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Treffpunkt Muschelkiste und ein Pferd in Not

Der Traum vom Pferdeinternat

Tami ritt mit Filou unter dem lauten Applaus der Zuschauer in die Bahn ein, hielt kurz vor dem Richtertisch an und grüßte. Dann ließ sie ein letztes Mal den Blick über den Parcours gleiten. Die Hindernisse bestanden aus vier hintereinander aufgebauten Cavalettis, einer kleinen Mauer aus Strohballen, zwei Oxern und einer kleinen Hecke, hinter der sich ein Wassergraben befand. Bis auf das letzte Hindernis dürfte die Strecke ein Kinderspiel für sie und ihr Pony werden. Bei der Hecke kam es darauf an, das optimale Tempo zu erreichen und im richtigen Moment abzuspringen, um nicht im Wasser zu landen. Hoffentlich verweigerte Filou den Sprung nicht wie bereits einige Pferde vor ihm. Denn dann würden sie vielleicht ausscheiden, und das war so ziemlich das Schlimmste, was Tami sich vorstellen konnte.

„Als nächster Reiter startet Tamina Claasen auf Filou mit der Startnummer acht“, hörte sie die Stimme des Turniersprechers über den Platz schallen und eine Sekunde später ertönte auch schon das Startsignal.

Tami hatte keine Zeit, sich weitere Gedanken über mögliche Katastrophen zu machen. Sie galoppierte los und hielt vor Aufregung den Atem an, als sie mit Filou über das erste Hindernis flog. Sie fühlte, wie sich ihre Konzentration auf das Tier übertrug. Sie musste ihm nur den Weg mit den Schenkeln weisen und ihm vertrauen. Filou trug sie auch sicher über das zweite und dritte Hindernis, als wäre das für ihn die leichteste Übung. Tami spürte den Wind in ihrem Haar, und kurz bevor sie die Hecke mit dem Wassergraben erreichten, kniff sie die Augen zusammen … geschafft!

Als sie mit Filou durch das Ziel ritt, setzte donnernder Applaus ein und dann …

„Hey! Vorsicht!“, riss eine Männerstimme Tami aus ihren Tagträumen.

Sie saß nämlich weder im Sattel auf dem Rücken eines Pferdes noch befand sie sich als Teilnehmerin auf einem Springturnier. In Wirklichkeit raste sie gerade mit einem Höllentempo die Tidelunder Sandbank entlang und schaffte es im letzten Augenblick, ihren Segelwagen zur Seite zu lenken und einer frontalen Kollision mit einem anderen Strandsegler zu entgehen.

Tami fuhr eine scharfe Kurve und drosselte die Geschwindigkeit, bis ihr dreirädriges Gefährt zum Stillstand kam. Dann nahm sie ihre Sonnenbrille und den Helm ab und lief mit klopfendem Herzen zu dem Mann hinüber, der ebenfalls angehalten hatte.

„Bist du lebensmüde oder einfach nur total irre?“, rief er aufgebracht und sprang aus dem Wagen. Er war ungefähr so alt wie Tamis Vater und stand noch sichtlich unter Schock.

„Entschuldigung. Das wollte ich nicht.“

„Wo warst du nur mit deinen Gedanken, Mädchen? Du bist mir ja wie ein Geisterfahrer entgegengeschossen.“

Die ganze Wahrheit zu erzählen – dass sie davon geträumt hatte, mit Filou ein Springturnier zu gewinnen –, schied definitiv aus. „Ich weiß auch nicht, wie mir das passieren konnte. Ich habe … Sie irgendwie nicht gesehen. Es tut mir wirklich leid!“ Tami schaute zerknirscht auf ihre Schuhspitzen.

„Hm.“ Der Mann sah sie prüfend an. „Seit wann segelst du?“

„Seitdem ich acht bin. Ich kenne den Strand wie meine Westentasche.“

Der Mann legte seine Stirn in Falten. „Ach, du kommst von hier? Bist also keine Touristin?“, fragte er überrascht.

„Nein. Ich bin in Tidelund geboren.“

„So ist das also.“ Der Mann kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. „Na gut. Dann will ich dieses Mal ein Auge zudrücken. Aber nur unter der Bedingung, dass du mir versprichst, zukünftig besser aufzupassen.“

„Das verspreche ich. Ehrenwort!“, sagte Tami schuldbewusst und nickte bekräftigend.

Der Mann setzte erst seinen Helm und dann die verspiegelte Sonnenbrille auf, bevor er wieder im Segelwagen Platz nahm, kurz zum Abschied grüßte und dann davonbrauste.

Puh, das war wirklich knapp gewesen! Tami atmete erleichtert auf und fuhr im nächsten Moment herum, als hinter ihr jemand zu klatschen begann.

Vor ihr stand ein Junge, der applaudierte und sie dabei schief angrinste. Sein von der Sonne ausgeblichenes Haar stand wild in alle Himmelsrichtungen ab und seine blauen Augen funkelten abenteuerlustig. Neben ihm im Sand lag ein Surfbrett mit einem bunten Segel. „Alle Achtung!“, meinte er anerkennend und zog die Augenbrauen hoch.

„Wie bitte?“, fragte Tami verwirrt und starrte ihn an, als wäre er eins der sieben Weltwunder.

„Dein Fahrstil gefällt mir. Du bist echt mutig. Falls du es mal mit Surfen probieren willst, komm in der Surfschule vorbei und frag nach mir.“ Ohne ein weiteres Wort hob er das Board hoch, um es Richtung Meer zu tragen.

„Und wie heißt du?“, rief Tami ihm hinterher.

Er schaute über die Schulter zurück. „Frag einfach nach Marlon.“ Dann zwinkerte er ihr zu und setzte seinen Weg zum Wasser fort.

Tami blickte ihm so lange nach, bis er die Brandung erreicht hatte und sich geübt auf das Board schwang. Marlon? Hieß so nicht der Sohn von Sturms, denen das Hotel Fährhaus in Tidelund gehörte? Ging er nicht auch, wie Marit, aufs Nordlicht? Bei dem Gedanken an Marit fiel ihr siedend heiß ein, dass sie ja gleich mit ihr verabredet war, um die Pferde von der Koppel zu holen. Und vorher musste sie noch den Strandsegelwagen zurückgeben.

Wenig später schwang sich Tami auf ihren Drahtesel, den sie an einem Pfahlbau am Strand angekettet hatte, und fuhr auf dem Deich entlang bis zu dem vereinbarten Treffpunkt an der Pferdekoppel. Währenddessen musste sie immer wieder an Marlon denken. Wie cool er reagiert hatte. Ganz anders als die Jungs in ihrer Klasse. Die hätten sie vermutlich verpetzt, weil sie beinahe jemanden über den Haufen gefahren hatte. Marlon dagegen war ihr mutiger Fahrstil aufgefallen. Zugegeben, ihre Aktion war eher leichtsinnig als mutig gewesen und um ein Haar wäre es schiefgegangen, doch das musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden.

Tami stieg ab, als sie das Gatter erreichte, und lehnte ihr Fahrrad gegen eine Bank, die in der Nähe stand. Dann schaute sie sich um. Auf der Koppel standen sieben Pferde. Eins davon war Zafira, Tamis Lieblingsstute, die in wenigen Wochen Mutter werden würde und mittlerweile einen kugelrunden Bauch mit sich herumtrug. Von Marit war allerdings weit und breit noch nichts zu sehen.

Tami ließ sich auf die Holzbank sinken und beobachtete ein paar Schafe, die auf dem Deich grasten. Dann ließ sie ihren Blick einige Meter weiter schweifen, zu einem kleinen Skatepark, der zum Nordlicht-Gelände gehörte. Das Nordlicht war ein Internat, dessen Schule aber auch Kinder besuchen konnten, die bei ihren Familien in Tidelund wohnten. Neben dem Schulgebäude und Wohntrakt gehörten zum Internatsgelände noch verschiedene Sportplätze, eine Turnhalle sowie eine große Reitanlage.

Tami seufzte. Wie gerne wäre sie Schülerin am Nordlicht. Dort stand nämlich das Fach Reiten auf dem Stundenplan! Es gab sogar eine Reitklasse, die von Marits Mutter, Frau Kellinghaus, unterrichtet wurde. Marits Eltern gehörte nämlich die Reitschule gleich neben dem Internat, wo der Reitunterricht für die Nordlicht-Schüler stattfand. Doch Tamis Eltern waren von ihrem Wunsch, die Schule zu wechseln, nicht gerade begeistert. Sie befürchteten, dass Tamis Leidenschaft für Pferde sie von den wichtigen Schulfächern ablenken würde. Aber das war natürlich Quatsch! Das Gegenteil wäre der Fall: Sie würde sich bestimmt in jedem Fach um eine Note steigern, wenn sie aufs Nordlicht gehen und endlich reiten lernen dürfte. Insgeheim hoffte Tami, dass ihre Eltern sie mit der Schulanmeldung zu ihrem Geburtstag überraschen würden.

„Hey, du bist ja schon da“, sagte Marit, die plötzlich neben der Bank auftauchte, ganz außer Atem.

„Hey, ich habe dich gar nicht kommen sehen.“

Marit grinste ihre Freundin wissend an. „Hast du mal wieder vom Pferdeinternat geträumt?“

„Ja. Ein bisschen vielleicht.“ Tami nickte. Ihrer Freundin konnte sie nichts vormachen.

„Könnte ja sein, dass dein Traum sich morgen endlich erfüllt“, meinte Marit und öffnete das Gatter. „Schließlich hast du Geburtstag und da werden Wünsche doch meistens wahr. Oder nicht?“

Tami folgte ihrer Freundin auf die Koppel. „Ich weiß nicht. Bis jetzt haben Mama und Papa nichts davon erwähnt. Und ich will mich nicht darauf freuen und hinterher enttäuscht sein. Verstehst du das?“

„Klar verstehe ich das. Hier, fang!“ Marit warf ihr einen Führstrick zu und blickte sie verschwörerisch an. „Hast du Lust auf ein bisschen heimliches und absolut verbotenes Reiten? So als verfrühtes Geburtstagsgeschenk?“

Und ob Tami Lust hatte! Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Schließlich waren die heimlichen Runden auf der Weide im Moment die einzige Möglichkeit für sie, sich ansatzweise wie eine Reiterin zu fühlen.

In dieser Nacht schlief Tami sehr schlecht. Immer wieder wälzte sie sich von einer Seite zur anderen. Was würde ihr der morgige Tag bringen? Eine pferdige Geburtstagsüberraschung? Oder hielten ihre Eltern weiter an ihren Bedenken fest und ließen sie doch nicht aufs Nordlicht gehen?

Der Geburtstag

„Wann wollte Marit eigentlich kommen?“, fragte Oma und stellte einen Teller mit selbst gebackenen Keksen auf den Esstisch.

„Sie kann erst zum Abendbrot vorbeikommen, weil sie heute Nachmittagsunterricht hat“, erklärte Tami und kaute gedankenverloren auf ihrer Unterlippe herum.

„Nachmittagsunterricht? So etwas hast du nie.“

„Nein.“ Tami schüttelte den Kopf und fügte leise hinzu: „Leider nicht.“

Oma setzte sich auf einen Stuhl. „Leider? Was ist denn mit dir los? Das sind ja ganz neue Töne! Seit wann möchte meine Enkelin freiwillig länger in der Schule bleiben als nötig?“

„Nicht in irgendeiner Schule. Marit geht doch aufs Nordlicht. Und da steht nachmittags immer Reiten auf dem Stundenplan. Jeden Tag!“

Tami saß mit verschränkten Armen an der festlich gedeckten Kaffeetafel und starrte griesgrämig auf ihren Teller. In der Mitte des Tisches thronte eine kunstvoll dekorierte Schichttorte, deren grüne Schmelzglasur mit bunten Marzipanblüten geschmückt war und wie eine Blumenwiese aussah. Die Seiten waren mit braunem Blockfondant verziert, das wie ein Weidezaun aussah. In die Mitte der Torte hatte Tamis Mutter ein selbst modelliertes Pferd aus Zuckermasse gesetzt. Frau Claasen war gelernte Konditorin und führte zusammen mit ihrer Schwester Inge eine gut gehende Konditorei im Dorf. Für ihre Schichttorten war sie bis weit über die Tidelunder Ortsgrenze hinaus bekannt.

„Möchtest du ein Stück Geburtstagstorte, Tami?“, fragte ihre Mutter und lächelte sie gut gelaunt an.

„Nein danke“, antwortete Tami. Sie war überhaupt nicht in Feierlaune, obwohl der Pferdekuchen total lecker aussah und heute ihr dreizehnter Geburtstag war.

Endlich dreizehn! Das bedeutete für Tami schließlich nicht nur, ein Teenager zu sein, sondern auch, dass heute vielleicht ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging: Schülerin am Küsteninternat Nordlicht werden und endlich richtig reiten lernen! Genau wie ihre Freundin Marit. Vorausgesetzt, die Schulnoten stimmten. Und dafür hatte Tami immerhin richtig hart gearbeitet: Jeden Tag hatte sie Vokabeln und Matheformeln gebüffelt! Doch bisher hatten ihre Eltern kein Wort darüber verloren, dass sie nach den Sommerferien tatsächlich die Schule wechseln durfte. Stattdessen hatte Tami einen Haufen Glückwunschkarten, einen neuen Schulrucksack von Tante Inge, einen Buchgutschein von ihrem Bruder und ein buntes Sommerkleid von ihrer Oma bekommen. Dabei mochte sie überhaupt keine Kleider. Jeans waren viel praktischer im Stall oder wenn sie sich auf das Gatter setzte, um ihre vierhufigen Lieblinge beim Grasen zu beobachten. Eine Reithose mit passenden Stiefeln hätte sie auf jeden Fall besser gefunden. Oder wenigstens eine kleine Andeutung in Form eines Hufeisens … Im Moment hatte Tami jedoch jede Hoffnung aufgegeben.

„Was ist denn, ich dachte, du magst Pfirsichcreme als Tortenfüllung so gerne?“, fragte ihre Mutter und befühlte Tamis Stirn. „Du bist doch nicht etwa krank?“

„Mag ich ja auch. Und nein, ich bin nicht krank.“

Der getigerte Kater Brutus sprang auf Tamis Schoß, rollte sich ein und fing genüsslich an zu schnurren. Tami legte einen Arm um ihn und kraulte ihn am Hals.

„Was ist dann los?“

„Ach, ich bin nur, nur …“, druckste sie herum und hatte auf einmal das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie war total enttäuscht und wäre am liebsten weinend aus dem Zimmer gelaufen. „Ich bin irgendwie satt“, antwortete sie stattdessen, obwohl das gar nicht stimmte. Normalerweise verputzte sie locker zwei Stücke Torte – mit reichlich Schlagsahne obendrauf. Aber heute war das anders. Ihre Stimmung war auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt. Ihren Geburtstag hatte Tami sich definitiv anders vorgestellt.

„Also bevor die Torte schlecht wird, melde ich mich freiwillig“, sagte Tamis großer Bruder Peer und hielt seiner Mutter grinsend seinen Kuchenteller entgegen.

Peer war schon achtzehn und absolvierte eine Ausbildung zum Konditor im Familienbetrieb. Allerdings beschränkte sich sein Interesse an Torten ausschließlich darauf, sie möglichst schnell und in rauen Mengen zu verspeisen. Im Gegensatz zu seiner Schwester begeisterte sich Peer nur für die Pferdestärken von schnellen Autos. In seinen Träumen lieferte er sich rasante Rennen mit Sebastian Vettel auf halsbrecherischen Formel-1-Strecken, aus denen er am Ende als Sieger hervorging. In Wirklichkeit war er lediglich Weltmeister im Kuchenessen und trotzdem so dünn wie ein Handtuch. Außerdem war er bereits zweimal durch die praktische Führerscheinprüfung gefallen, weil dem Prüfer bei Peers Fahrstil angst und bange geworden war.

„Na gut. Dann bekommst du heute ausnahmsweise das allererste Stück. Aber nur, weil das Geburtstagskind nichts will“, sagte seine Mutter. „Euer Vater möchte sicher …“

„… ein extragroßes Stück“, vollendete Herr Claasen, der unbemerkt den Raum betreten hatte, den Satz seiner Frau grinsend. Er war groß und sonnengebräunt von seiner täglichen Arbeit bei der Tidelunder Strandaufsicht. In seinen Armen hielt er eine bunt verpackte Schachtel mit einer riesigen Schleife. „Tut mir leid, dass ich es nicht eher geschafft habe. Aber am Strand war mal wieder die Hölle los.“ Er gab Tami einen Kuss auf die Stirn und stellte das Paket auf den Tisch. „Happy birthday, meine Kleine.“

„Oh, danke“, sagte Tami und überlegte, was wohl in dem Päckchen sein könnte. Ein Pferd war es jedenfalls nicht, so viel stand fest.

„Du dachtest wohl, das war schon alles“, rief Tamis Oma und zwinkerte ihrer Enkelin vergnügt zu. Mit einer Hand kraulte sie ihren Hund Fritzchen, der mit heraushängender Zunge neben ihrem Stuhl saß und darauf hoffte, dass für ihn ebenfalls ein Stück Kuchen abfallen würde. Mit der anderen Hand goss sie etwas Milch in ihren Tee. Dann schob sie sich ihre goldgerahmte Brille auf der Nase zurecht, um ihre Enkelin besser beim Auspacken beobachten zu können.

„Horch mal dran. Vielleicht wiehert es ja“, foppte Peer sie und imitierte ein Pferd.

Tami rollte mit den Augen. „Hahaha!“

„Das ist von Mama und mir.“ Herr Claasen warf seinem Sohn einen mahnenden Blick zu.

„Na los! Pack endlich aus! Oder willst du damit bis zu deinem nächsten Geburtstag warten?“ Offensichtlich hätte Peer seiner kleinen Schwester am liebsten die Arbeit abgenommen und das Geschenkpapier selbst aufgerissen.

„Lies aber das hier zuerst.“ Tamis Vater überreichte ihr ein gelbes Kuvert und warf seiner Frau dabei einen geheimnisvollen Blick zu.

„Ihr macht es aber ganz schön spannend“, fand Tami und wendete das zugeklebte Kuvert hin und her. Auch Kater Brutus hob erwartungsvoll den Kopf. „Was wohl in dem Briefumschlag ist?“, rätselte sie. Er fühlte sich leicht an, so als wäre in ihm keine Geburtstagskarte, sondern höchstens ein dünnes Blatt Papier. Ob es etwas war, das mit dem Internat zu tun hatte?

„Hast du gar keine Idee?“, fragte Oma.

Tami schüttelte den Kopf. „Nö. Keine Ahnung.“

„Dann mach ihn am besten auf“, schlug ihr Vater vor und reichte Tami einen Brieföffner.

Sie schlitzte den Umschlag auf und zog aus seinem Innern ein gefaltetes Blatt Papier.

Bei dem Versuch, einen Blick auf den Inhalt des Papiers zu werfen, verrenkte sich Peer fast den Hals. „Was ist es denn? Lies mal vor.“

„Also, hier steht … Oh!“, verschlug es Tami die Sprache. Sie presste sich eine Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, und las mit glänzenden Augen, was auf dem Schriftstück stand:

Küsteninternat Nordlicht

Am Deich 4

25826 Tidelund

Schulanmeldung

Name: Claasen

Vorname: Tamina

Straße: Dünenweg 6

Ort: 25826 Tidelund

Grund der Anmeldung: Schulwechsel

Hiermit melden wir unsere Tochter Tamina Claasen ab dem nächsten Schuljahr im Küsteninternat Nordlicht an.

Mit freundlichen Grüßen,

Nicole und Karsten Claasen

„Juhu! Ihr seid die Besten!“ Tami sprang von ihrem Stuhl auf und Brutus hüpfte erschrocken von ihrem Schoß. „’tschuldigung, Dickerchen“, sagte Tami und fiel dann ihren Eltern um den Hals.

„Nicht so stürmisch!“

„Und ich dachte schon, mein Traum würde sich nie erfüllen und die ganze Paukerei wäre umsonst gewesen“, schluchzte Tami überglücklich und drückte das Anmeldeformular gegen ihre Brust, als hätte sie Angst, man könnte es ihr wieder wegnehmen.

Fritzchen sprang schwanzwedelnd an ihr hoch. Er spürte, dass gerade etwas ganz Aufregendes passierte, und da musste er selbstverständlich mit von der Partie sein.

„Wir haben dich natürlich gleich nachdem deine Zeugnisnoten feststanden angemeldet.“

„Das war sogar noch vor den Sommerferien“, fügte Frau Claasen hinzu und reichte ihrer Tochter ein Taschentuch.

„Und ihr habt mir die ganze Zeit nichts gesagt!“, meinte Tami halb empört, halb lachend und tupfte sich die Tränen vom Gesicht.

„Das war gar nicht so leicht. Ich hätte es dir aus Mitleid am liebsten schon früher verraten, weil du immer so traurig geguckt hast“, sagte Oma, in deren Augen vor Rührung Tränen standen.

„Das hätte ich aber äußerst blöd gefunden, Oma. Dann wäre die ganze Überraschung im Eimer gewesen.“ Peer schüttelte entrüstet den Kopf.

„Heißt das etwa, du hast auch Bescheid gewusst? Die ganze Zeit? Und hast nichts gesagt? Das ist ja echt fies!“ Tami tat, als sei sie furchtbar aufgebracht. „Dabei dachte ich immer, dass Geschwister zusammenhalten müssen. Ein toller großer Bruder bist du!“

„Jap! Von Anfang an wusste ich Bescheid. Und weil ich eben ein toller großer Bruder bin, habe ich das Geheimnis für mich behalten, damit es eine richtige Überraschung werden konnte. Außerdem fand ich es ziemlich witzig, dich zu beobachten, wie dein Gesicht immer länger wurde und du wirklich geglaubt hast, Mama und Papa hätten nicht an ihr Versprechen gedacht. Du hättest dich mal sehen sollen“, feixte Peer und stopfte sich mit der Gabel ein weiteres Stück Geburtstagstorte in den Mund.

„Na warte! Bei der nächsten Gelegenheit werde ich mich revanchieren, Bruderherz.“ Tami grinste und knuffte Peer in die Seite. „Darauf kannst du dich verlassen.“

„Aber jetzt pack doch endlich mal dein anderes Geschenk aus. Ich bin schon ganz neugierig, was da wohl drin ist“, warf Oma ein und tat ahnungslos.

Nachdem Tami den Karton vom Geschenkpapier befreit und die Klebebänder entfernt hatte, klappte sie die oberen Laschen auseinander und schaute auf den Inhalt der Pappkiste. „Oh, wow!“, entfuhr es ihr. „Ein Reithelm und Handschuhe. Oh, klasse! Da ist ja auch noch eine Reithose in Taubenblau drin. Mensch! Danke! So eine wollte ich schon immer haben. Marit hat auch eine Reithose in der Farbe.“

„Dann könnt ihr ja jetzt im Partnerlook gehen“, kommentierte Peer trocken die Begeisterung seiner Schwester und verdrehte die Augen. „Mädchen!“

Als Nächstes zog Tami freudestrahlend ein Paar Reitstiefel aus dem Karton.

„Sie sind aus Gummi, weil deine Füße ja noch wachsen. Später, wenn du ausgewachsen bist, kannst du dir dann Lederstiefel kaufen“, erklärte ihre Mutter.

Tami entdeckte außerdem noch eine blaue Plastikbox und beförderte aus ihr einen Mähnenkamm, Hufkratzer, Striegel und eine Kardätsche zutage. „Super! Dann habe ich endlich auch mein eigenes Putzzeug.“

„Und eine Gerte von mir, wenn die Hottehüs mal nicht so wollen, wie Prinzessin es sich wünscht“, grinste Peer und überreichte ihr einen Reitstock, um den er ein buntes Geschenkband so geknotet hatte, dass es mit viel Fantasie wie eine Schleife aussah.

„Die eignet sich bestimmt auch hervorragend für große Brüder, wenn sie ihre kleinen Schwestern zu sehr ärgern“, drohte Tami lachend.

„So, ihr Lieben. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich habe einen Bärenhunger.“ Herr Claasen rieb sich die Hände. „Ist noch Torte da?“

„Natürlich. Mindestens für zwei Geburtstage, Papa“, sagte Tami.

„Sag das mal nicht zu laut, solange dein Bruder mit uns am Tisch sitzt.“

Peer zuckte mit den Schultern. „Und wennschon. Bei mir verkommt eben nichts.“

„Iss mal, Junge. Du kannst das vertragen.“ Oma tätschelte gutmütig Peers Hand.

„Wie sieht es aus, Tami? Vielleicht doch ein Stück?“

„Ja, bitte, Mama. Ich habe plötzlich riesigen Appetit.“ Tami strahlte glücklich und reichte ihrer Mutter den Kuchenteller. Dies war zweifelsfrei der beste Geburtstag überhaupt!

Marits Geschenk

„Willst du in dem Aufzug etwa ins Bett gehen?“, fragte Peer kopfschüttelnd, der seine Schwester dabei beobachtete, wie sie sich vor dem Spiegel in ihrem neuen Reiterdress von allen Seiten betrachtete.

Tami verdrehte die Augen. „Nein, natürlich nicht. Aber findest du nicht auch, dass ich damit fast wie eine richtige Reiterin aussehe?“

„Die Reithose sieht klasse aus.“ Marit nickte ihrer Freundin zu. Sie war direkt von der Reitstunde gekommen, ohne sich vorher umzuziehen, und hockte nun in voller Reitmontur auf Tamis Bett.

„Tja, ähm … die Hose scheint auf jeden Fall zu passen“, meinte Peer grinsend und bekam als Antwort von seiner Schwester prompt ein Kissen an den Kopf geworfen. „Ich geh dann mal“, sagte er und warf das Kissen wieder zurück.

„Große Brüder …“

„Oh ja. Wem sagst du das? Ich habe gleich zwei von der Sorte. Ich fühle voll und ganz mit dir.“ Marit seufzte. „Ich finde übrigens, dass du absolut wie eine Profireiterin aussiehst. Als würdest du mindestens schon seit drei Jahren reiten.“

„Danke übrigens für den neuen Führstrick! Das Pink ist echt klasse!“

„Gern geschehen. Aber ich habe dir den Strick nicht nur wegen der schönen Farbe geschenkt. Die Idee kam übrigens von meiner Mutter.“

„Von deiner Mutter?“

„Na, sie hat im Stall gesehen, dass dein alter gelber Führstrick einen Panikhaken hat, und meinte, dass du unbedingt einen vernünftigen mit Karabinerhaken brauchst.“

„Gibt es denn da einen Unterschied?“, fragte Tami erstaunt.

„Aber sicher! Wenn ein Pferd scheut, löst sich der Verschluss bei einem Karabinerhaken nicht automatisch“, erklärte Marit. „Stell dir vor, das passiert mal in der Nähe einer Straße und dann läuft das Pferd in ein vorbeifahrendes Auto. Einen Führstrick mit Panikhaken benutzt man eigentlich nur bei einem Pferdetransport, damit es sich im Notfall befreien kann. Bei einem Unfall, zum Beispiel. Und deswegen fand meine Mutter, dass du unter anderem einen neuen Führstrick gut gebrauchen könntest.“ Marit zog den Reißverschluss ihrer Umhängetasche auf.

„Aha. Und was meinst du mit unter anderem?“, erkundigte sich Tami und beobachtete, wie ihre Freundin ein bunt bemaltes Hufeisen und eine Papierrolle, die mit einer grünen Schleife zusammengebunden war, aus ihrer Tasche hervorzauberte.

„Unter anderem, weil ich noch etwas von meinen Eltern für dich habe.“ Marit hielt ihrer Freundin die Papierrolle und das Hufeisen entgegen.

„Ein Geburtstagsgeschenk von deinen Eltern für mich? Das ist aber wirklich sehr nett von ihnen. Damit habe ich ja überhaupt nicht gerechnet. Danke!“ Verblüfft nahm Tami das Geschenk und drehte das Hufeisen in der Hand. „Ganz schön schwer.“

„Hast du eine Idee, was es sein könnte?“

„Nein, ehrlich gesagt nicht. Obwohl … das Hufeisen könnte eventuell eine Art Glücksbringer sein. Für einen guten Start am Nordlicht oder so.“

„Bingo! Den ersten Teil hast du richtig erraten.“ Marit nickte ihrer Freundin zu. „Nun kommt der zweite. Kleiner Tipp von mir: Ein Kinogutschein ist es nicht.“ Sie lachte und beobachtete Tami dabei, wie diese das Hufeisen auf dem Schreibtisch ablegte, die Schleife löste und das Papier glatt strich.

Tami las: „Gutschein für Reitstunden.“ Verdattert sah sie zu Marit.

„Meine Mutter wird dir, bevor das Schuljahr losgeht, ein paar Reitstunden geben“, erklärte Marit mit einem Grinsen auf den Lippen.

„Was?“ Tami konnte ihr Glück gar nicht fassen. „Ich werde morgen reiten lernen? So richtig? Dann kann ich ja gleich meinen neuen Führstrick, das Putzzeug und meine Reitkleidung einweihen!“ Jubelnd fiel sie Marit um den Hals.

„Du freust dich also?“

„Freuen ist noch untertrieben! Das ist einfach der Wahnsinn! Ich habe ein Kribbeln im Bauch, als hätte ich einen Ameisenstaat verschluckt!“

Lange hatten die beiden Freundinnen noch über das Nordlicht, Tamis erste Reitstunde und den besten Geburtstag aller Zeiten geredet. Nachdem Marit sich schließlich verabschiedet hatte, schnappte Tami sich ihren himbeerfarbenen Jogginganzug und das neue Vanilleshampoo. Dann verschwand sie im Bad. Als das angenehm warme Wasser aus dem Duschkopf auf sie prasselte, konnte sie es immer noch nicht ganz glauben: Morgen war endlich der Tag aller Tage! Sie würde ihre erste Reitstunde haben! Die aufgeregten Ameisen tanzten immer noch quietschfidel in ihrem Bauch und würden das vermutlich auch noch die ganze Nacht über tun. Wie sie dabei auch nur ein Auge zumachen sollte, war Tami ein Rätsel. Aber vielleicht könnte eine Tasse von Omas Lavendeltee helfen? Hauptsache, sie würde während der Reitstunde morgen nicht wegen akutem Schlafmangel auf dem Pferderücken einschlafen!

Endlich reiten!

Natürlich machte Tami in der Nacht vor Vorfreude kein Auge zu