offenheit dem Leser zur weiteren »Aufarbeitung« überlassen, verbinden sich mit der Verwendung unterschiedlicher Textsorten: Autobiografie und Chronik, Tagebuch und Roman, lyrische Prosa und prosaische Lyrik verbinden sich zu einem komplexen literarischen Spiel, in welches andere intertextuelle Bezüge eingearbeitet sind.

Neben Biografien und der Sekundärliteratur entnommenen Zitaten (mit Quellenangaben!) werden andere literarische Texte (und Gestalten des beginnenden 19. Jahrhunderts wie etwa der kubanische Exildichter Heredia) in den Roman hineingezogen: So ist »Orlando, seltsame Frau« die Beschützerin Servandos in England, und der gleichnamige Roman Virginia Woolfs wird in einige Textpassagen artistisch eingearbeitet. Die dabei entstehenden vielfältigen Bezüge zwischen den Texten – ja selbst zwischen Arenas’ Roman und einem Text innerhalb des Bezugstextes, jenem geheimnisvollen Gedicht The Oak Tree, an dem Orlando, wie später Arenas an seinem einzigen Text, ein wahrlich langes Leben lang arbeitet – auf inhaltlicher wie auf struktureller Ebene lassen keinen Zweifel daran, dass dies ein intertextuelles Spiel mit doppeltem und dreifachem Boden ist, das jeder Oberflächlichkeit entbehrt: Es ist ein Fallen in jenen »Brunnen ohne Ausweg, den die Literatur darstellt«, mit allen Gefahren, die dadurch für die Beteiligten entstehen. Am Ende dieses Erzählzyklus, in dem sich atemlos Abenteuer an Abenteuer reiht, in dem man Servando von Dantes Inferno bis ins Paradies der Azteken folgt, die Französische Revolution ebenso wie die lateinamerikanische Unabhängigkeitsbewegung esperpentoartig verzerrt »sieht«, steht allerdings die Einsicht, dass nichts sich wirklich verändert hat, dass allem ein fundamentaler Betrug (»estafa«) zugrunde liegt: Noch immer »defilieren« die Gläubigen zu Ehren der Jungfrau von Guadalupe, noch immer herrscht die gleiche Verfolgung, noch immer »gibt es keinerlei Ausweg« – die wahre Revolution hat noch nicht stattgefunden, nur in der Rebellion entsteht ihr utopisches Bild.

Ein Jahr vor diesem Roman, der ob dieser philosophierenden Grundtendenz häufig mit der Tradition des conte philosophique in Verbindung gebracht wurde, im Jahre 1965 also war Reinaldo Arenas’ Romanerstling – wenn man von den, wie der Kubaner sagt, »zum Wohle der Menschheit« niemals veröffentlichten drei tausendseitigen Jugendromanen absieht – Celestino antes del alba (Celestino vor dem Morgenrot) vom kubanischen Schriftstellerverband ausgezeichnet worden; doch obgleich er 1967, mit einer Auflage von allerdings nur 2000 Exemplaren, veröffentlicht und sogar für das Fernsehen adaptiert wurde, blieb Arenas in der kubanischen Literaturwelt ein Außenseiter: Die erste Auflage war schnell vergriffen, eine Neuauflage war nie geplant, und Arenas’ Roman, in dem sich keinerlei revolutionär-didaktische Zielrichtung erblicken ließ, geriet rasch in Vergessenheit.

Ein wichtiger Grund hierfür mag auch die Tatsache sein, dass die »neuartige Technik« (Klappentext der kubanischen Ausgabe) des Romans nach einem neuen Leser verlangte. Arenas’ Roman ist weit von klassischen Mustern entfernt: Anstelle eines klar gegliederten Handlungsablaufes tritt die Sprache selbst in den Mittelpunkt, mit ihren lyrischen Bildern, mit trotz der einfachen Syntax komplizierten Wiederholungen. Das Wahnwitzige Welt strukturierende historische Raster fehlt in Celestino antes del alba, oder genauer: Es muss vom Leser rekonstruiert werden.

Der Roman behandelt eine in gewisser Weise dem Historischen entzogene Zeit: die Kindheit, die Zeit vor dem Tagesanbruch, dem Eintritt in die kollektive Geschichte. Doch zwischen dem gleichsam Zeitlosen und dem strikt Zeitverhafteten besteht keine gänzliche Trennung; die soziale und ökonomische Misere, die Ausweglosigkeit aller Protagonisten, erlauben es durchaus, das Geschehen einem Ort in der »Dritten Welt« zuzuordnen. Der Roman schildert eine Kindheit auf dem Land im vorrevolutionären Kuba, wobei sich die kindliche Fantasie- und Traumwelt der »Realität« immer wieder überlagert: Am Ende verurteilt dann ein »Kobold« (letztlich Celestino) jene Haltung, die nur dem vertraut, was Hände greifen können, wo diese doch »ganz gewiss unwirklicher sind als alle meine Legenden«. Vorwiegend aus der Perspektive eines Kindes erzählt der Roman von jenem Jungen mit Namen Celestino, der, einem obsessiven Zwang zum Schreiben folgend, alles, was er vorfindet – das wenige Papier, den Boden, die Bäume, vielleicht gar seinen eigenen Körper –, unablässig mit Schriftzeichen überzieht. In einer Welt der Analphabeten erscheint dieses Schreiben als unnütz, unmännlich, verrückt und subversiv, wird für die ganze Familie zum Schandfleck, den der Großvater mit der Axt durch das Fällen aller »beschrifteten« Bäume vergeblich zu tilgen sucht. Als einziger Fluchtort bleibt da Celestino die Imagination, eine fiktive Welt, in der es Verständnis gibt; Ich-Erzähler und Celestino sind im Grunde die beiden Hälften einer Person: wie der Schädel des Ich-Erzählers, dessen Hälften, durch einen Steinwurf der Mutter gespalten, sich unabhängig voneinander bewegen. Gegen die »reale Welt« ohne Liebe und Freundschaft wird die Figur des Freundes (und Doppelgängers) geschaffen. Diese Verdoppelung (oder auch Vervielfältigung) erlaubt ihrerseits Spiegeleffekte, die gerade die Lage des Künstlers in einer ihm feindlichen Umwelt immer neu beleuchten. Die Aufhebung aller Kategorien der faktischen Realität (die eben nur eine von vielen ist, und Arenas setzt sich erklärtermaßen das Ziel, über alle Realitäten zu schreiben), die Aufhebung aller Grenzen zwischen Unvereinbarem, zwischen Wirklichkeit und Imagination, zwischen Leben und Tod, gibt diesem Text, von dem Arenas sagte, dass er weder wisse, ob es ein Roman noch ob er selbst sein Autor sei, seine fundamentale Offenheit und Ambivalenz: An jedes Ende fügt sich ein neuer Anfang, jeder Tod, auch der (wie noch zu zeigen sein wird) des Protagonisten am »Ende« des Textes, zeugt neues Leben – so »heißt Tod also das Leben wählen«, wie Arenas in einem Gedicht schrieb. Jeder Anfing ist ein Wiederaufnehmen des bereits Bestehenden.

Die autobiografische Basis dieses Romans mag gewiss wichtig für die Wahl des Sujets sein, wird dem Text als zugrunde gelegtes Erklärungsmuster jedoch nicht gerecht: Das organische Einarbeiten literarischer Zitate (von der Bibel und dem Rolandslied über die chinesische bis zur lateinamerikanischen Literatur), die den literarischen Zitaten im Schriftbild gleichgestellten Zitate der Romanpersonen, wiederum die Verwendung unterschiedlicher Textsorten vom Kinderreim über die Litanei bis zum Drama, die Rhythmisierung und Sonorisierung bestimmter Wörter oder Wortgebilde, die Existenz von Anknüpfungspunkten für andere Texte des Autors – all dies macht den Roman zu einem in hohem Maße selbstreferenziellen, sich selbst in immer neue Zusammenhänge bringenden Text.

Diese Selbstreferenzialität freilich ist nicht absolut. Denn Reinaldo Arenas’ Werke sind im nachrevolutionären Kuba eine ästhetische (und auch politische) Stellungnahme insofern, als sie gegen ein Realismuskonzept opponieren, das nur der »elementaren Wirklichkeit unserer Netzhaut« [1] huldigt. Die militante Haltung von Arenas, sein Aufruf zur »Intoleranz gegenüber den etablierten Schemata« (kubanischer) Literatur, kommt in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre einer Kampfansage an die offizielle revolutionäre Kulturpolitik gleich, deren Preisverleihungen er denn auch sarkastisch kommentiert hat. Auch wenn der der Orígenes-Gruppe zugehörige Eliseo Diego seine kluge und wohlwollende Rezension des Romans mit der Bemerkung schließt, dass Arenas’ Roman »hier ist und zum Glück auch bleiben wird, denn der Traum der Insel würde sich niemals ohne ihn erfüllen« – Arenas ist nun nicht mehr in die Vorstellungen offizieller kubanischer Kulturpolitik integrierbar.

So sind auch weder Wahnwitzige Welt noch Der Palast der blütenweißen Stinktiere (1980) je in Kuba veröffentlicht worden. Dieser dritte Roman, den Arenas Ende der sechziger Jahre schrieb und, ohne ihn zuvor zu einem Wettbewerb einzureichen, unter dem Deckmantel »Wissenschaftlicher Abriss der kubanischen Flora« sofort nach Frankreich schmuggeln ließ, verwandelt Celestino (nachträglich) zum ersten Teil eines groß angelegten literarischen Projekts, das in Form einer Pentagonie die vor- und nachrevolutionäre Geschichte Kubas anhand einer individuellen Geschichte – und damit in struktureller Parallele zu Wahnwitzige WeltCantando en el pozo