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Wenn das Erbe in die Wolke kommt

Digitalisierung und kulturelles Erbe

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Wenn das Erbe in die Wolke kommt

Digitalisierung und kulturelles Erbe

Herausgegeben von:
Eckhard Bolenz, Lina Franken, Dagmar Hänel

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1. Auflage November 2015

Alle Rechte der Verbreitung, einschließlich der Bearbeitung für Film, Funk, Fernsehen, CD-ROM, der Übersetzung, Fotokopie und des auszugsweisen Nachdrucks und Gebrauchs im In- und Ausland sind geschützt.

www.klartext-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Inhaltsverzeichnis

Eckhard Bolenz, Lina Franken, Dagmar Hänel

„Das Erbe in die Wolke ...“

Eine Einleitung

Gertraud Koch

Kultur digital

Tradieren und Produzieren unter neuen Vorzeichen

Ruth-E. Mohrmann

Digitalisierung und kein Ende?

Archive als Informationsspeicher und Orte des Wissenstransfers

Lina Franken, Dagmar Hänel

Wenn das Erbe in die Wolke kommt

Chancen und Herausforderungen am Beispiel des Portals Alltagskulturen im Rheinland

Holger Meyer, Christoph Schmitt

Semantische, räumliche und zeitliche Vernetzung regionalethnologischer Archive

WossiDiAs Hypergraphentechnik und ihr quellenkritischer Mehrwert für einen digitalen „Atlas der deutschen Volkskunde“

Anna Menny

Lokalität und Virtualität

Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung am Beispiel des jüdischen Erbes in Hamburg

Frank Dührkohp

Publikation, Präsentation, Partizipation

Das Landesportal Kulturerbe Niedersachsen als zentrale Dienstleistungsplattform für die Arbeit der Gedächtnisinstitutionen in Niedersachsen

Alexandra Bloch-Pfister

Europeana 1914–1918

Ein Online-Archiv von Alltagsquellen zum Ersten Weltkrieg

Christian Baisch

Qualität auf dem Weg in die Wolke

Digitalisierung und der Einsatz von Metadatenstandards am Beispiel des Portals Alltagskulturen im Rheinland

Werner Schweibenz

Museum analog, Museum digital

Die Virtualisierung des Museums und seiner Objekte

Thomas Järmann

Vom Radioarchivbestand zum klingenden Kulturerbe

Ein Arbeitsbericht aus dem Forschungsprojekt „Broadcasting Swissness“

Thomas Kollatz

epidat – Datenbank zur Jüdischen Grabsteinepigraphik

Inventarisierung und Dokumentation historischer jüdischer Friedhöfe

Lisa Landes

Die Deutsche Digitale Bibliothek

Zugang zu über 15 Millionen Schätzen aus deutschen Kulturerbe-Einrichtungen

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

„Das Erbe in die Wolke…“

Eine Einleitung

Eckhard Bolenz, Lina Franken, Dagmar Hänel

Die Digitalisierung hat die Welt verändert – dieser technischen Entwicklung wird inzwischen eine ähnliche Bedeutsamkeit für die menschliche Kultur zugeschrieben wie der Erfindung des Buchdrucks. Digitalisierung betrifft alle Bereiche des Alltagslebens; Möglichkeiten und Angebote wie Telebanking, Online-Shopping, soziale Netzwerke, Kommunikation, digitale Medien und vieles mehr haben nicht nur einen fast unüberschaubaren Markt geschaffen, sondern sind inzwischen Teil des Alltags und seiner Praktiken geworden.1

Auch der Bereich der Wissenschaft und wissenschaftlicher Institutionen wie Museen und Archiven ist mitten in einem Wandlungsprozess, der strukturelle Arbeitsweisen und Methoden ebenso berührt wie grundsätzliche Diskurse und Ordnungssysteme. Wissen werde zunehmend digital vorgehalten, vermittelt und angeeignet, so stellen es zahlreiche Wissens- und Bildungsportale im Internet dar. Beispielsweise können wir auf der Seite www.wissen.de „eine informative Wissenswelt mit einer Vielzahl an Anwendungsmöglichkeiten“2 entdecken. Das Angebot reichte bei einer Recherche Anfang September 2015 auf der Startseite dieses Online-Angebots von einem Video „Geheimnisvolles Mani“ über Artikel wie „Sommerliche Superlative“, in dem Nutzende der Website über den Weltrekord im 24-Stunden-Wasser-Rutschen informiert werden, auch die Frage, „Wieviel Taschengeld ist richtig“ wird hier behandelt. Dazwischen lassen sich Werbeinformationen über Holzparkett und eine Geldanlage von Investmentbanken anklicken oder auch der direkte Einstieg in den Online-Shop, um beispielsweise eine „LUFFT-Wetterstation“ zu erwerben.3

Dieses zugegebenermaßen etwas plakative Beispiel zeigt, dass der Wissensbegriff unterschiedlich definiert wird, für wissenschaftliche Kontexte ist gerade in Bezug auf das Digitale die Unterscheidung von Daten, Informationen und Wissen bedeutsam.4 Die Bereitstellung von Daten oder Informationseinheiten auf einer online-Plattform ist nicht gleichbedeutend mit einem Wissensportal, auch wenn populäre Medien dieses suggerieren. Welche Konsequenzen die Digitalisierung und ihre Potentiale auf wissenschaftliche Institutionen und ihre Arbeit haben, soll im Folgenden diskutiert werden.

Digitalisierung, Wissen und kulturelles Erbe

Mit dem Bild und dem dazugehörigen Titel auf dem Einband dieses Buchs sind komplexe Prozesse von Digitalisierung, Erinnerungskultur und der Professionalisierung wie Popularisierung eines gesellschaftlichen Diskurses um kulturelles Erbe in einer vielleicht in ihrer Naivität provokanten Darstellung zusammengebunden. Sie zeigt einen Ansatz, Digitalisierung als Option in der Sicherung und Vermittlung kulturellen Erbes einzusetzen, wie es momentan zahlreiche Museen und Archive tun. Diese Überlegung stand auch am Anfang unseres Projekts „Digitales Portal Alltagskulturen im Rheinland“.

Die im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte aufgebaute Sammlung zum immateriellen Kulturerbe der Region Rheinland enthält Bilder und Narrationen von Ritualen und Festen, alltäglichen Wissensbeständen und Arbeitspraktiken. Fotos, Filme und Dokumente sind über ein klassisches Karteikastensystem erschlossen, zumindest mehr oder weniger. Das Ausscheiden von langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Institut und ein damit einhergehender Wissensverlust über die vorliegenden Bestände initiierten Prozesse der Neustrukturierung zur Inwertsetzung der Sammlung, wichtigstes Element hierbei ist die Digitalisierung.

Wie können Verfahren und Potentiale digitaler Speicherung, Darstellung und Nutzung kulturellen Erbes eingesetzt werden, um die gewünschten Ziele von Sicherung und langfristiger Wissensvermittlung zu realisieren? In einem Pilotprojekt haben sich 2012 das LVR-Institut für Landeskunde, das LVR-Freilichtmuseum Lindlar und das LVR-Freilichtmuseum Kommern zusammengeschlossen, um eine Auswahl ihrer Bestände gemeinsam vernetzt zu erschließen und ein digitales Portal zur Alltagskultur zu entwickeln.5 Das Projekt wurde mit großer finanzieller Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt, so dass das Portal 2013–2015 in einer ersten Phase realisiert werden konnte.

Doch zunächst stellte sich die Frage, wie das Quellenmaterial als materielles Erbe in die Wolke, die digitale Speicherung, kommen kann um dort im nächsten Schritt sinnvoll mit seiner immateriellen Ebene verknüpft, beziehungsweise um diese erweitert zu werden. Im Folgenden wurde in diesem Projekt nicht nur Quellenmaterial fotografiert oder gescannt und in digitale Datenbanken eingepflegt, sondern es wurden auch komplexe Prozesse der Wissensgenerierung umgesetzt, Strukturierungen und Ordnungssysteme entwickelt sowie ein Fachthesaurus zur Verschlagwortung des Erbes in der Wolke erarbeitet. Aus Datenmaterial durch Ordnungsstrukturen Informationen zu generieren und über Anreicherung mit Kontextwissen und semantischer Verknüpfung Wissensbestände einer breiten Öffentlichkeit verfügbar zu machen, war und ist das Ziel des Projekts. Diskussionen des Projektteams miteinander und der Austausch mit anderen Digitalisierungsprojekten über Bezüge von Einzelbelegen zu großen gesellschaftlichen Prozessen aber auch zu Fragen nach Konsequenzen der Digitalisierung auf tradierte disziplinäre Arbeits- und Denkweisen sowie auf Diskurse zu Materialitäten und Immaterialitäten von Kultur brachten uns zu der Überlegung, diese Impulse über eine Tagung in eine größere Fachöffentlichkeit zu tragen und dort zu diskutieren. Unter dem Titel „Wenn das Erbe in die Wolke kommt. Digitalisierung und kulturelles Erbe“ fand diese als Volkskundliche Jahrestagung des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte in Kooperation mit dem Institutionenübergreifenden DFG-Projekt „Digitales Portal Alltagskulturen im Rheinland“ und der Abteilung Kulturanthropologie/Volkskunde des Instituts für Archäologie und Kulturanthropologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn vom 13. bis 14. November 2014 im Universitätsforum in Bonn statt.

Eingeladen wurden zahlreiche aktuell laufende Digitalisierungsprojekte sowie ausgewiesene Expertinnen und Experten zu unterschiedlichsten Aspekten des Digitalisierungsprozesses kulturellen Erbes. Von besonderer Bedeutung in diesem interdisziplinären Austausch war die disziplinäre Leitperspektive der Volkskunde/ Kulturanthropologie, die als „umfassende Wissenschaft vom Alltagsleben“6 immer auch die Ebene der gesellschaftlichen Aneignung und Umsetzung der eher technisch-theoretischen „Digitalisierungstopoi“ impliziert.

Die große Resonanz auf den Call for Papers und die Tagungseinladung sowie intensive und konstruktive Diskussionen während der Tagung haben uns bestärkt, die Vorträge und Projektpräsentationen zu publizieren. Auch um die Diskussion um und über die Digitalisierung kulturellen Erbes und ihre Umsetzung im Arbeitsalltag in Anbetracht ihrer Bedeutung für alle geisteswissenschaftlichen aber auch dokumentarischen Disziplinen aufrecht zu erhalten.

Vielstimmige Diskurse: Zur Struktur des Bands

Wenn auch ein disziplinärer Schwerpunkt im Bereich volkskundlich-kulturanthropologisch arbeitender Autorinnen und Autoren deutlich ist, wird doch das Thema Digitalisierung über die Fachgrenzen hinaus diskutiert. Neben Fachperspektiven sind Positionen von Museen und Archiven berücksichtigt, so dass gemeinsame Fragen, die durch Prozesse der Digitalisierung entstehen, aus unterschiedlichen Positionen heraus diskutiert werden. Die Grundstruktur orientiert sich an drei Perspektiven, die auch im Tagungsprogramm als Panels sichtbar wurden:

1. „Das Erbe ins Netz“ – Wissensmanagement in Archiven und Museen

2. „Materiell – immateriell – digital“ – Aggregatzustände der Kultur?

3. „Ein Fundus für die Wissenschaft“ – Forschen mit digitalen Quellen

Für die Publikation wurden diese Perspektiven gebündelt und in der Reihenfolge modifiziert.

Neben diesen drei Perspektivierungen bot die Tagung mit einem „Markt der Möglichkeiten“ eine (nicht nur digitale) Plattform zur Präsentation mehrerer Online-Portale. In den Pausen sowie vor und nach dem offiziellen Tagungsprogramm ergaben sich hier Gelegenheiten, Portale in ihrer Benutzung kennenzulernen und mit Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Drei dieser Portale werden am Schluss dieser Publikation präsentiert.

Ein zentraler Diskussionspunkt während der Tagung betraf Fragen der Kategorisierung von Quellenmaterial: Bisherige Unterscheidungen von materiell und immateriell oder Objektivierung und Subjektivierung verändern sich durch die Möglichkeiten digitaler Realitäten. Was macht Digitalisierung mit Institutionen, Methoden und Akteuren der Wissensgenerierung?

Gertraud Koch befragt in ihrem Beitrag zum einen Wandlungen im Prozess des Tradierens im Kontext digitaler Medien und Möglichkeiten, zum anderen die kulturelle Produktion unter dem Schlagwort digital heritage. Das Internet fungiert hier gleichzeitig als Präsentations- und Speichermedium, kann also selbst als ein riesiges Archiv betrachtet werden.

Ruth-E. Mohrmann setzt sich mit den Anforderungen an Archive, Museen und die Geisteswissenschaften durch den wirkmächtigen Digitalisierungstopos auseinander. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Wissen und Informationen plädiert sie für digital humanities mit Augenmaß und vor allem für einen Blick – gerade der Disziplin Volkskunde/Kulturanthropologie – auf die menschlichen Akteure in diesem Feld.

Auch der Beitrag von Lina Franken und Dagmar Hänel präsentiert eine Position im Diskurs um die Kategorisierung von materieller, immaterieller und digitaler Kultur, hierbei liegt der Schwerpunkt auf Fragen des Wissensmanagements in Archiven, das sie anhand des Projekts „Digitales Portal Alltagskulturen“ vorstellen und hinterfragen. Konkret diskutieren sie Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung anhand der Aspekte „Auswahlkategorien“ und „Systematisierung“ von Daten.

Christoph Schmitt und Holger Meyer wagen sich an ein für Volkskundlerinnen und Volkskundler ambivalent diskutiertes Thema: Kann und soll das Material des Atlas der deutschen Volkskunde (ADV),7 das in analoger Form unter anderem in der Abteilung Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Bonn aufbewahrt wird, digitalisiert werden? Die Autoren plädieren für diesen Schritt nach dem Vorbild des von ihnen seit mehreren Jahren realisierten digitalen Portals WossiDiA, in dem die Sammlungen des Volkskundlers Richard Wossidlo digital zugänglich gemacht werden, und fordern zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Quellenmaterial auf.

Die Judaistin Anna Menny thematisiert eine – gerade für volkskundlich-kulturanthropologische Ansätze mit ihren starken regionalen und lokalen Bezügen – zentrale Frage: Was passiert mit solchen lokalen/regionalen Ansätzen, wenn das Material durch Digitalisierung jede Lokalität verliert? Am Beispiel des jüdischen Kulturerbes in Hamburg stellt sie verschiedene Digitalisierungsprojekte vor und erläutert die Veränderung von Erinnerungskulturen durch ihre Virtualisierung.

Frank Dürkohp präsentiert mit dem digitalen Landesportal „Kulturerbe Niedersachsen“ ein umfassendes Angebot der digitalen Recherche und Forschung, das direkten Zugriff auf Bestände zahlreicher niedersächsicher Museen, Archive und Bibliotheken ermöglicht und erläutert so exemplarisch Kontexte, Umsetzungsmöglichkeiten und Perspektiven der Digitalisierung kulturellen Erbes.

Alexandra Bloch-Pfister betrachtet das vielbeachtete Projekt Europeana 1914– 1918 als europäisches Projekt der Digitalisierung kollektiver Erinnerungskulturen zum Ersten Weltkrieg und diskutiert Vorgehensweise, Konzept und Ertrag anhand von Crowd-Sourcing als Methode der Quellenerhebung. Auch sie plädiert für eine stärkere Forschungsarbeit mit den nun digital vorliegenden Quellen.

Christian Baisch erläutert am Beispiel eben des Projekts „Digitales Portal Alltagskulturen im Rheinland“ für die Digitalisierung kulturellen Erbes unumgängliche, zentrale Metadatenstandards und die gerade bei heterogenem Quellenmaterial große Herausforderung der Qualitätssicherung. Er betont, dass die Übersetzungsleistungen von sammlungsbezogenen in standardisierte Erschließungskriterien den Mehraufwand insofern rechtfertig, als nur darüber eine Wiederauffindbarkeit der Daten gewährleistet ist.

Werner Schweibenz stellt in seinem Beitrag zum Abschluss des Bands noch einmal grundsätzliche Fragen nach Original und Digitalisat und nach der Kategorisierung von Quellen. Er versteht analoges und digitales Museumsexponat nicht als Gegensätze, sondern als Kontinuum, erläutert seinen Ansatz anhand von Beispielen und plädiert für einen im Zuge der Digitalisierung immer notwendiger werdenden, ergänzenden Begriff zu den gängigen Begriffen „Artefakt“, „Naturafakt“ und „Mentefakt“. Er schlägt hierfür das „Digitalifakt“ zur Benennung digitalisierter Objekte vor.

Drei Projektpräsentationen beschließen den Tagungsband: Thomas Järmann berichtet über das Forschungsprojekt „Broadcasting Swissness“, das am Züricher Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft durchgeführt wird. Thomas Kollatz erläutert eine Datenbank zu jüdischer Grabsteinepigraphik „Epidat“ und Lisa Landes stellt das wohl zur Zeit prominenteste Projekt in Deutschland im Kontext der Digitalisierung kulturellen Erbes vor: Die „Deutsche Digitale Bibliothek“, die nicht nur als Schnittstelle zu internationalen Portalen wie der Europeana fungiert, sondern einen umfangreichen Bestand an Digitalisaten unterschiedlicher Kultureinrichtungen für Forschung sowie museale Vernetzungen zur Verfügung stellt.

Fazit

Was kann als Ergebnis von Tagung und Publikation gesehen werden? Das Themenfeld der Digitalisierung kulturellen Erbes ist sicherlich keinesfalls abschließend behandelt, im Gegenteil: Wir hoffen, einen diskursiven Austausch der zahlreichen Akteure in den laufenden Prozessen dieses Felds angeregt zu haben, die Publikation wird hoffentlich zur Verstetigung dieses Austauschs beitragen.

Tagung und die Beiträge dieser Publikation verweisen auf offene Diskursfelder, zu denen wissenschaftliche Institutionen, die sich im Prozess der Digitalisierung kulturellen Erbes engagieren, Stellung nehmen sollten.

1. Wir brauchen einen inter- und transdisziplinären offenen Diskurs um Datenund Erschließungsstandards. Die Potentiale der Vernetzung brauchen Standardisierungen, wobei Standards nicht automatisch inhaltliche Qualität bedeuten.

2. Mit der Digitalisierung kulturellen Erbes entsteht eine neue Qualität von Quellenmaterial. Hier bedarf es gemeinsamer Überlegungen zur Kategorisierung und zum methodischen Umgang.

3. Digitalisierung braucht kritische Reflexion über ihren Sinn und Zweck, über Angemessenheit und Repräsentanz. Auch Fragen nach Rechten jenseits des Urheberrechts müssen beleuchtet und mit klarer Positionierung beantwortet werden.

4. Die Digitalisierung kulturellen Erbes und die öffentliche freie Verfügbarkeit von Quellen und Wissen brauchen Vereinbarungen. Die Herausforderungen und die großen Chancen dieses Wandels sollten bewusst und transparent gestaltet werden.

Neben der Digitalisierung von kulturellem Erbe bleibt das Forschen mit digital verfügbaren Quellen eine Herausforderung, der sich das Fach Kulturanthropologie/ Volkskunde ebenso wie seine Nachbardisziplinen der Geistes- und Kulturwissenschaften aber auch der dokumentarischen Disziplinen in den kommenden Jahren stellen sollten.

Zum Abschluss möchten wir allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge danken, die sicherlich im Zuge der gerade erst begonnenen Digitalisierung von kulturellem Erbe dem einen oder anderen als Denkanstoß oder Hilfestellung dienen konnten und weiterhin dienen werden.

Ein großer Dank geht zudem an Corinna Schirmer, die mit großer Umsicht die Texte redigiert und an die Druckformalia angepasst hat. Wir bedanken uns ebenfalls beim gesamten Team des Klartext Verlags für die professionelle und gute Betreuung.

1 Vgl. beispielsweise Süddeutsche Zeitung (Hg.): „Digitales Morgen“. http://www.sueddeutsche.de/thema/Digitales_Morgen. Zuletzt abgerufen am 11.09.2015.

2 Vgl. Konradien Medien GmbH (Hg.): Wissen.de. http://www.wissen.de/. Zuletzt abgerufen am 11.09.2015.

3 Ebd.

4 Vgl. dazu u.a. die historischen Perspektiven in Burke, Peter: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001; Vgl. auch Dülmen, Richard van; Rauschenbach, Sina (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004. Vgl. zum Begriff auch Koch, Gertraud: Die Neuerfindung als Wissensgesellschaft. Inklusionen und Exklusionen eines kollektiven Selbstbildes, in: Hengartner, Thomas; Moser, Johannes (Hg.): Grenzen & Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen. 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Dresden 2005 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Band 17). Leipzig 2006, S. 545–559; Barth, Fredrik: An Anthropology of Knowledge, in: Current Anthropology 43 (2002), S. 1–18; Winterberg, Lars: Ernährung und Wissen. Theoretische Annäherungen an eine Ethik des Essens und Trinkens, in: Hirschfelder, Gunther; Ploeger, Angelika; Rückert-John, Jana; Schönberger, Gesa (Hg.): Was der Mensch essen darf. Ökonmischer Zwang, ökologisches Gewissen und globale Konflikte. Wiesbaden 2015, S. 19–33.

5 Vgl. Bauer, Katrin; Hänel, Dagmar: Digitales Portal Alltagskulturen (PortAll). Kultureller Wandel im ländlichen Raum 1900–2000. Projekt zur Digitalisierung und Erschließung volkskundlicher Sammlungsbestände im Rheinland, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 58 (2013), S. 253–256.

6 Gyr, Ueli: Kulturale Alltäglichkeit in gesellschaftlichen Mikrobereichen. Standpunkt und Elemente zur Konsensdebatte, in: Ders.: Schnittstelle Alltag. Studien zur lebensweltlichen Kulturforschung. Münster 2013, S. 125–141, hier S. 127.

7 Der Atlas der Deutschen Volkskunde ist ein Großprojekt des Faches, das zwischen 1928 und 1984 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft bzw. ihrer Vorgängerorganisation gefördert wurde. Von 1930 bis 1935 wurden insgesamt fünf umfangreiche Fragebögen im gesamten deutschsprachigen Raum versandt, um mit Ansätzen der Kulturraumforschung, methodisch auf einem Gewährsmannprinzip in Belegorten aufbauend, Kulturprägungen im Raum zu kartieren. Vgl. dazu Gansohr-Meinel, Heidi: „Fragen an das Volk“ Der Atlas der deutschen Volkskunde 1928–1945. Ein Beitrag zur Geschichte einer Institution. Würzburg 1993; Grober-Glück, Gerda: Zum Abschluß des Atlas der deutschen Volkskunde – Neue Folge. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, in: Bringéus, Nils-Arvid u.a. (Hg.): Wandel der Volkskultur in Europa. Band 1. Münster 1988, S 53–70; Schmoll, Friedemann: Die Vermessung der Kultur. Der „Atlas der deutschen Volkskunde“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1928–1980. Stuttgart 2009.

Kultur digital

Tradieren und Produzieren unter neuen Vorzeichen

Gertraud Koch

Einleitung

Digitale Technologien haben in einem kulturgeschichtlich relativ kurzen Zeitraum von circa einem halben Jahrhundert Niederschlag in allen Lebensbereichen gefunden und diese schon jetzt erheblich verändert, wobei die Entwicklungen alles andere als abgeschlossen sind. Die damit verbundenen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen werden häufig als epochal empfunden. Denn immer wenn neue Medien aufkommen, ändern sich damit auch die Mittel, mit denen Kultur produziert und überliefert werden kann. Im historischen Rückblick stellt sich das sehr plausibel dar, wenn wir auf bahnbrechende neue Technologien wie Buchdruck, Telegrafie, Fotografie und Film, Radio und Fernsehen zurückblicken – um hier nur einige zu nennen. Das Repertoire an Möglichkeiten, Kultur auszudrücken und neu zu schaffen ist mit den Medienentwicklungen stetig erweitert worden. Folgt man Kaspar Maases kulturhistorischer Untersuchung zur Entwicklung der Massenkünste1 so hat unsere Beschäftigung mit künstlerischen und kulturellen Ausdrucksformen einen Anteil in unserem Lebensalltag wie nie zuvor. Die Voraussetzung für diese Verbreitung populärer Künste ist erst mit der medialen Entwicklung entstanden.2

Wenn neue Medien sich verbreitet haben, so wie das heute mit der Digitalisierung der Fall ist, haben sich auch die „alten Medien“ verändert, weil sich das Gefüge an Vermittlungsformen immer wieder neu ordnen musste. Das was wir heute an Umwälzungen auf dem Buch-, dem Zeitungs- beziehungsweise Zeitschriftenmarkt erleben, was wir an Veränderungen im Bereich der Fotografie- und Filmkunst und nicht zuletzt auch in den Archiven und Museen erleben, stellt sich in medienhistorischer Perspektive als ein üblicher, vielfach durchlebter Prozess der Reorganisation dar. „Alte“ Medien und die damit verbundenen kulturellen Vermittlungsmöglichkeiten erfahren im Lichte der anderen medialen Möglichkeiten eine Neubewertung. Ihre spezifischen Qualitäten müssen sich neu und als immer noch relevant bewähren. Die Medienwissenschaftler Boulter und Grusin haben diese als „Remediation“3 bezeichnet. Dies löst einen homologen Prozess für die Kultur beziehungsweise das kulturelle Produzieren aus. Mit dem veränderten Repertoire an Ausdrucks-, Speicher- und Kommunikationsmöglichkeiten können und müssen sich auch kulturelle Ausdrucksformen neu erfinden und in dieses erweiterte Repertoire an Vermittlungsmöglichkeiten hinein übersetzen. Das Archiv und das Museum, beides Orte der Aufbewahrung und Vermittlung von kulturellem Wissen, sind in diesem Sinne hervorragende Anschauungsbeispiele dafür, wie sich mit der Digitalisierung die Bedingungen des Tradierens, Vermittelns und auch kulturellen Produzierens verändern. Das wissen wir nicht erst seit heute, das ist ein Prozess der schon seit längerem sichtbar ist, der inzwischen aber immer präziser auch in seinen Herausforderungen und Aufgaben beschreibbar wird.

Die folgenden Betrachtungen dieser Veränderungsprozesse gliedern sich in zwei Teile. Im ersten Teil werde ich mich auf das Tradieren konzentrieren, so wie es sich im Zeichen der Digitalisierung als Aufgabe in Archiven und Sammlungen stellt.4 Kulturelle Objektivationen, die ursprünglich analog entstanden sind, Filme auf Celluloid, Musik auf Tonbändern, Fotos, Dias, Schriftstücke und anderes. werden in vielen Projekten und mit enormem Ressourceneinsatz zu Digitalisaten, damit „das Erbe in die Wolke“ geholt werden kann, hier über digitale Medien weiter zugänglich bleibt oder teils auch erst wird. Dieses Versprechen der verbesserten Verfügbar- und Zugänglichkeit ist sehr zugkräftig, aber mit vielen Herausforderungen verbunden. Nur in dem Maße, wie man sich auf die Logik des Digitalen auch einlässt, wird die schöne Vision von den Archiven als kulturellem Gedächtnis und als Speicher von Wissen auch wahr werden können.5 An diesen Ideen des kulturellen Gedächtnisses und des Speichers von Wissen möchte ich festhalten, zumindest als Leitvisionen, auch wenn die Position des Hamburger Historikers Markus Friedrich sicher zutrifft, dass Archive primär Speicher von Informationen sind, aus denen dann Wissen erzeugt werden kann.6 Gibt man die Idee, des Wissensspeichers aber gänzlich auf, dann ist man schnell bei der Schattenseite der Archive als wenig genutzte Informationshalden. Eine Gefahr, die sehr real ist wenn, wie dies vielfach erfolgt, eine vollständige und umfassende Erfassung aller Bestände angestrebt wird und die Umsetzung dann primär unter pragmatischen Gesichtspunkten geschieht. Diese richtet sich an aktuell erreichbaren Ressourcen und weniger an konzeptuellen Überlegungen aus und fragt nicht mehr, welche inhaltlich-konzeptuellen Priorisierungen sinnvoll sind und wie die heute festgelegten Strukturen digitaler Archive und Sammlungen dann noch für zukünftige Erkenntnisinteressen und Wissensabsichten offen sein können.7

Im zweiten Teil wird dann das kulturelle Produzieren thematisiert, wie es sich in der digitalen Welt darstellt, also die Bereiche, die mit den Schlagworten „Heritage 2.0“ oder auch „born digital“ bezeichnet werden können.8 Begriffe, die immer häufiger zu hören sind, ohne dass sie dann entsprechend auch ausbuchstabiert werden. Hier wird der Beitrag etwas in die Zukunft schauen, nicht sehr weit und nicht mit dem Ziel große Entwürfe zu skizzieren, aber doch so weit wie sich aktuell schon Entwicklungen abzeichnen und Fragen aufwerfen. Denn wie eingangs festgestellt, haben sich mit „dem Digitalen“ auch die Möglichkeiten des kulturellen Produzierens verändert. Alltagsdinge und gegenwärtige kulturelle Artikulationen sind heute vielfach bereits „born digital“ und haben damit auch neue Merkmale und Qualitäten. Sie haben dann beispielsweise ein sogenanntes „interface“, also eine Oberfläche mit der die digitalen Objekte bedient werden können.9 Die Institutionen und Wissenschaften, die sich mit Kultur im weitesten Sinne befassen werden somit nicht umhin kommen, sich mit neuen Entwicklungen im Digitalen auseinanderzusetzen, wollen sie die Veränderungen des kulturellen Produzierens auch angemessen in ihrer Arbeit aufgreifen. In die Zukunft gedacht werden diese Veränderungen nicht ohne Konsequenzen für das Sammeln, Archivieren und Tradieren bleiben, denn kulturelle Ausdrucksformen und Kultur insgesamt verändern sich mit diesen neuen Medien, wie wir aktuell an den Beiträgen in den sozialen Medien beobachten können.

Tradieren

Wenn hier von Tradieren die Rede ist, so geht es um die allgemeine kulturelle Praxis, welche in Archiven und Sammlungen spezifische Formen findet, die häufig die gerade nicht mehr aktuell praktizierten Ausdrucksformen, Artefakte, Texte, Ton-, Bild- und Filmaufzeichnungen beinhalten und damit einen Teil eines kulturellen Gedächtnisses darstellen. Solange die kulturellen Traditionen noch lebendig sind, sind sie selbstverständlich und zwangsläufig über viele Medien verteilt und werden durch diese vermittelt. Sie werden auf vielen „Kanälen“ verbreitet und praktiziert, wobei gerade auch nicht-technische, direkte, angesichtige und performative Medienformen eine wichtige Rolle spielen, die dann später wiederum entsprechend schwieriger in die Archive und Sammlungen zu bringen sind. Performative Aspekte des Wissens lassen sich vergleichsweise schlechter bewahren und vermitteln, weil sie an Erfahrung und Körper gebunden sind.10

Das kulturelle Gedächtnis hängt zentral von den zur Verfügung stehenden Speichermedien ab, es hat gegenwärtig in den westlichen Gesellschaften einen enormen Umfang angenommen. Wer nun hofft, dass mit der Digitalität die Kapazitäten des Archivierens und Sammelns unbegrenzt geworden sind, wird sich allerdings enttäuscht sehen, denn auch hier gibt es Grenzen in der Speicherkapazität. Es wird insofern notwendig sein auszuwählen, was bewahrt werden soll und das bedeutet im Kontext von Archiven und Sammlungen zugleich, die Idee eines Wissensspeichers nicht gänzlich aufgeben zu können, um nicht mit Datensilos zu enden. Im Sinne eines kulturellen Gedächtnisses wird es also immer wieder neu darum gehen, die lagernden und über bestimmte Zeiträume unbeachteten Wissensschätze zu heben und in neuem Lichte zu betrachten, vielleicht auch nutzbar zu machen. Insofern ist hier von besonderem Interesse, wie wir das, was wir in Archiven und Sammlungen gesammelt haben, nun doch ein Stück weit als Wissensspeicher konzipieren können. Das ergibt sich nicht automatisch und bringt auch die Schwierigkeit mit sich, dass wir die Fragen und Perspektiven der Zukunft noch nicht kennen.

Die Überlegungen in diesem Bereich zum Tradieren sind ganz wesentlich aus einem fruchtbaren Arbeitskontext an der Universität Hamburg im Bereich der Digital Humanities, digitale Geisteswissenschaften hervorgegangen. Es wird hierbei auch von „enhanced humanities“, eHumanities, also erweiterten, angereicherten Geisteswissenschaften gesprochen. Es ist wichtig, dass sich gerade die Geisteswissenschaften kritisch aber auch produktiv mit dem auseinandersetzen, was mit den neuen Technologien in das Alltagsleben und die Gesellschaft hineinweht.

Dies geht häufig am besten dadurch, dass man es auch für die eigene Arbeit erprobt, wozu es bereits vielfältige und ertragreiche Anknüpfungspunkte gibt.11 An der Universität Hamburg arbeitet eine Vielzahl an Kolleginnen und Kollegen aus einem breiten Spektrum an geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit Ansätzen digitaler Geisteswissenschaften: Geschichts- und Sprachwissenschaften, die historische und systematische Musikwissenschaft, die Kulturanthropologie oder auch Computerlinguistik arbeiten explizit mit der Informatik zusammen, um digitale Technologien für geisteswissenschaftliche Fragestellungen und hermeneutische Arbeitsweisen zu erschließen. Hier läuft zu Forschungszwecken eine Vielzahl an Digitalisierungsprojekten, so dass sich ganz ähnliche Fragen wie auch bei Archiven und Sammlungen stellen. Es werden beispielsweise Datenbanken zu bestimmten Themen erstellt, also Infrastrukturen für die Datenhaltung, -verwaltung und -auswertung geschaffen12 oder Annotationswerkzeuge für die analytische Arbeit an Texten in der Sprachwissenschaft oder von Audio und Video entwickelt13, teils um Teil- oder Vollautomatisierungen für analytische Zugänge nutzbar zu machen. Auch die Erstellung von Digitalisaten ist in einigen Projekten ein wichtiger Aspekt. Im Frühjahr 2014 haben wir die Erfahrungen dieser Projekte ausgewertet, die teilweise schon seit langen Jahren betrieben werden. Die Linguistik hat sich die Arbeitsweisen bereits in den frühen 1980er Jahren zu Eigen gemacht, so dass die Kulturanthropologie/Volkskunde hier keineswegs zu früh einem nicht recht absehbaren Trend aufsitzt. Ein Schlüsselthema für die nachhaltige Verwendbarkeit von Daten ist das Thema Annotation, das zugleich eine zentrale hermeneutische Arbeitsweise und damit ein Kerngebiet jeglichen geisteswissenschaftlichen Forschens ist. Geisteswissenschaftliche Forschungen und Kernthemen im Bereich des Archivierens treffen sich hier entsprechend. Mit Blick auf die digitalen Technologien stellt sich somit die Frage, wie sich die hermeneutisch-analytische Arbeit in digitalisierten Umgebungen/Archiven erleichtern und verbessern lässt. Auch welche Instrumente die Informatik bereitstellen kann, damit wir von den Datenhalden weg und dem Gedanken des Wissensspeichers etwas näher kommen.

Annotation ist eine, beziehungsweise die grundlegende geisteswissenschaftliche Arbeitstechnik zur wissenschaftlichen Erschließung von Objekten und Sachverhalten.14 Ganz allgemein bedeutet Annotation den Vorgang und damit die praktische Umsetzung, beschreibende und interpretierende Information zum Objekt hinzuzufügen. Dies spielt somit in der Tradierung und Überlieferung von kulturellem Wissen eine zentrale Rolle. Dinge, Texte und so weiter, die wir nur mit vagen Hinweisen oder ganz ohne solche beschreibenden und interpretierenden Informationen vorfinden, funktionieren nur bedingt als epistemische Objekte, an denen wir Wissen über vergangene Zeiten gewinnen und für die Gegenwart nutzbar machen können. Man kann dieses Hinzufügen von Wissen zu einer kulturellen Objektivation durch Annotation in verschiedene Aspekte differenzieren. Je mehr dieser verschiedenen Aspekte umfassend dokumentiert werden können, umso eher wird dann das Archiv auch zu einem Wissensspeicher,15 aus dem der „Schatz“ an Informationen wieder gehoben, also in sinnbegabte Analysen oder handlungsrelevantes Wissen umgewandelt werden kann. Denn es hängt in der Tat von den Kontextinformationen ab, inwieweit alte Wissensbestände immer wieder neu erschlossen und in gegenwärtige Verweisungszusammenhänge gestellt werden können.16

Annotationsformen und die Bedeutung flexiblen Annotierens für digitale Archive und Sammlungen17

In der Theorie werden eine Reihe an Annotationsformen unterschieden, welche im Kontext der Digitalisierung von Archiven und Sammlungen jeweils wünschens- und bedenkenswert sind, um möglichst dichte Informationen zu den jeweiligen Digitalisaten zu erhalten:

Die kategoriegeleitete Verschlagwortung: Ablegen und Wiederfinden von Digitalisaten im Sinne eines vordefinierten Suchraums, so wie er durch Thesauri für Bibliotheken festgelegt wird.

Die Objektdeklaration über Metadaten: Datierungen, Fundstelle, Autor und Urheber und so weiter.

Die taxonomie- oder ontologiegeleitete Objektannotation: sie ermöglichen das Einordnen in eine wissenschaftliche Systematik, in die Sachgebiete im Sinne einer beschreibenden Darstellung der Objektmerkmale und ihrer Spezifika.

Die Objektalignierung mit unabhängigen empirischen Daten, etwa Interviews oder Fotos, die Auskunft über die Verwendung der Objekte geben und damit wichtige Informationen zu deren Kontext ergänzen.

Die Alignierung von Parallelobjekten, welche über Verlinkungen in Form von Verweisung auf andere Varianten eines Objektes oder auch auf Übersetzungen eines Textes in verschiedene Sprachen verweist.

Freie Kommentare und Memos, also Notizen, für die es keine festgelegten Kategorien gibt und die somit Raum für Anmerkungen, Überlegungen und weiterführende Hinweise geben.

Das ist in der Zusammenstellung sehr nachvollziehbar und wichtig, ist aber in der Tat idealtypisch und in der Komplexität eine hohe Anforderung, welche bei der Digitalisierung von Archiven und Sammlungen selbst in „Kärrnerarbeit“ nur für einen begrenzten Umfang der Objekte geleistet werden kann. Es stellen sich zudem eine Reihe praktischer, informationstechnischer Probleme, die allerdings auch wiederum für die zukünftige Verwendbarkeit der abgelegten Informationen entscheidend sind – ganz abgesehen von der Zeitintensität eines solchen Vorgehens. Hier ist, das erschließt sich unmittelbar, eine Auswahl notwendig, was überhaupt mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen digitalisiert werden kann.

Die Zusammenschau dieser verschiedenen Annotationsformen verweist auf eine zentrale Problematik der aktuell stattfindenden Digitalisierungen. Die angefertigten Digitalisate werden in Dateninfrastrukturen eingebettet, die wie alle Infrastrukturen sehr klare materielle Setzungen bedeuten. Sie geben vor, was später mit den Daten gemacht werden kann und was aber auch nicht mehr gemacht werden kann.18 Ob die Entscheidungen für bestimmte Infrastrukturmerkmale sich bewähren, zeigt sich erst in einer Langzeitperspektive. Angesichts der Ressourcenintensität, die ihre Erstellung beansprucht, ist nur zu hoffen, dass eine nachhaltige Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Daten tatsächlich gegeben sein wird. In der Regel sind aber eher pragmatische Überlegungen als konzeptuell ausgefeilte Ansätze für eine zukunftsoffene Tradierung von Wissensbeständen leitend: Was gibt es schon? Wo fallen Daten an, die sich leicht integrieren lassen? Wie kann das Archiv pragmatisch, ohne viele zusätzliche Ressourcen, weiter wachsen? Das ist pragmatisch und nachvollziehbar. Inwieweit damit die Idee des Informationsspeichers, der potenziell zum Wissensspeicher wird, aufgeht, ist eher skeptisch einzuschätzen. Damit die Digitalisate im Sinn eines Wissensspeichers funktionieren können, müssen sie einen Zugang ermöglichen, der immer wieder auf das Neue veränderte Fragestellungen, Themen und Betrachtungsweisen zulässt. Es ist notwendig, immer wieder andere Blicke auf die Digitalisate werfen zu können – also neue Annotationen hinzuzufügen, andere Verbindungen herzustellen, Kategorien zu ergänzen und andere Formen der hermeneutischen Hinzufügungen vornehmen zu können. Als epistemische Objekte, also Gegenstände der Erkenntnisproduktion, müssen Digitalisate immer wieder in neue Verweisungszusammenhänge gestellt werden und analytische Perspektiven an ihnen erprobt und durchdacht werden können.

Mit diesen Ansprüchen eines Wissensspeichers entstehen Anforderungen, die bei der Entwicklung digitaler Infrastrukturen, im Hinblick auf die Möglichkeiten des Annotierens, konzeptuell von Bedeutung sind. Diese sind im Einzelnen

a. Die Pluralität von Annotationen