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Das Buch

Silke ist fünfzehn, als die Familie zerbricht. Die Mutter lässt Silke beim Vater zurück, zieht mit dem Bruder aus. Zehn Jahre später begibt sich Silke auf die Hunderte Bahnkilometer lange Reise zum neuen Wohnort der Mutter, ohne sicher zu sein, ob sie dort aussteigen wird.

In diesen zehn Jahren sucht sie in rothaarigen Liebhabern und Freundinnen eine, ihre Familie, von der sie lediglich spürt, dass es sie irgendwo gibt. Währenddessen verändert sich das Land – schnell und brutal. Mit der Mauer fallen ganze Bezugssysteme, nichts hat mehr Bestand. Genauso liebt Silke: Sie verletzt und wird verletzt und findet keinen Halt. Vorerst.

Die Autorin

Rita König (*1962) ist diplomierte Betriebswirtin und lebt in Rathenow/Brandenburg.

Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Aufenthaltsstipendien, zum Beispiel im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf und dem Künstlerdorf Schöppingen. Für die Arbeit an ihrem aktuellen Roman Greta reiste sie mithilfe eines Recherchestipendiums des Brandenburgischen Kultusministeriums nach Polen und ins Baltikum. Ihre Erzählungen erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien deutscher Schriftstellerverbände.

Rot ist schön ist ihr Romandebut.

Rita König

ROT
IST
SCHÖN

ROMAN

MIT GLOSSAR IM ANHANG

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Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© Originalausgabe 2015 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe
Projektmanagement, Lektorat, Umschlaggestaltung, Satz & Layout:
Beatrice Hildebrand
Korrektorat: Tatjana Weiß
Umschlagabbildung: olga_lebedeva/Fotolia.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 978-3-7650-2129-9

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen:
ISBN: 978-3-7650-9108-7

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Für meinen Sohn

1

In der Kindheit war immer Sommer.

Silke zog den Schal fester und den Reißverschluss des Anoraks noch etwas höher. Wurde man erwachsen, wenn es auch andere Jahreszeiten gab? Wenn die Mutter nicht mehr Welten entfernt war, sondern nur Bahnkilometer? Wenn man selbst Mutter wurde?

Sie hockte sich neben den weinroten Stein, wischte mit dem Zeigefinger den Schnee vom Namen des Vaters.

»Hättest du nicht warten können, auf eine kleine Natascha oder einen Micha? Wer wird den Flitzbogen für sie bauen, wer mit ihnen russische, englische oder französische Vokabeln pauken, wer ihnen zeigen, wie die Feile gehalten werden muss oder die Speichen am Rad festgezogen?«

Sie legte die Handfläche an den Stein, schluckte.

»Ja, Papa, natürlich. Peter wird ein guter Vater sein. Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ja, ich weiß. Ich habe es dir versprochen.«

Sanft strich sie über den Schriftzug. Die Beine begannen zu kribbeln. Silke hauchte warmen Atem auf die kalten Finger, hob den Blick und schaute über den Stein, über die Friedhofsmauer hinweg.

»›Jederzeit‹, hat Mutter geantwortet, postwendend.«

Sie wechselte das Standbein.

»Telefonnummer, Wegbeschreibung, Bahnverbindungen säuberlich aufgelistet. Zehn Jahre. Zehn Jahre sind viel. Meinst du, ich schaffe das?«

Sie stand auf, schluckte die Spucke hinunter und zog die Nase hoch. Peter würde bestimmt akzeptieren, wenn sie nicht fuhr. Sie strich in Bauchhöhe über den Anorak und das baumelnde Schalende.

Bald schon wäre Peter für immer bei ihr, sie würden sich lieben und die Familie sein, die sie sich seit ihrer Kindheit gewünscht hatte.

Sie seufzte. Würden sie nicht.

»Ja, Papa, ich weiß. Zehn Jahre sind gar nicht so viel.«

Die kahlen Äste der Blutbuche trugen einen weißen Flaum aus Schnee. Weihnachten. Es gab nicht nur den Sommer, es gab auch Weihnachten, kinderjahrelang. Weihnachten mit dir, Papa. Im Losgehen fegte sie Schneekrümel vom Stein und kühlte damit die Wangen.

Am nächsten Morgen ging sie zum Bahnhof und kaufte eine Fahrkarte.

2

»Kälte bringt einen guten Sommer«, sagte eine Frau zu Silke, bevor sie sich an der Anzeigetafel vergewissern konnte, auf dem richtigen Bahnsteig zu stehen. »Werde ich viele Pfifferlinge finden.« Sie sprach mit dem gleichen Akzent wie Natascha.

Das Dröhnen des einfahrenden Zuges unterbrach ihr Reden nur kurz. Während Silke die Fahrkarte festhielt, tief ein- und ausatmete und sich dabei vorbetete, jederzeit umkehren zu können, ließ sie sich von den Worten der Frau in den Waggon ziehen.

»Pilzsuppen haben wir am liebsten gegessen«, plauderte die Frau weiter, und Silke hatte plötzlich den Geruch frischen Hefekuchens in der Nase. Die warmen Kanten durften sie naschen, ihr Bruder das erste Stück, sie das zweite. Nein, kein Hefekuchen. Nie mehr. Pilzsuppen. Weiter zuhören, nicht denken, nicht jetzt, erst ein paar Kilometer fahren, auf dem Weg sein, wenigstens das. Es versuchen. Sie wollte es doch wenigstens versuchen. Also: Pilzsuppen, Pfifferlinge. Sie rief sich den Duft der gelben Lamellen in Erinnerung, sah die daran klebenden Moose und Kiefernnadeln vor sich, roch das Aufwallen – auch Tage später hing immer ein Rest in der Luft, der Appetit machte auf gebratene Pilze mit Rührei, oder welche im Gulasch. Silke schluckte, dabei sprach die Frau jetzt gar nicht mehr vom Essen, sondern von ihrem Sohn und dessen klarer Stimme. Von seinen ersten Gesangsauftritten. Ihr Stolz darauf füllte das Abteil wie eine Parfumwolke. Der Mann auf See, sie allein, tags und auch nachts arbeitend, kräftezehrend, schwer. Das Schwere strich sie mit einer sanften Handbewegung beiseite und fuhr fort, vom Fleiß des Sohnes zu schwärmen. Jeden Abend hätte er geübt, auch morgens, noch vor dem Frühstück; letzte Woche wäre sie auf seinem Konzert gewesen, eines in einem riesigen Saal, er sei nun erfolgreich, betonte sie, leiser, und ließ die Finger, die beim Erzählen minutenlang gekreist waren, ruhig wie die Hände eines Pianisten auf die Oberschenkel sinken: »Es hat sich gelohnt.«

Damit stieg die Frau aus. Die Wolke aus Stolz und Geschichten hing im Waggon, ringsherum war es leise, als hätten sämtliche Mitreisende der Frau gelauscht. Erst der Schaffner durchbrach die Stille. Silke hörte Zeitungsrascheln, ein Kofferschloss schnappte, jemand räusperte sich. Sie zog den Reißverschluss des Anoraks auf und schaute aus dem Fenster, aber die Frau war nicht mehr zu sehen. Eine Gesangsausbildung. Gitarre spielte Silke auch, leidlich, singen lernte man in der Schule. Nicht für ein bedeutendes Konzert. Nicht für solch einen Stolz, solch phantastische Abschlüsse. Die Mutter opfert sich auf, damit aus dem Kind etwas werden kann und das Kind erfüllt all ihre Wünsche. Was für ein Klischee. Ach, Quatsch, sie wurde einfach nur schwach, sobald jemand mit dem Akzent sprach, der für sie zu Natascha gehörte wie ihr rotblondes Haar und ihr großer Busen. Ganz sicher waren alle anderen Reisenden längst wieder mit sich selbst beschäftigt. Die Wolke aus Geschichten hatte sich aufgelöst wie die gesamte Sowjetunion, und wer sagte überhaupt, dass die Frau eine wahre Geschichte erzählt hatte? Selbst wenn – was hatte das alles mit ihr zu tun?

Silke zog den Anorak aus, der Zug war gut beheizt, sie wickelte den Schal um die Hände. Auf diese Weise hatte sie ihre Finger schon als Kind gewärmt, nachdem die Handschuhe schneenass geworden waren. »Is ljesu jolatschku wsjali mj damoj«, summte sie vor sich hin, das Tannenbäumchen aus dem Wald, das hatten sie immer zusammen geholt, wie in diesem russischen Lied. Nie war der Bruder dabei, nur der Vater und sie zogen jeden Heiligabend los.

Auch an den ganz normalen Tagen saß nur sie beim Vater in der Werkstatt. Während er einen krummen Nagel nach dem anderen in den Schraubstock spannte und gerade klopfte, erzählte sie ihm, was sie gelernt hatte und ließ sich mit Beispielen von Traktoren und Mähdreschern, die der Vater reparierte, den Sinn von Mathematik erklären. Oft sangen sie gemeinsam, wobei sie es nie schaffte, bei »Jedermann liebt den Samstagabend« mehr Strophen zu wissen als er, der dem »Bobo waro fero Sato deh« aus Nigeria das chinesische »Ren ren si huan pai lu« hinzufügte, das sie sich nie merkte, der die spanischen Verse nicht mit den portugiesischen verwechselte und die Zeilen sogar auf Esperanto sang, einer Sprache, zu der es gar kein Land gab. Saß der Bruder doch einmal dabei, dirigierte Silke und krakelte die russischen Texte mit deutschen Buchstaben auf ein Blatt, damit er mitsingen konnte. Doch er holte höchstens seine Buntstifte und malte aus jolatschka das Tannenbäumchen. Der Vater dagegen übte mit ihr die kyrillischen Schriftzeichen und die Grammatikregeln und dachte sich Eselsbrücken aus: »Die Jahre liegen mir auf dem Buckel, dritter Fall«, sagte er zum Bruder, als der Russischunterricht auch für ihn begann, und setzte mit steiler Schrift die richtigen Endungen in dessen Aufgabenheft. Silke war stolz, denn bei all ihren Klassenkameraden kontrollierten die Mütter die Hausaufgaben. Sie verstand jedoch nicht, weshalb der Vater mitlernte. Fragte sie ihn, ob er in die Sowjetunion fahren wolle, wich er aus. Später vielleicht, sagte er manchmal. All die anderen Länder aus den Liedern, England, China, Afrika, lagen hinterm Mond. Polyglott war das erste Fremdwort, das Silke sich merkte. Sie benutzte den Ausdruck gern, obwohl ihr dabei jedes Mal der zweite einfiel: polygam, den sie am Dorfkonsum gehört hatte und der ebenso ihren Vater meinte.

Ein Junge weinte, ein paar Sitze weiter. Silke lauschte, aber sie hörte nur den Jungen, nicht, ob die Mutter oder der Vater ihn mit leisem »sch, sch« beruhigten. Draußen lagen die Felder und Wiesen unter einer dünnen Schneeschicht. In einem Dorf, das nur aus dem zerfallenen Bahnhofsgebäude und wenigen Häusern dahinter zu bestehen schien, stand ein Mann an der Schranke. Neben ihm ein Mädchen auf einem pinkfarbenen Fahrrad mit Stützrädern.

Silkes erstes Fahrrad war dunkelgrün gewesen. Stützräder besaß es nicht. Der Vater fuhr vor ihr, mit dem Bruder auf dem Kindersattel. Silke sah nur den Rücken des Vaters, aber sie hörte den Bruder unentwegt plappern, wenn sie nicht gerade so laut schnaufte, dass sie gar nichts mehr hörte außer ihrem eigenen Atem.

Es war nicht weit bis zum Haus der Großeltern am Stadtrand, aber sie ging noch nicht einmal zur Schule und der Weg zwischen den Kiefernwurzeln war sandig. Sie kämpfte mit dem Lenker, den Reifen, die im Mahlsand wegrutschen wollten, die Wangen schon dunkelrot.

Vor der großen Lichtung drehte der Vater sich um und zwinkerte ihr zu: »Gleich gibt es Tee!« Sobald sie den Waldsaum erreichten, ließ der Vater Silke als Erste trinken.

Im Garten der Großeltern kletterte sie auf den Kirschbaum und spuckte die Kerne so weit es ging. Oder sie sammelte Essen für die Kaninchen: Von Schafgarbe durfte sie nur die gut riechenden Stiele pflücken, an denen die Großmutter zur Kontrolle schnupperte, Vogelmiere erst, wenn die weißen Blüten zu sehen waren, keinesfalls blaue oder rote, Gänseblümchen, Löwenzahn und Melde immer. Währenddessen schnitt der Großvater mit einem riesigen Messer Kohlrüben in gleich große Stücke. Scharr, scharr, schabten die langen Zähne Schicht für Schicht, wie der Vater mit dem Hobel, nur dass bei den Kaninchen keine Späne übrig blieben. Manchmal gab der Großvater Silke die Blechschüssel mit den Körnern und sie durfte den Weizen zwischen die weißen und dunkelbraunen Hühner werfen. Sie wartete immer darauf, dass der stattliche Hahn ansetzte zu schreien – dann nämlich kamen alle Hennen zu ihm gelaufen. Oft hackte der Großvater Holz für den Kohleherd in der Küche und den Kachelofen, und wenn Silkes Vater ihm das abnehmen wollte, sagte er: »Lass sein, Junge, ich brauche das.« Sie fand es lustig, dass jemand zu ihrem großen Vater Junge sagte.

Der Junge ein paar Sitze weiter weinte immer noch. Ohne zu schniefen, melodisch, leise. Es klang, als würde er sich selbst in den Schlaf wiegen.

Was hatte der Bruder getrieben auf dem Hof der Großeltern? Es wollte ihr nicht einfallen, auch nicht, was der Vater tat außer Holz zu schichten. Die Mutter putzte drinnen und schickte ihre Mutter hinaus; nur deshalb suchte die Großmutter mit Silke draußen Gräser für die Kaninchen. Es war ein Familienausflug und was der Bruder tat, interessierte Silke an diesen Sonntagen nicht.

Zu Hause dagegen waren sie ein unschlagbares Paar, zwei Gipfelstürmer auf dem einzigen Hügel in Nähe des Dorfes. Mit dem Taschenmesser ritzten sie Zeichen in dünne Ahornstämme, bauten Indianerbuden, in denen sie Eichenlaub ankokelten und die ersten Zigaretten auf Lunge rauchten, bis ihnen so schlecht wurde, dass sie Erde aßen, um den beißenden Geschmack loszuwerden. Manchmal sammelten sie tote Mäuse und Feldhamster für Nachbars Kater. Unzertrennlich waren sie – solange sie allein durch die Gegend stromerten. Jedes Mal jedoch, wenn sie den Hof betraten, verflog der Zauber, wurde aus dem tapferen Krieger der kleine Junge und aus der Squaw das ungezogene Mädchen, das den Jüngeren in Gefahr gebracht hatte. Dann hasste Silke ihren Bruder; weil er die Mutter liebte und weil er sich auf Onkel Werner freute, den er flüsternd Wartburg-Ritter nannte.

Im Kinderzimmer gab es eine ganze Regalreihe voller Märchenbücher. Der Bruder schwärmte von Ritterburgen und verschlang die Geschichten von der blauen Blume, aber die Kampfszenen überblätterte er. Silke hingegen mochte das Klirren der Schwerter am liebsten, probte es mit Weidenstöcken, die in der Luft Peitschenknalle hinterließen. Aus den russischen Märchen sog sie den Mut der Helden, kletterte auf die Wipfel der hohen Kiefern und bog sich mit ihnen im Wind, braute mit der Hexe Baba Jaga Zaubertränke, kaute Regenwürmer und Engerlinge, die beim Umgraben an die Oberfläche geworfen worden waren, und spuckte sie mit grässlichen Flüchen in den Wald.

Nur wochentags waren sie allein unterwegs. Sonntags musste Silke helle Pullis anziehen und auf dem Hof bleiben.

An einem der letzten Sommerferientage ihres dritten Schuljahres hatte der Vater ein Mädchenfahrrad mit nach Hause gebracht.

»Erst einmal müssen wir es herrichten, hilfst du mir?«

Silke holte Lappen und Bürste, setzte sich zu ihm ins Gras und beobachtete, wie der Vater die Speichen nachzog und die Kette spannte. Plötzlich sprang die Mutter von ihrem Platz unter dem Apfelbaum auf, wohin sie sich mit einem Eimer Bohnen gesetzt hatte, und lief auf den Abschnittsbevollmächtigten zu, der langsamen Schritts den Hof betrat. Die Mutter schrie auf. Der Vater ließ den Schlüssel fallen und ging zu ihr. Sie redeten leise.

»Was wollte der ABV?«, fragte Silke den Vater, als er sich mit einem Stöhnen neben sie hockte.

»Großvater ist mit dem Rad verunglückt.«

»Aber er wird wieder gesund?«

»Nein.«

Am Tag der Beerdigung musste sie nicht in die Schule. Die Mutter hatte dunkelblaue Sachen bereitgelegt. Sehr viele Menschen in schwarzen Hosen und Röcken kamen; sie weinten oder drückten die Mutter. Silke weinte nicht; sie fror und wollte nach Hause. Begann der Bruder vom Großvater im Himmel zu erzählen, unterbrach ihn Silke sofort. »Großvater ist bei den Kaninchen!«, schrie sie ihn an und hielt sich die Ohren zu. Die Großmutter wurde verrückt, jedenfalls aus Silkes Sicht, denn die Frau, die wirres Zeug redete und sich in die Hosen machte, die sie nun statt der langen Röcke trug, erkannte Silke nicht mehr. Die Mutter brachte die Großmutter ins Krankenhaus und fuhr sie dort allein besuchen, aber sie fuhr auch sonst manchmal allein weg. In den Herbstferien unternahm Silke mit ihren Freunden eine erste Fahrradtour ohne Erwachsene, zum Häuschen am Stadtrand. Sie klopfte und klingelte, hüpfte von einem Bein aufs andere.

»Was ist nun?«

»Ja, ja, wartet doch, Großvater hackt bestimmt Holz.«

»Ich hör nichts.«

»Ich auch nicht. Lasst uns woandershin fahren.«

»Nein, er füttert vielleicht die Kaninchen, das dürfen wir dann auch, ganz bestimmt, oder Eier aus den Hühnernestern holen, die sind noch warm, oder …«

Sie klopfte wieder, laut, bis die Finger weh taten, nahm die ganze Hand. Weshalb lehnte der Spazierstock des Großvaters nicht an der Hauswand? Ihre Freunde schwiegen; irgendwann gab sie auf, sie fuhren zurück.

Im Spätherbst starb die Großmutter. Silke warf die dunklen Sachen vom Bett, lief hinunter zum Vater, der in der Werkstatt stand, ohne zu arbeiten. »Ich will da nicht hin.«

»Es ist wichtig, zur Beerdigung zu gehen. Du hattest deine Großmutter doch gern?«

»Ich hab sie auch gern, wenn ich nicht hingehe!«

»Das weiß ich. Aber es ist trotzdem wichtig.«

»Für wen denn nur?«

Der Vater seufzte. »Für die Leute.«

»Die Leute interessieren mich nicht«, antwortete Silke, »und du hast auch immer gesagt, dass man nur das tun soll, was man selbst will oder was wenigstens notwendig ist. Was ist daran notwendig?«

Der Vater setzte zu einer Erwiderung an, winkte aber ab und schwieg.

Die Mutter ließ ein Bild rahmen und hängte es ins Kinderzimmer. Wenn Silke traurig war, legte sie sich aufs Bett und schaute auf die Großeltern, die in Sepia vor ihrem Haus standen, auf der Gartenseite, ihr zulächelten.

Silke lächelte auch. Im Nachhinein erschienen ihr die Sonntagsausflüge zu den Großeltern wie ein einziger langer Tag in einer glücklichen Familie. Quatsch. Schon wieder. Glückliche Familie. Sie konnte sich ja nicht einmal erinnern, was jeder auf dem Hof oder im Garten der Großeltern gemacht hatte. Der Großeltern, die sie kannte. Die Mutter des Vaters war kurz nach ihrer Geburt gestorben, der Großvater im Westen; niemals kam er sie besuchen. Wie auch.

Silke rutschte auf dem Platz hin und her, schaute nach draußen, aber außer einer mit Raureif bedeckten Lichtung und nachfolgenden Tannenwäldchen war nichts zu sehen.

»Gemeinsam« konnte man bei all den Ausflügen zu den Eltern der Mutter jedenfalls nur die Fahrt und die Mahlzeiten nennen. Nichts weiter. Und nach dem Unfall des Großvaters gab es lange Zeit gar keine Radausflüge mehr.

Silke lehnte sich wieder an. Leise geführte Unterhaltungen plätscherten wie Wasser auf sandiges Ufer. Sonst war es still um sie herum.

In dem Sommer, der dem Tod der Großmutter folgte, fuhr die Familie ein paar Mal zum See. Der Vater lief auf einem Holzsteg auf und ab, um sie immer im Auge zu behalten. Die Mutter bestand darauf, dass Silke den Schwimmreifen trug, einen dunkelblauen Ring ohne jede Verzierung, mit kratzenden Schweißnähten. Der scheuerte an den Armen.

»Hab dich nicht so«, sagte die Mutter. Der Vater wies mit dem Kopf zu den Büschen am Ufer, zog ihr dort den Reifen über den Kopf.

»Na komm schon«, er zwinkerte, »hier sieht uns keiner.«

Silke übte am Ufer die Bewegungen der Beine und Arme und schob dabei den weißen Sand mit kräftigen Stößen beiseite. Das Schieben und Rudern klappte auch im Wasser. Aber sie blieb nicht oben. Nachdem der Vater eine Weile zugesehen hatte, wie sie sich im flachen Wasser quälte, kniete er sich hin und hielt sie fest. Sie musste die Übungen wieder und wieder absolvieren, sie koordinierte ordentlich, wie der Vater das nannte, und versank augenblicklich, sobald er sie losließ.

»Dann lernst du eben zuerst tauchen und danach schwimmen.« Der Vater gab auf. Und plötzlich klappte es. Silke schwamm unter Wasser, suchte Muscheln oder Steine und wenn sie Luft brauchte, stieß sie sich nach oben.

Mit dem Bruder hatte der Vater es nicht einfacher. Der planschte mit einem dunkelgrünen Krokodil, so groß wie er selbst, aber ohne Loch, in das er hätte schlüpfen können. Er konnte sich nur an dem Tier festklammern und mit den Beinen paddeln. Schon im weißen Sand schaffte er es kaum, seine Bewegungen abzustimmen. Wiederholt griff der Vater nach seinen Füßen, zog sie in die entsprechende Richtung und murmelte, dass das schon irgendwie klar wäre. Silke wollte fragen, was klar wäre, aber sobald der Bruder zu schluchzen begann, kam die Mutter und schalt den Vater, schimpfte in nicht enden wollenden Sätzen weiter, während sie den Bruder zur Decke schob und Silke, die alles mithören konnte, keine Beachtung schenkte. Die Worte waren ähnlich, es war nicht anders, als würde sie ausgeschimpft.

Die kurzen Sätze dagegen, die über den Hof schallten, verstand sie nicht. »Geh doch zu deiner Rothaarigen! Fick sie und lass mich in Ruhe!«

Silke war zehn und ein Dorfkind, sie konnte mit Begriffen wie Hure nichts anfangen. Ficken war etwas, das die Jungs manchmal sagten, und dann versteckten die anderen ihre Gesichter hinter den Händen und kicherten. Schlampen waren Frauen, die Schlüpfer draußen auf der Leine trockneten und nicht auf dem Gestell über der Badewanne.

Die Lautstärke war eindeutig; und nicht erst, als die Sätze häufiger fielen und Silke den Sinn verstand, wusste sie, dass es besser war, im Zimmer zu bleiben, wenn die Mutter abends schrie. Der Bruder weinte dann. Silke drückte ihn und ließ ihn in ihrem Bett schlafen.

Im Winter beharrte die Mutter ein paar Sonntage lang darauf spazieren zu gehen. Über den hellen Pulli musste Silke eine ebenfalls helle Teddyjacke ziehen und versprechen, sich zu benehmen. Sie durfte nicht vom Weg abweichen – weder um sich einen Spazierstock zu suchen, wie beim Großvater einer an der Hauswand gelehnt hatte, noch um Schneebälle zu formen oder Regentropfen von den Zweigen zu schütteln. Sie musste langsam gehen, was ihr sowieso schwer fiel, und manchmal an Mutters Hand, was ihr peinlich war. War Onkel Werner dabei, nahm er ihr auch noch den Bruder weg, denn sie sprachen die gesamte Zeit miteinander. Der Vater beantworte Silkes Fragen nach Vögeln oder Bäumen mit wenigen Worten und lief die übrige Zeit mit zusammengekniffenen Lippen neben ihr. Sie spazierten immer durch das Dorf, nie durch den nahen Wald und nie an der Hütte der Baba Jaga vorbei. Doch genau wie die Radausflüge hörten auch die Sonntagsspaziergänge irgendwann einfach auf.

3

Das Hexenhaus im Dorf stand nicht auf einem Hühnerfuß. Es war aus dunklem Holz und so klein, wie Silke sich das Haus der Baba Jaga vorstellte. Im Frühling schlichen die Kinder dorthin, um in dem verwilderten Garten Veilchen zu pflücken. Es war eine immer wiederkehrende Mutprobe. Silke kannte die Gerüchte, die sich um die windschiefe Kate rankten wie Efeu und Wein.

Verrückt sollte sie sein, die gebückt laufende Frau, die immer ein Kopftuch und mehrere Schürzen trug, die ewig bekleckert waren. Verrückt geworden vom Inhalt der Bücher, die sich auf dem Fußboden stapelten.

Die Frau kaufte im Konsum nur Milch und Brot, nie Kartoffeln oder Fleisch. Die Milch füllte sie in zahlreiche Schüsseln, die auf dem Grundstück überall herumstanden, sodass Silke ihre Schritte vorsichtig setzen musste, um sie nicht durch das Scheppern herauszulocken. Die Frau aß die rotgetigerten Katzen, die sie mit der Milch anlockte. »Wie die Chinesen«, sagten die Leute. »Wahrscheinlich ist sie selbst eine, man weiß ja nie. Hat überhaupt mal einer ihre Haare gesehen?« Und jemand zischte: »Nicht vor den Kindern.« Silke stellte sich deshalb Chinesen als gebückt laufende Frauen vor, die mehrere Schürzen übereinander trugen.

Gab es in der Schule eine Sorte Fleisch, die Silke nicht mochte, überlegte sie, wie wohl Katzenfleisch schmeckte. Sie dachte daran, wie sich der dicke Kater vom Nachbarn auf den Rücken legte und auf die doppelte Länge streckte, um gestreichelt zu werden. Jedes Mal entschied Silke, dass auch Katzenfleisch nur sehnig sein könne und schon deswegen für sie ungenießbar, denn sie hasste nichts mehr, als diese Sehnen zwischen den Zähnen zu spüren und sie nach stundenlangem Pulen immer noch nicht herauszubekommen.

Die zahlreichen Schüsseln auf dem Grundstück waren alle weiß. Am Abend, wenn die Schatten des nahen Waldes die Konturen verwischten, erkannte sie manchmal nicht einmal, ob in den Schalen noch Milch war. So sauber waren die Ränder und das Innere der Behälter.

In diesem Garten, der nichts mit den anderen Gärten des Dorfes gemein hatte, weil es hier weder Beete noch abgestochene Rasenstücke gab und schon gar keine geharkten Wege, roch es aber auch nicht nach Katze wie beim Nachbarn, wo der Kater sich den Busch reserviert hatte, der an ihr Grundstück grenzte. Auf diesem verwilderten Fleck roch es manchmal nach Heu und manchmal nach frisch geschnittenem Holz. Die Frau roch nicht, jedenfalls nicht bis dahin, wo Silke sich mit den anderen versteckte, dabei wäre das bei den bekleckerten Schürzen zu erwarten gewesen. Auch nicht nach Seife oder frischer Wäsche. Aber immer duftete die Luft nach Kiefern. Und im Frühjahr nach Veilchen. Um das kleine Haus herum gab es nicht nur die größten Veilchen, sondern auch die mit dem intensivsten Duft. Lilafarbene und weiße. Silke band sie zu kleinen Sträußen, die sie vor dem Konsum verkaufte, um sich ein Eis holen zu können.

Onkel Werner kam nicht zu den Geburtstagen wie die Onkel und Tanten bei den Klassenkameraden. War er zu Besuch, stand er mit der Mutter in der Küche. Er trockne leidenschaftlich gern ab, sagte er, als Silke helfen wollte, und sie war froh darüber. Der Vater hatte schlechte Laune an diesen Tagen. Die Mutter lächelte die ganze Zeit. Onkel Werner trug stets Hemden, die nicht bis oben zugeknöpft waren, und die Haare auf seiner Brust quollen über den Ausschnitt. Die Kinder durften im Bett lesen, was sonst streng verboten war, Silke musste den Vater nicht aus der Kneipe holen, und Onkel Werner saß auf dessen Sessel im Wohnzimmer.

Eines Morgens im Frühling packte die Mutter einen kleinen Koffer mit Hosen und Pullis des Bruders und fuhr mit ihm zu Onkel Werner. Am Abend ging Silke hinunter in die Werkstatt und setzte sich auf den Hocker neben den Vater. Das Radio lief, sie schwiegen.

»Achter«, sagte der Vater höchstens oder »Zehner«, und dann sprang Silke auf und reichte ihm den Schraubenschlüssel. Erst als der Vater ein Stück Sandpapier um das zentimeterlange Stück eines ausrangierten Schaftes bog, räusperte er sich und zeigte ihr, wie sie die Holzleiste schleifen sollte. Der Geruch von Klarlack, den der Vater mit Latex mischte, stand noch im Raum, als der Bruder mit der Mutter zurückkam. Wenig später präsentierte der Bruder Fotos. Die Mutter, er und Onkel Werner vor einer Burg oder einem Kloster, auf einem Kinderspielplatz neben einer Wippe, auf einem Rastplatz. Die Buchenwälder schienen trotz der Schwarz-Weiß-Fotos rötlich zu schimmern und die Berge, die zu sehen waren, kamen ihr vor wie Hügel.

»Vor dem Harz«, erklärte der Bruder, und die Mutter, die sie argwöhnisch beobachtete, sagte: »Vorharz.«

Der Bruder schwärmte von den großen Vögeln, die es da geben sollte und flüsterte, dass Onkel Werner ihm nicht hatte sagen können, wie sie hießen. Dafür aber hätte er ihn Huckepack genommen, als ihm die Beine wehtaten, was der Vater nie getan hatte. Silke konnte sich erinnern, im Thüringer Wald auf Vaters Schultern gesessen und dennoch nicht an die Tannenzapfen herangereicht zu haben. Ob er den Bruder tatsächlich niemals hochgehoben hatte, wusste sie nicht. Ihr Bruder schwärmte vom Wartburg, den Onkel Werner fuhr, aber auch von der Burg zwischen Buchenwäldern. Silke stellte sich die Burg vor, ohne das Bild in der Hand halten zu müssen, lief den Hügel hinauf, der ein Berg sein wollte, blickte zum Himmel und sah Bussarde und Adler und vor allem Habichte, denn die kannte sie. Sie pflückte Veilchen, die es dort so zahlreich gab, dass sie ganze Wiesen mit einem violetten Schimmer überzogen, und atmete den Duft ein, den sie verströmten. Wenn ihr dabei einfiel, dass der Bruder mit Onkel Werner geschmust hatte, schluckte sie und konzentrierte sich auf den Veilchenduft.

Der Sommer kam, der Vater arbeitete viel, manchmal fuhr die Mutter fort, für ein oder zwei Tage. Silke stromerte mit den anderen herum. Sie kauten Hirtentäschel, die wie Nüsse schmeckten, suchten Veilchen, aber es gab keine mehr.

»Lasst uns zum Waldgarten gehen, da gibt’s bestimmt noch jede Menge!«

»Zur Hexe? Am helllichten Tag? Nee, nicht mit uns.«

Bis zum späten Nachmittag lagen sie gemeinsam auf einer Wiese, schnipsten die Ähren des Spitzwegerichs und setzten sich Blüten der Ackerwinde auf die Nase, weiße Trichter, die solange dort blieben, wie man die Luft einzog, sobald man jedoch durch den Mund einatmete, herunterfielen.

Nachdem die anderen nach Hause gerannt waren, kletterte Silke ein wenig umher und lief erst zum Hexenhaus, als es bereits schummrig war. Sie sah helles Licht in der Hütte und wunderte sich, denn auch das erzählten die Leute am Konsum, dass die Frau nur Kerzen hätte und keinen Strom. Dicht hinter dem Zaun saß eine Katze und putzte sich. Beim Nachbarskater konnte Silke stundenlang zusehen, wie sorgfältig er sich alle Stellen wusch, und erschauerte nur, wenn die Reibeisenzunge zu hart über den Körper fuhr. Diese Katze hier saß ihr einfach nur im Weg. Silke hockte und wartete, probierte, sich mit der Zunge den Ellbogen zu lecken, und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht loszulachen. Eines Morgens hatte sie versucht, Milch aus einer Kompottschüssel zu schlecken. Sie wollte ihre Zunge wie eine Schöpfkelle formen, was nicht klappte, und hatte das Tischtuch vollgespritzt. Worauf der Bruder vor Lachen zu spucken begann und die Mutter hereinstürzte und ihnen das Essen wegnahm, ohne überhaupt zu fragen, was geschehen war.

Eine der Rotgestreiften schlich um ihre Beine. Als Silke sie streicheln wollte, wand sie sich heraus und lief davon. Die Katze hinter dem Zaun auch. Silke stieg hinüber und sah die Rotgestreifte sich über eine Schüssel beugen. Das Schlabbern klang ganz regelmäßig; immer im Takt schlug die Zunge an den Schüsselrand, schwappte die Milch hoch und landete im Mund der Katze. Silke übersprang die leuchtenden Schüsseln und huschte über den Rasen bis an die Hauswand. Der Efeu war warm. Sie ertastete einen stärkeren Ast und schob sich langsam höher. In diesem Augenblick hörte Silke den Vater. Sie war zu erschrocken, um sofort Reißaus zu nehmen, stand wie festgenagelt und zitterte. Halb aufgerichtet, die Finger um die Blätter des Efeus gekrallt, bis sie den Saft spürte und zu sich kam. Sie versuchte die Angst wegzuschlucken, aber das Pochen im Hals blieb. Die Frau, deren Stimme Silke zum ersten Mal hörte, sprach viel leiser als der Vater. Er schien zu wiederholen, was sie sagte, und erst allmählich dämmerte Silke, dass es englische Vokabeln waren, die er herunterbetete. Silke begriff es nicht. Warum sollte der Vater sich mit der Hexe abgeben? Was konnte ihn dazu bewogen haben, abends statt in die Kneipe, wo die Mutter ihn vermutete, in die Hütte zu schleichen, zu einer Frau in schmutzigen Kleidern, die Katzen aß?

Sie stemmte sich hoch, bis sie den Fenstersims kalt unter den Händen spürte, und guckte durch die Scheibe. Der Blick der Frau traf Silke. Die Frau sagte nichts, schaute sie nur an und plötzlich verstand Silke den Vater. Die Augen der Frau waren von Fältchen umrahmt – aber alt sahen sie nicht aus. Auch kein bisschen verrückt, dafür sehr traurig. Für einen Moment glaubte Silke sogar, Sonnenpünktchen in ihnen gesehen zu haben. Aber das bildete sie sich bestimmt nur ein.

Silke schlich zurück. Sie fröstelte, dabei war der Wind, der über die nackten Arme strich, sommerlich warm. Nach Veilchen suchte sie nicht mehr. Sie erzählte den anderen nichts von der Frau. Sie erzählte es nicht einmal ihrem Vater.

Noch immer kam der Bruder zu Silke gekrochen, wenn die Eltern sich unten stritten, und schmiegte sich an sie. Mit seinen langen Wimpern sah er aus wie ein Mädchen. Er roch immer ein bisschen wie Babys riechen und das änderte sich auch nicht, als er zwölf wurde und Silke die ersten Haare an seinem Bauch entdeckte. Sie sprachen über Zungenküsse und Verliebtsein, aber er schlief fortan mit einem Schlüpfer unter der Schlafanzughose.

Der Winter brachte reichlich Schnee und Minusgrade. Eines Morgens war die dunkelblaue Übergardine am Fenster festgefroren; der Bruder plinkerte mit seinen Mädchenwimpern und griff nach dem Arm der Mutter, bis sie ihn sanft aber bestimmt beiseiteschob: »Hab dich nicht so.«

Silke horchte auf, solche Sätze waren bisher allein für sie bestimmt, doch weiter sagte die Mutter nichts, hielt einen Fön an den Stoff. Der Bruder schmollte auf dem Bett. Silke schaute auf die schmelzenden Eisblumen, verließ das Kinderzimmer, hörte im Hinuntergehen die Mutter den Bruder beruhigen. »Ein dunkles Rollo«, mehr verstand sie nicht. Auch nicht, wo das angebracht werden sollte.

Am Ende des Winters, lange bevor sie zum ersten Mal nach den Veilchenteppichen Ausschau hielt, sah Silke ihren Vater weinen. Er saß auf dem großen Sessel in der Wohnstube, die Mutter rannte herum, nahm die Zeitungen vom Couchtisch und ließ sie wieder fallen, schrie heiser. Als wolle sie flüstern, aber flüstern konnte die Mutter wohl nicht. Silke wunderte sich, dass der Vater nichts sagte, er war immer ruhiger als sie, aber nie stumm. Er wischte die Tränen nicht weg, er hing mehr als er saß, und das Chaos, das die Mutter um ihn herum veranstaltete mit ihrem Geschrei, den hingeworfenen Zeitungen, dem Poltern und Schurren, schien bei ihm nicht anzukommen. Silke schlüpfte ins Kinderzimmer, wollte der Mutter keinen Grund liefern, ihre Wut an ihr auszulassen und traute sich nicht einmal, das Radio anzuschalten, das sonst jeden Nachmittag lief.

Erst am nächsten Tag in der Schule erfuhr sie, dass die Frau gestorben war. Sie hatte keinen Namen im Dorf, hieß nur »die Hexe«, und niemand schien zu wissen, woher sie gekommen war und weshalb sie keine Familie hatte. Es sah nicht aus, als ob es jemanden interessierte, dabei musste sonst alles, was im und um den Ort herum geschah, für den Konsumklatsch herhalten.

Zu Ostern wurde es frostig, draußen und drinnen, dann taute der Schnee. Eines Abends kam die Mutter ins Kinderzimmer und weinte sich aus. Silke verstand nicht viel von dem, was sie sagte, und das lag nicht daran, dass die Mutter schniefte, sondern daran, dass Silke ihren Vater bewunderte. Sie kannte die Rothaarigen nicht, die er Mutters Meinung nach fickte, aber sie kannte die Mutter und deren hysterische Anfälle. Die Wutausbrüche, wenn sie den Herd nicht abgewischt hatte nach dem Mittagessen oder die Musik zu laut war. Die Mutter kochte und wusch, und sie buk den besten Hefekuchen der Welt, aber Silke wollte viel lieber wie ihr Vater sein – stark und unabhängig.

Stattdessen spürte sie den Körper der Mutter auf sich lasten, roch den Schweiß, umhüllt von einer Parfumwolke, und hätte sie am liebsten von sich gestoßen. Doch sie saß einfach nur da, die Arme hängend, bis die Mutter sich endlich von ihr löste. Das Einzige, was Silke begriff, war, dass Onkel Werner vielleicht nicht mehr kommen würde und ihre Mutter glaubte, dass Silke nun bald selbst eine Frau sein würde und sie deswegen verstehen müsste. Dabei hatte sie noch jeden Jungen madig gemacht, den Silke mochte oder von dem sie nur häufig erzählte, was dasselbe war, und gelacht, als der erste Silke verlassen hatte und sie mit den Türen schmiss. Der Vater dagegen wollte ihre letzte Mathearbeit sehen und als er die Drei darunter erblickte, sagte er: »Das nächste Mal wird es wieder eine Zwei.«

Es war keine Frage.

Solange die Zensuren im Zweierbereich lagen, konnte Silke alles von ihm bekommen. Er legte sich mit der Mutter an, die sie nicht zur Disko lassen wollte oder zumindest nicht bis in die Nacht. Einmal, als Silke nicht pünktlich nach Hause kam, brachte der Vater ihr einen Regenschirm in den Saal und eroberte damit sämtliche Mädchenherzen.

Silke ahnte, dass die Mutter eines Tages die großen Koffer vom Boden holen würde. Aber als ihr Bruder die Pullover aus dem gemeinsamen Schrank nahm und auf dem Bett zu stapeln begann, rannte sie in den Wald und blieb im Wipfel einer Kiefer sitzen, bis es dunkel war.

Als der Möbelwagen kam, war Silke nicht zu Hause. Sie hatte überlegt, sich hinter den Holzmieten zu verstecken oder eine Höhle zu bauen und hineinzukriechen. Doch dann erschien ihr das kindisch. Der Zufall kam ihr in Gestalt der Pionierleiterin zu Hilfe. Die Klassenbeste hatte Mumps und Fräulein Sommerwind suchte jemanden, der das Wochenende mit ihr und einer Gruppe Junger Pioniere am See verbringen würde. Silke sagte sofort zu. Die Pionierleiterin schaute sie mit hochgezogenen Brauen an und das Fragezeichen hinter ihrem: »Du?«, sagte alles, was sie nicht aussprach und beide wussten. Vorbildliche FDJler waren Einserschüler; Lernen war für sie wichtiger als Diskotheken und Jungen. Aber Silke war da und die fünfzehn Kinder aus der zweiten Klasse mussten schließlich betreut werden. Sie fuhren das erste Mal in ein Lager und konnten vor Aufregung nicht stillstehen.

Fräulein Sommerwind bestimmte das Abteil und setzte sich zu den Mädchen. Die Jungen hatten schon Spielkarten in den Händen und fragten, ob Silke mit ihnen Mau-Mau spielen würde.

Das taten sie die nächsten zwei Stunden, bis sie in den Bus umstiegen, der sie zum Ferienlager brachte – einer Gruppe Bungalows, keine fünfzig Meter von einem kleinen See entfernt.

Am nächsten Morgen wachte Silke früh auf und lief zum Wasser. Die Sonne war aufgegangen, aber noch nicht über den Wald gekommen, das Gras nass. Sie zog sich aus und sprang in den See, schwamm prustend eine Runde und tauchte. Sie konnte das mit offenen Augen, sie brannten nicht oder nur dann, wenn Silke zu lange unten war. Dieses Mal brannte ihr gesamtes Gesicht, als sie den Kopf aus dem Wasser hob. Am Ufer standen die Jungen und schwenkten ihre Sachen. Silke wünschte sich die langen Haare zurück, aber die hatte die Friseuse eine Woche zuvor abgeschnitten, Silkes Tränen ignorierend. Die Mutter hatte darauf bestanden, sie ordentlich zurückzulassen, und ordentlich war für sie ein Kurzhaarschnitt, wie ihn junge Frauen trugen. Der Vater hatte in diesen Packtagen keine Kraft gefunden ihr beizustehen und sein »Die wachsen doch wieder« hatte erschreckend kratzig geklungen. Sofort nach dem Friseurbesuch hatte Silke all die sorgfältig gedrehten Wellen mitsamt dem Haarspray wieder und wieder ausgewaschen, aber die Haare blieben kurz.

Silke tauchte ab, stieß sich nach oben, die Steine am Grund waren glitschig; das Seewasser roch nicht modrig. Am Ufer kreischten die Jungen. Sollte sie ihnen versprechen, für jeden einen Flitzbogen zu bauen oder lieber, dass sie sie anfassen dürften? Würde sie es über sich bringen, die Jungen während einer Nachtwanderung einzeln zu vermöbeln oder musste sie sich in den Duschraum stellen und ihnen beim Waschen zuschauen? Sie schwamm eine weitere Runde, entfernte sich vom Strand, berührte mit den Zehen Seerosenstiele und drehte bei.

Langsam näherte sie sich dem Ufer. Schon spürte sie den schlammigen Boden unter den Füßen, und nichts Passendes fiel ihr ein. Sie richtete sich auf und – die Jungen stoben davon. Niemand drehte sich auch nur um.

Beim gemeinsamen Frühstück sprachen die Jungen nicht. Fräulein Sommerwind schaute Silke mehrmals an. Die Jungen pressten die Lippen aufeinander. Silke sagte nichts. Sie besprachen den Tag, bereiteten den kleinen Fahnenappell ohne Appellplatz und die Schnipseljagd vor, die nach dem Essen beginnen sollte. Silke schickte die Jungen Zähne putzen und Halstücher holen. Dann standen sie vor ihr, die blauen Tücher in der Hand, und einer nach dem anderen bat Silke, den Knoten zu binden.

Die Schnipseljagd gewannen die Jungen. Fräulein Sommerwind steckte den Siegern Abzeichen an, Silke verteilte Eisbonbons, schob sich selbst einen in den Mund und ließ die Tüte bei den Mädchen herumgehen.

Den ganzen Tag hatte sie nicht an den Möbelwagen gedacht. Erst als das kleine Lagerfeuer herunterbrannte und die Kinder zu murren begannen, weil sie in der Helligkeit schlafen gehen sollten, nahm sie Fräulein Sommerwind die Gitarre aus der Hand. Sie mochte die Pionierlieder, aber nun brauchte sie etwas, das ablenkte und albern war. Silke begann mit dem »Kreideweißen Mann mit schwarzen Zähnen«, sang die »Moritat von der Gabel«, bei der die Mädchen sich hinter Fräulein Sommerwind versteckten und die Jungen enger an sie rückten. Bei »Siebzehn Mann auf des toten Manns Kiste« stimmte Fräulein Sommerwind ein. Die dünnen Arme der Kinder verhakelten sich wie von selbst. Jungen und Mädchen schunkelten um das Feuer. Fräulein Sommerwind rief jetzt immer noch einen Titel, den Silke singen und spielen sollte.

Später, im Doppelstockbett des Bungalows, sah Silke den Möbelwagen vor dem Haus stehen und fragte sich, wie sie die Spuren der dicken Reifen je aus dem Pflaster bekommen sollten.

4

In den ersten Tagen nach dem Auszug der Mutter erreichte Silke die Endgültigkeit nicht. Sie lebte, als könnten die beiden jederzeit wiederkommen, und dachte darüber nach, welche Fotos der Bruder dieses Mal mitbringen würde.

Als der Vater begann, neue Möbel zu bauen, wurde Silke zum ersten Mal schlecht. Der Bruder hatte seine Wehwehchen, wie der Vater das nannte, und er hatte Ohren-, Hals- oder Bauchschmerzen so gepflegt, dass er nie essen musste, was er nicht wollte. Silke hatte Vorlieben, aber gewürgt hatte sie nie. Nun rannte sie ins Bad und der Vater sah sie lange an, als sie käseweiß vor ihm stand, und schickte sie hoch. Sie zog das Bett des Bruders unter ihrem hervor, legte sich hinein und glaubte den Rest Wärme zu spüren, den sein schmaler Körper dort hinterlassen haben musste. Erst am Nachmittag stand sie auf.

Solange der Vater in der Werkstatt baute, konnte sie helfen, aber jedes Mal, wenn er ein Regal oder ein Verbindungsstück ins Wohnzimmer trug und einpasste, drehte sich ihr Magen erneut um. Sie verstand es nicht. Der Bruder war derjenige, der oft krank gewesen war, die Mutter hatte nach ihren hysterischen Anfällen regelmäßig Kopfschmerzen bekommen; der Vater und sie waren nie krank. Aber krank war wohl nicht das richtige Wort dafür, was sich in ihrem Bauch tat.

»Du hast es gut«, hörte Silke nun mindestens einmal am Tag einen Mitschüler sagen, »du kannst nachmittags spielen und niemand passt auf.« Sie alberten weiterhin mit Silke herum, rückten Hausaufgaben heraus, die sie in Windeseile abschrieb, und wurden nur sauer, wenn sie am Nachmittag keine Zeit hatte, sich mit ihnen zu treffen. Dass sie sich allein um alles kümmern musste, daran dachten ihre Schulkameraden nicht.

Die Frauen im Dorf tuschelten fortan über sie und den Vater. Silke fuhr erhobenen Hauptes durch den Ort, streckte den Rücken durch, kaufte ein. Sobald sie jedoch die Haustür hinter sich zugeknallt hatte, ließ sie sich auf den Boden sinken. Den Rücken an der Tür, damit niemand ihr folgen, sie weiter angaffen oder mit Fingern auf sie zeigen konnte.

An einem Tag musste sie dreimal zum Konsum fahren, weil das Milchauto sich verspätete. Dreimal Rücken straffen, dreimal wegsehen, dreimal nichts mitbekommen. Sie stellte die Milch hinter der Tür ab und rannte nach oben, warf sich aufs Bett, schniefte, bis das Kissen nass war. Sie hielt den Arm heraus, so wie früher, wenn der Bruder ihre Hand genommen hatte. Als Silke die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf ein Foto von dem kleinen Rehkitz, das alle – außer dem Vater – Bambi genannt hatten. Ein paar Wochen lang hatten sie es gefüttert, dann war die Wunde am Bein verheilt und der Vater bestand darauf, das Kitz wieder freizulassen. Er setzte es mit Silke zusammen am Waldrand aus und sie hoffte, dass es tatsächlich im Wald bleiben würde und nicht wieder auf die Felder rannte, wo die Mähdrescher nicht schnell genug bremsen konnten.

Silke hatte das Bild damals auf Karton geklebt; jetzt sprang sie auf, löste es von der Pappe, riss es entzwei, bis die Fetzen sich nicht weiter teilen ließen und heulte weiter auf die nassen Schnipsel. Bambis Mutter war von bösen Menschen erschossen worden. Bambi hatte sie gesucht. Er konnte seine Mutter nicht finden, weil sie tot war. Ihre Mutter hatte sie verlassen. Warum war sie nicht einfach gestorben? Niemand würde mit dem Finger auf sie zeigen, niemand würde sich wegdrehen, alle würden kommen und sie drücken wollen und ihr helfen.

Bambi. Die letzte Szene. Als Bambi den Kopf hob und nun der Herrscher des Waldes war. Silke wischte mit dem Pulli ihr Gesicht trocken und stampfte einen Fuß auf den Boden: »Genauso will ich sein!«

Ein paar Tage später kam der Vater mit einem Welpen nach Hause. Vielleicht dachte er, sie dafür trösten zu müssen, dass der Bruder nicht mehr da war. Er sagte es nicht. Er brummelte von einem Kollegen und dass sie drei Junge abzugeben hätten und wenn Silke der nicht gefiel, könnten sie am Wochenende die anderen beiden anschauen fahren. Silke nahm das plüschige Tier sofort auf den Arm, herzte und streichelte es, aber es pullerte sie an und als sie aufschrie, biss es mit seinen kleinen Zähnen in ihren Arm. Es tat nicht sehr weh, der Schreck war größer als der Schmerz, und der Vater lachte. Aber als Silke ihn fragte, was er mit dem Hund machen wolle, wenn sie zur Ausbildung ginge, zuckte er die Schultern. »Das wird sich finden.«

Sie wollte das nicht. Keinen Ersatz. Sie war vollauf damit beschäftigt zu begreifen, dass es ihren Bruder nicht mehr gab, dass die Mutter weg war, und zwar nicht nur zu einem Kurzurlaub in den Harz. Silke hatte sich entschieden selbst wegzugehen, wenn auch erst in einem Jahr, und sie wollte sich nicht schon wieder von jemandem trennen müssen. Außerdem gab es immer noch den Kater vom Nachbarn, der sie begrüßte, wenn sie aus der Schule kam und sich von ihr streicheln ließ. Nichts von alldem hatte sie laut gesagt. Der Vater setzte den kleinen Kerl in den Korb zurück, in dem er ihn mitgebracht hatte, nahm Silke in ihrem feuchten Pullover in den Arm und küsste sie auf die Stirn. Er brachte keine anderen Tiere mehr mit nach Hause.

Eine Nachbarin, die im Konsum arbeitete, hatte an manchen Tagen Milch für sie zurückgestellt und Fleisch beiseitegelegt, von dem sie annahm, dass Silke es zu einem Essen verarbeiten konnte. Hin und wieder wickelte Silke mit dem Stück einen Zettel aus, auf dem sie Tipps für die Zubereitung fand. Dem Vater konnte sie versalzene Bouletten vorsetzen, er trank ein Bier mehr und murrte nicht, aber wenn am Wochenende seine Freunde halfen, duldete er keine verbrannten Schnitzel. Obwohl Silke sich streng an die Vorgaben in den Kochbüchern hielt, waren es meistens diese Wochenenden, an denen der Braten zerfiel und das Gemüse zerkochte. Sie sah die Fernsehwerbung für Fertiggerichte oder tiefgefrorenen Kuchen, den man im Herd auftauen konnte, und gewöhnte sich an Gerichte vorzukochen. In den großen Tiefkühlschrank im Keller, den sie zuerst nur mit Gartenfrüchten gefüllt hatte, stopfte sie Plastedosen mit Kohlrouladen, Gulasch und sogar Kartoffelsuppe, sodass sie nur die Kartoffeln kochen oder die Wurst dazu bereiten musste. Nudeln durfte es an den Wochenenden nicht geben und keine Obsttorten, weil die Männer den Kuchen in die Hand nehmen wollten. Hefekuchen buk Silke keinen. Sie hatte nicht ein einziges Mal ausprobiert, ob der Teig gehen würde, was das Schwerste daran sein sollte. Hefekuchen gehörte zur Vergangenheit. Außerdem war niemand da, mit dem sie sich um das letzte warme Randstück hätte streiten können.

Eines Abends sprang Silke vom Stuhl auf, kaum dass der Vater sich auf seinen gesetzt hatte: »Wir haben heute einen Versuch gemacht und ich musste nach vorn!«

»Und dir ist ausnahmsweise keine Ausrede eingefallen?«

»Haha. Macht aber nichts. Heut hab ich den Beweis gelernt!«

»Nun mach’s nicht so spannend, ich hab Hunger.«

»Kannst abbeißen, aber du hörst mir zu, ja?«

Der Vater schnitt eine Scheibe Brot ab.

»Drei Schüsseln standen vorn, alle mit Wasser, halbvoll. Ich sollte zuerst den linken Arm links und den rechten Arm in die rechte Schüssel tauchen, ganz weit rein. Bin richtig erschrocken, weil’s links eiskalt war und rechts heiß. Hab die linke Faust immer auf- und zugemacht, gepumpt, aber das Wasser war einfach zu kalt. Und rechts hab ich schon die ekligen Froschrillen gekriegt. Brr. Und dann sollte ich beide Arme herausnehmen und zusammen in die mittlere Schüssel tauchen. Was grinst du denn da?«

»Hast du geschrien?«

»Natürlich nicht! Na ja, ein bisschen. Gruselig war’s zuerst, die eiskalte Faust brannte und rechts gab’s ne Gänsehaut. Aber dann war das echt klasse!« Mit heftigen Armbewegungen untermalt, erklärte Silke dem Vater, wie unzuverlässig alles war, was nicht im Kopf entstand. Er legte gelangweilt die Wurst aufs Brot. Silke gestikulierte weiter: »Du weißt, dass ich es hasse, Blinde Kuh zu spielen, aber genau das ist der Beweis!«