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Eva Isabella Leitold

TEAM ZERO

Heißkaltes Geheimnis

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Paranormal Romantic Suspense

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HEISSKALTES GEHEIMNIS

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EVA ISABELLA LEITOLD

© 2015 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH
8712 Niklasdorf, Austria

Neuauflage
1. Auflage erschienen 2012 im Sieben Verlag
Covergestaltung: © Sturmmöwen
Titelabbildung: © vgstudio, Massimo Saivezzo

ISBN-Taschenbuch: 978-3-902972-91-0
ISBN-EPUB: 978-3-902972-92-7

www.romance-edition.com

Ein ewiges Rätsel ist das Leben,
und ein Geheimnis bleibt der Tod.

1. Kapitel

Dienstag, 5. November, Illinois

Special Agent Josephine Silver war der Tod nicht fremd. Sie hatte sich während ihrer Dienstzeit als Cop und nun als Mitglied des Team Zero – eine mit paranormal begabten Agenten besetzte Spezialeinheit des FBI – stundenlang in den Köpfen perfider Killer herumgetrieben, ihren grausamen Gedanken und Vorhaben gelauscht und die fürchterlichsten Taten miterlebt. Sie hatte Leichen gesehen, die brutal zugerichtet waren und Sterbenden, für die jede Hilfe zu spät gekommen war, in den letzten Momenten beigestanden.

Aber das hier, Himmelherrgott, das hier war die Spitze aller Perfiditäten, die sie je gesehen hatte, und ihr Magen rebellierte mehr, als ihr Verstand zu begreifen bereit war.

Auf den Fersen hockte sie auf dem gefrorenen und mit Laub bedeckten Waldboden, betrachtete mit verengten Augen das, was von dem toten, spärlich bekleideten Mädchen übrig geblieben war. Viel war es nicht. Ihr zierlicher Körper war übersät von Blutergüssen, Brandwunden, Schnitt- und Stichverletzungen. Ihr fehlten Zehen, sowie die Finger der rechten Hand und nur mit einer gehörigen Portion Fantasie erkannte man unter der blutgetränkten, einst blonden Haarmähne ein Gesicht, das ebenfalls jede nur erdenkliche Farbe spiegelte. Der Schädel war am Hinterkopf eingeschlagen, der Kiefer ausgerenkt, die Nase und das rechte Jochbein gebrochen und von der Unterlippe …

»Abgebissen«, sagte der Rechtsmediziner, der ihrem Blick gefolgt war und auf der anderen Seite der Leiche hockte.

Josy nickte, bar jeden Wortes und schluckte, um das Frühstück unten zu behalten. Als das Team Zero vor vier Stunden verständigt und von der FBI-Zentrale in Colorado nach Illinois beordert wurde, hatte man ihnen nur bruchstückhaft geschildert, was zu erwarten war. Dass es sich bei der Toten mit ziemlicher Sicherheit um Tia Wright handelte, die Tochter eines Abgeordneten, die seit einem halben Jahr vermisst und im Auftrag des Gouverneurs erfolglos vom FBI gesucht worden war, hatten sie erst bei ihrer Ankunft erfahren. Es hätte jedoch die Tochter eines X-beliebigen sein können. Josy wäre nicht minder entsetzt gewesen. Nicht auszudenken, welch furchtbaren Todeskampf dieses Mädchen hatte ausfechten müssen. Ihr Mörder war wie ein blutrünstiges Tier ans Werk gegangen und hatte keinerlei Gnade walten lassen, während er sein Opfer – vielleicht sogar über Tage – systematisch zu Tode folterte.

Ohne um Erlaubnis zu bitten, formten sich altbekannte Bilder in Josys Kopf. Bilder, die ihr die Kehle zuschnürten, bis sie den Blick von der Toten abwenden musste und ihn auf die Baumgruppe dahinter lenkte, wo sich eine Handvoll Beamte der Spurensuche tummelte. Hektischer Atem formte Wölkchen vor ihrem Gesicht und ihr Puls schnellte so plötzlich in die Höhe, dass ihr schwindelte. Reiß dich zusammen, verdammt noch mal, ermahnte sie sich.

»Alles okay bei dir?«

Die vertraute männliche Stimme war wie Balsam. Erleichtert, sich an ihr orientieren und wieder zu sich finden zu können, blickte sie auf. Special Agent William Turner, der telekinetisch begabte Leiter des Team Zero und der Mann, den sie über alles liebte, sah besorgt und mitfühlend zu ihr herab. In seinen eisblauen Augen und hinter der Sorge um ihr Befinden erkannte sie dieselbe Bestürzung, die auch sie über den Tod des Mädchens fühlte. Doch im Gegensatz zu ihr hatte Will sich und seine Gefühle bestens unter Kontrolle. Mit einem aufmunternden Gesichtsausdruck reichte er ihr die Hand und half ihr, aufzustehen.

»Ja, alles okay«, sagte Josy, mehr um sich selbst zu überzeugen und verdrängte die unerwünschten Erinnerungen an ihren ersten Fall beim Team Zero, den sie vor acht Monaten gelöst hatten. Damals entpuppte sich Dan – ihr ehemaliger Vorgesetzter bei der SWAT-Einheit – als wahnsinniges Monster, der junge, unschuldige Frauen wie Vieh abschlachtete, als besäße er das Privileg, über Leben und Tod zu entscheiden. Nun wurde sie die drückende Ahnung nicht los, dass der Fall von damals diesem viel zu ähnlich war. Dabei meinte sie nicht die Art der Tötung, sondern die emotionale Gesinnung des Täters. Der enorme Hass, die erbarmungslose Wut, die Josy in der Tat erkannte, hatte nichts mit einem Gelegenheitstäter zu tun. Mit niemandem, der einfach ausgerastet war und die Kontrolle verloren hatte.

Der Täter war kühl und kontrolliert an die Sache herangegangen. Hatte genossen, sein Opfer zu quälen, zu foltern und dabei zuzusehen, wie es langsam, qualvoll und grausam verendete. Hatte genossen, wie alles Leben in den Augen des Mädchens erlosch und es seinen letzten, schmerzvollen Atemzug tat. Und genau in diesem Augenblick hatte er sich allmächtig gefühlt.

Gottverdammter Scheißkerl! Josy bemerkte erst, die Fäuste geballt zu haben, als Will nach ihren Händen griff und ihre Finger langsam öffnete.

»Du denkst an Dan«, stellte er fest, und es war keine Frage.

Josy atmete scharf aus, um ihren Gefühlen zumindest ein Ventil zu geben und sah zu Will hoch. Leugnen wäre zwecklos. Er konnte viel zu gut in ihr lesen und hatte sie längst durchschaut. »Ja.«

Nachsichtig verzog er das Gesicht und nahm sie beiseite, um den Rest des Einsatzteams der Bundespolizei nicht an ihrem Gespräch teilhaben zu lassen. Jedoch hätte sich auch so niemand um sie gekümmert. Jeder der Beamten war damit beschäftigt, seinen Mageninhalt dort zu behalten, wo er hingehörte und dabei seinen Job zu erledigen. Das Finden der abgetrennten Gliedmaßen stand dabei ganz oben auf ihren To-do-Listen.

»Du glaubst, eine Parallele zu dem Fall von damals zu erkennen?« Er klang nicht, als würde er ihre unausgesprochenen Bedenken nicht ernst nehmen, jedoch so, als wünschte er sich eine andere Antwort als jene, die ihr wohl ins Gesicht geschrieben stand. Seine Miene wurde weicher. »Josy, das hier hat nichts mit Dan zu tun«, sagte er sanft und ihr entging das unausgesprochene weil Dan tot ist nicht, das nun zwischen ihnen hing und ihr das leidige Gefühl gab, er befürchte, sie könne wegen allem, was passiert war, doch noch anfangen, durchzudrehen.

Josy hatte mit Dan nicht nur einen Vorgesetzten an den Wahnsinn verloren, sondern auch einen Freund, und wenn es etwas gab, das sie nachts schweißgebadet hochfahren ließ, dann die blutigen Bilder, die Dan eigens für sie erschuf. All die Frauen waren ermordet worden, weil Dan glaubte, ihr einen Gefallen tun und ihre Vergangenheit vergelten zu müssen. Josy war hart im Nehmen und gewiss nicht jemand, der schnell einknickte, aber die Albträume würden sie gewiss noch lange heimsuchen und Will wusste es, weil er der Einzige war, dem sie nichts vormachen konnte. Jedoch wusste er ebenso gut, dass man sie nicht mit Samthandschuhen anfassen musste.

»Ich weiß, Will. Aber der Irre, der das hier angerichtet hat«, sie deutete zu der Leiche, die der Rechtsmediziner noch immer untersuchte, »hat aus demselben Motiv gehandelt wie Dan. Aus der reinen Lust am Töten. Und wenn du mich fragst, hat der Typ bereits schon davor fleißig geübt.«

Will ließ Josy los, dann fuhr er sich durch das kurze, schwarze Haar, wie er es immer tat, wenn Chaos herrschte. »Kannst du ihn spüren?«

»Nein.« Die Aura des Täters, die es ihr ermöglicht hätte, in seinen Verstand einzudringen, hatte sich längst aufgelöst. Alles, was Josy spüren konnte, war der Tod, der wie eine Gewitterwolke über dem kleinen Wäldchen hinter der vornehmen Wohngegend hing. »Der Rechtsmediziner meint, sie sei seit mindestens zwei Tagen tot. Genaueres erfahren wir die Tage.«

Will verschränkte die Arme vor der breiten Brust und sah sie nachdenklich an. »Wir sollten diesen Fall übernehmen. Denkst du, du kriegst das mit Ray und mir hin oder soll ich stattdessen Jeff einspannen?«

Josy zog die Brauen nach oben. Jeff, der Trainer des Team Zero, der die Gabe der Intuition besaß, wurde in fünf Monaten Vater und hatte genug damit zu tun, Cass auf Händen zu tragen. Das war auch gut so, denn Cass bekam die Hormonveränderung nicht sonderlich gut.

»Natürlich kriege ich das hin. Mir geht’s gut, Will. Ehrlich.«

Nachdem Will einen mürrischen Blick in den wolkenverhangenen Himmel geworfen hatte, stemmte er die Hände in die Hüften. »So viel zum Thema Urlaub, was?«

»Tja, wie’s aussieht, ist uns so was nicht vergönnt«, erwiderte Josy und spürte ihr schief geratenes Grinsen. Obwohl sie es mit Humor zu nehmen versuchten, wussten sie beide, dass eine Verschnaufpause dringend nötig wäre. Für sie alle. In den vergangenen Monaten war die Hölle losgewesen und ihre Reserven schlitterten auf den Nullpunkt zu. Nachdem Dan sein Blutbad vollbracht hatte und ihnen nur knapp entwischt war, schloss er sich einer geheimen, militärischen Organisation an. Den Schöpfern dieser experimentellen Einrichtung, darunter

angesehene Wissenschaftler, gelang es, paranormal begabte Menschen durch Verabreichung eines Virus in mutantenartige Killer zu verwandeln. Befehlbare Todesschwadronen, die im Namen einiger ausgeflippter und machthungriger Regierungsclowns töten sollten.

Das Team Zero hatte alle Hände voll zu tun gehabt, diesem Irrsinn Einhalt zu gebieten. Erst vor wenigen Wochen und nur mithilfe von Lieutenant Chogan Stafford, dem Prototypen des militärischen Experiments, hatten sie es geschafft, auch den zweiten und letzten Stützpunkt der Organisation zu stürzen und Dan, wie so vielen anderen Abschaum, aus dem Weg zu räumen.

Dabei waren sie nur knapp einem Kollateralschaden entgangen, was den Verlust eines geschätzten Teammitglieds bedeutet hätte. Noch fataler, wenn man in den Kollegen seine Familie sah, so wie sie es taten. Ian waren während des Einsatzes mal wieder alle Sicherungen durchgebrannt, was im sprichwörtlichen Sinn nicht an seiner Gabe der Elektrokinese, sondern an seinem Wesen lag, und nun erholte er sich trotz Unterstützung der Heilerin nur langsam von seinen schweren Verletzungen. Er lag auf der Krankenstation in der gemeinschaftlichen Unterkunft in Colorado und dort würde er auch noch gut eine Woche bleiben, bis er wieder aufstehen und ohne fremde Hilfe gehen konnte.

Inzwischen kümmerte sich Alexa, die Empathin des Teams, um die Tonnen an Papierkram, die liegen geblieben waren. Will hatte den Engpass bis zum nächsten Einsatz bereits befürchtet und gehofft, Chogan, den die Jungs seit Jugendzeiten vom Militär kannten, würde sich ihnen anschließen. Mit seiner Erfahrung als ausbildender Offizier, seinem Scharfsinn und der Gabe der Telepathie wäre er eine wahre Bereicherung für das Team gewesen, und zwar in jeder Hinsicht. Doch als der Lieutenant nach dem gemeinsamen Einsatz erfuhr, dass sein Mädchen ihn vor fünf Jahren an die Organisation verraten hatte und er sich nicht, wie eigentlich gedacht, im Gegenzug für ihr Leben auf das Experiment eingelassen hatte, zog er sich nach Wyoming zurück. Was Will zusätzliche Sorgen bereitete, denn der Lieutenant war in keiner guten Verfassung gegangen und er befürchtete, dass sich sein Freund etwas antun könnte. Dennoch war Will nichts anderes übrig geblieben, als Chogan ziehen zu lassen. Das Team hatte oberste Priorität. Und nun dieser Fall, für den nur mehr Ray, das Genie unter ihnen, Will und Josy übrig blieben, sich mit ihm zu befassen. Der dringend benötigte Urlaub musste wieder einmal aufgeschoben werden.

Was soll’s, dachte Josy und boxte Will liebevoll gegen den Arm. »Wir kriegen das schon hin. Verlass dich drauf. Und sobald wir diesen Dreckskerl geschnappt haben, bunkern wir uns für einen Monat ein. Nur du und ich, dem Rest der Truppe besorgen wir Flugtickets nach Hawaii.« Sie zwinkerte und entlockte Will ein Grinsen.

»Wenn das ein Versprechen ist, lass ich mich glatt drauf ein.«

»Darauf kannst du wetten«, erwiderte sie fest, als könnte sie das trügerische Gespür verbannen, das ihr mit einem Mal etwas ganz anderes zuflüsterte. Wie aus dem Nichts zerrte ein kalter Windzug an ihrem Haar und ihr Blick glitt zwischen den Bäumen hindurch auf das prächtige Haus in viktorianischem Stil, auf dessen Grund man die Leiche heute Morgen gefunden hatte. Inzwischen musste Ray ihnen einen Durchsuchungsbefehl besorgt haben. Dann nichts wie an die Arbeit. Mal schauen, wie viele Leichen dieser Jim Hendriks im Keller seiner Sommerresidenz versteckt hatte.

2. Kapitel

Montag, 4. November, Painesville, Ohio

Die Ohrfeige hallte durch das Marmorfoyer des alten Herrenhauses und explodierte wie glühend heißer Funkenregen in Paiges Kopf. Die Wucht des Schlages brachte sie ins Straucheln. Sie taumelte rückwärts, bemüht, dem vermeintlichen Sturz zu entgehen, bis sie schmerzhaft mit dem Rücken gegen das gusseiserne Geländer der nach oben geschwungenen Treppe stieß. Die kantige Verzierung bohrte sich wie ein frisch geschliffener Speer durch den dünnen Kaschmirpullover in ihre Schulter, und eine Welle reinsten Schmerzes jagte durch ihren Körper. Instinktiv unterdrückte sie einen Aufschrei, presste die Lippen aufeinander und schluckte den Laut. Auf keinen Fall durfte sie Jim zeigen, wie hilflos sie war, wie wenig sie der zerstörerischen Kraft seines Gefühlsausbruches entgegenzusetzen hatte. Wenn er den Hauch eines Risses in ihrer Fassade entdeckte, würde er erst aufhören, auf sie einzuprügeln, wenn sie die Besinnung verlor.

»Wie kannst du es wagen, du elendes Miststück!«

Der große, brünette Mann spie jedes Wort aus, als befürchtete er, andernfalls daran zu ersticken. Mit jedem Schritt, den er sich näherte, begann ihr Herz lauter zu pochen. Kalter Angstschweiß brach ihr aus. Ihre Hände begannen, unkontrolliert zu zittern. Ihr Atem kam stoßweise, überschlug sich förmlich. Sie versuchte, sich zu sammeln, sich abzuschirmen, eine innere Barriere zu errichten, damit die Flut seiner Emotionen sie nicht fortreißen konnte in dieses unendlich dunkle Loch, aus dem es kein Entrinnen gab.

Jims Gefühle waren viel zu intensiv, füllten schwer und drückend den übergroßen Raum bis zu der stuckverzierten Decke. Die Luft schien vor eisigem Zorn zu knistern, zu vibrieren, kleine flirrende Wellen zu schlagen.

Er hätte sie nicht berühren, sie nicht schlagen müssen, um sie seine Wut spüren zu lassen. Sie flüsterte wie ein wütender Regenschauer über ihre Haut und drang bei jedem Atemzug tief in sie ein, als wollte seine Dunkelheit Paige auch von innen heraus zerstören.

Sie unterdrückte ein Schluchzen, rang die Tränenflut nieder, die sich hartnäckig einen Weg nach draußen bahnte. Das blanke Entsetzen, das Gefühl der Machtlosigkeit und die Angst vor dem Wahnsinn, der in Jim steckte, und der die Klauen bereits nach ihr ausstreckte, drohte sie zu überwältigen. Nicht weinen. Nur nicht weinen!

Verzweifelt kämpfte sie gegen den Drang, sich auf die Knie zu werfen, die Hände schützend über den Kopf zu legen und wie ein verängstigtes Häufchen Elend um Gnade zu betteln. Es würde nichts nützen. Im Gegenteil. Je mehr Schwäche sie zeigte, desto wütender würde er werden, also blieb sie aufrecht und mit bebenden Schultern stehen. Starrte auf den Steinboden und ignorierte die spöttisch trüben Blicke der kleinen, pausbäckigen Barockengel, die auf kniehohen Säulen den Gang bis zur schweren Eingangstür säumten.

Schwarz polierte Halbschuhe betraten ihr Sichtfeld. Der dunkelgraue Stoff des sündhaft teuren Anzugs fiel in einer perfekten Falte auf Jims Schuh und offenbarte ein gutes Stück weiter oben das Ausmaß seiner hitzigen Erregung. Es machte ihn scharf, ihr seine Macht zu demonstrieren. Sie zu demütigen, zu unterwerfen und zu schlagen, bis er ihr seinen Willen aufgezwungen und ihr den letzten Rest Selbstwertgefühl aus dem Leib geprügelt hatte.

Sie schauderte ob der Vorstellung, was ihr heute noch blühte und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, während sie aus dem Augenwinkel einen Blick auf Jims Hände erhaschte. Sie waren zu Fäusten geballt und erinnerten nicht im Entferntesten an den kultivierten, fähigen Herzchirurgen, der Tag für Tag Kindern das Leben rettete. Auch nicht an den barmherzigen Fremden, der ihr in der dunkelsten Stunde Hilfe angeboten und Hoffnung geschenkt hatte. Der sie getröstet, sie sanft in die Arme genommen und mit ihr darum gebangt hatte, ihr Kind möge nach der schweren Operation, die sie sich ohne Jim niemals hätte leisten können, wieder aufwachen.

Nun, zwei Jahre später, erinnerte alles an diesem Mann nur noch an Schmerz und Demütigung. An Lieblosigkeit und Zerstörung. An abgrundtiefen Hass, den sie mit jedem Tag zu spüren bekam und an das Opfer, das sie bereit war zu bringen, um ihr Kind vor dem sicheren Tod zu retten.

Sie würde es wieder tun. Für Dean wäre sie bereit gewesen, nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele zu verkaufen. Doch egal wie oft sie versuchte, sich einzureden, dass das Opfer den Preis wert gewesen war …

»Willst du mir auf diese Weise deine Dankbarkeit zeigen?«, blaffte Jim sie an, und Paige zuckte unwillkürlich zusammen, als seine Stimme durch den Raum hallte.

Sie spürte seinen bedrohlichen Blick. Er brannte sich wie ein glühender Nagel in ihr Fleisch.

»Ist das deine Art, dich erkenntlich zu zeigen? Mir zu widersprechen, anstatt mir zu danken, dass ich deinen Sohn in der besten Schule des Landes untergebracht habe?«

Er packte sie grob am Kinn und zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und sprühten Funken. Seine Stirn war tief gefurcht, die blassen Lippen aufeinandergepresst und die hochgeschwungenen Brauen erinnerten an den Teufel. An ihren ganz persönlichen Teufel, der ihr das Kind wegnehmen wollte. Der Dean nach Rhode Island in eine Erziehungsanstalt schicken wollte, Hunderte Kilometer entfernt. Unerreichbar. Das konnte sie nicht zulassen. Das würde sie nicht zulassen. Niemals! Jedoch verließe sie diesen Raum nicht lebend, wenn sie nun abermals gegen seine Entscheidung aufbegehrte.

Paige schluckte den dicken Kloß hinunter, um Platz für Worte zu schaffen. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, obwohl alles in ihr schrie, Jim weiterhin zu trotzen. Stattdessen senkte sie den Blick, um das Chaos ihrer Gedanken zu verbergen. Ihre Wangen brannten noch immer wie Feuer, ihre Schulter schmerzte und ihr Herz pochte vor Furcht und Bestürzung bis zum Hals. Heute war sie zu weit gegangen. Jim hatte sie mit seinem Plan überrumpelt, ihren fünfjährigen Sohn wegzuschicken, und sie vergaß sich selbst, als sie die Stimme hob und sagte, dass dies niemals geschehen würde, dass sie sich ihr Kind nicht wegnehmen ließe. Jim würde den unüberlegten Ausraster nicht verzeihen. Er würde nicht gnädig sein. Er würde sie bestrafen. Sie hatte es in seinen Augen gesehen.

»Ist das alles?«, knurrte er, ließ ihr Kinn los und fasste nach ihrem Hals.

Seine Hände waren nicht groß, aber groß genug, um ihr die Luft zu rauben. Sie spürte Panik hochsteigen. Wie heißes Gift schoss sie durch ihre Adern, und sie konnte ein hysterisches Aufkeuchen nicht zurückhalten. Ein befriedigtes Lächeln stahl sich auf Jims schmale Lippen. Seine Augen glänzten ob Paiges Betroffenheit, die mit jedem Pulsschlag größere Wellen in ihr schlug.

Seit Wochen schon spürte sie eine Veränderung. Jims Wut, sein Hass auf Gott und die Welt, insbesondere auf Paige, wurde von Auseinandersetzung zu Auseinandersetzung stärker, gewaltiger, brutaler und es dauerte von Mal zu Mal länger, bis er sich beruhigt und an ihr abreagiert hatte. Wenn Dean nicht mehr hier war, würde sie verloren sein. Jims Willen hilflos ausgeliefert. Das war es, was er wollte. Den letzten Strick ihrer Sicherheitsleine durchtrennen.

»Es tut mir leid«, hauchte sie abermals und wand sich innerlich bei jedem Wort, das ihr über die Lippen kam. »Es wird nicht wieder vorkommen, dass ich deine Entscheidungen anzweifle.«

»Nein, wird es nicht. Insbesondere nicht bei diesem Thema.«

Jim trat noch näher. So nah, bis sich ihre Körper berührten. Ekel vermischte sich mit Panik und alles in ihr schrie nur noch ein Wort. Flucht! Aber sie konnte sich nicht rühren. Sich nicht bewegen. Das Geländer in ihrem Rücken. Jim, der sie mit seinem Körper und seinem zornerfüllten Blick geißelte. Wie ein Hase, der in die Augen der Schlange starrte, stand sie da und betete, dass es bald vorbei sein würde.

»Du wirst morgen Deans Koffer packen«, fügte er hinzu und seine Stimme troff vor Triumph und Genugtuung.

Ergeben und wie betäubt nickte sie. Jim ließ von ihr ab. Jedoch nur, um ihr mit dem Handrücken ins Gesicht zu schlagen. Sein mit Smaragden besetzter Ring zerkratzte ihre Unterlippe. Dunkle Flecken tanzten vor ihren Augen. Sie schmeckte Blut, Schmerz und Scham und spürte gleichzeitig, dass Jim lächelte.

»Dann sind wir bald ungestört, meine Liebe. Nur noch du und ich«, sagte er, griff in ihr kinnlanges Haar und zog ihren Kopf zurück, damit sie ihn ansehen musste. Erkennen musste, was er vorhatte.

Bitte, bitte nicht! Nein! Doch ihr Flehen wurde nicht erhört. Wie so oft. Jim drängte näher. Seine Hände waren überall. Wanderten über ihren bebenden Körper. Gleichzeitig war da wieder diese Dunkelheit. Eine kalte, lähmende Dunkelheit, die aus ihm herausströmte und nach ihr griff. Wieder und wieder.

Immer fester schloss Paige die Augen. Sie konnte nicht mehr. Nein, sie wollte nicht mehr. Sie wollte das alles nicht mehr spüren! Wollte ihn nicht mehr spüren! Der Gedanke, nun auch noch ihr Kind zu verlieren, war wie ein Stachel, der sich tiefer und tiefer in ihr Herz grub und mehr, als sie ertragen konnte. Nein! Niemals! Vielleicht hatte sie längst aufgegeben, für sich selbst zu kämpfen und sich in ihr Schicksal gefügt. Aber für ihr Kind würde sie es auch mit dem Teufel aufnehmen – gäbe es den leisesten Funken Hoffnung, diesen Kampf zu gewinnen …

In einem Anflug schier unerträglicher Verzweiflung raffte sie ihre verbliebenen Reserven zusammen und wünschte sich von hier fort. An einen anderen, besseren Ort, wo sie vergessen konnte. Nur einen Augenblick vergessen.

Erinnerungen stiegen empor. Erinnerungen an eine Zeit, in der Angst noch nicht ihr Leben bestimmte und ihre Alpträume zu bewältigen waren. Sie hielt sich an diesen Erinnerungen fest, wie ein Ertrinkender sich an den Rand des untergehenden Schiffes krallen würde. Und plötzlich fühlte sie sich … erleichtert. Ein herrlich erlösendes Gefühl erfüllte sie. Eine klare, helle Wärme, die sie schützend umgab, von Kopf bis Fuß einhüllte wie ein dicker, behaglicher Wintermantel.

Dann veränderte sich die Situation. Aus Wärme wurde glühende Hitze und für einen verstörenden Moment glaubte sie, lichterloh zu brennen. In Flammen zu stehen. Die Welt wurde durchgeschüttelt, kippte zur Seite und der Boden unter ihren Füßen drohte nachzugeben.

Was zum …?

Paige riss die Augen auf, als ein Aufschrei durch den Raum gellte. Jim war zurückgewichen. Starrte sie an, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Als wäre sie eine Fremde, die in sein Haus eingedrungen war und mit einer Waffe auf seinen Kopf zielte. Verblüfft, entsetzt, fassungslos.

Paige hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was soeben geschehen war. Hatte sie Jim zurückgestoßen? Ihn angegriffen? Ihn verletzt?

Wie?

Sie wusste es nicht, fürchtete jedoch, Jim würde nun endgültig ausrasten. Er wich noch einen Schritt zurück, rang mit sich, wich ihrem Blick aus und verwirrte sie vollends. Sekunden wurden zu Minuten, die quälend langsam und wie im Zeitraffer verstrichen, während Paige wie angewurzelt dastand und ihr Verstand zu begreifen versuchte. Surreal. Als hätten Jim und sie die Rollen getauscht.

Die Gegensprechanlage ging schrillend los und ihr war, als würde das laute Geräusch die Zeit antreiben und sie und Jim aus dieser seltsam trägen Masse reißen, um sie zurück in die Realität zu schleudern.

Als wäre nie etwas passiert, strich er sein Sakko glatt, und Paige sah ihm nach, wie er auf die massive Eingangstür zuschritt und die Sprechanlage aktivierte. Sie verstand nur Wortfetzen, glaubte jedoch, eine tiefe männliche Stimme zu erkennen, die Jim bat, das Außentor zu öffnen.

Niklas Heavers. Jims Golfkumpel.

Erleichterung schlug wie eine Flutwelle über ihr zusammen. Paige griff nach dem Treppengeländer, damit sie nicht zusammensackte. Es war vorbei. Für heute war es vorbei.

Jim tippte den Code der Alarmanlage ein, schloss die Tür auf und wenig später betrat Niklas Heavers das Haus. Ein großer, blonder Mann, der seinen üblichen Anzug gegen Jeans und Hemd getauscht hatte und trotz legerer Kleidung noch immer Autorität verströmte. Der Rechtsanwalt begrüßte Jim und als er Paiges Blick begegnete, setzte er ein herzliches Lächeln auf, was ihn um Jahre jünger erscheinen ließ.

»Guten Abend, Paige. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?«

»Gewiss nicht«, erwiderte Paige bemüht ruhig und neigte den Kopf zur Seite, um die Verletzungen und ihre vor Scham geröteten Wangen zu verbergen.

»Gut.« Niklas wandte sich an Jim und legte ihm einen Arm um die Schultern, als wären sie nicht erst seit wenigen Wochen, sondern bereits seit Jahren die besten Freunde. »Du hast erwähnt, dass du einen irischen Whiskey vorrätig hast. Nun, heute würde ich mir ein Glas anbieten lassen.«

Jims Gesicht nahm einen gefälligen Ausdruck an. Er deutete in das angrenzende Wohnzimmer und ließ Niklas den Vortritt, der vor Paige stehen blieb und ihr seinen Mantel reichte.

»Wären Sie so freundlich?«

»Natürlich.« Mit gesenktem Blick griff Paige nach dem edlen Stoff und Niklas berührte kurz ihre Hand, bevor er sich förmlich bedankte und mit Jim das Wohnzimmer betrat. Die Schiebetüren wurden zugezogen und sie hörte die gedämpften Stimmen der Männer. Sie wusste nicht, wie lange sie so dastand und ins Nichts starrte. Es war Deans Stimme, die sie ins Jetzt zurückholte.

»Mommy?«

Paige sah hoch zur Galerie und erblickte den Kleinen. In seinem grünkarierten Pyjama, mit wuscheligem, brünettem Haar und aus großen, blauen Augen starrte er zu ihr herab.

»Ich hab ein Geräusch gehört und bin aufgewacht. Ich finde meinen Dino nicht mehr. Kommst du und hilfst mir suchen?«

Das erste Mal an diesem Abend schlich sich etwas wie ein Lächeln auf ihr Gesicht und sie schöpfte tief Atem. »Klar, mein Schatz.«

Erst als sie die Treppe hochgestiegen und an dem angrenzenden Flur, der zu den Angestelltenzimmern führte, vorbeigegangen war, wagte sie einen Blick auf das, was Niklas ihr zugesteckt hatte und noch immer von ihrer Faust umschlossen wurde. Vorsichtig entfaltete sie das kleine Stück Papier.

Jim wird die nächsten zwei Tage in Atlanta ein Seminar leiten. Das ist Ihre Chance, Paige, zu fliehen und ich bin bereit, Ihnen zu helfen. Ich warte morgen Nacht um zwei Uhr hinter dem Anwesen auf Sie und Ihren Sohn.

Der Code für die Alarmanlage: 7325

Bitte vertrauen Sie mir.

N.H.

3. Kapitel

Mittwoch, 6. November

Dean, aufwachen«, flüsterte Paige und ihre Stimme klang selbst gesenkt viel zu rau und getrieben.

Als sie die Tür zu Deans Zimmer von innen leise anlehnte und wenig später neben seinem Bettchen in die Hocke ging, war es kurz vor halb zwei Uhr morgens. Wahrlich keine angenehme Zeit, um durch das gespenstisch stille Haus zu geistern und sie brauchte einige Augenblicke, bis sie ihre Atmung in Einklang und das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle hatte.

Abgesehen von den brodelnden Ängsten, die das Vorhaben begleiteten, mit ihrem Kind zu flüchten und ihren Körper seit Stunden unter Hochspannung setzten, behagte ihr die Dunkelheit kein bisschen. Wie ein düsterer, undurchdringbarer Schatten hatte sie sich über das Anwesen gelegt und kühles Mondlicht tauchte das Innere des Hauses in düsteren, graublauen Nebel. Das Rauschen des Windes, der die toten Blätter im Garten aufwirbelte und durch jede Ritze der alten Sprossenfenster drang, erhöhte das dumpfe Gefühl in ihrer Brust. Der Anblick unheimlicher Schatten, die von den kahlen Ästen der großen Eiche an die Wände geworfen wurden, machte es nicht besser. Immer, wenn der Novemberwind um das Herrenhaus säuselte, erwachten die Schemen zum Leben, wanden sich, dehnten sich aus, krochen wie knorrige Finger über die Mauern, als wollten sie Paige berühren, sich an ihr festkrallen. Es schien, als wollte die Trostlosigkeit der Jahreszeit ins Haus kriechen, um Wärme zu erfahren. Die es nicht gab und niemals geben würde …

Geh! Verlasse diesen Ort …

Tu es! Bevor es zu spät ist …

Vehement unterdrückte sie einen eisigen Schauder, verdrängte die wispernden Stimmen aus ihrem Kopf und die hässlichen Gespenster aus ihren Gedanken. Vor langer Zeit schon hatte sie sich geschworen, sich von diesem Haus und ihren Ängsten nicht besiegen zu lassen und sie würde ihnen auch heute nicht nachgeben. Flüchtig wischte sie die klammen Hände an ihrer Jeans ab, bevor sie sich neben Dean auf der Matratze niederließ. Behutsam, um ihn nicht zu erschrecken, strich sie der kleinen, schlafenden Gestalt durch das weiche Haar, und Zärtlichkeit überschwemmte sie.

Er sah blass aus. Zerbrechlich. Mit seinem Plüsch-Dino unter dem Arm und dem friedlichen Gesichtsausdruck wirkte er unglaublich verletzbar. Wie vor zwei Jahren, als sein Herz aufhören wollte, zu schlagen und ihn nur noch Maschinen am Leben hielten. Die Erinnerung an diese entsetzliche Zeit, die ihnen beiden so viel abverlangt hatte, holte sie unvermittelt ein und streute Salz in eine nie verheilen wollende Wunde. Obwohl Dean heute so gut wie gesund und das Loch in seinem Herzen geschlossen war, war er kleiner und schmächtiger als Kinder in seinem Alter und konnte noch immer nicht ganz mit den Jungs in der Spielgruppe mithalten.

Doch trotz der Strapazen und Beeinträchtigungen hatte er sich nie unterkriegen lassen. Dean war eine Kämpfernatur, viel stärker als Paige es in ihren kühnsten Träumen würde sein können und dafür bewunderte sie ihn. Gleichzeitig war Dean ein viel zu genügsames Kind, das sich nie darüber beklagen würde, dass seine Mutter ihm zu wenig gerecht wurde.

Innerlich seufzte sie bei diesem Gedanken. In den vergangenen Monaten war ihr schlichtweg alles über den Kopf gewachsen. Der erbitterte innere Kampf, gegen ihre Albträume zu bestehen, war nicht mehr zu bewältigen gewesen und sie hatte sich zu sehr in sich zurückgezogen. Ohne zu bemerken, sich auch von Dean distanziert zu haben. Die Einsicht, zu wenig für ihn dagewesen zu sein, schmerzte, riss sie fast entzwei, und sie machte sich schreckliche Vorwürfe.

Sie würde sich bessern, schwor sie, bei allem, was ihr heilig war. Alles würde sich bessern. Sobald sie diesen grässlichen Ort, dieses unheimliche Haus, Jim und die qualvollen Erinnerungen an ihn weit hinter sich gelassen hatten, würde für sie beide ein neues Leben beginnen. Ein besseres Leben ohne Furcht, Kummer, Sorgen und Entbehrungen.

Fast schmerzhaft sehnte sie sich danach, morgens aufzuwachen und nicht diese entsetzliche Unruhe zu spüren, die fortwährend durch ihren Körper summte und sie Tag für Tag dem Abgrund einen Schritt näher brachte. Sie sehnte sich nach Normalität. Nach Sonnenschein und Unbekümmertheit. Danach, einfach nur Mutter sein zu dürfen und Dean ein sicheres, behütetes und liebevolles Zuhause bieten zu können. Etwas, das sie selbst dringend brauchte und vermisste. Nun war die Aussicht auf ein sorgloses Leben zum Greifen nah. Sie würde diese Möglichkeit nutzen. Für Dean, aber auch für sich.

In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie Niklas Heavers Nachricht Dutzende Male gelesen. Sich erlaubt, an seine Worte zu glauben und Hoffnung zu schöpfen, hatte sie sich jedoch erst, als Jim am Nachmittag kurzfristig nach Atlanta aufgebrochen war und sie mit zwei der Angestellten zurückließ.

Jim weit weg zu wissen, war eine enorme Erleichterung, die allerdings von der Frage, ob sie Niklas Heavers vertrauen konnte, überschattet wurde. Warum wollte er Dean und ihr helfen? Aus Mitleid? Aus Nächstenliebe? Wusste er, was Jim für ein Monster war? Dass er ihr Dean wegnehmen und in ein Internat schicken wollte? Oder hatte Jim Niklas dazu gebracht, ihre Loyalität zu testen? Diese nicht auszuschließende Befürchtung jagte ihr eine Heidenangst ein. Dennoch musste sie es auf einen Versuch ankommen lassen.

Seit mehr als anderthalb Jahren suchte sie nach einem Ausweg aus dieser hoffnungslosen Situation und war bereits an den Überlegungen einer Fluchtmöglichkeit gescheitert. Jim war wie ein Besessener. Er kontrollierte und überwachte sie auf Schritt und Tritt. Um sie an das Haus zu fesseln, hatte er eine Alarmanlage eingebaut, die nicht nur Fremde abhalten sollte, in das Haus einzudringen. Sie konnte das Anwesen ohne die Eingabe des Codes ebenso wenig verlassen. Nur wenige Vertraute kannten die Zahlenkombination. Wie sie nun wusste, gehörte Niklas Heavers zu diesen Personen und dieser hatte ihr ein Ticket in die Freiheit versprochen. Egal welche Zweifel an ihr nagten und wie beängstigend die Befürchtung war, erwischt zu werden oder direkt in eine Falle zu rennen, sie würde dieses Ticket nutzen.

Du musst …

Es ist deine einzige Chance …

Geh, Paige …

»Dean, Honey, aufwachen«, wiederholte sie flüsternd und küsste den Jungen auf die Stirn. Dieses Mal reagierte er, öffnete die Augen und sah verschlafen und fragend unter langen Wimpern zu ihr hoch. Paige beugte sich zu ihm und bemühte sich um eine gefasste Stimme, damit Dean ihr Unbehagen nicht wahrnehmen konnte. Keinesfalls wollte sie ihn erschrecken oder verängstigen. Es reichte aus, dass ihr der Puls bis in die Schläfen klopfte. »Hör zu, Schatz, wir spielen jetzt ein Spiel, okay?«

Dean nickte, sagte jedoch nichts, als wüsste er instinktiv, sich still verhalten zu müssen. »Mommy nimmt dich auf den Arm und wir gehen hinaus in den Garten. Dabei müssen wir sehr leise sein. Denkst du, du schaffst das?«

Wieder nickte Dean. Erleichtert, weil er nach keiner Erklärung verlangte, sondern bedingungslos auf sie vertraute, atmete Paige aus und drückte ihn an sich. Kurz genoss sie das herrliche Gefühl, seinen kleinen, warmen Körper zu spüren, seinem gesunden Herzschlag zu lauschen und seinen Geruch einzuatmen. Ihr Selbstvertrauen wuchs. Es würde alles gut werden. Niklas Heavers war immer freundlich zu ihnen gewesen und anders als bei Jim hatte sie bei ihm nie das Gefühl gehabt, er wäre ein schlechter Mensch mit bösen Absichten. Im Gegenteil. Sie hatte ihn nur als liebenswürdigen, höflichen und zuvorkommenden Mann erlebt und er strahlte eine Herzlichkeit aus, die echt wirkte.

Bitte vertrauen Sie mir.

Genau das würde sie tun.

Paige ließ Dean los und tastete unter dem Bett nach den beiden Daunenjacken sowie dem Rucksack, den sie hinter Spielzeugkisten versteckt hatte. Warme Kleidung zum Wechseln, Kekse für Dean und etwas Geld, das sie sich über zwei Jahre vom Haushaltsgeld abgezweigt hatte, befanden sich darin. Es war nicht viel, aber sie würden die nächsten Wochen über die Runden kommen, bis sie eine Bleibe und einen Job gefunden hatte.

Sie setzte den Kleinen an den Rand des Bettes. Draußen war es bitterkalt und Dean hatte erst eine schlimme Erkältung hinter sich, also packte sie ihn warm ein, bevor sie ihn hochhob und an sich drückte. Er hielt seinen Plüsch-Dino fest, legte beide Arme um ihren Hals und bettete seinen Kopf an ihre Schulter.

Und nun weg von hier, dachte Paige und spürte im selben Atemzug, wie sich ihr Körper wieder anspannte. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte hinaus in den düsteren Flur, der sich still und einsam vor ihnen erstreckte. Das Dienstmädchen und Karl, der sich während Jims Abwesenheit um dessen Angelegenheiten kümmerte, hatten sich vor Stunden auf ihre Zimmer zurückgezogen. Bestimmt schliefen sie tief und fest, ohne zu ahnen, was Paige mit Dean vorhatte. Dennoch beschlich sie ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken an die beiden Menschen, die Jim um einiges näherstanden als ihr, und sobald sie den Schutz von Deans Zimmer hinter sich gelassen hatten und sie in die Dunkelheit der Gänge eingetaucht waren, wurde das Unbehagen stärker. Verwandelte sich in drückende Beklemmung.

Nachts wirkte das altmodisch eingerichtete Herrenhaus noch unheimlicher als bei Tageslicht. Heizungsrohre gaben knackende Geräusche von sich, während der alte Kessel im Keller surrte und noch immer konnte Paige den Wind hören, der um das Haus schlich und wie ein verletzter Wolf klagend vor sich hin heulte.

Doch an diese Geräusche hatte sie sich längst gewöhnt. Viel grausamer war das Empfinden, aus allen Ecken und Ritzen beobachtet zu werden. Es suchte sie auch jetzt heim, doch sie versuchte, es zu verdrängen, auszublenden, wie die flüsternden Stimmen, die sie jede Nacht zu hören glaubte, seit sie hier lebte. Die ihr zuwisperten, dass sie nicht hierher gehörte, dass sie davonlaufen sollte und sich nie wieder nach diesem Ort umdrehen durfte.

Paige vertrieb die Stimmen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Füße und huschte wie ein Gespenst über den langen, dicken Läufer des Flurs, der ihre Schritte dämpfte, nicht jedoch das Frösteln, das über ihre Wirbelsäule tänzelte. Immer unangenehmer kribbelte ihr Körper, und sie war in kaltem Schweiß gebadet, als sie endlich die geschwungene Treppe erreichte, die hinunter in das Erdgeschoss führte.

Es war, als würde dieser Ort ein düsteres Eigenleben besitzen, das erwachte, wenn die Sonne hinter dem Grand River verschwunden war.

Diese Dunkelheit ist es, die Besitz von Jim ergreift und aus ihm einen bösen Menschen macht …

Er darf dich niemals finden …

Er bringt den Tod …

Lauf weg, Paige …

Beeile dich …

Aufhören! Bitte hört auf, bat Paige stumm und drückte Dean fester an sich, während sie die Treppe nach unten in das Foyer eilte, vorbei an den starrenden Engelsstatuen und durch das Kaminzimmer, um in Jims Büro nach dem Ersatzschlüssel zu suchen. Sekunden erschienen wie Minuten, und als sie das Büro endlich erreicht hatte, war ihr, als wäre eine kleine, fürchterliche Ewigkeit verronnen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt und sie wünschte sich nur noch eines: Endlich von hier fort zu sein. Sachte und mit klammen Händen drückte sie die Messingklinke nach unten. Ein Schauder kratzte über ihren Rücken. Ihre Muskeln krampften und Paige hielt mitten in der Bewegung inne. Lauschte angestrengt in die trügerische Stille und betete, sich verhört zu haben.

Bestürzung jagte Adrenalin durch ihre Adern, als sie abermals ein klopfendes Geräusch vernahm. Vor Schreck und zugleich auf das Schlimmste gefasst, fuhr sie herum, um im selben Moment innerlich aufzustöhnen.

»Es ist nur Warren«, flüsterte Dean kaum vernehmbar.

Paige starrte den dicken, grauen Perserkater an, der auf dem Fenstersims saß und aus großen, goldenen Katzenaugen durch das matte Glas der Fensterscheibe zurückstarrte. Vorwurfsvoll? Missbilligend? Sie wusste es nicht. Der Kater gehörte Jim und war ihr nicht geheuer. Wenn sich ihre Wege kreuzten, stellte er das Nackenfell auf und fauchte, als wollte er ihr mitteilen, dass sie nicht willkommen war. Ich mag dich auch nicht, dachte sie, stieß den angehaltenen Atem aus und kehrte dem Tier den Rücken.

Sie hasste es, so ängstlich zu sein. Früher war das anders gewesen. Als junges Mädchen hatte sie die Nächte den Tagen vorgezogen und es von Herzen geliebt, in der Finsternis auf der Veranda ihrer inzwischen verstorbenen Eltern zu sitzen, um der Stille zu lauschen und die nächtliche Friedlichkeit auf sich wirken zu lassen. Heute waren ihr selbst die Tage nicht hell genug und ein dicker, verzogener Kater reichte aus, um sie zu Tode zu erschrecken. Jim und dieser Ort hatten sie das Fürchten gelehrt und aus ihr ein angsterfülltes, kleinlautes Etwas gemacht, das sich vor seinem eigenen Schatten fürchtete und nicht mehr viel mit dem immer fröhlichen, selbstbewussten Mädchen von damals gemein hatte.

Paige verdrängte die Wehmut, die sie ergreifen wollte, und nahm sich zusammen, bevor sie Jims Arbeitszimmer betrat. Wie erwartet waren seine Sachen ordnungsgemäß verstaut, der Schreibtisch penibel aufgeräumt und sie brauchte nicht lange, um zu finden, wonach sie suchte. Sie nahm den Ersatzschlüssel an sich, schloss die unterste Schublade des Sekretärs wieder und warf einen Blick auf die antike Standuhr, die auf einem Sockel neben dem hohen Sprossenfenster thronte. Zehn vor zwei Uhr. Wenn sie Niklas Heavers pünktlich erreichen wollte, durfte sie keine Zeit verlieren. Sorgfältig darauf bedacht, keinen Lärm und sich unsichtbar zu machen, eilte sie zurück in die Eingangshalle und steckte den Schlüssel in das Schloss der Haustür. Rasch tippte sie die Zahlen ein, die Niklas Heavers für sie notiert hatte und ihr verschlug es den Atem.

Rot. Die Led-Anzeige blinkte weiterhin rot.

Entgeistert starrte Paige das Lämpchen an, während träges Entsetzen in ihr hochkroch. Das konnte doch nicht … Das durfte nicht … Nein! Bitte lieber Gott, nein!

Ahnte Jim, dass Niklas Heavers ihr helfen wollte? Oder hatte er zur Sicherheit den Code geändert, bevor er nach Atlanta aufgebrochen war? Egal was von beidem zutraf, es änderte nichts daran, dass sie gefangen bleiben würde. Verzweiflung durchfuhr sie wie ein Stromschlag und ihre Hände zitterten, während sie die Zahlen erneut eingab. Vielleicht hatte sie sich vertippt. Vielleicht …

Grün.

Oh Gott, danke! Ihre Knie fühlten sich viel zu weich an, während sie den Schlüssel zweimal im Schloss drehte. Die wuchtige Tür sprang mit einem leisen Klick auf, und Erleichterung schoss wie hellster Sonnenschein durch sie hindurch. Sie hatten es geschafft!

Tief durchatmend trat sie hinaus in die kalte, klare Novembernacht. Funkelnde Sterne und ein satt leuchtender, gelber Vollmond erhellten das Dunkel und es roch nach Schnee. Rein und sauber. Ein Neubeginn. Leise zog sie die Tür hinter sich zu, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Dann rannte sie. Rannte im Schatten der hohen Kiefernbäume und immergrünen Sträucher über die unebene und weitläufige Rasenfläche des Anwesens, die auf eine kleine Anhöhe führte. Der Wind frischte auf, zerrte an ihrem Haar und brannte in ihren Lungen, aber das war egal. Sie hielt Dean, dessen Gewicht sie kaum wahrnahm, fest an sich gedrückt und wurde erst langsamer, als sie die Umzäunung des Grundstückes erreichte. Genau an der Stelle, die durch die leichte Erhöhung einen Spalt unter dem massiven Eisenzaun bildete. Vor wenigen Wochen bei einem Spaziergang mit Dean war ihr diese Stelle aufgefallen und nun würde sich herausstellen, ob sie darunter hindurchpasste. Paige stellte den Jungen ab, der neben ihr in die Hocke ging und interessiert zusah, wie sie den Rucksack unter dem Zaun durchschob.

»Wo gehen wir hin, Mommy?«

Paige legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen. »Das erzähle ich dir alles später, Honey, okay?«, flüsterte sie, denn zu mehr fehlte ihr nach dem Sprint der Atem. Sie zog ihm die Mütze tiefer ins Gesicht und deutete auf die andere Seite des Zauns. »Kommst du da durch?«

Dean nickte eifrig und machte es vor. Dann war Paige an der Reihe. Sie war mit ihren ein Meter fünfundsechzig nicht besonders groß und hatte in den letzten zwei Jahren einiges an Gewicht verloren. Nun kam ihr die kleine, schlanke Gestalt zum ersten Mal zugute.

Sie zwängte sich unter dem Zaun durch, griff nach dem Rucksack und nahm Dean wieder hoch, nachdem sie ordentlich Luft geschöpft hatte. Dann sah sie sich um. Der Wald, der an Jims Anwesen anschloss, war mehrere Hektar groß und dicht. Wenn sie dem Trampelpfad entlang des Zaunes gen Süden folgte, würde sie sehr bald einen Jungwald erreichen, durch den eine Forststraße führte. Da sie annahm, dass Niklas Heavers mit dem Auto gekommen war und dort auf sie wartete, ging sie in diese Richtung.

Bei jedem ihrer Schritte achtete sie darauf, keinen Lärm zu machen und nicht versehentlich auf einen Ast oder eine Wurzel zu treten. Sobald sie sich der Stelle näherten, die Niklas mit seinem Fahrzeug zum Stehenbleiben gezwungen haben musste, bedeutete sie auch Dean, sich still zu verhalten. Bevor sie sich zu erkennen gab, wollte sie sich überzeugen, auch tatsächlich Niklas Heavers anzutreffen und niemanden sonst.

Im Schutz eines dichten Lorbeerbusches spähte sie zur Forststraße hinüber, die in einem breiten Auslauf endete und erkannte tatsächlich eine dunkle Silhouette, die Niklas Heavers groß gewachsene, schlanke Gestalt erahnen ließ. Als der Mann in Blue-Jeans und dunklem Parka sich zur Seite drehte, erhellte Mondlicht sein Gesicht und Paige fiel eine tonnenschwere Last von den Schultern.

Niklas Heavers war gekommen. Allein. Trotz der Kälte fühlte sie glühende Euphorie aufsteigen. Fühlte Freude bis in ihre Fingerkuppen kribbeln und für einen herrlich erlösenden Moment verwandelte sich die Nacht in einen strahlend hellen Tag. Sie würden von hier wegkommen. Ein neues Leben beginnen. Frei sein. Heute noch!

Mitgerissen von ihren überschäumenden Emotionen trat sie aus dem Schatten der Büsche, und als Niklas sie erkannte, kam er auf sie zu. Er hatte einen angespannten Ausdruck im Gesicht, den sie als Sorge zu deuten glaubte.

»Paige, Gott sei Dank. Geht es Ihnen gut?« Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß, und als sie dankbar und mit einem dicken Kloß im Hals nickte, sah er sie erleichtert an. Liebevoll strich er Dean über den Kopf. »Hey, Sportsfreund. Bei dir auch alles in Ordnung?«

»Ja, Mr Heavers«, erwiderte Dean freundlich, aber müde und kuschelte sich wieder an Paiges Schulter.

Das Lächeln, das Niklas Dean schenkte, war herzlich und wärmte Paiges Innerstes. Ein weiterer Teil ihrer Anspannung löste sich und vor Erleichterung fiel es ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Doch Rührseligkeit konnte sie sich im Moment nicht leisten. Sie musste sich daran erinnern, noch nicht in Sicherheit zu sein. Darüber hinaus gab es einige Fragen, die ihr auf der Seele brannten und auf Antwort drängten. Paige sah zu Niklas Heavers hoch und räusperte sich. Dennoch klang ihre Stimme sehr dünn. Die letzten Stunden hatten sie Kraft und Energie gekostet. »Warum tun Sie das? Warum helfen Sie uns?« Sie musste es wissen. Musste die Antwort kennen, um die Ungewissheit loszuwerden.

»Wir sollten zuerst von hier weg. Kommen Sie«, sagte er, nahm ihr den Rucksack ab und deutete zu einer Gruppe eng zusammenstehender Jungbäume hinter dem Forstweg. »Mein Wagen steht da drüben.«

Gut versteckt. Er brauchte es nicht auszusprechen, sie sah in sein Gesicht und verstand. Niklas wusste, wer Jim war. Wusste, wozu er fähig war. Nun hatte sie ihre Antwort, die jedoch neue Fragen aufwarf. Später, sagte sie sich und sah zu Boden, um nicht über ihre müden Beine zu stolpern.

Eine kurze, jedoch nicht unangenehme Pause entstand, die Paige erlaubte, sich einigermaßen zu fangen und ihre Emotionen zu ordnen. Ihr war, als könnte sie fliegen, und gleichzeitig fühlte sie sich gehetzt, was sie immer wieder dazu brachte, einen Blick über ihre Schulter und durch den düsteren, kahlen Wald zu werfen, der durch das schräg einfallende Mondlicht gespenstisch und ausladend wirkte.

»Es gibt da etwas, das Sie wissen sollten, Paige«, begann Niklas und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Weg von den raschelnden, knackenden Geräuschen, die ihr einen Schauder nach dem anderen bescherten. »Ich bin privater Ermittler, kein Rechtsanwalt. Mein Auftraggeber sucht nach seiner vermissten Tochter, die zuletzt vor einem halben Jahr mit Jim Hendriks in einem Einkaufszentrum in Illinois gesehen wurde.«

»Sie sind Polizist?«, fragte Paige verwirrt und blieb stehen, während alle anderen Informationen in den Hintergrund traten. Wie konnte das sein? Wie hatte Niklas Heavers sie alle nur derart täuschen können? Insbesondere jedoch Jim, der über viel zu gute Kontakte zur Polizei und zu anderen Behörden verfügte. Misstrauen flammte auf und Niklas schien es zu bemerken.

»Ich war ein Cop«, verbesserte er. »Seit drei Jahren arbeite ich für eine große Detektei und ermittle verdeckt. Meist suche ich nach vermissten Personen. Ist das so schwer zu glauben?« Seine Augen leuchteten vergnügt, jedoch auch voller Verständnis für ihre Skepsis.

»Nein, es ist nur schwer vorstellbar, dass jemand es geschafft hat, Jim in die Irre zu führen. Und das über Monate.«

»Andere zu täuschen gehört zu meinem Spezialgebiet«, sagte Niklas in neckendem Ton und sie erkannte seine Bemühung, ihr die letzten Zweifel und Ängste zu nehmen.

Plötzlich tat es Paige unsäglich leid, ihm statt Dankbarkeit nur Misstrauen entgegenzubringen. Sie berührte ihn an der Schulter. »Danke. Vielen Dank, Niklas. Ihre Hilfe bedeutet uns immens viel, das sollten Sie wissen.«

Augenblicklich erlosch das Leuchten in seinen Augen. Ernst und bedauernd blickte er sie an und Mitgefühl sprach aus seiner Stimme. »Ich kann nur erahnen, was Jim Ihnen angetan hat. Welchen Schmerz er Ihnen zugefügt und welche Narben er hinterlassen hat. Und es tut mir sehr leid.«