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Eva Isabella Leitold

TEAM ZERO

Heißkaltes Spiel

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Paranormal Romantic Suspense

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HEISSKALTES SPIEL

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EVA ISABELLA LEITOLD

© 2015 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH
8712 Niklasdorf, Austria

Neuauflage
1. Auflage erschienen 2011 im Sieben Verlag
Covergestaltung: © Sturmmöwen
Titelabbildung: © Blitznetsov

ISBN-Taschenbuch: 978-3-902972-87-3
ISBN-EPUB: 978-3-902972-88-0

www.romance-edition.com

1. Kapitel

Der Einsatzbus des SWAT-Teams fiel in der Wohnsiedlung sicherlich auf, denn er setzte inmitten der Grautöne definitiv Akzente. Aber weder Josy noch ihr Team bemühten sich um Unauffälligkeit, schließlich würde dieser Fall hier und heute beendet werden.

Als leitende Beamtin saß Josy zusammen mit ihrem Team auf einer der Rücksitzbänke, in voller Ausrüstung. Schwarzer Einsatzoverall, Vollvisierhelm, darunter eine Sturmhaube, um die Identität des jeweiligen Beamten zu verbergen, eine ballistische Weste, Stahlkappenschuhe und bewaffnet mit einer 9-mm-Glock.

Josy starrte auf den Boden, konzentrierte sich auf ihre Atmung und bereitete sich auf die bevorstehende Aufgabe vor. So wie sie es in solchen Momenten immer tat, um sich von den Wogen ihrer Emotionen nicht überrollen zu lassen. Äußerlich blieb sie reglos, während es unter der Oberfläche heftig brodelte. Adrenalin, gepaart mit ungeduldiger Erwartung, raste durch ihre Venen. Sie spürte dieses Kribbeln bis in die Fingerspitzen. Es war, als säße sie in einem Flugzeug und wartete voller Spannung auf ihren Sprung in die Tiefe, die Schnur des Fallschirms in Reichweite, die Sicherheit des unversehrten Aufkommens im hintersten Winkel ihres Verstandes.

Während die Einsatztruppe wartete – ihre Waffen und ihr Innerstes bereit für den Einsatz – hätte man das Geräusch einer fallenden Stecknadel wahrnehmen können.

Die Vorgehensweise stand seit der Einsatzbesprechung, die in der Zentrale stattgefunden hatte, fest. Man wusste jedoch nie, was sich ergeben, oder wie die Lage sich verändern würde. Zwar konnte man vieles planen, aber ob die Realität sich an den Plan hielt, war immer auch ein Glücksspiel. Also musste sie auf ihr Urteilsvermögen zählen können, das in wenigen Sekunden den gesamten Verlauf des Einsatzes entscheiden konnte, und auf ihr für diese Einsätze eigens ausgebildetes Team vertrauen, das jedoch für seine Kompetenz bekannt war.

Je näher sie dem Ziel kamen, desto deutlicher spürte man die Anspannung. Die Minuten vor dem Einsatz waren eine der mühsamsten Belastungen. Vor allem die Wartezeit ohne aktive Handlungen zerrte an jedermanns Nervenkostüm. Josy öffnete sich für ihre Aufgabe, ließ ihre Sinne schweifen und suchte nach dem Geist des Täters – einem Menschen mit perfiden Gedanken und Gelüsten, der sich Befriedigung verschaffte, indem er sich der Lust, seine Opfer leiden zu sehen, hingab. Er quälte, misshandelte und tötete seine Opfer auf bizarre Art. Josy hatte schon viele bestialische Morde gesehen. Sie war der Meinung, dass sie nichts mehr überraschen oder erschüttern konnte, doch sie wurde in diesem Fall eines Besseren belehrt.

Sie war in ihrem Element. Innerlich lächelte sie bereits, denn sie würde diesen Psychopathen in wenigen Minuten zu fassen bekommen. Das Wissen, dass sie heute durch den Einsatz ihrer Gabe einen weiteren Schandfleck der Gesellschaft beseitigen würde, verschaffte ihr nicht nur persönliche Genugtuung, sondern sie würde wieder einmal beweisen, dass sie in der beruflichen Männerdomäne als Frau bestehen konnte.

Gedanklich hatte sie die Szene schon einige Male durchgespielt. Sie wusste, wie sie vor ihn treten und ihm das Handwerk legen würde. Der Gedanke an das bevorstehende Kräftemessen ließ sie vor Erwartung schaudern. Ihre Andersartigkeit war der Schlüssel, um einen weiteren Mörder zur Rechenschaft ziehen zu können.

Wenn er dabei spielen wollte, na gut, er hatte eine würdige Gegnerin gewählt. Wie es schien, war die Herausforderung bereits ausgesprochen, der Fehdehandschuh geworfen, und sie war mehr als bereit, ihn aufzuheben, zumal ihr dieser Dreckskerl bereits zweimal entwischt war. Noch nie hatte sie sich in der Lage befunden, einem Täter eine zweite Chance eingeräumt zu haben. Bis zum heutigen Einsatz lieferte sie sich mit jedem genau zwei Runden. In der ersten war er ihr voraus. Doch während er sich noch in seinem Triumph sonnte, stöberte sie bereits durch die Reste seiner Tat, nahm seine Spur auf, und prägte sich seine geistige Signatur ein. In der zweiten Runde hatte sie entscheidende Vorteile dem Täter gegenüber. Er hatte keine Chance ihr zu entkommen. Bis dieser hier aufgetaucht war und sie herausgefordert hatte.

Die Kratzer an ihrem Ego waren nichts im Vergleich zu dem Druck, den sie sich für diesen Einsatz auferlegt hatte. Durch ihre Gabe war es ihr immer leichtgefallen, ihre Kontrahenten zur Strecke zu bringen. Vermutlich zu leicht. Dieser hier zumindest hatte ihr diesen Gefallen nicht getan. Er war schlau und hatte seine Handlungen bis ins kleinste Detail geplant. Doch für den gegenwärtigen Moment hatte sie ihre Hausaufgaben ebenfalls gewissenhaft erledigt. Sie war seiner Aura gefolgt, hatte ihn drei Tage observiert und sich nicht, wie sonst, auf seine letzten Gedanken und seine Vorhaben verlassen. Sie kannte nun jeden Winkel seines Verstandes. Jede noch so schmutzige Einzelheit seiner Fantasie.

Dabei hatte sie sogar eine Gemeinsamkeit entdeckt. Auch sie nahm niemals etwas auf die leichte Schulter, und wenn sie sich für einen Auftrag entschieden hatte, war sie verbissen genug, bis zum Ende zu kämpfen. Heute würde dieser Kampf zu ihren Bedingungen entschieden werden. Der Adrenalinspiegel war bereits gestiegen und hatte jegliches Gefühl von Müdigkeit verdrängt. Sie war hellwach, nahm jedes Geräusch, jede Bewegung wahr. Nein, heute würde er kein leichtes Spiel mit ihr haben.

Vor einer Stunde war sie noch bei ihm gewesen, hatte die junge Frau, Marie, gesehen, die er sich angelacht hatte. Wie eine Klette hatte diese sich an ihn gehängt. Ihr war nicht annähernd bewusst gewesen, mit wem sie sich einließ. Und dann hatte er sie hierhergebracht, in diese schäbige Siedlung. Bisher hatte er eine Vorliebe für junge, hübsche Frauen gezeigt. Nun würde ihm das zum Verhängnis werden.

Durch die unbewusste Mithilfe von Marie, zusammen mit dem anonymen Tipp, der in der Zentrale eingegangen war, war sein Schicksal besiegelt worden.

Die Spannung, die inzwischen von Josys Team ausging, konnte man förmlich fühlen. Sie hörte die Erregung beinah knistern wie das Geräusch einer Hochspannungsleitung. Gern hätte sie jedem Teammitglied versichert, dass sie alles unter Kontrolle hatte. Doch dann würde sie in Erklärungsnot geraten, also ließ sie es wie immer bleiben und verließ sich stattdessen auf ihre Vorbereitungen und auf ihre Intuition.

Plötzlich spürte sie wieder dieses zarte Raunen, das durch ihren Körper streifte. Darauf hatte sie gewartet. Sie brauchte nur dieses Gefühl. Ein Summen, das durch ihr Bewusstsein drang. Als käme man mit einer Wünschelrute über eine Wasserader.

»Fahr hier rechts ran«, wies Josy den Fahrer an. Er lenkte den Einsatzbus an die Stelle, die sie ihm aufgetragen hatte, und schaltete den Motor ab. Derweil besah sie sich die Umgebung. Prägte sich jedes noch so kleine Detail ein. Sie senkte den Blick, schloss die Augen und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn. Sofort spürte sie dieses Prickeln im Nacken, das sich rasend über ihren ganzen Körper ausbreitete. Sie lockerte ihre Schilde. Ihr Geist begann, sich aus ihrem Körper zu schälen. Verdichtungen wandelten sich in Energiegebilde. Wie kleinste Fasern von Stoff hielten sie aneinander fest. Sie hob ab und tauchte ein in leuchtendes Licht, das sie wie zähflüssige Masse umschloss. Rasch verschmolz sie mit Licht und Hitze, gab sich ihren Sinnen hin und suchte nach dieser individuellen Kombination, nach seiner Note, nach seinem Seelenabdruck aus Mord, Lust und düsterer Freude. Als sie ihn erfasste, legte sie die Fäden ihres Bewusstseins um seinen Geist.

Es fühlte sich an, als ließe sie ihren Körper als leere Hülle zurück, während sie in einem anderen Kopf als unbeteiligte Beobachterin Platz nahm. Es dauerte nur wenige Sekunden, um ihre Sinne an die neue Situation anzupassen.

Dann betrachtete sie die Welt aus den Augen eines Mörders.

Er verließ das Badezimmer im Erdgeschoss und schloss leise die Tür hinter sich. Über seine kräftigen, flinken Hände hatte er weiße Latexhandschuhe gezogen, die sich wie eine zweite Haut anfühlten. Doch jetzt, wo seine Gedanken und Gefühle Josy durchströmten, wusste sie, dass er diese Handschuhe nicht nur trug, um keine Spuren zu hinterlassen, es ging auch darum, eine Barriere zwischen sich und seinem Opfer zu schaffen. Eine Distanz, die er kontrollieren konnte. Auf seinem Weg über einen dunklen Flur in das angrenzende Wohnzimmer griff er nach dem Nylonseil, das er bei seiner Ankunft unbemerkt dort hingelegt hatte.

Seine Gedanken überschlugen sich. Josy nahm seine Zerrissenheit wahr. Er trug einen inneren Kampf aus: der Sadist gegen den Mörder. Energisch zwang er sich zur Zurückhaltung. Er wollte Herr der Lage bleiben. Josy spürte seine Angst, der Mörder könnte allzu schnell die Oberhand gewinnen und den Sadisten um sein Vergnügen bringen. Nicht der Tod an sich war sein Verlangen, sondern der Schmerz, die Furcht und die Qual, die damit einhergingen. Die Macht, die er in diesen Momenten besaß, erfüllte ihn mit einem Gefühl tiefen inneren Friedens.

Mit grausamer Gelassenheit schlenderte er in einen großen Raum, der nur mager eingerichtet war und für normale Maßstäbe als unbewohnbar gelten würde. Der graue Teppichboden war fleckig und an den Fenstern hingen alte, vergilbte Vorhänge. In der rechten Ecke stand ein hässlicher alter Esstisch, darauf ein Laptop, davor ein Stuhl – in der Mitte des Raumes ein grünes schmuddeliges Sofa, das längst ausgedient hatte. Auf einer eigens für sie über das Sofa ausgebreiteten sauberen Decke saß Marie und spielte nervös mit ihrer Halskette. Ganz sicher hatte sie sich ein etwas anderes Ambiente vorgestellt und das schien sie zunehmend unruhiger zu stimmen.

Er achtete nicht auf ihr Verhalten. Beinah geräuschlos bewegte er sich auf sie zu. Wie ein Jäger, der seiner Beute auflauert, schritt er geschmeidig wie ein Raubtier zu ihr und nutzte die Gelegenheit, um ihren reinen Anblick und ihren femininen Duft einzusaugen. Für ihn roch sie herrlich verführerisch. Ein Geruch, der ihm das Töten zusätzlich versüßen würde. Ein Geruch, der den Sadisten in ihm reizte. Sein Atem beschleunigte sich. Seine Erregung wuchs. Zum wiederholten Male ermahnte er sich zur Ruhe. Er wollte nicht abschlachten. Er wollte genießen. Er hatte alles unter Kontrolle.

Marie drehte sich in seine Richtung und lächelte schwach. Doch als sie das Seil sah, ließ sie von ihrer Halskette ab. »Was … was …«, stammelte sie. In ihrem Gesicht las Josy, dass die Situation für sie mehr als beängstigend geworden war. Sie konnte es ihr nicht verdenken.

Er sagte nichts, sondern ergötzte sich an dem ängstlichen Ausdruck in ihren Augen, während er mit dem Seil in seinen behandschuhten Händen spielte. Er ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Die Veränderung in ihrem Ausdruck, das Anwachsen der Angst, bis diese in Panik umschlug. All das nahm er in sich auf, labte sich daran. Er beherrschte dieses Spiel. Es war Teil seiner Leidenschaft. Für einen Moment gestattete er sich, die Augen zu schließen, um das herrliche Gefühl der Macht und der Vorfreude auszukosten. Doch dann wollte er nicht mehr warten. Mit wenigen Schritten war er neben ihr, schnappte Maria mit einem brutalen Griff und schleuderte sie zu Boden. Während er ihre Hände fesselte, steigerten ihre hilflosen Schreie seine Gelüste, die sich in seiner wachsenden Erektion bemerkbar machten.

Josy schüttelte sich und riss sich von Maries wehrlosem Anblick los.

Es wurde Zeit, zu handeln.

Sie verließ seinen Verstand genauso schnell, wie sie in ihn eingedrungen war, kehrte seinen Gefühlen den Rücken und in ihren Körper zurück. Das Zeitfenster war eng, also wollte sie schleunigst handeln. Da sie wusste, dass er gern mit seinen Opfern spielte, blieben der Truppe vielleicht zwanzig Minuten, bis er sie töten würde, doch sie wollte es nicht drauf ankommen lassen.

»Mike, John, Bill. Ihr geht um das Haus herum«, wies sie drei ihrer Männer ihres Teams an. »Auf der Terrasse befindet sich eine weitere Tür, die ins Wohnzimmer führt. Dort wartet ihr, bis ich mit dem Rest des Teams durch die vordere Tür gedrungen bin. Darauf folgt ihr uns durch den rückwärtigen Zugang. Ihr wisst, was dann zu tun ist.«

Die Männer nickten. Niemand fragte, woher sie die Informationen über die Raumaufteilung des Hauses hatte. In dieser Siedlung glichen sich die Häuser wie ein Ei dem anderen. Es wäre auch ohne ihre Fähigkeit nicht schwer zu erraten gewesen. Außerdem stießen sie nicht das erste Mal auf einen Mörder in dieser lausigen Gegend. Und bestimmt nicht das letzte Mal.

Sie öffnete die Schiebetür des Wagens und schlich mit ihrer Eskorte in gebückter Haltung näher an die Front des Gebäudes. Es war zweistöckig, mit alten Holzfenstern, einer abblätternden Fassade und einem renovierungsbedürftigen Dach. Es sah genauso schäbig aus wie der Rest der Siedlung, die größtenteils leer stehend oder von alten Menschen bewohnt war, die nicht in der Lage waren, ihre Häuser zu renovieren. Alles in allem war dieses Viertel in katastrophalem Zustand, nicht nur, was die sozialen Verhältnisse betraf.

Mit ihrer Glock im Anschlag stahl sie sich zur Eingangstür, stellte sich mit dem Rücken zur Hausmauer in Position und gab sich und ihren Männern eine Sekunde, um sich auf die folgenden wichtigen Momente vorzubereiten. Jeder Schritt, jede Handlung musste sitzen. Dann ging alles blitzschnell. Sie zerschoss das Schloss und drang mit ihrem Team ins Haus ein.

Mit schnellen Schritten stürmten sie über den Flur. Das Blut rauschte in ihren Ohren, jede Faser in ihrem Körper war gespannt, als sie die Wohnzimmertür mit einem kräftigen Tritt an die Wand schmetterte. Mit gestreckten Armen und durchgeladener Glock rannte sie in den Raum.

Sie stutzte. Das Zimmer war völlig verändert. Auf dem Tisch, den sie kurz zuvor noch durch seine Augen gesehen hatte, lag rücklings eine tote, nackte Frau.

Und dabei handelte es sich nicht um Marie.

Die Hände und Füße der Unbekannten waren an den vier Tischbeinen angebunden, ihr Kopf hing schlaff nach hinten, die Augen weit aufgerissen. An ihrer Kehle und ihren Pulsadern klafften tiefe Schnittwunden. Die Sehnen an den Handgelenken waren glatt durchtrennt worden. Blut tropfte aus den Wunden, hatte fünf Lachen auf dem Teppich unter dem Opfer hinterlassen, während rote Spritzer wie Regentropfen auf ihrem schlanken Körper hafteten.

Die Leiche und das viele Blut wandelten das ohnehin düstere Zimmer in ein entsetzliches Bild des Grauens. Die Art, wie die Leiche aufgebahrt war, ließ auf einen rituellen Mord schließen.

Das Eindringen ihres restlichen Teams nahm Josy nur am Rande wahr. Sie war zu schockiert, um ihren Blick von der Toten wenden zu können. Der qualvolle, gepeinigte Ausdruck in den leeren Augen ließ sie nicht los. Die ganze Szene war surreal, vor allem, weil sie auf eine völlig andere Situation vorbereitet gewesen war.

Ihre Männer hatten bereits das Untergeschoss des Hauses gesichert, als Pat kam und sie aus ihrer Erstarrung riss.

»Wir gehen jetzt nach oben«, informierte er sie, ohne sie direkt anzusehen, weil er ebenfalls die Leiche anstarrte.

Josy nickte, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Sie hatte erneut versagt. Die Aura des Täters löste sich bereits auf. Er musste gerade erst den Ort des Entsetzens verlassen haben. Wie war das möglich? Wie konnte er von hier verschwunden sein, ohne dass irgendjemand … ohne dass sie es bemerkt hatte?

Und wo war Marie?

Oh Gott. Sie ballte ihre zitternden Hände zu Fäusten. Ihre Empfindungen fuhren Achterbahn. Gedanken stoben durcheinander. Übelkeit stieg hoch. Verdammt, verdammt, verdammt!

»Bill, John.« Sie legte ihnen nah, ihr zu folgen und ging den Flur entlang zu der Treppe, die in den oberen Stock führte.

Übler Gestank nach faulendem Fleisch und der metallische Geruch nach Blut schwallten ihr entgegen. Je weiter sie sich dem Obergeschoss näherte, desto schärfer wurde der Geruch, der sich grausam in ihre Nase brannte. Sie straffte sich innerlich. Erwartete bereits das Schlimmste. Doch als sie das Zimmer, auf das Pat wies, betrat, traf sie beinah der Schlag. Marie und ein weiteres, ihr unbekanntes Mädchen, lagen nackt auf dem stark verschmutzten Teppichboden. Die Augen gen Zimmerdecke gerichtet und ebenfalls weit aufgerissen. Sie hatten den Tod kommen sehen …

Der Körper des jüngeren, unbekannten Mädchens war von tiefen Schnittwunden und Einstichen übersät. Soweit das Auge reichte war Blut. Die Kulisse glich einem Massaker. Die Leiche lag in ausgedörrtem Erbrochenen. Sie lag wohl schon länger dort. Die langen Haare, die sich über ihren toten Körper ausgebreitet hatten, wirkten wie eine Art Schutz, um ihre Nacktheit zu bedecken. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, der Mund in einem stummen Schrei weit aufgerissen. Die Unterarme hatte es am Schlimmsten erwischt. Die Wunden zeugten von erbittertem Abwehrverhalten. Sie hatte sich vor ihrem Peiniger bis zum Ende schützen wollen. Josy erkannte, dass diese Person die Einzige war, die unmittelbar vor ihrem Tod noch die Möglichkeit zur Gegenwehr gehabt hatte.

Die Wucht ihrer Gefühle traf sie derart hart, dass sie strauchelte. Eine Mischung aus Mitleid und Bedauern schlug wie eine Welle über ihr zusammen. Am stärksten jedoch traf sie die Wut auf ihre selbstsichere Einstellung, die sie mit erbärmlicher Gelassenheit in dieses Haus getrieben hatte. Etwas, das sie niemals hätte empfinden dürfen.

Es war ihre Schuld, dass Marie den Tod gefunden hatte.

Josy hätte es verhindern müssen. Nur sie wäre dazu in der Lage gewesen. Sie hatte versagt. Sie war für den Tod dieser Menschen verantwortlich.

»Die Spurensicherung ist bereits eingetroffen. Sie beginnen mit dem Erdgeschoss«, rief Pat ihr zu, der im Türrahmen stand.

Wieder nickte sie ihm nur zu. Ihr fehlten die kühnen Worte, die sie ansonsten in solchen Momenten parat hatte, um die Situation für alle und vor allem für sich selbst erträglicher zu machen.

»Mich würde interessieren, was sich dieser Bastard dabei gedacht hat«, meinte Pat mit gerunzelter Stirn.

Sie folgte seinem Blick und schnappte nach Luft. Auf der hinteren Wand, neben dem kleinen Fenster, stand in großen, blutverschmierten Buchstaben:

Wenn Gedanken Taten beherrschen, wer beherrscht die Gedanken?

Ihr Magen rebellierte.

Er wusste es.

Er wusste es und hatte ihre Gabe gegen sie eingesetzt. Er hatte sie ausgetrickst und in eine Falle gelockt. Sie hatte keine Ahnung, wie das geschehen konnte, woher er es wusste oder wie er es hatte herausfinden können.

Diese Erkenntnis warf alles über den Haufen, wofür sie immer gekämpft, woran sie festgehalten hatte.

Keine zwei Minuten später war sie ihr mageres Abendessen wieder losgeworden. Sie war nicht zimperlich, aber diese Situation überstieg ihr Repertoire an Selbstbeherrschung und Gefasstheit und brachte ihre Welt – die ohnehin auf tönernen Füßen stand – ins Schwanken.

Sie zitterte am ganzen Körper. Bill und John starrten sie mitleidig an, doch sie versuchte, dieses Bedauern nicht auch noch in sich aufzunehmen. Es reichte völlig, mit ihren eigenen Gefühlen ringen zu müssen, die sie schwach wirken ließen. Und sie wollte nicht als verletzlich oder schwach gelten. Sie war kein kleines, zerbrechliches Mädchen, weder in ihrem Job noch als Mensch. Schwäche war ihr größter Feind, bot Angriffsfläche und führte unweigerlich zu einem inneren Schlachtfeld. Also biss sie die Zähne zusammen.

»Du hast soeben auf den Tatort gekotzt«, bemerkte Bill und versuchte, ihre sonst so sarkastische Stimme nachzuahmen.

»Ich hatte wenig Spielraum«, presste sie hervor und starrte auf den Boden. Sie ertrug jetzt kein Mitleid, also vermied sie, einem der beiden ins Gesicht zu sehen. Außerdem war es einfacher, der Welt zynisch zu begegnen, als seine eigentlichen Gefühle offen auf dem Silbertablett zu präsentieren.

Zeitgleich reichte John ihr ein Stück Toilettenpapier, ließ seine Hand aber gleich wieder sinken, weil sie keine Anstalten machte, sich zu rühren. Offenbar hatten beide verstanden, dass sie an ihre Grenzen gekommen war und nur mehr allein sein wollte, denn sie wandten sich ohne Kommentare ab und dem Tatort zu. Erst dann wischte sie sich den Mund an ihrem langärmeligen T-Shirt ab und richtete sich zu ihrer vollen Größe von einsfünfundsiebzig auf. Schweiß lief zwischen ihren Schulterblättern hinunter. Plötzlich war ihr die schusssichere Weste zu eng. Selbst ihre Unterwäsche fühlte sich kratzig an.

Scheiße.

Sie musste hier raus. Sofort. Und zwar auf dem schnellsten Wege, bevor sie endgültig explodierte und auch noch dem Rest der Truppe gestand, wie miserabel sie sich fühlte. Auf der Treppe stolperte sie beinah, rannte dennoch weiter. Einfach nur weg hier. An einen sicheren Ort, wo sie zusammenbrechen konnte, ihre Wunden lecken.

Die Spurensicherung kümmerte sich bereits zusammen mit den Cops um die Beweismittelsicherung. Kleine Fähnchen und Nummerierungen wurden verteilt. Der Tatortfotograf war bereits eingetroffen. Alles wurde dokumentiert und für spätere Untersuchungen sichergestellt.

Ihren Bericht würde sie später abgeben, denn ihr stand nicht der Kopf danach, mit den anderen darüber zu sinnieren, was dieses Mal schief gegangen war.

Schließlich wusste sie das bereits.

Sie ballte die Hände erneut zu Fäusten, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Diese Geste fühlte sich sicher an. Als könnte sie sich daran festklammern. Als könnte sie so die anklagenden Blicke, die über sie hinweghuschten, leichter ertragen. Vielleicht bildete sie sich diese auch nur ein. Sie wusste es nicht. Mit schnellen Schritten überquerte sie den Rasen, während sie sich die Weste vom Oberkörper zerrte.

So schnell, dass sie beinah erschrak, ergriff jemand ihren Arm und riss sie beiseite. Dan. Ihr Vorgesetzter.

Lässig lehnte er neben dem Wagen und musterte sie aufmerksam. Sie sah, wie er mit sich kämpfte, seinen Blick so unbeteiligt wie möglich ausfallen zu lassen. Es war jämmerlich, trotzdem wurde ihr warm ums Herz. Er kannte sie einfach. Ohne etwas zu sagen, reichte er ihr eine Tasse Tee aus der Thermoskanne.

»Danke dir.« Sie versuchte, das Beben in ihrer Stimme zu verbergen.

Dan war der einzige Mensch, der hinter ihre Fassade blicken konnte. Sein wortloses Verständnis rührte sie beinah zu Tränen. Bei ihm konnte sie die raue Schale, hinter der sie sich oft verbarg, ablegen, denn er wusste so oder so, dass sie aus der Bahn geworfen war. Das war seltsam, denn im Grunde konnte sie ihr Innerstes vor allem und jedem verschließen. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Truppe sie genau deshalb mochte und schätzte, weil sie sich unerschütterlich gab und ihnen somit eine Stütze sein konnte. Das war schließlich Teil ihres Jobs. Aber wer war ihre Stütze? An wen konnte sie sich klammern, wenn sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah? Wenn laut die Verzweiflung in ihr aufschrie? Wenn sie den Boden unter den Füßen verlor und sie vergeblich nach Halt angelte? Und vor allem, wer würde ihre Sicht der Dinge verstehen? Darauf wusste sie keine Antwort. Sie hatte in den vergangenen Jahren auch nie innegehalten, um es herauszufinden. Sie hatte auch nicht vor, noch einmal auf ihrem Weg anzuhalten und zu überprüfen, ob es nicht doch einen Menschen gab, der ihr Vertrauen wert war. Sie war mit genug hässlichen Erfahrungen geschlagen. Eine Wiederholung kam nicht infrage.

Auch wenn sie nicht mit Dan über ihr verkorkstes Leben und ihre Gabe sprechen konnte, hatte sie doch das Gefühl, dass er sie besser verstand als jeder andere. Sie hatte keine Ahnung, was er über sie dachte, wenn er sie mit diesen weisen Augen betrachtete. Sie wollte es auch gar nicht wissen, da war zu viel Angst, dass sie das, was zwischen ihnen war, zerstörte. Sie hütete sich davor, in den Geist der Menschen einzudringen, mit denen sie ständig zusammen war. Es war eine Sache, in den Köpfen kranker Menschen herumzustochern, aber eine ganz andere, von seinen Mitmenschen zu wissen, was sie von einem dachten. Wie sie einen sahen.

Die Wahrheit kann oft schmerzlich sein. Das wusste sie nur allzu gut.

Dan sah sie noch immer an. Mittlerweile hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie den roten Nebel aus ihrem Kopf vertreiben konnte. Zumindest hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, etwas zerdeppern zu müssen.

»Ich möchte mit dir sprechen, Jo.«

»Okay.« Sie nahm noch einen Schluck Tee. Tequila wäre ihr lieber gewesen, oder etwas ähnlich Starkes, um das beklemmende Gefühl in ihrer Brust zu vertreiben. Härtere Sachen trank sie selten, aber nach dem heutigen Einsatz könnte sie etwas Stärkeres als Tee vertragen.

»Komm, steig ein, wir fahren eine kleine Runde.«

Dabei deutete Dan auf seinen BMW Kombi. Verwundert sah sie ihn an. Sie erinnerte sich nicht daran, wann er das letzte Mal so frühzeitig einen Tatort verlassen hatte. Für gewöhnlich war auch sie eine der Letzten, die das Feld räumten, denn sie musste sich die Aura des Täters einprägen, um eine Chance zu haben, ihn auf der geistigen Ebene zu erreichen. Doch in diesem Fall hatte sie das ja bereits getan, somit hatte sich ihre Arbeit wohl erledigt. Innerlich seufzte sie, während Dan die Beifahrertür öffnete. Sie stieg ein und griff nach dem Gurt.

Als sie das Viertel hinter sich gelassen hatten, sah sie ihn von der Seite an. »Du wolltest etwas mit mir besprechen?«

»Wie geht es dir, Jo?«

Sie wunderte sich über diese Frage, denn dahinter verbarg sich eine Anklage. »Mir geht es gut«, versicherte sie, bemüht, einen selbstsicheren Eindruck zu machen.

»Du verweigerst seit vier Monaten das Gespräch mit Dr Corey.«

Hier war sie also, die Anklage. Dr Corey war die Psychologin, die die Dienststelle des SWAT-Kommandos betreute. Jedes Teammitglied musste in regelmäßigen Abständen mit ihr über die Einsätze sprechen.

»Ja. Und was willst du mir damit sagen?«

»Denkst du, für dich gelten nicht dieselben Regeln wie für alle anderen?«

»Wolltest du nur mit mir reden, um mir zu sagen, dass ich die Gespräche mit der Psychologin vernachlässige?«

Dan schüttelte den Kopf. »Jo, diese Gespräche sind wichtig. Wir können nicht alle Erlebnisse allein verarbeiten.«

Er sprach mit ihr wie ein Vater zu seinem Kind. Sie kannte Dan, seit sie vor zwei Jahren zum SWAT-Kommando kam. Er leitete die Abteilung und hatte Josy damals eingestellt. Vom ersten Moment an mochte sie ihn. Er war acht Jahre älter als sie und mit seinen bereits teilweise ergrauten Haaren und seinem besonnenen Charakter strahlte er eine ansteckende Ruhe aus. Doch im Augenblick brachte er Josy mit seinem Gerede und seiner offenen Anklage nur auf die Palme.

»Ich sehe einfach nicht ein, wieso ich mit einer fremden Person über meine Gefühle reden soll. Denkst du, es hilft mir, wenn ich mit ihr darüber rede, was in mir vorgeht, wenn ich die Einzelteile einer Leiche aufsammeln muss, oder gezwungen bin, einen Mörder zu erschießen?«

»Hör mir doch einfach mal zu«, fiel Dan ihr ins Wort.

»Es rührt mich, dass du dir Sorgen um mich machst, aber ich bin ein großes Mädchen und ich habe alles im Griff. Und was die Psychologin angeht … Woher sollte sie wissen, was wir da draußen erleben und zu sehen bekommen? So kann das nicht funktionieren, Dan.«

Da war er wieder, dieser Druck, der sich langsam in ihr aufbaute. Sie wusste, dass sie jeden Moment in die Luft gehen konnte, wenn sie sich weiter in Rage redete. Der misslungene Einsatz und die Gesichter der toten, entstellten Frauen trugen dazu bei, dass es ihr zusehends schwerer fiel, sich zu zügeln. Sie fühlte sich von Minute zu Minute mieser.

»Wie funktioniert es denn deiner Meinung nach?«, fragte er ruhig.

Wie bitte? »Bist du tatsächlich der Ansicht, dass unsere seelischen Verwundungen durch Gespräche geheilt werden können?« Um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, schüttelte sie den Kopf.

Doch es war, als spräche sie gegen eine Wand, denn Dan setzte mit seiner typisch ruhigen Art noch eins obendrauf. »Du willst nicht mit ihr reden, weil du Angst hast, dass sie herausfinden könnte, was wirklich in dir vorgeht. Du willst dich vor allen verschließen.«

Kurz verblüffte sie seine Anschauung. »Wem sollen diese Gesprächstherapien eigentlich helfen? Mir oder den toten Frauen?«

»Du versuchst doch nur, dich herauszureden.«

Seine Engelsgeduld ging ihr auf den Nerv. Wo waren die guten alten Konfrontationen, wenn man sie benötigte? »Der Eindruck täuscht.« Und damit Ende der Diskussion. Wenn sie etwas von ihrer Würde behalten wollte, war genau jetzt ein Themenwechsel angesagt. Oder schweigen.

Während der vergangenen zwei Jahre hatte sie durch den Einsatz ihrer besonderen Gabe mehr Mordfälle gelöst als jeder andere in der doppelten Zeit. Der Gedanke, dass ihre Arbeit an ihrer geistigen Gesundheit nagen könnte, war ihr schon in den Sinn gekommen, bevor diese Psychoanalytikerin aufgetaucht war. Aber wollte sie das offiziell bescheinigt haben?

Gut, es war alles andere als leicht verdauliche Kost, die ihnen in ihrem Job vorgesetzt wurde, aber sie hatte gute Nerven und vor allem glaubte sie an das, was sie tat. Nachdem sie die schrecklichen Schatten ihrer Vergangenheit endlich begraben und sich ein Leben aufgebaut hatte, in dem sie anerkannt und geachtet wurde, würde sie sich von einer Diplom-Psychologin sicher nicht sagen lassen, dass sie kurz vor einem Burn-out stand. Was war das überhaupt für eine neumodische Bezeichnung? Konnte man nicht einfach sagen, ein bisschen überarbeitet? Wie auch immer. Sie war ganz sicher nicht davon betroffen. Das würde sie wissen.

»Wem willst du eigentlich etwas vormachen, Jo? Wir müssen über unsere Gefühle sprechen, das ist wichtig. Oder willst du mir etwa allen ernstes weismachen, diese Einsätze ließen dich kalt?«

Wie konnte er so etwas fragen? Am liebsten wäre sie auf der Stelle explodiert, hätte den grässlichen Gefühlen, die in ihr brodelten, freien Lauf gelassen, bis auch der letzte Funke Zorn und Wut wegen ihres heutigen Versagens und dem daraus resultierenden Ergebnis aus ihrem Kopf gewichen war. Drei Frauen hatten den Tod gefunden. Die jüngste war kaum älter als neunzehn. Jetzt war sie tot. Sie würde nie mehr lachen oder sich mit Freunden treffen. Ob sie das kalt ließ? Es brachte sie um den Verstand und es passierte immer wieder. Immer und immer wieder gab es Tote, weil es Psychopathen gab, die Unschuldigen das Leben raubten. Sie war nun einmal nicht Gott, sie konnte nur ihr Bestes geben und es war heute nicht gut genug gewesen.

Sie machte hier also überhaupt niemandem etwas vor. Nicht einmal sich selbst. Das Einzige, was sie einfach nicht kapierte, war, wie in Herrgotts Namen eine Psychologin ins Konzept passen sollte. Das kostete nur unnötig Zeit. Zeit, die sie da draußen besser einsetzen konnte, um solch ein Dilemma wie von heute vermeiden zu können. Das war das Einzige, was wirklich zählte und seine Wirkung nicht verfehlte.

»Ich möchte, dass du dir ein paar Tage freinimmst«, holte Dan sie aus ihren Gedanken.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie vor ihrem Zuhause angekommen waren, ihrem Wohnblock. Dan zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und wartete auf eine Reaktion. Sie konnte nicht fassen, was er von ihr verlangte. »Wenn du wegen der Gesprächstermine sauer bist, dann …«

»Nein Jo, darum geht es jetzt nicht. Außerdem war das kein Angebot, sondern eine Anordnung«, fiel er ihr sachte ins Wort.

Das war das erste Mal, dass er sich wie ihr Vorgesetzter verhielt und nicht wie der Freund, den sie kannte. Vermutlich hatte sie genau deshalb nie das Gefühl gehabt, ihn mit Samthandschuhen anfassen zu müssen und das würde sich auch jetzt nicht ändern.

»Zum Teufel mit dir Dan. Ich werde morgen um acht auf der Matte stehen.«

Er sog scharf Luft ein, als müsse er sich gut darauf vorbereiten, was er sagen wollte. »Josephine …«

Oh, oh. Ihren Namen hörte sie selten in dieser Form. Meistens wurde sie von allen Jo genannt, oder Josy, sofern sie jemandem einen Gefallen tun sollte. Bei Josephine war definitiv Vorsicht geboten.

»Ich habe dich versetzt.«

Jetzt fiel ihr die Kinnlade hinunter. »Du hast was?« Das konnte nicht sein ernst sein.

»Ich habe ein Team gefunden, in dem du dich wohler fühlen wirst, als hier«, meinte er schließlich. »In drei Wochen wirst du nach Fort Collins fahren und dich bei Agent Turner vorstellen. Er erwartet dich.«

Oh Gott, womöglich gab auch Dan ihr die Schuld daran, dass der heutige Abend schiefgelaufen war. Hatte er vergessen, wie oft sie unter ihrer Führung Leben gerettet hatten? »Wie kannst du mir das antun, Dan? Habe ich die vorgegebenen Ziele nicht erreicht? Bangen die Jungs um ihre Auszeichnungen, die sie bis vor Kurzem noch mir zu verdanken hatten? Bin ich so einfach zu ersetzen? Oder hat der Narr einfach nur seine Schuldigkeit getan?«

Dan legte seine Hand auf ihren Arm. Innerlich verfluchte sie seinen treuherzigen Blick, der sie zur Besinnung aufforderte. Aber sie war zutiefst gekränkt und das machte sie wütend. Verdammt wütend. Heute war zu viel vorgefallen, um noch die Contenance bewahren zu können. Sie schlug seine Hand von ihrem Arm, öffnete die Beifahrertür und stapfte zu ihrer Haustür. Dort zog sie ihren Ersatzschlüssel unter dem Fenstersims hervor und öffnete mit zittrigen Händen und pochendem Herzen die Tür.

Alles, was sie sich hart erkämpft hatte, alles, was sie war und sein wollte, wurde ihr mit einem Schlag zunichtegemacht.

Gott, sie war außer sich!

Dan folgte ihr und hielt ihren Arm fest. Sie versuchte wiederholt, ihn abzuschütteln, doch nun war er beharrlicher als sie. »Josy, bitte. Es wird dir guttun. Ich will nur das Beste für dich und das weißt du.«

»Ach? Meinst du, gehe nicht über Los, ziehe keine 2000 Dollar ein, begib dich auf dem schnellsten Weg an einen staubigen Schreibtisch und bearbeite Akten, ist das Beste für mich?«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »So war das nicht gemeint, Jo. Ich weiß nämlich sehr wohl, wie du dich in diese Fälle hineingesteigert hast und ich weiß auch, wie sehr dir das alles zu schaffen macht, auch wenn du hier die Harte markieren willst. Glaub mir, du wirst in dem neuen Team besser dran sein als hier. Das weiß ich.«

Er versuchte, sie zu beruhigen, doch sie wollte sich nicht beruhigen lassen. Ausgerechnet Dan, der ganz genau wusste, wie wichtig ihr die Arbeit war, bestrafte sie auf übelste Weise und nahm ihr alles, was ihr geblieben war. Alles, wofür sie lebte und wofür sie sich jeden Tag wieder aus dem Bett quälte.

Was blieb ihr noch? Wer war sie nun? Ein Niemand. Ein Nichts.

Nur weil sie die Konsequenzen für Entgleisungen gegenüber Vorgesetzten kannte und eine Suspendierung noch schlimmer gewesen wäre, hielt sie sich davon ab, ihm an die Gurgel zu springen.

»Einen Dreck weißt du über mich.«

Dan verzog keine Miene. Sein Blick ruhte beharrlich auf ihr. »Ich weiß mehr von dir als dir vermutlich lieb ist«, entgegnete er gutmütig, aber nachdrücklich.

Eine unsagbare Müdigkeit überrollte sie plötzlich. Als hätten sich sämtliche Hirnfunktionen abgeschaltet. Sie fühlte sich zu erledigt, zu ausgelaugt, um sich weiterhin zu verteidigen oder um ihren Job, der ihr Leben bedeutete, zu kämpfen. Sie gab auf. »Nein, Dan. Du weißt gar nichts. Denn wenn du etwas von mir wüsstest, würdest du es nicht wagen, mir das anzutun.« Resigniert drehte sie sich von ihm weg.

»Jo, du hörst mir doch überhaupt nicht zu, möchtest du nicht einmal wissen, weswegen ich das mache?« Ihre Resignation schien ihn aufzubringen, denn jetzt wurde er lauter und energischer.

»Ach hör auf, Dan. Ich habe in diesem Spiel die Arschkarte gezogen und du hast sie mir gereicht. Das ist alles, was ich wissen muss.« Sie ließ ihren einzigen Freund stehen und schlug die Tür hinter sich zu.

2. Kapitel

Zwei Wochen später verbrachte Josy ihre Zeit noch immer damit, sich zu bemitleiden. Das war, neben einigen anderen, ebenfalls eine sehr ausgeprägte Eigenschaft von ihr, die sie im Laufe ihres Lebens perfektioniert hatte. Sie konnte stundenlang dasitzen und darüber nachgrübeln, wie erbärmlich ihr Leben und wie furchtbar unfair im Allgemeinen alles, im Besonderen aber Dan war. Sie brütete im Stillen vor sich hin, lebte nur in ihrer Gedankenwelt. Sie hatte zusätzliche Kilos verloren, was angesichts ihres ohnehin geringen Körpergewichtes dazu führte, dass sie wie ein Gespenst aussah. Ihre Haut war fahl, ihre Augen lagen tief in den Höhlen und ihr langes schwarzes Haar war glanzlos. Nicht, dass sie ansonsten großartig darauf achtete, etwas aus ihrem Typ zu machen, aber der Anblick, den ihr Spiegelbild bot, erschreckte sie.

Sie beschloss, einfach nicht mehr in den Spiegel zu sehen und spuckte die restliche Zahnpasta ins Waschbecken, das seit einiger Zeit von keinem Putzlappen mehr berührt wurde. Anschließend wusch sie sich das Gesicht.

Als sie sich aufrichtete, war es, als würde sie ihre Umgebung erst jetzt realisieren. Kleidung lag achtlos auf dem Boden verstreut. Die Haarbürste könnte eine Haarentfernung vertragen, die Wandfliesen hatten Wasserflecken.

Sie ließ ihr Handtuch fallen, es war schließlich bereits egal und ging ins Wohnzimmer.

Dort war es nicht viel besser. Durch das Fenster drang Sonnenlicht, das die tanzenden Staubflocken beeindruckend in Szene setzte. Ihr Sofa war mit Zeitungen und Prospekten zugemüllt und auf dem kleinen Sofatisch stapelten sich Pizzaschachteln aus längst vergangenen Zeiten. Vom Boden ganz zu schweigen, auf dem in unregelmäßigen Abständen Kaffeebecher standen, dort, wo sich noch etwas Platz geboten hatte. Ein Blick auf ihre allgemeine Erscheinung offenbarte ihr dann noch den Pyjama, den sie bereits seit vier oder fünf Tagen trug.

Herrje, sie sah genauso furchtbar aus wie ihr kleines Domizil.

Jetzt galt es zu entscheiden, ob sie sich einfach hinsetzen und über ihre hoffnungslose Situation klagen oder ob sie das Chaos bereinigen sollte. Obwohl es schwerfiel, entschied sie sich für Letzteres. Allmählich gingen ihr die Tassen aus, also musste sie handeln.

Einige Stunden später konnte sie sich wieder auf ihr Sofa setzen, bewaffnet mit einer sauberen Tasse mit duftendem Kaffee. Was man alles fand, wenn man mal Ordnung machte. Die Fernbedienung zum Beispiel. Auch ihr Handy war wieder aufgetaucht. Sie löschte die angesammelten Nachrichten und rief den Pizzadienst an, um sich mit Kalorien zu versorgen.

Nachdem sie ihre Pizza gegessen und eine halbe Flasche Wein getrunken hatte, fühlte sie sich wieder genauso grottenschlecht wie vor ihrem Hausfraueneinsatz.

Herrgott noch mal.

Das war hoffentlich keine Depression oder Schlimmeres. Den Gedanken verwarf sie schnell wieder und schnappte sich stattdessen den Brief, den ihr Dan am Tag nach ihrem Gespräch unter der Tür durchgeschoben hatte – bevor er eine halbe Stunde damit zubrachte, erfolglos an ihre Tür zu hämmern. Pat und Bill hatten ebenfalls ihr Glück versucht, doch die Eingangstür war, bis auf den kurzen Moment, in dem sie ihre Dienstmarke auf die Stufen geworfen hatte, verschlossen geblieben.

Es tat ihr nicht mal leid. Hätte sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben müssen? Auch diesen Gedankengang wollte sie nicht weiterführen, sondern öffnete endlich den Brief, überflog die Zeilen, zerknüllte das Papier und warf es in die Ecke. Dann stand sie auf, nahm das Knäuel und steckte es in den Papierkorb. Sie hatte schließlich gerade Ordnung gemacht.

Dan hatte sich in seinem Brief für seine falsche Wortwahl entschuldigt und dafür, dass er die ganze Sache verkehrt angegangen war. Er meinte, er hätte trotzdem die beste Wahl getroffen und sie würde ihm eines Tages dankbar dafür sein. Es tat ihm außerdem leid, dass sie nun alles, was auf sie zukam, von anderen und nicht von ihm erfahren würde. Es war jedoch völlig nebensächlich, wer ihr erklärte, wie man Akten sortierte. Ansonsten hatte er ihr die Reservierungsbestätigung für ihr Hotel beigelegt, in das sie sofort einchecken konnte. Außerdem wusste sie jetzt, an welchem Tag und wo sie sich mit diesem Turner treffen sollte. Danach konnte sie immer noch entscheiden, was sie tun wollte. Bis dahin war sie eingeladen, im Hotel wohnen zu bleiben. Kost und Logis frei. Danke Dan, sehr aufmerksam. Wie schön, dass andere über ihr Leben entschieden.

Nachdem sie den beiden Cops von CSI im Fernseher zugesehen und den restlichen Wein getrunken hatte, begann sie schließlich wehmütig, ihre Siebensachen zu packen. Der Gedanke, nie wieder im Außendienst als Cop zu arbeiten, schmerzte dann doch zu heftig, sodass ihr wohl oder übel nichts anderes übrig blieb, als Dans Weisung nachzukommen. Auch wenn das hieß, ab demnächst im Innendienst zu sein. Doch was hätte sie sonst tun sollen? Sich weiter einigeln stand nicht zur Debatte, vor allem, da sie befürchtete, dass sie dann eher früher als später durchdrehen könnte. Das tägliche Training fehlte ihr, das körperliche Auspowern um den Kopf freizubekommen. Außerdem vermisste sie das Geplänkel mit ihren Teamkollegen. Sie konnte nur hoffen, dass die neuen Kollegen kein totaler Reinfall waren. Bei Bürohengsten wusste man das ja nicht so genau.

Überdies war da aber noch das dringende Bedürfnis, ihre Gabe für einen guten Zweck einzusetzen, um etwas bewirken, etwas verändern zu können, wohinter sie stehen konnte. Gerade das war immer der Fall gewesen. Schon die Vorstellung, nie wieder ihre Dienstwaffe oder ihre Dienstmarke tragen zu dürfen, machte sie krank. Sie würde eben darum kämpfen müssen. Jetzt alles hinzuwerfen, was sie sich jahrelang aufgebaut hatte, war keine Option. Sie würde sich der Lage anpassen, das Ganze schlicht und einfach durchziehen und sich wieder nach oben arbeiten. Nur, dass bei ihr nie etwas schlicht und einfach war. Aber wenn es sein musste, würde sie die Zähne zusammenbeißen.

Sie seufzte tief, kramte zwei Koffer hervor und warf ihre Sachen hinein. Wie üblich bestand ihr Gepäck lediglich aus ihren geliebten Jeans, einigen T-Shirts, Pullovern, Turnschuhen und Toilettenartikeln. Das war das Gute daran, wenn man Minimalist war. Die kniffligsten Entscheidungen wurden einem leicht gemacht.

Am nächsten Morgen hievte sie das Gepäck in ihren Pick-up und machte sich auf den Weg nach Fort Collins. Was ihr an der kleinen Stadt gefiel, war die Hügellandschaft, in welche sie eingebettet war. Der Frühling hielt Einzug und man roch das frische Grün und die aufblühenden Pflanzen, während das angenehme Wetter die Leute nach draußen lockte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich in ihrem Hotel zu verschanzen, um eine Notfallüberlebensstrategie auszuarbeiten, aber die Heiterkeit der Menschen und die unbeschreiblich schöne Umgebung steckten an.

Anstatt also weiterhin vor sich hinzudümpeln, beschloss sie, das zu tun, was viele Frauen tun, wenn sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen. Shoppen gehen.

Die vollkommen überzogene Abfindung, die sie vermutlich nur Dans Mitleid zu verdanken hatte, ermöglichte ihr nun wenigstens mal richtig über die Stränge zu schlagen. Im Grunde war sie eher der praktische Jeanshosen-Typ als der Frau-von-Welt-Kleider-Typ, aber als sie das Einkaufszentrum betrat, beschloss sie, ihr altes Ich hinter sich zu lassen und sich rundum zu verändern. Radikal, das schien ihr angebracht. Wenn schon untergehen, dann mit Pauken und Trompeten. Es kam der grundsätzlichen Zügellosigkeit ihres Wesens entgegen, dass sie, kurz, nachdem sie diese Radikaländerung beschlossen hatte, eine Boutique mit extremen Outfits fand.

Trugen Bürohasen nicht immer Röcke und bunte Strumpfhosen? Sie wusste nicht genau, was sie ritt, schon spazierte sie in den nächstbesten Laden, der nette Unterwäsche und Strümpfe im Angebot hatte. Ihr Kaufrausch nahm ungeahnte Formen an. Sie überlegte kurz, ob Netzstrümpfe zu ihren neu erworbenen Leder-Hotpants passten, und nahm sie neben ihrer neuen Schleifchenspitzenwäsche mit zur Kasse. Nachdem sie so ziemlich alles, was kurz, schwarz, und verdammt sexy war, in Tüten überreicht bekam, genehmigte sie sich einen Latte Macchiato und schlenderte mit dem leisen Anflug eines Lächelns zurück zu ihrem Auto. Wow. Es fehlte nur noch, dass sie vor sich hin pfiff. Überraschenderweise hatte der Shoppingexzess Spaß gemacht.

Um zu verhindern, dass ihre gute Laune gleich wieder im Keller landete und sie sich wieder in Selbstmitleid ertränkte, beschloss sie, im Hotel ihr neues Outfit auszupacken, ihren Haaren eine Spülung zu verpassen und ihr neu erworbenes Make-up zu testen. Danach würde sie die nächstbeste Bar aufsuchen. Das schien ihr in Anbetracht ihrer Situation vernünftig.

Mit diesen neuen Vorsätzen machte sie sich ans Werk und musste am Ende feststellen, dass sie erstaunlicherweise umwerfend aussehen konnte, wenn sie sich mal darum bemühte. Ihre Jungs würden in Ohnmacht fallen, wenn sie sie in diesen hochhackigen Stiefeln sehen könnten. Schnell verwarf sie den Gedanken an ihr Team, schlüpfte in die knallrote, hautenge Bluse und betrachtete ihr Spiegelbild.

Vermutlich würde ihr schmaler Po in diesen Hotpants besser aussehen, wenn sie fünf Kilo mehr auf die Waage brächte, aber das war auch schon das einzige Manko. Ihre Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt und die Lippen betonte sie mit der Farbe Teufelsrot. Für einen Moment hielt sie inne.

War das wirklich, was sie wollte?

Sie wischte ihre Unsicherheit weg, stapfte aus ihrem Zimmer und rief den Aufzug, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Mit einem Ping öffneten sich die Türen, worauf ein Mann aus der Kabine trat, der sie unverhohlen musterte. Auweia. Vielleicht hatte sie übertrieben. Mit einer Glock wusste sie umzugehen, mit zu viel Aufmerksamkeit hingegen hatte sie so ihre Probleme.

Die Bar auf der anderen Straßenseite entpuppte sich als Nobelstätte. Beim Betreten fielen ihr die roten Ledersofas, die goldverzierten Hängeleuchten und die asiatischen Blumengestecke auf, die auf kleinen Sofatischen standen. Aber Hallo. Hier wurde geklotzt, nicht gekleckert. Popmusik dröhnte aus den Lautsprechern, während es sich bereits einige Pärchen auf den Sofas gemütlich gemacht hatten. Ihr Eintreten schien niemand zu registrieren. Sie setzte sich an die Bar und bestellte einen Cocktail. Wenn schon, denn schon. Der Barkeeper betrachtete sie neugierig, während er Getränke mixte. Sie fühlte sich seltsam. Dieser Aufzug passte nicht zu ihr und mittlerweile kam sie sich idiotisch vor.

Okay, sie hatte sich in den Kopf gesetzt, sich zu beweisen, dass sie auch ein anderes Leben führen konnte. Sie hatte sich geschworen, die Zähne zusammenzubeißen und das Beste aus der Situation zu machen. Und zwar nicht nur, weil ihr im Augenblick nichts anderes übrig blieb, sondern weil sie Angst hatte, dass sie sich ansonsten vor lauter Frust eine Kugel in den Kopf jagte. Mittlerweile schrien die Zweifel jedoch ziemlich laut.

Nachdem sie ein paar Schlucke des Cocktails durch den Strohhalm gesaugt hatte, waren ihre Gedanken schon weit weniger aufdringlich. Sie beäugte das Cocktailglas. Was war denn da drin? Pures Ethanol? Der Alkohol brannte warm in ihrem Inneren und ließ die Welt viel angenehmer und besser erscheinen.

Was sollte das ganze Theater eigentlich?

Sie sollte sich glücklich schätzen, sich nicht mehr in die Köpfe von Mördern und Verbrechern einschleichen zu müssen. Je mehr sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr diese Aussicht. Sie würde hinter einem Schreibtisch sitzen, Akten sortieren, sich mit der Bürokratie anlegen, Kaffee kochen und tapfer lächeln. Schließlich hatte sie mehr kranke Arschlöcher hinter Gitter gebracht, als irgendjemand sonst in ihrem Alter. Sie konnte stolz sein. Jawohl. Und nun war eben Schluss damit. Keine Albträume mehr. Keine Gedanken und Bilder, die sie im Stillen verzweifeln ließen. Keine schlaflosen Nächte, die sie in die Knie zwangen und vor allem kein Druck, der sie unter seiner Last einquetschen würde.

Sie war frei! Halleluja.

»Guten Abend. Ist hier noch frei?«

Sie blickte auf und sah in zwei glasblaue Augen, die sie amüsiert und auch ein wenig skeptisch betrachteten.

»Tun Sie sich keinen Zwang an«, murmelte sie und zog noch mal ordentlich an ihrem Strohhalm. Mittlerweile hatte sie sich an das Zeug gewöhnt. War lecker. Und echt hilfreich. Sie sah ihre Probleme buchstäblich untergehen.

»Eine Lady sollte nicht so starke Geschütze auffahren«, sagte der Fremde mit samtweicher, tiefer Stimme und deutete auf ihr halb leeres Glas. Oder war es halb voll?

»Wenn ich die Lady sehe, richte ich es ihr aus,« erwiderte sie und bestellte sich noch mal dasselbe. Ein, zwei Betthupferl mehr. Wer zählte hier mit?

»Die Dame möchte Wasser. Ich nehme einen Whisky.«

Der Fremde nickte dem Kellner zu und schob das nun fast leere Cocktailglas weg, bevor Josy es erreichen konnte. He! Was sollte das denn? Das Zeug war lebensrettend.