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1990 – Ganz andere Sorgen

Rainer Doh
1990
Ganz andere Sorgen
Roman einer Familie

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Steuermann, lass die Wacht!
Steuermann, her zu uns!
Ho! He! Je! Ha!
Steuermann, her trink mit uns!

Richard Wagner: Der fliegende Holländer, dritter Akt

Inhalt

Das Heckental erstreckt sich vom Neckar in westlicher Richtung bis in die Ausläufer des Schwarzwalds. In seinem vorderen Teil ist es breit und flach, nur ganz allmählich steigt es zu den Hügelketten hinauf. Die Kreisstadt Heckenheim ist schon seit den Fünfzigerjahren mit den Nachbarorten Kolb, Schätzingen und Liesingen ununterscheidbar zusammengewachsen. Eine Ortschaft geht nahtlos in die nächste über, und die landestypischen Reihenhaussiedlungen, die Ein- und Zweifamilienhäuser mit ihren kleinen, aufgeräumten Gärten, ziehen sich kilometerlang zu beiden Seiten der B 331 hin. Größere Felder, Äcker und Weinberge gibt es erst im rückwärtigen Teil des Tales, etwa auf Höhe der kleinen Ortschaft Brunnen. Ein Stück weiter beginnt schon der Rotwald, ein Staatsforst, der trotz seines Namens geografisch bereits zum Schwarzwald gehört.

Man muss zugeben, dass das Heckental trotz der Nähe des Schwarzwalds landschaftlich nur wenig reizvoll ist. Natur findet vornehmlich in Form von intensiver Landwirtschaft statt, der Heckelbach ist durchgehend reguliert, die Sumpfwiesen rund um Liesingen sind allesamt trockengelegt, nur der Gewerbepark „An der Moorwiese“ erinnert noch an den einstigen Morast in der Gegend. Die Ortschaften des Heckentals sind bis auf den üblichen historischen Marktplatz mit Fußgängerzone zu wenig romantisch, als dass sie in größerer Zahl Fremde anziehen könnten. Erholungssuchende aus den umliegenden Großstädten, zum Beispiel aus Stuttgart, Ludwigsburg oder Heilbronn oder gar Touristen von noch weiter her, fahren gleich in den Schwarzwald, in den für seine Herbstfärbung berühmten Schönbuch oder auf der anderen Neckarseite ins Remstal, wo es mehr Rad- und Wanderwege und vor allem bessere Einkehrmöglichkeiten gibt. Kein Wunder, dass das Heckental nur wenig bekannt ist. Autofahrer, die versucht haben, auf dem Weg vom Neckar- ins Rheintal einem der häufigen Staus auf der A 86 oder der A 8 über die B 331 auszuweichen, sehen vielleicht kurz hinter Oberliesingen verwundert eine vermooste Tafel mit der Aufschrift „Auf Wiedersehen im schönen Heckental“. Zugezogene stellen immer wieder erst nach Jahren erstaunt fest, dass sie im Heckental zu Hause sind, ohne es gewusst zu haben.

Es wäre freilich grundverkehrt, von den Fachwerkhäusern, dem Schönen Brunnen, den Ruinen der Heckelburg und dem sonstigen ein wenig angestaubten Lokalkolorit Rückschlüsse auf die hiesigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu ziehen. Schließlich gehört unser Heckental zu den Gegenden, wo der typische schwäbische Gewerbefleiß zu Hause ist. In Frankfurt, München oder auch in Stuttgart mögen vielleicht bekanntere Unternehmen ihren Sitz haben, aber was den Umsatz pro Einwohner anbelangt, müssen wir uns bestimmt nicht verstecken. Von den ansässigen Unternehmen sind einige in ihren Märkten führend, allen voran die Optische Präzisionswerke AG, die OPW, als größter Arbeitgeber im Tal. Rund achthundert Menschen waren in den besten Zeiten allein in Heckenheim- Kolb beschäftigt.

Und das Heckental ist in der glücklichen Lage, über eine Reihe weiterer namhafter Gewerbesteuerzahler zu verfügen, denn wegen der guten Verkehrsanbindung haben sich einige Zulieferbetriebe für die Automobilindustrie angesiedelt. Die Daismann KG beispielsweise liefert Kofferraumverkleidungen hauptsächlich nach Zuffenhausen und nach Neckarsulm. Fabrizius baut Autoantennen und am Rande von Liesingen steht seit den Sechzigerjahren ein großes Zweigwerk von Bosch, in dem elektronische Bauteile produziert werden; beim Bosch sind heute noch rund zweihundertfünfzig Leute beschäftigt.

So aus der Welt, wie Neubürger, Gäste und Nachbarn manchmal tun – als ob ausgerechnet Stuttgart, Ludwigsburg oder gar Backnang der Nabel der Welt wären! –, ist unser Heckental wirklich nicht.

1985

Wir waren Mitte der Achtzigerjahre ins Heckental gekommen. Nachdem ich mich einige Jahre im Stuttgarter Finanzamt durch die Verästelungen des Steuerrechts gearbeitet hatte, fand es Marianne an der Zeit, eine neue Herausforderung zu suchen und meinem – unserem – Leben eine neue Richtung zu geben. Marianne wusste, dass die Steuerberaterdichte im Heckental, wo sie aufgewachsen war, deutlich unter dem Bundesdurchschnitt lag. Mir gefiel die Idee, die Seiten zu wechseln und aus meinem steuerrechtlichen Know-how mehr zu machen als eine A 13- oder A 15-Stelle. Also sah ich mich ein wenig im Heckental um. Tatsächlich: Für die größeren Unternehmen waren dort Bouvier, Pfalznagel & Partner tätig, um die Freiberufler und Handwerker kümmerte sich vornehmlich der betagte Doktor Schölter, draußen in Liesingen gab es noch die Einmannkanzlei von Erwin Kuballa sowie eine Helene Siebenschatz, die ihre Mandaten im Wohnzimmer empfing. Marianne hatte recht – da war noch Platz für einen aufstrebenden jungen Steuerberater.

Andererseits konnte ich mich nur schwer mit der Vorstellung anfreunden, mein Leben künftig in einer abgelegenen Kleinstadt zwischen Neckar und Schwarzwald verbringen zu müssen. „Da kennt jeder jeden und eine Hand wäscht die andere. Aber wehe, man hält sich nicht an die Kehrwoche oder pflegt seinen Rasen nicht ordentlich. Dann vergiften sie einem die Katze.“ Außerdem würde mir das kulturelle Umfeld fehlen. Was war da draußen in der Pampa mit einem guten Kino? Mit Konzerten? Oper? Zoo?

Solche Einwände ließ Marianne nicht gelten. „Erstens haben wir keine Katze. Zweitens ist gegen einen schönen Rasen nichts zu sagen. Und was heißt Pampa? In zwanzig Minuten bist du in Stuttgart. Und wann warst du denn zuletzt im Zoo?“

Tatsächlich habe ich dann bis Stuttgart selbst bei bester Verkehrslage immer länger als eine halbe Stunde gebraucht. Ein einziges Mal schaffte ich es in dreiundzwanzig Minuten: morgens um halb vier und unter Missachtung von wer weiß wie vielen Verkehrsregeln – Marianne neben mir mit dem Hamsterkäfig auf dem Schoß, auf den Rücksitzen zwei heulende Kinder, so waren wir durch das Morgengrauen über die A 81 nach Stuttgart in die Tierklinik gerast. Erst in dieser Nacht war mir klar geworden, dass es im Heckental nicht nur keine Oper und keinen Zoo gibt, sondern auch keine veterinärmedizinische Notversorgung. Nun schimpfte sogar Marianne über das „gottverlassene Nest“. Aber das war natürlich sehr viel später.

Marianne hatte in Kolb ein älteres Reihenmittelhaus für uns gefunden. Die Miete war gerade noch erträglich und wir hatten ausreichend Platz für uns beide und für unsere Tanja. Katharina kam erst im folgenden Jahr. Wichtig war jetzt ein Büro, und zwar eines, das ich mir trotz vorerst bescheidener Umsätze leisten konnte. Und wieder war es Marianne, die die Sache voranbrachte, denn sie entdeckte in einem renovierten Fachwerkhaus in der Heckenheimer Uhlandstraße, keine zweihundert Meter vom Oberen Markt, zweiundsiebzig Quadratmeter Büroräume mit schönem Parkettboden und einer Teeküche mit Geschirrspülmaschine, alles picobello und frisch gestrichen. Der Vermieter, Alfred Kurtz, Inhaber des gleichnamigen Fachbetriebs für Heizungs- und Sanitärinstallationen, zeigte sich außerdem gewogen, mein erster Mandant zu werden. „Warum nicht, junger Mann?“, sagte er und klopfte mir auf die Schulter. „Aber Steuern muss ich dann keine mehr zahlen, gell.“ Außerdem habe sein Schwager (Elektro-Täschner in der Eberhard-Fichtner-Straße) seit Jahren massive Probleme mit dem Ludwigsburger Finanzamt, da müsse dringend etwas passieren. Allmählich verflüchtigten sich meine Bedenken, auch wenn die Räume bei Weitem nicht so erschwinglich waren, wie in meinem Budgetplan vorgesehen. Am nächsten Tag unterschrieb ich den Mietvertrag. Ein paar einfache Büromöbel waren schnell besorgt und am 2. Februar 1985 nahm die Steuerkanzlei Olaf Knapp den Betrieb auf.

Am Abend lernte ich im Ristorante Capri am Oberen Markt bei unserer ersten Heckenheimer Pizza endlich Mariannes Schulfreundin Veronika Käfer kennen. Wir hatten an diesem Tag wegen der Kanzleieröffnung einfach zu viele andere Dinge im Kopf, und als wir endlich im Capri eintrafen, war Veronika längst da. Die ersten Worte, die ich von ihr zu hören bekam, lauteten: „Ich warte bereits eine Vier-tel-stun-de!“ Jede Silbe war ein gedehnter Klagelaut. Dazu schaute sie zuerst demonstrativ auf ihre Armbanduhr, dann abschätzig von oben bis unten an mir herunter. Marianne ignorierte Veronikas Vorwurf und sagte fröhlich: „Das ist mein Olaf!“ Sie strahlte mich an und legte einen Arm um meine Schultern. Veronika verzog den Mund und sagte nichts.

Ich habe damals nicht verstanden, welche Gemeinsamkeiten Veronika und Marianne über all die Jahre und Jahrzehnte zusammenhielten, gegensätzlichere Menschen jedenfalls habe ich selten kennengelernt. Neben der großen, strahlend schönen Marianne – damals noch mit langen blonden Haaren und ultrakurzem Rock – sah Veronika vollends brav und bieder aus. Ihr etwas zu rundes Gesicht zeigte damals schon deutliche Ansätze zu Hängebacken; sie war mittelgroß und mittelschlank, ihre Haarfarbe schwer einzuschätzen, irgendwas zwischen dunkelblond und braun. Oder umgekehrt. Ihre Augenfarbe konnte ich damals nicht feststellen, weil sie mich kaum ansah. Sie redete den ganzen Abend ausschließlich mit Marianne. Nur hin und wieder warf sie einen kurzen Blick auf mich, als ob sie sich vergewissern wollte, ob ich tatsächlich noch immer da sei. Ich erinnere mich aber noch sehr gut an Veronikas halblangen, dunkelgrauen Faltenrock und an ihre geblümte Bluse.

„Warum nicht?“, hatte ich auf dem Nachhauseweg zu Marianne gesagt. „Das kann sie mit sechzig auch noch tragen. Und wenn sie drauf aufpasst, auch noch mit siebzig.“ Der Abend endete in einem furchtbaren Streit.

*

Veronikas Vater war der Inhaber des führenden Reisebüros in Heckenheim. Gottfried Käfer hatte sich in den Sechzigerjahren mit Omnibusreisen selbstständig gemacht; sein kleines Reisebüro hatte zunächst preiswerte Tagesausflüge organisiert, an den Bodensee, in den nahen Schwarzwald, zum Kloster Maulbronn und nach Rothenburg ob der Tauber. Das Angebot von Käfer-Reisen war schon damals auf die etwas älteren Mitbürger ausgerichtet, die Käfer-Kunden waren vielleicht deswegen in ihren Ansprüchen ebenso bescheiden wie Gottfried Käfer selbst. Abfahrten in frühen und frühsten Morgenstunden wurden ebenso hingenommen wie durchgesessene Sitze und karge Mahlzeiten unterwegs. Teilnehmer und Veranstalter waren sich aufgrund langjähriger Erfahrung ohnehin darin einig, dass Hunger immer noch der beste Koch sei. Zum Ausgleich ging es in den Bussen immer lustig zu, auf der Heimfahrt wurden gemeinsam Lieder gesungen und manchmal las Gottfried Käfer auch ein paar humoristische Verse von Ringelnatz vor oder etwas Nachdenkliches des damals beliebten Eugen Roth.

Als die Ansprüche stiegen, wurden zunächst nicht die Busse bequemer und das Essen besser, sondern die Ziele weiter gesteckt: Es gab nun die Dreitagestour durch das Salzkammergut (mit Kaffee im Weißen Rössl), die beliebte Fahrt zum Vierwaldstätter See mit großer Mittagspause in Luzern, zwei Tage Wien mit Abstecher nach Linz, drei Tage Venedig mit Murano und im November, wenn die Hotels billiger waren, ging es für ein langes Wochenende bis nach Paris. „Mit dem Käfer kommt man herum“, hieß es bald. „Und günstig ist er auch!“

Aus dieser Zeit des Aufbruchs stammte das Firmenzeichen von Käfer-Reisen: der lachende Maikäfer mit den zum Flug aufgespannten Flügeln. Gottfried Käfer hatte es eigenhändig gezeichnet. Der Maikäfer fand sich nicht nur auf Geschäftspapieren und Stempeln, es gab auch eine Maikäfer-Anstecknadel, mit der sich Reiseteilnehmer in aller Welt als Kunden von Käfer-Reisen ausweisen und sich untereinander sofort erkennen konnten. Damals wurde auch das alte Firmenschild durch eine strahlende Leuchtreklame mit fliegendem Maikäfer ersetzt. Sie war lange Zeit die einzige, die am Oberen Markt auch noch nach 21 Uhr noch leuchtete. „Der Käfer macht richtig was her“, sagten die Mitbürger. Dabei war es gar nicht einfach, den schmalen Grat zwischen einem berechtigtem „Was hermachen“ und einer das örtliche Publikum irritierenden Verschwendung einzuhalten. Gottfried Käfer hatte dafür das nötige Feingefühl; er kannte seine Mitmenschen – nicht zuletzt, weil er sich selber kannte.

Wer damals in Heckenheim verreisen wollte, den führte der Weg als Erstes zum Käfer, egal ob er mit dem Bus nach Maulbronn, mit dem Zug nach Bibione oder mit dem Flugzeug nach Ibiza wollte: Prospekte, Fahrkarten, Fahrscheine – kompetent und immer freundlich bei Käfer-Reisen.

Darüber fand Gottfried Käfer auch unter den anderen Geschäftsleuten der Stadt Anerkennung. Es hieß nicht mehr nur, dass man mit dem Käfer günstig herumkam, dass es in seinen Bussen fidel zuging, sondern auch, dass der Käfer „was vom G’schäft versteht“ – eine bessere Meinung kann man im Heckental über einen Mitbürger kaum haben. Allmählich begann Käfers Wort etwas zu gelten, und die Leute lachten über seine Witze. Natürlich konnte er sich nicht mit den wahren Größen der ansässigen Wirtschaft messen, mit einem Otto Daismann oder gar mit einem Doktor Genser, dem Vorstandsvorsitzenden der OPW. Aber er stand jetzt durchaus auf derselben Ebene wie Bernd Lutz („Opel Lutz“), August Pfefferle („Qualitätsdrucke Pfefferle“) oder Hans Schroth („Alles im Lot mit Möbel-Schroth“). Und mit einem x-beliebigen Metzger, Bäcker oder Friseur musste er sich schon nicht mehr vergleichen lassen.

Veronika war Gottfried Käfers einziges Kind, und er war zu Recht stolz auf sie. Sie war ein grundanständiges Mädchen, sie lernte gut, sie war häuslich, sie trieb sich nicht herum, sondern ging ihrer Mutter im Haushalt zur Hand oder half auch schon mal im Geschäft. Und hilfsbereit und höflich war sie sowieso. Nur ganz selten fiel sie mit frechen Bemerkungen aus der Rolle oder rollte demonstrativ mit den Augen, wenn beispielsweise ein weitläufiger Verwandter die heimische Kaffeetafel mit Berichten über seine Krankheiten langweilte. Ihre Mutter hielt das für ungehörig. Vater Käfer aber schätzte es, wenn seine Tochter sich als selbstbewusstes und gescheites Mädchen erwies. Er wollte, dass aus Veronika mal was wurde, zum Beispiel in seinem Reisebüro. Sie könnte sogar, womöglich zusammen mit einem tüchtigen Mann, eines Tages das Geschäft übernehmen. „Wäre doch jammerschade, wenn man sich ein Leben lang abrackert und dann geht irgendwann mal alles in fremde Hände.“

Auch Veronika hatte klare Vorstellungen von ihrer Zukunft, in deren Mittelpunkt die eigene Familie stand. Zwei Kinder würde sie haben, brave, nette Kinder. Und ein eigenes Haus natürlich, kein Reihenhaus, sondern eines, „um das man herumgehen kann“, mit schönem Garten mit alten Bäumen, einem Komposthaufen und Beeten, in denen sie mit den Kindern etwas anpflanzen konnte. Ein Mann, ein netter, anständiger Mann, der etwas darstellte, gehörte auch dazu. Vielleicht noch ein Hund aus dem Tierheim, am besten ein Mischling mit schiefen Ohren, damit die Kinder frühzeitig lernen, wie man Verantwortung übernimmt, und damit sie sich auch charakterlich gut entwickeln.

„Spießig“, nannte Marianne den Glücksplan ihrer Freundin. Marianne hatte nie verstanden, warum jemand, „der so gescheit ist wie die Veronika“, nicht von einer Position als Dramaturgin am Staatstheater oder als Anwältin in Stuttgart, sondern von einer Einbauküche träumte. Woran, Marianne zufolge, vor allem Veronikas Mutter schuld sei: „Eine beschränkte Person, geizig und bösartig.“ Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, denn Frau Käfer hielt Marianne schon seit der Schulzeit für ein „Flittchen“. Nie hatte sie verstanden, weshalb sich ihre brave Tochter ausgerechnet mit der angefreundet hatte. Niemand in Heckenheim verstand das.

Jedenfalls hatte man bei Veronika nie Angst haben müssen, dass sie was mit Drogen anfing, und es verstand sich von selbst, dass Veronika noch der harmlosesten Knutscherei aus dem Weg ging. Sie schrieb sich keine Telefonnummern in die Handflächen und sie lungerte auch nicht bei schönstem Wetter in der Eisdiele Venezia herum. So wie beispielsweise Karin Schädle, wie Renate Siemer oder eben Marianne Quidde mit ihren langen blonden Haaren und ultrakurzen Röcken. Geschminkt waren die natürlich auch.

Veronika hätte auch gar keine Zeit für das Venezia gehabt. Sie war, das verstand sich von selbst, eine gute und fleißige Schülerin. Ihre Hefte beschriftete sie in Schmuckschrift: „Veronika Käfer – Erdkunde“, „Veronika Käfer – Geschichte“, „Veronika Käfer – Biologie“. Hinter ihren Namen malte sie den lachenden Maikäfer. Um jede Heftseite zog sie mit Buntstiften und Lineal einen Zierrahmen. Nicht etwa, weil es ein Lehrer verlangt hatte, sondern weil es so einfach schöner aussah. Schöner und ordentlicher. Manchmal zeichnete sie mit viel Liebe und Geduld auch noch Ornamente an die Ecken des Rahmens, was dann noch schöner aussah. Wenn zum Beispiel Familie Gräser zu Besuch kam oder die alten Sailers, wurden Veronikas Hefte hergezeigt und alle staunten. Sogar Herr Sailer, der bis zu seiner Pensionierung leitender Ingenieur beim Bosch gewesen war, versicherte, dass er diesen Rahmen auch am großen Zeichenbrett und mit seinem fünfundvierzig Mark teuren Tuschefüller von Isograph nicht schöner und genauer hätte ziehen können. „Da können Sie wirklich stolz sein, Frau Käfer“, sagte Frau Sailer zu Frau Käfer, die es ihrerseits gar nicht fassen konnte, wie jemand fünfundvierzig Mark für einen Füller ausgeben konnte, wo man doch mit einem einfachen Buntstift genauso schön zeichnen konnte. Wenn man sich nur Mühe gab.

Mit ihren Mitschülerinnen konnte Veronika nur wenig anfangen und die nichts mit jemandem, der mit vierzehn noch Zierrahmen in die Hefte malte. Da sie gewisse Dinge notorisch nicht mitmachte, wollte man sie bei gewissen Dingen gar nicht erst dabei haben. Veronika las lieber. Jede Woche brachte sie einen Bücherstapel aus der Stadtbibliothek nach Hause. Frau Glöck, die Bibliothekarin, fragte: „Mein Gott, Veronika! Schaffst du das denn alles?“ Natürlich schaffte Veronika das. Ihre Mutter fragte immer wieder: „Brauchst du das wirklich alles für die Schule?“ Sie fand, dass diese Bücher eigentlich gar nicht zu Veronika passten. Sie war so brav und ordentlich, und dann befasste sie sich vorwiegend mit den Schicksalen von gescheiterten Frauen: die Briest, die Bovary, die Karenina – waren die nicht alle geschieden? Und diese Toni Buddenbrook sogar zweimal. Aber der Papa war stolz, dass seine Veronika sich mit so schwierigen Büchern befasste, obwohl er selbst es auch ohne Abitur zu etwas gebracht hatte.

Vielleicht hätte Veronika nach dem Abitur studieren sollen – einfach mal heraus aus dem Amselweg, heraus aus Heckenheim und dem Heckental. Aber die Universitäten, unruhig und politisiert, wie sie in den Siebzigern waren, erschienen ihr schon aus der Ferne unheimlich. Deshalb ging Veronika auch beruflich lieber auf Nummer sicher und begann nach dem Abitur nicht wie andere aus ihrer Klasse ein Studium der Politologie oder der Theaterwissenschaften oder wenigstens BWL, sondern in Ludwigsburg bei der Bausparkasse Wüstenrot eine Lehre als Bankkauffrau.

Veronikas Vater hielt das für eine ausgezeichnete Idee. Sie hätte auch von ihm selber sein können, und ein wenig war sie ja tatsächlich von ihm. Geld regiert die Welt, hatte ihn die Lebenserfahrung gelehrt (obwohl ihm persönlich andere Werte – irgendwas mit Schiller, Beethoven oder Mörike – vielleicht sogar lieber gewesen wären), daher konnte es nicht verkehrt sein, gründlich zu lernen, mit Geld umzugehen. „Das kann sie immer brauchen“, sagte er. „Egal, was sie später mal macht.“ Eine Bank, eine Versicherung oder notfalls eben eine Bausparkasse, das war insofern ein optimales Sprungbrett ins Leben und auf jeden Fall solider als jeder Schiller. Und in einem Reisebüro konnte man das auf jeden Fall brauchen.

Freunde der Käfers meinten freilich, es wäre schade um das hervorragende Abitur; Veronika war immerhin die Beste des ganzen Jahrgangs gewesen. Herr Sailer beispielsweise sagte, er könne sich die Veronika gut als Lehrerin vorstellen: „Wo sie doch so gern liest.“ Oder als Ärztin. „Die Noten hätte sie doch auf alle Fälle.“ Oder sogar als Ingenieurin, auch das war damals keine Seltenheit mehr, und wer so saubere Rahmen in seine Hefte zeichnen konnte, der würde doch auch den Aufriss eines Druckventils fehlerfrei hinbekommen. Wie man die Veronika kannte, vermutlich besser und schöner als mancher Kollege. „Herr Sailer! Herr Sailer! Um Gottes willen! Setzen Sie dem Mädle bloß nichts in den Kopf!“, rief Frau Käfer entsetzt. „So weit kommt’s noch. Können Sie sich vorstellen, was ein Studium kostet? Und dann ist sie fertig und heiratet.“ Eigentlich war schon das Abitur eine Verschwendung gewesen.

Auf dem Heimweg schimpfte Herr Sailer: „Der Käfer wenn sich ein Studium nicht leisten kann, dann weiß ich’s auch nicht. Jedes Jahr macht er eine neue Filiale auf, aber bei der eigenen Tochter spart er.“

„Ihm würd’s schon gefallen, dass sein Mädle studiert“, meinte Frau Sailer. „Aber seine Frau jammert doch um jeden Pfennig. Und sie hätt’ auch zu viel Angst, dass an der Universität was passiert.“

„Was soll da passieren?“

„Dass sie mit einem ledigen Kind heimkommt, zum Beispiel.“

Der alte Sailer lachte auf. „Das tät ihr recht geschehen, der alten Hexe.“

„Aber das arme Mädle!“, rief Frau Sailer. „Das wär ja nicht auszudenken, was die dann durchmachen müsst’.“

Diesbezüglich mussten sich die Sailers bei Veronika natürlich keine Sorgen machen. Nicht dass Veronika grundsätzlich etwas gegen das andere Geschlecht gehabt hätte – es war ihr schon klar, dass sie anders nicht zu ihrer eigenen Familie kommen würde. Aber gerade deswegen war sie in dieser Frage anspruchsvoll: Eine Veronika Käfer warf sich nicht dem Nächstbesten an den Hals.

Man muss allerdings zugeben, dass die Auswahl an infrage kommenden Partnern recht begrenzt war, so groß ist Heckenheim schließlich auch nicht. Für Veronikas gehobene Ansprüche wurde die Auswahl noch enger: Wer nicht dick und hässlich war, der war bestimmt „gewöhnlich“ oder zumindest „mittelmäßig“. Wer nicht ungebildet war, der war in der Regel eingebildet oder sogar, noch schlimmer, ein „Schönling“. Oder er konnte nicht mit Messer und Gabel essen, jedenfalls nicht richtig. Ganz peinliche Existenzen verwechselten Thomas Mann mit Heinrich Mann, und mit so jemandem konnte sich Veronika ohnehin nicht unterhalten.

Auch mit Achim Wolff (der Sohn von Ford Wolff in Schätzingen) hatte sie sich letzten Endes nicht unterhalten können, dabei war sie mit ihm immerhin fast drei Monate näher befreundet gewesen. Es soll dabei sogar, wie Marianne spitz anmerkte, zu Intimitäten gekommen sein. Dann allerdings nahm Veronika ihren Achim in die Stuttgarter Oper mit, und als sie ihn hinterher fragte, wie es ihm gefallen habe, meinte der ganz arglos, es sei sehr ergreifend gewesen, „besonders die Stelle, wo die Boheme stirbt“. Daraufhin brach Veronika den Abend und kurz darauf die Beziehung ab. Zu Marianne sagte sie: „Dann lieber gar keinen.“

1986

Veronika war schon weit über dreißig, als ihr bewusst wurde, dass ihr wirkliches Leben über ihren Lebensplan hinwegzugehen drohte. Mittlerweile hätte das erste Kind bereits eingeschult werden müssen und im übernächsten Jahr das zweite. Was sie sich vorgenommen hatte, war rein zeitlich kaum mehr zu schaffen, vielleicht noch das Haus zum Herumgehen und der Garten mit den alten Bäumen und der Hund, aber für ihren Nachwuchs hatte sie noch nicht mal einen Vater.

Jetzt erwies es sich als nachteilig, dass Veronika ihre Bekannten hauptsächlich mit ihren Eltern teilte – immer wieder Frau Fingerhut, Familie Gräser, Tante Erika und die beiden Sailers. Rudi, der Sohn von Herrn und Frau Gräser, war zwar erfolgreicher Rechtsanwalt und regelmäßiger Opernbesucher, aber er war schon längst anderweitig vergeben und ohnehin volle sechzehn Jahre älter. Da konnte Frau Gräser noch so oft beteuern, dass sie sich eine Schwiegertochter wie Veronika gewünscht hätte.

Darüber hinaus blieb Veronikas Bekanntenkreis all die Jahre überschaubar. Ihre privaten Kontakte zu den Kollegen bei Wüstenrot beschränkten sich auf das Notwendigste, also vor allem auf Betriebsausflug und Weihnachtsfeier. Die Männer im Büro waren Familienväter, die Frauen überwiegend alleinerziehende Halbtagsmütter, die übrigen … nun ja … kein Umgang für eine Veronika Käfer. Sie konnten sich tagelang über das trostlose Thema „Ruft er heute an?“ unterhalten – natürlich nicht mit ihr. Veronika verbrachte Abende und Wochenenden mit den Eltern. Meist auch den Urlaub, und auf zweifelhafte Urlaubsbekanntschaften legte sie sowieso keinen Wert. Auf Lanzarote hatte sich zwei Wochen lang ein angehender Hals-Nasen-Ohren-Arzt um sie bemüht – eigentlich war er ganz nett, aber aus Kiel.

So blieb schließlich alles an Marianne hängen. Die verfügte zwar über einen ausgedehnten, bis nach Stuttgart und Tübingen reichenden Bekanntenkreis, den sie intensiver pflegte, als es mir recht war, aber Veronika konnte davon nicht profitieren. Immer wieder lud Marianne unverheiratete Kollegen aus ihrem Ludwigsburger Gymnasium zu uns nach Hause ein. Sie suchte die Betreffenden stets sorgfältig aus: alleinstehend, aber nicht bindungsunfähig (drei Geschiedene, ein Verlassener), im passenden Alter, einigermaßen gebildet, halbwegs interessante Fächerkombinationen (also keine Sportlehrer), ein passables, bartloses Aussehen und immer verbeamtet. Veronika machte diese Abende durch ihre übellaunige Einsilbigkeit schon im Ansatz kaputt. Gleich nach dem Dessert mussten die Kollegen dann meist wegen dringender Korrekturarbeiten aufbrechen. Hinterher beim Abwasch schimpfte Marianne: „Das war nun wirklich das letzte Mal.“ Schließlich verbat sich Veronika selbst weitere gemeinsame Einladungen mit unverheirateten Herren. „Ich lass mich doch nicht verkuppeln“, erklärte sie. So etwas habe sie nun wirklich nicht nötig. Da konnte Marianne noch so sehr anderer Meinung sein.

Allmählich musste auch Marianne zugeben, dass es schon auch an Veronika lag. „Sie müsste halt mehr aus sich machen. Diese graubraunen Fetzen, die sie immer anhat. Und diese Frisur. Wie oft hab ich ihr schon gesagt, fahr nach Stuttgart und leiste dir mal einen richtigen Friseur. Was tut sie? Sie rennt wie ihre Mutter in die Schillerstraße zum Fischerknecht und läuft herum wie eine Vogelscheuche.“ Aber das sah Veronika schon gleich gar nicht ein, dass sie sich für teures Geld ausstaffieren und herrichten sollte, nur um irgendeinen Hanswursten zu beeindrucken. Wem nur Äußerlichkeiten imponierten, der war sowieso nicht viel wert; da hatte Veronika ihre Grundsätze.

„Die treibt mich noch in den Wahnsinn“, sagte Marianne und war nun auch ratlos.

Ich weiß heute nicht mehr, warum mir damals mein Schulfreund Paul einfiel. Er war ein paar Tage zuvor Hilfe suchend in meine Kanzlei gekommen, weil ihm das Finanzamt Stuttgart wegen eines fünfstelligen Steuerrückstands die Pfändung angedroht hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte ich erfahren, dass er nicht mehr mit Sybille zusammen war.

Marianne hielt meinen Vorschlag für keine gute Idee. „Paul? Doch nicht dieser Chaot, der dir schon seit zwei Jahren das Honorar schuldet?“

„Erst seit einem. Und er hat's wirklich nicht leicht. Zuerst der Konkurs und dann das mit Sybille. Außerdem wäre ich ohne ihn im Abitur durchgefallen.“

„Er ohne dich aber auch. Und das ist zwanzig Jahre her.“

„Achtzehn. Vielleicht können sie sich einfach mal beschnuppern.“

„Veronika und Paul? Beschnuppern? Die beiden? Du bist ja bescheuert.“

„Bloß weil du ihn nicht magst.“

„Bloß weil du sie nicht magst.“

Auch dieser Abend endete in einem grässlichen Streit.

Doch die Zeit drängte. Veronika war seit drei Wochen vierunddreißig. Marianne überwand ihre Abneigung gegen Paul und dachte sich in den nächsten Tagen ein raffiniertes Arrangement aus: Wir luden Veronika und ein paar Bekannte in das neue Squash-Paradies in Heckenheim-Kolb ein. Dort stellte sich allerdings schnell heraus, dass Veronika entgegen ihrer Selbsteinschätzung beim Squash eine blutige Anfängerin, Paul dagegen ein ambitionierter Freizeitspieler war. Außerdem wollte Veronika sowieso nur mit Marianne spielen, sodass auch dieser Abend auf einen Fehlschlag zusteuerte. Marianne schlug vor, Paul solle Veronika doch im Court „ein bisschen was zeigen“. Aber Paul wollte nichts zeigen und Veronika erst recht nichts gezeigt bekommen. Kurz nach zehn jedoch verstauchte sich Marianne den Fuß und konnte nicht weiterspielen; ihrer Kollegin Heike (Heike Dämmert, Englisch und Französisch) wurde plötzlich schlecht und Helmut, Heikes Lebensgefährte, musste sich um sie kümmern. Ich hatte mir unterdessen auf Mariannes Geheiß beinahe den Daumen verdreht, sodass Paul auch nicht mit mir spielen konnte. Aber der Platz war bezahlt und es wäre schade um das Geld gewesen.

Diesmal ging Mariannes Plan auf: Veronika und Paul hatten sich kaum aufgestellt, da drosch sie ihm auch schon bei einem ungeschickten Versuch, den Ball zu treffen, den Schläger mitten ins Gesicht. Paul blutete heftig an Augenbraue und Stirn. Marianne stellte sofort fest, dass da der Verbandskasten des Squash- Paradieses nicht mehr helfen würde; Paul musste ins Robert- Koch-Krankenhaus, und Marianne bestand darauf, dass ihn Veronika fuhr, da mochte sie noch so beteuern, dass es ja nicht Absicht gewesen sei und dass es ihr leid täte. „Du fährst ihn!“, zischte Marianne. „Kein Wort mehr, sonst sind wir geschiedene Leute!“

In der Notaufnahme dauerte es fast zwei Stunden, bis Paul genäht war. Er bekam drei Spritzen und einen Verband wie einen Turban um den Kopf gewickelt. Die diensthabende Ärztin versicherte, dass Pauls geschwollenes Gesicht bis auf eine ganz kleine Narbe wieder in Ordnung kommen würde.

„Da hat Ihr Mann noch einmal Glück gehabt!“ Sie schüttelte Veronika aufmunternd die Hand.

Veronika fiel vor Schreck keine passende Antwort ein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Paul auch noch nach Hause nach Ludwigsburg zu fahren, da war es fast schon eins. Sie brachte ihn noch nach oben, denn er war wegen der Spritzen etwas wacklig auf den Beinen. Paul schenkte ihr einen Grand Marnier ein, auf den Schreck. Sie machte ihm ein Spiegelei, etwas anderes war nicht im Haus. Sie küssten sich, das ergab sich irgendwie ganz plötzlich. Sie schliefen miteinander, gleich auf dem Sofa – sie noch in den Sportsachen, er mit dem Turban. Sie kam erst am Morgen nach Hause. Ihre Mutter hatte sich schon Sorgen gemacht, aber das war ihr jetzt auch egal.

Es sprach im Grunde nichts gegen ein kleines Abenteuer, schließlich waren Veronika und Paul erwachsen. Ohne den Turban sah Paul durchschnittlich passabel aus, er war fast eins achtzig groß, hatte noch fast alle Haare auf dem Kopf und keine im Gesicht – ein Bartträger wäre für Veronika niemals infrage gekommen. Außerdem wusste Paul, das hatte Veronika gleich am ersten Abend kontrolliert, dass es in La Bohème Mimi ist, die an Schwindsucht stirbt. Noch wichtiger war, dass Paul den Unterschied zwischen den Balearen und den Kanaren und den zwischen Adria und Riviera kannte, Mindestanforderungen für jedwede Art von Beziehung.

Dass aber Veronika über das Abenteuer hinaus tatsächlich bei Paul hängen blieb, das verwunderte die Beobachter im Heckental schon. An eine spontane Neigung der Herzen wollte jedenfalls niemand glauben. Nicht dass es hier dergleichen nie gegeben hätte – erst im Vorjahr war eine eigentlich gut verheiratete Angestellte der Stadtverwaltung mit einem Bauarbeiter aus Tunesien durchgebrannt –, aber dass die ordentliche Veronika Käfer, die mit vierunddreißig noch bei den Eltern wohnte und ihre Freizeit hauptsächlich auf einem Fahrrad im Rotwald verbrachte, ihr Herz an einen Taugenichts wie Paul verloren haben sollte, das wollte niemand glauben.

Willy Täschner, Inhaber von Elektro-Täschner, brachte es während einer Bilanzbesprechung in meiner Kanzlei auf den Punkt: „Dieser Dings jetzt … vom Käfer sein’ Mädle … der mit dem schwierigen Namen … na, Sie wissen schon, der Sürschick oder so …“

„Meinen Sie Herrn Szyrcyck?“

„Ja genau, der Sürschick. Das ist doch der von diesem Weinladen in Ludwigsburg, gell? Der wo vor zwei Jahren Pleite gemacht hat?“

Das Fachgeschäft für erlesene französische und spanische Weine war einer von mehreren erfolglosen Versuchen Pauls gewesen, sich als Existenzgründer eine Einnahmequelle zu verschaffen. Gemeinsam war diesen Versuchen, dass sie außerhalb eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses stattfanden, denn mit einer Tätigkeit „auf Lohnsteuerkarte“, wie er es abfällig nannte, hatte sich Paul nie anfreunden können. Dazu verstand er sich zu sehr als Freigeist, als jemand, dem seine Unabhängigkeit über alles ging. „Freie Sicht zum Horizont“, nannte er das.

Nach der Wein-Pleite aber war Paul, auch wenn er es nie zugegeben hätte, zu der Auffassung gekommen, dass er sich damals im Studium vielleicht doch mehr hätte anstrengen sollen. Dann hätte er längst die Zahnarztpraxis seines Vaters übernommen, müsste pro Woche höchstens zwanzig Sprechstunden abhalten und bräuchte sich nur noch wegen des Spitzensteuersatzes Sorgen zu machen. Aber er hatte sich damals eben nicht angestrengt. Seinem enttäuschten Vater war nichts anderes übrig geblieben, als seine schöne Praxis in Stuttgart-Sillenbuch mangels Nachfolger aus der Familie an wildfremde Leute zu verkaufen. Der erzielte Erlös war zwar sehr beachtlich (plus einiges Schwarzgeld), der alte Szyrcyck stellte allerdings gegenüber Paul gleich klar, dass er sich hinsichtlich der Erbschaftssteuer keine Sorgen machen müsse. „Davon siehst du keinen Pfennig!“

War es vor diesem Hintergrund so abwegig, dass sich Paul nach einer soliden Existenzgrundlage umschaute? Nach dem Halt einer Familie, nach einer Frau, die ihn nicht nur emotional stabilisierte, sondern womöglich auch solide wirtschaftliche Verhältnisse mitbrachte? Im Heckental hatte man für solche Wünsche durchaus Verständnis. Schwerer nachzuvollziehen war jedoch, was Veronika zu Paul hinzog. Ja, wenn es die Praxis in Sillenbuch noch gegeben hätte, da hätte man Veronika allen Respekt gezollt. So aber waren von der neuen Verbindung keinerlei handfesten Vorteile für sie zu erkennen, weshalb schließlich – hinter vorgehaltener Hand – das böse Wort von der Torschlusspanik die Runde machte.

Solche Mutmaßungen waren natürlich ungerecht. Veronika und Paul ergänzten sich prächtig: Veronika erhielt endlich die Gelegenheit, ihre Familienplanung doch noch zu einem guten Ende zu bringen, und für Paul war es vielleicht die letzte Gelegenheit, in geordneten Verhältnissen Fuß zu fassen. Dann aber war es wie so oft: Nach ein paar Wochen der Gewöhnung mochten sich die beiden tatsächlich.

Neunundzwanzig Wochen, nachdem sie zum ersten Mal das Sofa geteilt hatten, gab Paul sein Apartment in Ludwigsburg auf, und die beiden zogen in eine gemeinsame Wohnung in der Waldwiesenstraße. Frau Käfer war beleidigt. Erstens, weil sie nicht gefragt worden war, was das Mindeste gewesen wäre. Zweitens, weil sie erwartet hatte, dass wenigstens die eigene Tochter der grassierenden Sitte, ein ordentliches Verlöbnis durch eine wilde Ehe zu ersetzten, trotzen würde. Obendrein war der Umzug in die Waldwiesenstraße auch wirtschaftlich absolut unsinnig: „Wo sie doch hier das schöne Haus hat.“ Die neue Wohnung dagegen lag im dritten Stock und hatte nur zwei Zimmer. Außerdem war die Waldwiesenstraße keine gute Gegend.

Gottfried Käfer hatte sich unterdessen diskret nach den wirtschaftlichen Verhältnissen von Veronikas Freund erkundigt. Die Informationen, die er am Bankgeheimnis vorbei von der Sparkasse erhalten hatte, waren im Grunde niederschmetternd. Wovon lebte dieser Mensch überhaupt? Wie zahlte er seine Miete? Vermutlich musste ihm sein Vater oder vielleicht sogar seine Schwester hin und wieder was zustecken.

Aber war es nicht die Hauptsache, dass sich die jungen Leute gut verstanden? Nach dem Auszug Veronikas wartete Gottfried noch fünf Wochen, was ihm schwer fiel, denn diesmal wollte er das Glück seiner Tochter mit allen Mitteln befördern und keine Chance ungenutzt verstreichen lassen. Im Nachhinein hatte er bedauert, dass er damals nicht bei Ford-Wolf einen Scorpio bestellt hatte oder wenigstens einen Fiesta für Veronika. Und später in Lanzarote hätte er den HNOler an seinen Tisch bitten sollen – als ob man im Heckental keine HNO-Ärzte bräuchte. Andererseits wollte er das junge Glück nicht durch übergroße Beflissenheit und Einmischung stören. Er gab noch ein paar Tage zu, wartete auf eine noch bessere Gelegenheit und auf eine noch viel bessere, dann nahm er sich ein Herz und sprach ein paar ernste Worte mit seiner Tochter. „Sag mal, ich weiß ja nicht, was dein Freund beruflich so vorhat … aber es wär doch wirklich blöd, wenn ich neue Leut einstelle, während er … von allem andern mal ganz abgesehen. Also grundsätzlich mein ich, gell … ich mein, ich weiß ja nicht, ob das von Dauer ist mit euch zwei, aber also … na ja, ich will euch nicht dreinreden … aber ich sag nur … also, falls er sich zu verändern gedenkt … also beruflich, gell, also, wir bräuchten im Geschäft dringend …“

So kam Paul doch noch zu einer Lohnsteuerkarte.

Alle wurden positiv überrascht, auch Veronika, die zwar gehofft hatte, dass es gut gehen würde, es aber selbst nicht so ganz hatte glauben wollen. Auch Marianne hatte Paul bei Käfer- Reisen wenig Erfolg zugetraut; ihre Einschätzung deckte sich überraschenderweise mit der von Frau Käfer: „Zwei linke Hände und nichts als Flausen im Kopf.“

Nun aber stellte sich heraus, dass Paul im Grunde ein solider Mensch war. Sogar er selbst fand an seinen veränderten Lebensumständen durchaus Gefallen. Und die Touristik an sich war als Branche ja auch nicht so übel: Fremde Länder, Kontinente, Schiffe, Flugzeuge … das klang doch ganz interessant, sogar ein bisschen nach „freiem Horizont“. Es erinnerte Paul an seine besseren Zeiten, als er mit Rucksack und Sybille durch die Welt gezogen war, jung und sorglos, unbekümmert und ungeduscht. So schlecht hatte er es jetzt nicht getroffen, vor allem nicht als Familienmitglied in spe. Und ewig würde der alte Käfer ja auch nicht arbeiten wollen.

Was niemand gedacht hätte, Paul legte sich an seinem neuen Arbeitsplatz mächtig ins Zeug. Geschäftsideen hatte er immer schon gehabt, aber er war nie in der Lage gewesen, sie auch umzusetzen. Das war nun, da sich Gottfried Käfer um die Realisierung kümmerte, anders. Zum Beispiel das „Käfer-Reisen- Business-Center": Busreisen und Urlaubsreisen, das war gut und schön, aber das Heckental mit seinen international operierenden mittelständischen Unternehmen bot doch beste Voraussetzungen für ein weiteres Standbein. Die Manager und Techniker von Daismann, von Fabrizius und vor allem von den OPW flogen ständig zwischen Stuttgart, Ottawa, Sao Paolo, Lissabon und Singapur hin und her – und zwar nicht in der Holzklasse. Wenn beispielsweise der OPW-Vorstandsvorsitzende Doktor Genser und sein Stab unterwegs waren, konnte es auch schon mal First Class sein. Noch buchten diese Unternehmen alle Flüge selbst, es ging um Reisekosten von über einer Million im Jahr – was für ein Schatz an Provisionen da verborgen lag! „Käfer Business-Center: Ein Anruf, ein Fax und Käfer organisiert Ihre gesamte Reise! – Kostentransparenz – Buchungssicherheit – optimaler Service.“

Herrgott, dass ich da nicht selber drauf gekommen bin, dachte Gottfried Käfer und war stolz auf seine Veronika, weil die auf Paul gekommen war.

Es waren goldene Tage.

1987

Ihren Hochzeitstag hatte sich Veronika Szyrcyck, geborene Käfer, ganz anders vorgestellt. Immerhin sollte es ihr großer Tag sein, der schönste Tag ihres Lebens. Die Feierlichkeiten fanden bewusst in kleinem Rahmen statt und Veronika fragte sich hinterher, ob dieser Rahmen nicht doch zu klein gewesen war. Andererseits war die Zeit für ein großes, rauschendes Fest unter Einbeziehung der interessierten Heckentaler Öffentlichkeit einfach vorbei, auch wenn Frau Schmick und Frau Fingerhut betonten, dass Mitte dreißig für eine Frau heute kein Alter mehr sei. Wäre die Sache mit Achim Wolff anders ausgegangen, dann hätte es bestimmt eine ganz große Hochzeit gegeben, wie damals bei Claudia Pfefferle oder bei Petra Rühländer, obwohl die bloß einen Kraftfahrer geheiratet hatte. Hundert Leute hätte Vater Käfer eingeladen, vielleicht sogar zweihundert; er hätte für einen Tag Schloss Friedrichsruhe angemietet und man hätte eine Braut zu sehen bekommen, strahlend und weiß vor Glück.

Doch der steinige Weg zu diesem Glück hatte Veronika alles Romantische verleidet. Auch in dieser Hinsicht war sie sachlicher geworden und erfolgsorientierter. Deswegen blieb es bei einem hellgrauen Kostüm und einem lachsfarbenen Top, was sehr bescheiden aussah. Nur Marianne wusste, wie teuer die Sachen tatsächlich gewesen waren.

Im Anschluss an die Amtshandlung des Standesbeamten wurde das Paar auf der Rathaustreppe fotografiert (professionell erledigt durch Max Streitle vom Fotohaus Streitle, Bahnhofstraße 19), dann ging die kleine Gesellschaft zu Fuß hinüber ins Rößle. Dort servierte man nach dem Meeresfrüchte-Cocktail einen Rehbraten mit Preiselbeeren und Gnocchi, was nach Mariannes Meinung überhaupt nicht zusammenpasste. Als Nachtisch wurde eine Tarte au chocolat serviert, mir war sie zu süß und zu stopfig.

Nach Tisch kam es zur längst überfälligen Versöhnung zwischen Pauls Vater und Pauls Schwester; man hatte ihrer beiden missratenen Kinder wegen volle zwei Jahre nicht mehr miteinander gesprochen. Dann wurde die bisher flüchtige Bekanntschaft zwischen Vater Szyrcyck und Vater Käfer ausgebaut, man trank Bruderschaft und im Überschwang der verwandtschaftlichen Gefühle küsste Konrad Szyrcyck Frau Käfer auf den Mund und tätschelte ihr den Hintern. Seither hielt sie den Schwiegervater ihrer Veronika für einen Sittenstrolch.

So gut sich die Stimmung im Rößle entwickelt hatte, Veronika war entschieden der Meinung, die ganze Feier hätte sich mehr um sie drehen müssen. Als sie sich am Abend des hellgrauen Kostüms entledigte, musste sie konstatieren, dass dieser Tag keineswegs ihr schönster gewesen war. Da hatte es wirklich schönere gegeben. Zum Beispiel jener, an dem sie am Hölderlin-Gymnasium für das beste Abiturzeugnis ausgezeichnet worden war, oder, noch früher, als sie im jährlichen Krippenspiel der Erlöserkirche mit großem Erfolg den Erzengel gegeben hatte; oder jener Tag, an dem sie bei Wüstenrot zum dritten Mal als Mitarbeiterin des Monats geehrt wurde – das waren alles viel eher schönste Tage.

Doch ließ sie sich nicht vom Wesentlichen abbringen. „Ich bin schließlich keine siebzehn mehr“, sagte sie zu Marianne. Viel zu spät waren die sachlichen Voraussetzungen für eine Familienplanung geschaffen, die sie bereits mit zwanzig hatte beginnen wollen. Ebenso zuverlässig, wie sie zu Beginn ihrer Liaison mit Paul mit dem Verhüten begonnen hatte, hörte sie nun damit auf. Noch am Abend der Eheschließung drückte sie die restlichen Pillen aus der Folie ins Klo und spülte doppelt nach. Sie kam gar nicht auf die Idee, Pauls Meinung dazu einzuholen. Nicht weil sie ihn übergehen wollte, sondern weil es die pure Selbstverständlichkeit war – eine Diskussion über das Thema Nicht-jetzt-gleichsondern- wann-dann wäre allein aus Altersgründen nicht angebracht gewesen.

Deshalb wollte sie sich auch von den Umständen nicht irritieren lassen. Sicher, das mit Tschernobyl im Vorjahr, das war eine schlimme Sache, zumal sie so gerne Pilze aß. Bis dahin hatte kein Mensch was von Caesium und Becquerel gehört, und jetzt verdarb es einem den Appetit. Natürlich wäre es schön, Kinder in eine gesunde und friedliche Welt zu setzen, wer wollte das nicht? Aber Veronika war realistisch genug zu wissen, dass sie mit solchen Überlegungen in ihrer Lebensgestaltung nicht vorankommen würde. Andere gesellschaftliche Rahmenbedingungen hatten sich zu Veronikas Gunsten verschoben: Weil viele Frauen den Nachwuchs in ihre Dreißiger verschoben hatten, war „spätgebärend“ zur Normalität geworden. Jetzt brauchte sie nur noch Geduld.

1988

Veronika hatte Geduld, und sie sah auch keinen Anlass, nervös zu werden, als sich nach einem halben Jahr durchaus intensiven Bemühens kein Erfolg einstellte. Als dann zwölf Monate nach dem schönsten Tag und damit viel schneller als erwartet das erste Ehejahr zu Ende ging, erfuhr sie aus einer Broschüre, die sie verstohlen in der Ludwigsburger Bahnhofsbuchhandlung durchblätterte, dass dennoch kein Grund zur Unruhe bestand: Die Fruchtbarkeit des Menschen sei eine höchst komplizierte Sache und es grenze geradezu an ein Wunder, dass der Homo sapiens nicht längst ausgestorben sei. Staunend las Veronika von Spermien, die eine lange und gefahrvolle Reise durch eine ihnen feindlich gesonnene Gebärmutterschleimhaut zurücklegen mussten, sodass von den Millionen, die sich auf den Weg gemacht hatten, schließlich nur ein paar wenige das Ziel in …

„Woll’n Sie das Buch nun kaufen oder nicht“, schnauzte sie die Bahnhofsbuchhändlerin an.

Veronika wurde rot bis hinter die Ohren. „Ich schau mich nur um.“

„Wir sind hier kein Lesesaal.“

Immer noch rot bis hinter die Ohren, drehte sie das Büchlein auf den Rücken und kaufte es zusammen mit GEO, Brigitte und HÖRZU. In diesem Stapel würde sich die Fruchtbarkeitsbroschüre ein wenig verlieren, hoffte sie. Aber die Bahnhofsbuchhändlerin kannte keine Gnade. Laut rief sie der Kassiererin zu: „Einmal Brigitte vier auf die Drei! Einmal GEO zehnfünfzig noch mal auf die Drei! Einmal Wir machen ein Baby siebzehnneunzig auf die Sieben.“ Jetzt wusste es der ganze Ludwigsburger Bahnhof. Es hätte nur jemand aus Heckenheim beim Umsteigen an der Bahnhofsbuchhandlung vorbeilaufen müssen … Doch das Risiko hatte sich gelohnt, denn schon auf der Heimfahrt bekam Veronika eine Menge praktische Ratschläge. Etwa den, dass von allen Stellungen beim Geschlechtsverkehr die Löffelstellung für die Fortpflanzung am günstigsten sei. Außerdem wurde empfohlen, sich nach dem Verkehr ein Kissen unters Gesäß zu schieben und so etwa eine halbe Stunde ruhig zu verharren. „Denken Sie dabei am besten schon mal an Ihr Baby.“

Nach einem weiteren halben Jahr mit Löffelstellung, Kissen und Denken war Veronika erstmals beunruhigt. Ganz wie ihre Mutter, die in immer kürzeren Abständen wissen wollte: „Tut sich denn bei euch gar nichts? Ist auch alles in Ordnung?“

Für Veronika war es auch so keine einfache Zeit. Früher war sie oft am Schaufenster von „Pippi Langstrumpf“ am Mörikeplatz stehen geblieben und hatte sich im Anblick all der niedlichen kleinen Dinge verloren: Das, das und das und das würde sie dereinst auch kaufen. Die Rassel mit dem Glöckchen. Den bunten Beißring. Den winzig kleinen Skianzug. Manchmal hatte sie eigens einen Umweg über den Mörikeplatz gemacht, nur um an diesem Schaufenster vorbeigehen zu können, davor stehen zu bleiben und sich hineinzuträumen in eine kleine Welt aufgeräumten Glücks.