Für Jesper

Tonspur, 18. August 2012, 22:37 Uhr

Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich das aufnehme. Die Wahrscheinlichkeit, dass es jemand zu hören bekommt, ist ziemlich gering. Vermutlich ist es eher für mich. Wenn man etwas erlebt, das so … brutal ist. Man hat das Bedürfnis, es mit jemandem zu teilen. Aber das geht aus verständlichen Gründen nicht.

 

Na, jedenfalls habe ich mir gedacht, dass es besser als gar nichts ist. Und wenn mir etwas zustoßen sollte, gibt es vielleicht irgendjemanden, der das hier findet. Ich weiß nicht …

 

Vielleicht lösche ich das Ganze auch wieder, bevor es so weit kommt. Wahrscheinlich.

 

Es war weit schlimmer, als ich gedacht habe. Merkwürdig, oder? Man sieht sich einen blutrünstigen Film nach dem anderen an. Und man glaubt, alles darüber zu wissen, wie es ist, jemanden zu ermorden. Ich habe mir eine Menge Zeit für die Vorbereitungen genommen, ein ums andere Mal bin ich die Situation durchgegangen. Trotzdem hat es mich überrascht, wie schwer es war. Man braucht schon sehr viel Kraft dazu, jemandem das Leben zu nehmen. Und es dauert länger, als man vermutet. Und dann das viele Blut …

 

Gerade bin ich auf einem Rest Seifenwasser ausgerutscht, das ich im Badezimmer verspritzt habe. Ich bin nicht gefallen, ich hatte nur für einen Moment, in dem es keinen Kontakt mehr zwischen Fußsohle und Boden gab, dieses Schwindelgefühl. Man verliert die Kontrolle und im Bruchteil einer Sekunde schießt Todesangst durch den Körper, bis man wieder festen Halt hat. Ich habe es immer gehasst. Gehasst, auszurutschen oder zu stolpern.

 

Vielleicht ist es eine Phobie, ich weiß es nicht. Ich habe nie mit jemandem darüber geredet.

 

Tja, jedenfalls bin ich ausgerutscht, und diesmal war es noch schlimmer als sonst. Ich dachte, ich rutsche in ihrem Blut aus. Dorthes Blut. Einen kurzen Moment vermischte sich der gewöhnliche Schrecken mit dem zwanghaften Gedanken, dass ich meine Schuhe nicht sauber gemacht hätte, dass noch Blut daran klebte, dass ich alles nicht gut genug geplant hätte. Dann habe ich den Rand des Waschbeckens erwischt und das Gleichgewicht wiedergewonnen. Die Panik legte sich. Selbstverständlich war es nicht Dorthes Blut. Nicht mal ein Tropfen findet sich auf meinen Sachen, beruhigte ich mich, während ich das Seifenwasser aufwischte. Es war alles nur in meinem Kopf passiert. Trotzdem zitterte ich so sehr, dass ich mich auf die Toilette setzen musste. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass es so schwer werden würde, auch hinterher noch.

 

Heute Vormittag bin ich zu Dorthe gefahren. Sie war überrascht, natürlich, hatte aber keine Angst, glaube ich. Nachdem sie mich in die Wohnung gelassen hatte, ist sie ins Wohnzimmer vorausgegangen. Sie redete wie immer. Ob ich etwas zu trinken haben wolle. Entschuldige die Unordnung. So etwas. Nur ein nervöser Strom von Worten. Sie schob die Umzugskartons zur Seite, damit wir uns setzen konnten.

 

Sie stand mit dem Rücken zu mir. Sie …

 

Ich hatte das Bügeleisen schon vorher ausgepackt, um es innerhalb weniger Sekunden aus der Plastiktüte nehmen zu können. Und ich habe es umgedreht, sodass das spitze Ende nach hinten zeigte, als ich es am Handgriff packte. Einen Moment bin ich so stehen geblieben, um mein Gleichgewicht zu finden, dann habe ich zugeschlagen, gerade, als Dorthe sich aufrichtete. Ich hatte unterschätzt, wie hart man zuschlagen muss. Die Spitze des Bügeleisens rutschte ab und hinterließ lediglich eine oberflächliche Wunde an ihrem Hinterkopf. Sie schrie und drehte sich zu mir um, presste die linke Hand auf ihren Hinterkopf, wo langsam das Blut heraussickerte. Die rechte hob sie, um sich zu schützen. Ihre Augen waren riesig. Ich schlug ihre Hand beiseite und holte ein zweites Mal aus. Diesmal traf ich sie an der Stirn, ganz oben, direkt am Haaransatz. Diese Wunde war ein wenig tiefer, ein Blutstrom floss ihr übers Gesicht. Sie taumelte, fiel auf die Knie und presste beide Hände auf die Stirn. Sie hörte nicht auf zu schreien.

 

So würde es nicht gehen, das spürte ich. Das Bügeleisen war einfach zu leicht. Ich sah mich um und entdeckte einen Hammer, er lag auf einem der Umzugskartons. Damit ging es besser.

 

Schon nach dem ersten Schlag auf die Schläfe hielt Dorthe endlich die Klappe. Sie sank auf dem Boden zusammen, das Blut strömte aus der Wunde. Ich griff nach ihren Handgelenken. Es war schwierig, den Puls durch meine dünnen Einweghandschuhe zu fühlen, aber ich fand ihn. Ich ließ los und schlug noch einmal zu. Und noch einmal. Ich merkte, dass ich mit jedem Schlag besser wurde. Man konnte deutlich das Geräusch des berstenden Schädels hören.

 

Das Blut war jetzt überall. Dorthes Haare glänzten dunkelrot, ihr T-Shirt war blutgetränkt, unter ihr breitete sich ein See auf dem Fußboden aus. Ich schlug vermutlich einige Male mehr als nötig zu, aber ich wollte ganz sichergehen. Ich hatte keine Lust, ihren Puls noch einmal zu prüfen.

 

Das Wohnzimmer war kein schöner Anblick. Die Umzugskartons, die sich überall stapelten, waren mit Blut bespritzt. Ein paar Tropfen rannen über den Fernsehbildschirm.

 

Alles verlief absolut nach Plan. Niemand wird mich mit dem Mord in Verbindung bringen können. Aber meine Arbeit ist noch nicht beendet.

Samstag, 18. August 2012

1

»Was meinst du?« Marianne Sommerdahl sah ihren Exmann an. »Kaufen wir es?«

Dan antwortete nicht. Er ließ seinen Blick noch einmal durch den Garten schweifen. Ein halbes Dutzend kleiner, knorriger Obstbäume verteilte sich über die Grasfläche. Eine wilde Hecke schützte vor neugierigen Blicken, und aus einem mit Giersch überwucherten Beet ragten einige wenige Stauden heraus, die überlebt hatten. Das Ferienhaus selbst … Nun ja, er musste zugeben, dass es perfekt war. Klassisch schwedisch-rote Holzverkleidung, weiße Fensterrahmen, eine nach Südwesten ausgerichtete Terrasse mit Hollywoodschaukel. Alles schrie nach einer liebevollen Hand und einem Anstrich mit Holzschutzmittel, aber die Aussicht auf die Landzunge war fantastisch. Sogar der Preis ging in Ordnung.

Und doch stimmte irgendetwas nicht. Egal, wie idyllisch es sich auch tarnte, Mariannes »Projekt Ferienhaus« war eine Manifestation des Status quo. Eine Manifestation, mit der Dan sich auf keinen Fall abfinden wollte.

»Dan? Was meinst du?«

Er sah sie an. »Ich weiß nicht …«

»Gefällt es dir nicht?«

»Doch, schon …«

»Oh, Dan. Was ist denn?«

Dan ging in den Garten. Die Pflaumen waren reif. Er pflückte eine. Kühl und schwer lag sie in seiner Hand. Er biss hinein, und süßer Fruchtsaft füllte seinen Mund. Er drehte sich um und schaute hinauf zum Haus, wo der Makler in seinen Unterlagen blätterte und so tat, als hätte er die kleine Kontroverse seiner potenziellen Käufer nicht bemerkt.

Marianne kam auf ihren Exmann zu und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Also, ich bin verrückt nach diesem Haus, Dan. Es ist genau das, wonach wir gesucht haben.«

Dan spuckte den Pflaumenkern aus. »Wollen wir’s nicht noch einmal diskutieren? Das ganze Projekt, meine ich.«

»Dass wir uns zusammen ein Ferienhaus kaufen? Ich dachte, wir wären uns einig.«

»Das ist eine weitreichende Entscheidung. Ich finde, wir sollten ganz sicher sein, dass wir es auch wirklich wollen.«

»Aber ich bin mir sicher!«

»Ich weiß.«

Marianne zog die Hand zurück und griff sich den Riemen ihrer Schultertasche. »Aber du nicht, oder?«

»Ich finde, wir sollten es noch einmal besprechen«, wiederholte er.

»Also, Dan!«

»Lass uns zu Hause darüber entscheiden.«

»Und wenn nun jemand anderer das Haus kauft, während wir das Ganze zu Tode diskutieren? Hin und wieder muss man auch mal etwas tun, ohne so viel darüber nachzudenken.«

»Dieses Haus wird kaum innerhalb der nächsten paar Tage verkauft werden. Es steht seit fast einem Jahr zum Verkauf.« Dan zuckte die Achseln. »Lass uns später entscheiden«, sagte er noch einmal. »Ich glaube, der Makler hat noch andere Verpflichtungen.«

Als sie kurz darauf in Dans Wagen saßen, war die Stille nahezu körperlich zu spüren. Er warf Marianne einen Seitenblick zu. Tränen standen ihr in den Augen, vor Wut presste sie die Lippen zusammen. Dan hätte gern eine freundliche Bemerkung gemacht, um die Stimmung etwas aufzuheitern. Er entschied sich, besser nichts zu sagen. Es gab keinen Grund, die bevorstehende Diskussion gleich im Auto anzufangen.

Als er an der Hafenpromenade hielt und aussteigen wollte, um das Tor aufzuschließen, öffnete Marianne zum ersten Mal, seit sie das Ferienhaus verlassen hatten, den Mund: »Ach, du hast entschieden, dass wir zu dir fahren?« Sie sah ihn nicht an.

Dan ließ sich in den Sitz zurückfallen. »Ist das nicht das Vernünftigste?«

»Du hättest mich wenigstens vorher fragen können.«

Er seufzte. »Möchtest du lieber in die Gørtlergade? Dann fahren wir gleich weiter. Du entscheidest.«

»Bringen wir’s hinter uns.« Der Mund war wieder verkniffen.

»Kaffee?«, fragte er, als sie kurz darauf in seinem Wohnzimmer standen.

»Eine kleine Tasse.«

Dan ließ sich Zeit mit der Zubereitung des Kaffees. Er fürchtete die Unterhaltung, die sie führen mussten. Denn wenn er ganz ehrlich war, wusste er bereits seit einiger Zeit: Der Ferienhausplan war hoffnungslos.

Er und Marianne lebten seit vier Jahren getrennt und führten seit drei Jahren eine merkwürdige On-off-Beziehung. In der ganzen Zeit hatte Dan seine Exfrau angefleht, wieder zusammenzuziehen, aber Marianne wollte sich nicht erweichen lassen. Dan war einmal zu oft fremdgegangen. Und es gefiel ihr, allein zu leben. Außerdem konnte sie ihm offensichtlich nicht verzeihen. Unabhängig davon hatte sie eine Eifersucht entwickelt, die er fast schon als krankhaft empfand. Ständig verdächtigte sie ihn, eine Affäre zu haben – und jedes Mal tatsächlich unbegründet. Dan hatte die wiederholten Vorwürfe ernsthaft satt. Jede einzelne tränenreiche Auseinandersetzung zehrte an ihrer Beziehung, jede unbegründete Anklage zehrte sie weiter aus.

Sein alter Freund Flemming Torp hatte vor ein paar Monaten den Nagel auf den Kopf getroffen, als Dan ihm einmal mehr von seinen Problemen erzählte: »Du weißt, wie sehr ich dich und Marianne mag, Dan. Und die Götter wissen, wie sehr ich mir wünsche, dass es bei euch wieder funktioniert. Aber wie heißt es noch gleich? Was einmal zerbrochen ist, lässt sich nur schwer wieder kitten. Vielleicht ist es ein sinnloses Projekt, eure gescheiterte Ehe wieder einrenken zu wollen.«

Die Worte hatten sich in Dans Unterbewusstsein gegraben, und eine Zeit lang hatte er versucht, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Der Schaden war offenbar nicht wiedergutzumachen. Doch kurz bevor er die unvermeidlichen Konsequenzen ziehen wollte, hatte Marianne mit ihrem gewohnten Gespür für Timing seine Gedanken mit einem Kompromissvorschlag durcheinandergewirbelt: Und wenn sie nun ein Ferienhaus kauften? Die Kosten würden sie sich teilen und es zusammen einrichten? Auf diese Weise hätten sie eine gemeinsame Basis, ohne täglich unter einem Dach leben zu müssen. Dan hatte die ausgestreckte Hand dankbar ergriffen. Vielleicht hätte Marianne ja dann mit der Zeit Lust … Nein, hatte er sich gebremst. Eben diese falsche Hoffnung hatte ihn in dem idyllischen Ferienhausgarten zweifeln lassen, kurz bevor der Kaufvertrag unterschrieben werden sollte.

Für Marianne war das Ferienhaus das eigentliche Ziel, eine dauerhafte Lösung für den Rest des Lebens. Im Ferienhaus zusammen, in der sonstigen Zeit jeder für sich. Sie wäre damit zufrieden gewesen, Dan wünschte sich etwas anderes. Eine stabile Beziehung, die er in jungen Jahren nonchalant vernachlässigt hatte, war sein größter Wunsch. Keine weiteren Kompromisse, keine halben Lösungen, keine Entschuldigungen. Ging das eigentlich allen Paaren so?, fragte er sich. Dass der Mann mehr und mehr auf eine feste Beziehung drängte, während die Frau das Bedürfnis nach größerer Freiheit hatte, sobald sie älter wurde und die Verantwortung für die Kinder und das Familienleben nicht mehr so groß war? Dan hatte den Eindruck, dieses Muster zu kennen.

Man darf den Aspekt der Bestrafung in Mariannes Haltung nicht unterschätzen, dachte er, als er das kochende Wasser in die Stempelkanne goss. Jede Zurückweisung erinnerte ihn daran, dass all dies seine Schuld war. Er hatte sie im Stich gelassen, er hatte sich schwachsinnig benommen. Als hätte er das nicht längst begriffen und die Verantwortung dafür übernommen. Mit dem gemeinsamen Kauf dieses Ferienhauses würde er sämtliche Kompromisse akzeptieren, und damit wollte Dan einfach nicht leben. Marianne musste sich jetzt entscheiden. Alles oder nichts.

Er stellte die Kaffeekanne und Tassen auf ein Tablett, atmete tief durch und ging ins Wohnzimmer.

Es wurde genau so hart, wie er es befürchtet hatte. Marianne tobte, als er sich aus ihrem sorgfältig zurechtgelegten Plan zurückzog. Sie heulte und überhäufte ihn mit Vorwürfen, während Dan immer kühler wurde. Jede neue Attacke bestätigte ihn nur umso mehr in seinem Entschluss. So würde es niemals funktionieren. Schließlich stellte Dan seine Bedingung, auch sonst wieder zusammenzuleben, alles oder nichts, und es überraschte ihn nicht, welchen Weg Marianne wählte.

Als sie aus dem Wohnzimmer rannte, blieb Dan sitzen, unendlich müde. Das Geräusch der Tür, die so fest zugeschlagen wurde, dass der Spiegel im Flur klirrte, war vor allem eine Erleichterung.

Er zog eine Flasche Rotwein auf, schaltete den Fernseher ein und legte die Füße auf den Couchtisch. Die zweite Halbzeit eines Fußballspiels hatte begonnen. Wieder Junggeselle. Es gab Schlimmeres. Nach drei Jahren als Vorbild an Tugend schien es durchaus verlockend, mal wieder eine fremde Frau ansehen zu dürfen. Dans Gedanken kreisten träge um diesen positiven Aspekt der Trennung, als ein missglückter Torschuss die Stimme des Kommentators ins Falsett steigen ließ. Das Publikum brüllte, einige vor Begeisterung, andere vor Wut. Dan war es egal. Er schaltete ab, bevor das Spiel zu Ende war.

Sonntag, 19. August 2012

2

Die stellvertretende Kommissarin Pia Waage war auf dem Weg zu ihrer Freundin am Rand des Balleslev Hegn. Sie ließ den Wagen das letzte Stück des Schotterwegs im Leerlauf rollen, hin- und hergerissen zwischen Sorge und Verärgerung. Dorthe hatte auf Pias Anrufe am Vorabend nicht reagiert – weder im Festnetz noch auf dem Handy –, und auch heute hatte sie kein Lebenszeichen von sich gegeben, obwohl sie zum Mittagessen verabredet gewesen waren. Normalerweise standen Dorthe und Pia ständig per SMS in Kontakt. Besonders im Moment, schließlich wollten sie in sechs Tagen zusammen in eine neue Wohnung ziehen. Es gab eine Unmenge von Kleinigkeiten zu entscheiden. Die Handwerker waren gerade noch rechtzeitig mit dem Badezimmer fertig geworden, jetzt würden sie endlich die Wandfarbe für das Wohnzimmer aussuchen müssen. Sie hatten beide keine Lust, zwischen Umzugskartons und abgedeckten Möbeln zu streichen. Ein ausgesprochen unpassender Zeitpunkt, überhaupt nicht zu reagieren, dachte Pia verärgert und bog in die Einfahrt des kleinen Forsthauses.

Dorthes ramponierter Renault stand an seinem üblichen Platz. Also war sie zu Hause. Pia blieb einen Moment sitzen, nachdem sie den Motor abgestellt hatte, und versuchte, sich zu beruhigen. Und wenn Dorthe es bereut hatte? Wenn sie den Sprung doch nicht wagte? Sie hatte gesagt, dass sie bereit sei, sie hatte die Neuigkeit ihrer ständig unzufriedenen Mutter erzählt und sogar ihren Exmann über ihre Pläne unterrichtet. Dennoch schien sie sich bei dem Umzugsprojekt nicht so recht wohlzufühlen. Hatte Pia sie vielleicht zu sehr unter Druck gesetzt? Natürlich war es ein großer Entschluss. Aber waren zwei Jahre Beziehung nicht Anlauf genug für eine gemeinsame Wohnung?

Pia blickte hinüber zum Haus. Niemand öffnete die Tür. Niemand schaute aus dem Wohnzimmerfenster und winkte. Niemand rief einen Gruß aus dem Garten hinter dem Haus. War überhaupt jemand zu Hause? Vielleicht ging sie gerade spazieren?

Pia warf die Fahrertür zu und wartete noch einige Sekunden. Dann ging sie zur Tür und drückte die Klinke. Nicht abgeschlossen. Wie oft hatte sie Dorthe gesagt, sie solle die Tür abschließen? Ein Haus, das so einsam lag … Es war einfach zu riskant, das Haus rund um die Uhr offen stehen zu lassen. Dorthe hatte sie immer nur ausgelacht. Wer sollte denn kommen?, hatte sie gefragt. Wer sollte sie bestehlen? Sie besaß doch nichts von Bedeutung. Außerdem gab es so gut wie keinen Verkehr auf dem Waldweg.

»Dorthe?«

Keine Antwort. Pia trat in den halbdunklen Flur und wäre beinahe über irgendetwas auf dem Boden gestolpert. Ein Bügeleisen. Das mit Stoff bezogene Kabel war ordentlich aufgerollt, doch Kabel und Bügeleisen schienen ziemlich schmutzig zu sein. Sie registrierte es, als sie es aufhob und auf einer niedrigen Kommode abstellte. Als hätte es längere Zeit unter Wasser gelegen und wäre jetzt von dunklem Schlamm überzogen. Oder … Pia hatte sofort erkannt, dass es sich hier nicht um Schlamm handelte. Als erfahrene Polizeibeamtin war ihr sofort klar, von welcher Substanz dieses Bügeleisen offensichtlich verschmiert war. Ihr Unterbewusstsein bereitete sich bereits auf den Anblick vor, der sie im Inneren des Hauses erwartete, aber noch gelang es ihr, die heftigen Alarmsignale zu blockieren. Sie durfte sie nicht an die Oberfläche steigen lassen, solange es auch nur den Hauch einer Hoffnung gab, dass sie sich irrte.

Noch einmal rief sie nach Dorthe. Keine Antwort. Pia ging in die Küche. Sie war mehr oder weniger ausgeräumt, die leeren Regalbretter waren abgewischt. Dorthe hatte fast den gesamten Hausrat in sorgfältig beschriftete Umzugskartons verpackt: »Töpfe + Geschirrtücher«, »Für den Dachboden« und »Blaues Service + Kochbücher«. Geschrieben mit großen Buchstaben und rotem Filzstift in Dorthes nachlässiger Handschrift. An der Tür standen ein paar Plastiksäcke mit Dingen, die weggeworfen werden sollten; nur der Stolz des Hauses, eine knallrote Espressomaschine, die ein kleines Vermögen gekostet hatte, befand sich noch an ihrem alten Platz.

Die Sonne schien direkt in die Küche, es war heiß wie in einer Sauna. Pia öffnete das Fenster einen Spalt weit, dann blieb sie reglos stehen und horchte. Es war viel zu still.

»Dorthe? Bist du zu Hause?« Sie warf einen Blick ins Badezimmer, Esszimmer, Schlafzimmer. Nichts.

Als Pia das Wohnzimmer ganz hinten im Haus erreichte, blieb sie abrupt auf der Schwelle stehen. Diesen Geruch kannte sie. Er war schwach, drang aber unverkennbar aus dem aufgeheizten geschlossenen Raum. Ihre innere Alarmglocke schrillte jetzt so laut, dass es sich nicht mehr verdrängen ließ. Im selben Moment fiel ihr Blick auf die schwarzroten Blutspritzer. An den Wänden, über der Rückenlehne des Sofas, ein feines Strichcode-Muster auf dem Flachbildschirm des Fernsehers.

Pia konnte weder atmen noch schlucken. Sie ging einen Schritt weiter in den Raum und entdeckte die Leiche. Dorthe lag auf dem Rücken, den Kopf zur linken Schulter gedreht. Ihre Arme waren gebeugt, beide Hände lagen in Schulterhöhe. Die Beine ausgestreckt. Eine Sandale war von ihrem etwas breiten Fuß gefallen, dessen Nägel mit neongrünem Lack bedeckt waren. Gesicht und Haare waren mit dicken Placken von geronnenem Blut überzogen. Die Stirn eine große, klaffende Wunde, mehrere tiefe Risse zogen sich über die Kopfhaut. Ihre blaugrauen Augen standen halb offen.

Eigentlich hätte nun Pia Waages professionelles Ich übernehmen müssen. Sie hätte stehen bleiben und rückwärts hinausgehen müssen, ohne irgendetwas anzufassen, sie hätte, ohne zu zögern, ihre Kollegen rufen müssen. Doch hier siegte die Privatperson über die Ermittlerin. Pia sank auf die Knie in die eingetrocknete Blutpfütze, hob Dorthes Kopf an ihre Brust, strich das verklebte Haar auf ihrer Stirn zur Seite, streichelte das arme misshandelte Gesicht. Sie drückte die Leiche ihrer Freundin an sich, während sie verzweifelt ihren Puls suchte, der zu diesem Zeitpunkt seit über vierundzwanzig Stunden aufgehört hatte zu schlagen. Pia weinte nicht, sie rang nur verzweifelt um Atem, als sie gegen jede Vernunft versuchte, Dorthe von Mund zu Mund zu beatmen und ihr eine Herzmassage zu geben. Es vergingen mehrere Minuten, bis sie ihr hoffnungsloses Vorhaben erkannte. Eine Leiche, die bereits zu riechen begann, konnte nicht wiederbelebt werden.

Dennoch blieb sie mit Dorthes Kopf im Schoß auf dem Boden sitzen, als sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche fischte und den Wachhabenden der Polizei von Christianssund anrief. Und so saß sie noch dort, als die Kollegen erschienen. Gefolgt vom Chef der Kriminaltechnischen Abteilung, Kurt Traneby, der sich bereits in der Einfahrt über all die Leute aufregte, die dort herumrannten und seinen Tatort kontaminierten.

Der Leiter der Ermittlungsgruppe, Frank Janssen, Pias fester Partner seit mehreren Jahren, musste all seine Überredungskünste anwenden, um sie dazu zu bewegen, die Leiche loszulassen. Frank brachte Traneby mit einem scharfen Blick zum Schweigen, als er seine unter Schock stehende Kollegin aus dem Haus begleitete. Er setzte sie in einen Gartenstuhl. Trotz der sommerlichen Temperaturen zitterte Pia Waage vor Kälte, und die Polizeiassistentin Lotte Andersen holte ihr eine Decke und ein Glas Wasser.

Pia weinte nicht. Aber sie konnte auch keine Fragen beantworten, sie reagierte kaum, als Frank versuchte, ihr einige Informationen zu entlocken. Wer war das Opfer? War die Tote die Bewohnerin des Hauses? In welcher Verbindung stand Pia zu ihr? Wann war sie hier angekommen? Hatte sie jemand gerufen? War alles in Ordnung mit ihr? Hatte sie jemanden gesehen? Pia verschloss sich immer mehr und schüttelte bei jeder Frage ihres Vorgesetzten nur den Kopf.

Der Rechtsmediziner, ein jüngerer Mann names Kim Larsen-Jensen, stieg aus seinem Auto und kam direkt auf sie zu.

»Jetzt hör schon auf damit, Janssen«, unterbrach er Franks Versuche, Pia auszufragen. »Du musst ins Krankenhaus, Waage. Du stehst ganz gewaltig unter Schock.«

Die Andeutung eines Nickens.

»Ich besuche dich nachher«, sagte Frank. »Im Krankenhaus.«

Irgendetwas an seinem Ton ließ Pia aufblicken.

»Wir müssen …« Er zog ihr die Decke fester um die Schultern. »Wir müssen deine Kleidung untersuchen und …«

»Ich weiß«, brachte sie heraus.

Frank schüttelte den Kopf. »So sind die Regeln. Mach dir keine Sorgen. Niemand glaubt, dass du …«

»Mach’s einfach.«

Der Rechtsmediziner griff nach der Tasche mit seiner Ausrüstung und verließ die beiden mit einem Nicken.

Frank blickte auf. »Lotte, würdest du Waage ins Krankenhaus bringen?«

3

Pia Waage schlief, als Frank Janssen ein paar Stunden später ins Krankenhaus kam. Sie lag zusammengekauert auf der Seite, die Bettdecke hatte sie bis zu den Lippen gezogen, als würde sie frieren. Eine Haarlocke klebte ihr an der Stirn, ihre Augen umgaben dunkle Schatten. Es war fast acht Uhr abends, die einsetzende Dämmerung hatte den Himmel eine Nuance dunkler werden lassen, jemand hatte eine Leselampe eingeschaltet, sodass das grau lackierte Kopfende des Bettes in einem gedämpften, warmen Licht erschien. Frank blieb an der Tür des Einzelzimmers stehen und betrachtete seine Stellvertreterin. Als er das letzte Mal im Trauma-Zentrum des Krankenhauses von Christianssund gewesen war, hatte Pia ebenfalls hier gelegen. Doch obwohl ihre physischen Verletzungen damals erheblich schwerer gewesen waren, sah die Situation diesmal doch weitaus ernster aus.

»Sie hat etwas zur Beruhigung bekommen«, erklärte eine junge Krankenschwester, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war.

»Darf ich sie wecken?«

»Sie hat erwähnt, mit Ihnen sprechen zu wollen, sobald Sie hier sind, insofern …« Die Krankenschwester trat ans Bett. »Pia?« Sie legte eine Hand auf den Arm der schlafenden Frau.

Pia bewegte sich ein wenig und öffnete halb die Augen.

»Ihr Chef ist hier.«

»Mmm?«

Die Krankenschwester half der Patientin in eine sitzende Position und verließ das Zimmer.

»Wie geht’s dir, Waage?« Frank zog einen Stuhl ans Bett.

Pia sah ihn einige Sekunden an, und ohne Vorankündigung liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Frank blieb ruhig sitzen und ließ sie weinen. Er kannte sie zu gut, um sie zu umarmen oder sonst zu berühren. Nicht einmal in einer Krisensituation wie dieser würde Pia eine derartige Grenzüberschreitung akzeptieren. Wie klein sie ist, dachte er – nicht zum ersten Mal –, als er die weinende Frau betrachtete. Obwohl Pia durchtrainierter und um einiges schneller war als die meisten ihrer männlichen Kollegen, war sie ein Strich in der Landschaft, mit zarten Handgelenken und einem grazilen Nacken. So wie sie dort saß und versuchte, lautlos zu weinen, glich sie einem Kind.

»Entschuldige«, sagte Pia kurz darauf. Sie nahm ein Papiertaschentuch vom Nachttisch und putzte sich die Nase.

»Es gibt nichts zu entschuldigen.« Er wartete einen Moment, aber da sie nichts weiter sagte, fuhr er fort: »Soweit ich die Ärzte verstanden habe, bist du unverletzt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Zumindest physisch.« Sie tupfte sich die Augen, knüllte das Taschentuch zu einer Kugel und richtete sich auf. »Schieß los.«

»Wenn du so weit bist.«

»Klarer werde ich kaum.«

»Okay.« Er beugte sich ein wenig vor. »Du hast Dorthe Bertelsen gekannt, oder?«

»Ja.«

»Seid ihr Freundinnen gewesen?«

Sie richtete den Blick auf die durchweichte Papierkugel und zögerte. Frank wusste, wie sehr Pia ihr Privatleben abschirmte. Keiner ihrer Kollegen war je bei ihr zu Hause gewesen, und sie hatte niemals über ihre sexuelle Orientierung gesprochen, noch nicht einmal, als die anderen sich über sie lustig machten, um es ihr zu entlocken. Jetzt nickte sie nur nach einer kurzen Pause.

»Ich muss dich etwas fragen, Waage.«

»Natürlich.«

»Dafür muss man sich nicht schämen.«

»Wer sagt denn, dass ich mich schäme?«

Frank zuckte die Achseln. »Du redest nie darüber.«

»Darüber? Dass ich lesbisch bin, meinst du?«

»Ja.«

Pia sah ihn an. »Ich weiß doch auch nicht alles über dich.«

»So wie ich das sehe, bist du ziemlich gut informiert. Du weißt, dass ich Single bin, eine Zeit lang mit einer Freundin zusammengewohnt habe, auf Amager aufgewachsen bin, Comics lese, nicht kochen kann, eines Tages gern Kinder haben möchte und noch eine Menge mehr. Du brauchst mich nur zu fragen, wenn du noch mehr wissen willst.« Er lächelte. »Du wirst doch nicht etwa behaupten wollen, das würde auch umgekehrt gelten?«

Pia tupfte sich erneut die Nase. »Ich weiß nur nicht, was es andere Leute angeht, dass ich lesbisch bin. Mein Privatleben ist meine Sache. Oder … das war es jedenfalls bis jetzt.«

»So ist das nun mal bei Ermittlungen in Mordfällen. Es gibt kein Privatleben mehr.«

Pia zog die Augenbrauen zusammen. »Ihr habt die Fotos gesehen?«

»Ja.« An Dorthe Bertelsens Kühlschrank klebten Ferienfotos – alle mit Pia als Motiv. An einem Strand, auf einer Wanderung, sich zuprostend in einem Straßencafé. Dorthes Schlafzimmer war dekoriert mit einem Poster von Pias lächelndem Gesicht. »Das ließ sich nicht übersehen.«

»Außerdem ist meine DNA überall. Im Bett, an meiner Zahnbürste, im Sofa vor dem Fernseher. Verflucht, ich habe dort sogar eine Schublade mit Klamotten. Es wäre bescheuert, es abzustreiten.«

»Wann habt ihr euch kennengelernt?«

Ein Zucken ging durch ihr Gesicht. »Vor etwas über zwei Jahren. Sie war damals verheiratet.«

»Mit einem Mann?«

»Du musst kein so ein erstauntes Gesicht machen. Es ist schließlich nicht zum ersten Mal in der Weltgeschichte passiert, dass jemand die Seiten gewechselt hat.« Sie zog die Bettdecke mit einem gereizten Gesichtsausdruck hoch. »Muss ich hier eigentlich bleiben? Die Techniker und der Rechtsmediziner haben doch, was sie brauchen. Ich will hier raus.«

Frank stand auf. »Ich schaue mal, ob ich einen Arzt finde.« Er drehte sich an der Tür um. »Bist du bereit zu einer Aussage?«

»Ich komme mit ins Präsidium.«

*

Eine Stunde später saßen sie in Franks Büro. Er hinter seinem Schreibtisch, Pia und Lotte Andersen auf den Besucherstühlen. Die beiden Polizistinnen hätten kaum unterschiedlicher sein können. Pia zartgliedrig und geschmeidig, Lotte vollbusig und schwer. Pias dunkle, kurz geschnittene Locken hatten ihren Gegenpart in Lottes glattem, blondem Pferdeschwanz, und während Pia so dunkelbraune Augen wie ein Eichhörnchen hatte, waren Lottes blaugrau und traten ein wenig hervor. Die beiden Frauen waren sich sympathisch, seit Lotte in die Ermittlungsgruppe eingetreten war.

Pia berichtete sorgfältig und detailliert über die Ereignisse des Vormittags. Lotte schrieb mit, und Pia machte regelmäßige Pausen, damit ihre Kollegin mitkam.

»Erklär mir noch einmal, wo dieses Bügeleisen stand, als du hereingekommen bist«, bat Frank sie, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte.

»Auf dem Fußboden, direkt an der Tür.«

»Auf der Fußmatte?«

Pia dachte einen Moment nach. »Nein. Direkt davor. Also vom Flur aus gesehen. Es stand so weit von der Tür entfernt, dass sie nicht dagegenstieß, als ich sie öffnete, und so nah, dass ich fast darüber gestolpert wäre, als ich hereinkam.«

»Hast du das Blut daran nicht bemerkt?«

»Nein. Oder doch, schon …« Sie schloss die Augen und klemmte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel zusammen. »In gewisser Weise wusste ich genau, dass es Blut war, aber …« Sie sah ihn an. »Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich habe mir gesagt, dass es Dreck oder Schlamm sein muss.«

»Was hast du dir gedacht, als du es dort auf dem Boden entdeckt hast?«

»Typisch, schmeißt dieses unordentliche Weibsstück das Bügeleisen einfach irgendwohin, ohne daran zu denken, dass man darüber stolpern könnte.«

»So war Dorthe? Unordentlich?«

Pia zuckte die Achseln. »In manchen Dingen schon. Wenn sie mit irgendetwas beschäftigt war, hatte sie nichts anderes im Kopf. Ihr habt es vielleicht in der Küche bemerkt, an der Art, wie sie die Kartons beschriftet und die leeren Regalbretter abgewischt hat. Systematisch, pedantisch, fast schon etwas autistisch. Sie wusste es selbst. Sie konnte sich nur auf eine Sache auf einmal konzentrieren. Alles andere war ihr dann egal.«

»Versuch, sie zu beschreiben«, forderte Lotte sie auf. »Ihre Persönlichkeit.«

Pias Augen füllten sich umgehend wieder mit Tränen. »Ich weiß nicht, ob ich …«

»Je mehr du uns über sie erzählen kannst, desto besser können wir arbeiten, Waage«, sprang Frank Lotte bei. »Das weißt du doch.«

Pia rieb sich die Augen mit dem Handrücken. »Ich werde es versuchen. Dorthe ist … Dorthe war Gymnasiallehrerin. Dänisch und Sozialkunde. Sie unterrichtet seit acht Jahren am Gymnasium von Christianssund, gerade hat das neue Schuljahr begonnen. Sie ist … sie war sehr beliebt.«

»Bei den anderen Lehrern? Oder den Schülern?«

»Sowohl als auch. Sie hat jedes Jahr das Schultheaterstück organisiert und ständig irgendeine andere soziale Aufgabe übernommen. Unter anderem war sie Facebook-Administratorin der Schule. Sie hat erstaunlich viel Zeit mit solchen Dingen verbracht. Oft sind Schüler zu ihr nach Hause gekommen, und ich bin ein paarmal zu verschiedenen Veranstaltungen mitgegangen. Sie war viel offener als … als ich.«

Pia versagte die Stimme. Sie starrte eine Weile selbstverloren auf ihre Hände. Dann atmete sie tief durch und fuhr fort: »Dorthes Ansicht nach war es totaler Blödsinn, dass ich sie euch nie vorgestellt habe. Sie meinte, es sei absurd, dass sie sich gerade geoutet habe und total offen gegenüber ihren Kollegen und Freunden sei, während ich keine Lust hätte, es zu zeigen, obwohl ich schon mein ganzes Leben lesbisch gewesen bin. Aber ich bin nun mal der Meinung, dass es niemanden etwas angeht. Wenn ich mit einem Mann zusammenleben würde, hätte ich auch nicht das Bedürfnis, ihn euch vorzustellen.«

»Menschen sind verschieden«, sagte Lotte freundlich. »Das ist schon okay.«

»Hatte Dorthe Feinde?«, wollte Frank wissen.

Pia schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Sie dachte nach. »Nein«, sagte sie dann. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

»Okay.«

»Na ja, ihr habt gefragt, wie Dorthe war. Ihr Mundwerk stand nie still. Sie war unordentlich. Voller Engagement. Kreativ. Fröhlich. Sie hat oft so laut gelacht, dass die Leute sich auf der Straße nach ihr umdrehten. Sie hat viel gelesen und auch selbst ein wenig geschrieben – nur so für die Schublade, ihr wisst schon. Sie hat ihren Job sehr ernst genommen und unglaublich viel Zeit für die Unterrichtsvorbereitungen aufgebracht. Und auch für konstruktive Kritik bei schriftlichen Aufsätzen hat sie sich sehr viel Zeit genommen.« Pia machte eine kleine Pause. »Und sie war eitel. Sehr eitel sogar. Ich kenne nicht viele Frauen, die so viel Zeit für die Pflege von Haaren, Haut und Fingernägeln aufwenden wie Dorthe.«

»Ihr Nagellack ist mir auch aufgefallen«, warf Lotte ein. »Neongrün.«

Pia lächelte blass. »Ja, grässlich, nicht? Dorthe hat diese schreienden Farben geliebt, obwohl man das eigentlich allen verbieten sollte, die aus dem Teenageralter heraus sind.«

»Wie alt war sie denn?«, erkundigte sich Frank.

»Zweiundvierzig.«

»Und ihr habt nicht zusammengewohnt?«

»Wir wollten … am Samstag wollten wir zusammen in einen Neubau in der Weststadt einziehen.«

»Deshalb die ganzen Umzugskartons im Haus?«

»Bei mir sieht’s genauso aus. Ich lebe gerade in einem einzigen riesigen Umzugschaos.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Oh nein. Was soll ich denn jetzt machen? Ich habe meine Wohnung gekündigt. Was soll ich mit dem ganzen Platz?«

»Vielleicht kannst du die Kündigung rückgängig machen?«

»Die haben längst einen neuen Mieter gefunden. Nächste Woche ist Schlüsselübergabe.« Erneut kamen ihr die Tränen.

Frank und Lotte tauschten einen Blick aus.

»Vielleicht reden wir morgen weiter«, schlug Frank vor.

»Nein, nein«, erwiderte Pia und nahm sich ein weiteres Papiertaschentuch. »Ich werde mich zusammennehmen.«

»Nur noch eine Frage, bevor wir dich nach Hause schicken.« Frank beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »Was kannst du uns über die letzten Wochen in Dorthes Leben erzählen? Je mehr Details, umso besser.«

»Ich weiß, dass …« Pia putzte sich die Nase. »Sie hat letzte Woche die neuen Schüler eingewiesen. Am Wochenende, also am 11. und 12., waren wir in der neuen Wohnung, um eine Liste zu erstellen, was uns fehlt und was noch erledigt werden muss. Sonntagabend waren wir mit zwei Freundinnen im Kino. Ingelise und Hanne. Ja, die sind auch lesbisch.« Sie sah Frank an. »Willst du ihre Adresse?«

»Das erledigen wir zum Schluss.«

»Montag, den 13. waren wir …« Pia zog ihr Handy heraus und klickte auf den Kalender. »Nein, da haben wir uns nicht gesehen. Dorthe war auf einer Konferenz in der Schule, glaube ich. Dienstag war sie bei mir zu Hause. Wir haben auf dem Dachboden alten Kram sortiert und uns von der Imbissbude etwas zu essen geholt. Mittwoch waren wir zum Abendessen bei Freunden, ein paar von Dorthes älteren Kollegen, Klaus und Else. Sie sind verheiratet. Ihre Adresse gebe ich euch auch später.« Sie warf Lotte einen Blick zu, um zu sehen, ob sie folgen konnte. »Donnerstag war ich gegen sieben nach dem Training bei Dorthe, Freitag haben wir bei ihr gegessen und geschlafen. Gestern Morgen bin ich nach Hause gefahren, weil Dorthe den Tag nutzen wollte, um irgendeine größere Geschichte für ihre Abschlussklasse vorzubereiten. Wie auch immer sie das anstellen wollte, mitten in der Packerei.«

»Ihr hattet also gestern keinen weiteren Kontakt?«

»Ich habe am Abend ein paarmal angerufen, aber sie ist nicht ans Telefon gegangen. Ich dachte, sie hätte es vielleicht stumm gestellt, weil sie in Ruhe arbeiten wollte. Aber ich habe mich schon gewundert, warum sie nicht zurückrief. Für heute hatten wir eine lockere Verabredung, bei mir zu Mittag zu essen und hinterher in die neue Wohnung zu fahren, um die letzten Details zu besprechen, aber sie ist nicht gekommen und immer noch nicht ans Telefon gegangen. Ich habe ihr eine Unmenge von Kurznachrichten geschickt, aber …« Sie stockte.

»Und schließlich bist du hingefahren.« Frank sah sie an. »Ich muss dir diese Frage stellen. Was hast du gestern im Laufe des Tages und Abends gemacht?«

»Ich?« Sie runzelte die Stirn. »Ich war von zehn bis elf beim Spinning, danach habe ich an den Geräten trainiert.«

»Wo trainierst du? Hier im Präsidium?«

»Im Fitnesscenter am Justesens Plads.«

»Wieso benutzt du nicht unseren Fitnessraum?«

»Im Center sind die Geräte besser.« Als Frank nickte, fügte Pia hinzu: »Sonst war ich allein.«

»Du bist nicht einkaufen gegangen?«

»Nein … oder doch. Ich habe auf dem Heimweg Milch bei Netto gekauft, bin aber niemandem begegnet, den ich kenne.«

»Und danach?«

»Ich habe meinen Dachboden leer geräumt, eine Menge Sachen auf den Sperrmüll gebracht und den Rest in Umzugskartons verpackt. Ich habe nur Pause gemacht, um Dorthe anzurufen.«

»Die nicht antwortete.«

»Die nicht antwortete, ja.«

Frank kratzte sich im Nacken. »Du hast nicht daran gedacht, bereits gestern Abend zu ihr zu fahren, als sie auf deine Anrufe nicht reagierte?«

»Ganz ehrlich, Janssen, ich hatte genug zu tun. Bis nach zehn war ich nur auf dem Dachboden beschäftigt. Ich war total erledigt.«

Montag, 20. August 2012

4

»Die hat es aber eilig, was?«

Laura lief ein paar Schritte, bis sie ihn eingeholt hatte. »Wer?«

»Na, deine Mutter natürlich.« Dan wurde langsamer. Er wusste, dass er oft genug in sein normales Schritttempo verfiel, auch wenn ihn jemand begleitete, der bedeutend kürzere Beine hatte als er.

Seine Tochter Laura hatte ihn am Morgen mit einem Anruf geweckt, sie wollte sich gern mit ihm unterhalten und hatte vorgeschlagen, zusammen mit dem Hund Gassi zu gehen. Dan hatte seinem schmerzenden Kopf getrotzt – er hatte am späten Abend allein eine ganze Flasche Rotwein getrunken –, und jetzt war er froh, sich aufgerafft zu haben. Es war schönes Wetter, und die frische Luft tat ihm gut. Mariannes Promenadenmischung Rumpel wuselte ihnen um die Beine und versuchte eifrig, die Möwen am Wasser zu erschrecken – mit dem Resultat, dass der Himmel über ihnen erfüllt war von wütendem Protestgeschrei.

»Wie ist das denn gemeint – sie hat es eilig?«, fragte Laura.

»Na ja, vor weniger als zwei Tagen habe ich ihr gesagt, dass ich nicht mehr will, und schon gestern werde ich angerufen und beschimpft. Erst von Flemming, dann von deiner Großmutter. Und jetzt fängst du auch noch an. Eigentlich müsste irgendwann auch noch ein Anruf von Rasmus kommen. Wo hat sie denn sonst noch angerufen und mich angeschwärzt?«

»Jetzt beruhige dich mal. Mama hat mich am Samstag angerufen und Rotz und Wasser geheult, als sie nach Hause gekommen ist.« Laura sah ihn an. »Sie war ziemlich schockiert, so einfach rausgeschmissen zu werden.«

»Ich habe sie nicht rausgeschmissen. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich auf diese halbherzige Art und Weise nicht mehr weitermachen kann. Glaub bloß nicht, für mich sei das eine Traumsituation. Ich finde aber, dass ich wirklich alles getan habe, was ich konnte. Ernsthaft!« Dan trat gegen einen kleinen Stein, der in hohem Bogen übers Wasser flog und mit einem Plumps hineinfiel.

»Sie ist völlig fertig, Papa.«

»Das bin ich auch. Trotzdem konnte es so nicht mehr weitergehen. Wir reiben uns auf, Laura. Ich will nicht mehr ständig nur am ausgestreckten Arm gehalten werden. Als würde ich unangenehm riechen.« Er sah sie an. »Nicht, dass ich dir eine Erklärung schulde. Streng genommen geht das nur deine Mutter und mich etwas an.«

»Ach je, mach dir um mich bloß keine Gedanken.« Sie erwiderte seinen Blick. »Ich musste mir das ja auch nur vier Jahre meines Lebens mit ansehen.«

»Laura!«

Der Pfad wurde schmaler, sie konnten nicht länger nebeneinandergehen. Er ging hinter ihr, betrachtete ihren Nacken. Er wusste, dass Laura recht hatte: Sie war keine Außenstehende, sondern ein Teil der komplizierten Mechanik im Familienleben der Sommerdahls. Und sie hoffte, das alles würde leichter werden, wenn sie nach Kopenhagen gezogen war. Laura hatte das Jahr nach ihrem Abitur genutzt, um ein paar ergänzende Kurse zu besuchen, nun wollte sie Biologie studieren. Es würde ihr guttun, die Kampfzone zu verlassen, dachte Dan und pfiff nach Rumpel, der ein bisschen zu weit vorausgelaufen war.

»Meinst du, der Kiosk am Hafen hat geöffnet?«, fragte er, als sie kurz darauf zurück in die Stadt gingen. »Ich gebe ein Eis aus.«

»Ach, Papa.« Laura sah ihn an. »Glaubst du immer noch, dass ich mich mit einem Eis trösten lasse?«

»Etwa nicht?«

»Es müsste schon sehr groß sein.« Ihr Ernst wurde von einem breiten Grinsen abgelöst. »Und mit einem dicken Schokoladenüberzug.«

Vor dem Kiosk stand eine Schlange.

»Was?«, rief Laura plötzlich. »Die kenne ich doch!«

Dan folgte ihrem Blick und sah ein Werbeplakat für die aktuelle Ausgabe des Ekstra Bladet. Ein schwarz-weißes Foto füllte ungefähr ein Drittel des gelben Plakats aus, der Rest bestand aus fetten Blockbuchstaben: LESBISCHE LEHRERIN BESTIALISCH ERMORDET. Das Foto zeigte eine Frau mit hellen Korkenzieherlocken. Sie hatte eine Sonnenbrille ins Haar geschoben und kniff die Augen ein wenig zusammen, als würde sie von der Sonne geblendet.

»Ich glaube, ich habe sie auch schon mal gesehen«, meinte Dan.

»Sie war Lehrerin auf meinem Gymnasium.« Laura schluckte. »Möglicherweise hast du sie dort gesehen. Sie hieß Dorthe, Dorthe Bertelsen. Sie war total nett. Ich hatte sie im ersten Jahr in Dänisch, dann haben wir einen anderen Lehrer bekommen. Das ist ja schrecklich. Kaufst du uns eine Zeitung?«

»Ja, sicher.« Dan starrte noch immer auf den Aushang, wobei sein Hirn die Anlässe sortierte, bei denen er Dorthe Bertelsen begegnet sein könnte. Er kannte sie nicht durch Laura, so viel war klar. Er hatte diese blonde Frau nur ein einziges Mal ganz kurz gesehen, doch ihr herzliches Lächeln und die lebendigen Augen waren ihm in Erinnerung geblieben. Auf einmal lieferte seine innere Suchmaschine die korrekte Antwort: Dorthe Bertelsen war die Frau, die an Pia Waages Krankenbett gesessen hatte, als sie damals von diesem bissigen Hund angefallen worden war. Sie hatte Pias Hand gehalten und ein bisschen zu hastig losgelassen, als Dan die Tür öffnete. Pias heimliche Geliebte – jedenfalls damals. Aber das wollte er seiner Tochter nicht erzählen.

Dan kaufte der Kioskbetreiberin die letzte Zeitung ab, und während Laura ihr Eis aß, las er ihr kurze Absätze aus den Artikeln vor. Zuerst die Reportage mit den Fakten, die von der Polizei bisher freigegeben worden waren: Name und Alter des Opfers, die Todesursache, die als Schlag mit einem stumpfen Gegenstand beschrieben wurde, der Fundort – viel mehr stand dort nicht. Der Artikel war illustriert mit dem Foto eines niedrigen, reetgedeckten Hauses, bei dem es sich laut Bildunterschrift um das alte Forsthaus im Balleslev Hegn handelte. Dazu brachte das Blatt dasselbe Porträtfoto wie auf dem Werbeplakat, allerdings nicht so stark beschnitten. In diesem Ausschnitt sah man auch den größten Teil von Dorthes Körper. Sie trug ein ärmelloses, gestreiftes Sommerkleid, hatte die Beine übergeschlagen und hielt ein Weinglas in der Hand. Hübsche Knie, dachte Dan. Er verscheuchte den unpassenden Gedanken sofort wieder.

»Dieses Foto muss in den letzten vierzehn Monaten gemacht worden sein.« Laura lehnte sich gegen die Schulter ihres Vaters, um besser sehen zu können.

»Woher weißt du das denn so genau?«

»Dorthe hat sich dieses Kleid letztes Jahr zur Entlassungsfeier gekauft. Ich erinnere mich, wie sie es erzählte.« Laura fing einen Tropfen geschmolzenes Eis mit der Zungenspitze auf. »Stell dir vor, sie beglückwünschte uns und konnte sich an alle Namen erinnern, obwohl es Jahre her war, dass sie uns gehabt hatte. Cool, oder?«

»Tja.« Dan blätterte. »Kann man wohl sagen.«

Über eine ganze Seite zog sich ein Interview mit Dorthes Nachbarn, Gunnar und Anni Højgaard, einem Ehepaar in den besten Jahren. Sie wohnten ein paar Hundert Meter vom Forsthaus entfernt und hatten überhaupt nichts bemerkt, was allerdings auch daran lag, dass die beiden am Samstagnachmittag, an dem der Mord geschehen war, wie aus den vorläufigen Untersuchungen der Polizei hervorging, überhaupt nicht zu Hause gewesen waren. Sie waren das gesamte Wochenende über verreist und wussten von nichts, so der Reporter, dem es dennoch gelungen war, die Spalten mit den üblichen Banalitäten zu füllen: wie schockiert sie waren und dass man so etwas doch nicht an einem ruhigen Waldweg erwartete. Dorthe wäre eine so angenehme Nachbarin gewesen, sie konnten es noch gar nicht fassen. Reiner Leerlauf, dachte Dan und betrachtete ihr Foto. Gunnar war ein sehniger Mann mit einer großen klassischen Nase und buschigen Augenbrauen. Seine Frau hielt einen kleinen Hund im Arm.

»Schrecklich«, sagte Laura noch einmal. »Dorthe war einfach so nett.«

»Nein, das ist nicht zu begreifen.« Dan faltete die Zeitung zusammen.

»Kannst du denn nichts unternehmen, Papa?«

»Ich?« Dan verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin sicher, dass die Polizei bereits alles Notwendige in die Wege geleitet hat.«

»Na ja, aber du könntest ihnen doch helfen?« Laura warf den letzten Rest der Eiswaffel Rumpel zu, der mehrere Minuten völlig regungslos vor ihr gestanden und sie intensiv beobachtet hatte. »Das hast du doch schon oft gemacht. Und immerhin hast du sie gekannt …«

»Ach, was heißt gekannt.« Dan stand auf. »Ich habe sie ein Mal gesehen, das ist alles.«

Sie gingen in Richtung Innenstadt. Laura hatte sich bei ihm untergehakt, offenbar hatte sie ihm vergeben.

»Ich habe nie wirklich geglaubt, dass sie lesbisch war«, sagte sie nach einer Weile. »Die anderen haben gesagt, sie hätten sie zusammen mit einer Frau gesehen, aber das hätte doch ebenso gut eine ganz normale Freundin sein können.«

»Sicher.«

»Aber wenn es sogar in der Zeitung steht, wird es wohl stimmen.«

»Also die Boulevardpresse ist generell nicht der beste Garant für die Wahrheit«, erwiderte ihr Vater vorsichtig. »Vielleicht gibt es ja einen Grund, warum sie es schreiben.«

»Sie sah einfach nicht aus wie eine Lesbe.«

Dan blickte sie an. »Und wie sieht eine Lesbe so aus?«

»Ach, du weißt schon.« Laura zuckte die Achseln. »So ein bisschen … maskuliner.«

»Unfug. Ich habe Lesben in allen Farben und Nuancen gesehen. Das sind bloß Vorurteile.«

»Aber sie hat bei den Schulfesten immer mit den Jungs getanzt. Und den Lehrern.« Laura zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ich finde halt, dass sie nicht lesbisch wirkte.«

»Okay«, lenkte Dan ein und blieb am Springbrunnen auf dem Rathausplatz stehen. »Jetzt trennen sich unsere Wege, Töchterchen. Es sei denn, du willst auf eine Tasse Kaffee mitkommen?«

»Nein danke. Irgendjemand muss ja Mama trösten, wenn sie von der Arbeit kommt.« Sie legte einen Arm um seinen Nacken und umarmte ihn. »Tschüss, dummer Papa.«

»Tschüss, kluge Tochter.«

Dan sah ihr nach, als sie mit schaukelndem Pferdeschwanz auf der Algade verschwand. Dann drehte er sich um und schaute zum Polizeipräsidium. Von dem dreistöckigen Gebäude aus rotem Backstein sah man auf den Platz, den Springbrunnen und das Hotel Marina. Von außen wirkte das Präsidium mit seinen sorgfältig lackierten Sprossenfenstern, den feinen Sandsteinborten und dem gut erhaltenen Schieferdach sehr aufgeräumt und friedlich, aber Dan wusste, dass es im Augenblick innerhalb dieser Mauern alles andere als ruhig zuging. Jedenfalls in der Abteilung für Gewaltverbrechen. Er sah vor sich, wie Kommissar Frank Janssen seine Leute in dem großen Gemeinschaftsbüro informierte. Und wie daraufhin einige Ermittler mit dem Telefon am Ohr ermittelten, während andere ausschwärmten, um Dorthe Bertelsens Kollegen, Familie, Freunde und Nachbarn zu vernehmen. Wie die Kriminaltechniker das kleine Forsthaus nach Spuren durchkämmten und wie der Rechtsmediziner – vielleicht sogar in diesem Moment – die Leiche im Obduktionskeller des Krankenhauses von Christianssund untersuchte.

Störte es Dan, nur Zuschauer zu sein? Ein bisschen schon. Obwohl er es ungern zugab, war die Nebenbeschäftigung als Privatdetektiv doch ein wichtiger Teil seines Lebens geworden. Die Verbrechen selbst fand er abstoßend, und doch hatte er nach und nach erkannt, wie sehr es ihm gefiel, bei der Aufklärung eines Falles mitzuwirken, Theorien zu entwickeln, Beweismaterialien und Fakten aus verschiedensten Blickwinkeln zu betrachten. Er nutzte gern seine Menschenkenntnis, sein Gespür für das Wiedererkennen von Mustern und seine Fähigkeit, querzudenken. Dan mochte das Puzzlespiel der Ermittlungen einfach, so morbid es auch klingen mochte.

Gedankenverloren machte Dan sich auf den Weg nach Hause und bemerkte erst nach einigen Minuten, wie seine Schritte langsamer und zögerlicher wurden, je näher er Havnepromenaden Nr. 12 kam. Als er seine Haustür erreicht hatte, blieb er stehen. Er hielt den Schlüssel in der Hand und betrachtete ihn geistesabwesend, während er überlegte, ob er seinem Impuls folgen sollte oder nicht. Dann fasste er einen raschen Entschluss und ging zum Hoftor, einige Meter von der Haustür entfernt. Ein bisschen Bewegung muss manchmal sein, sagte er sich, und es war schließlich nichts dabei, sich zur Abwechslung einmal in der Umgebung des Balleslev Hegn zu bewegen. Dan betrat den Hinterhof des Gebäudes, wo eine Reihe von Garagen und ein Halbdach die vier- und zweirädrigen Fahrzeuge vor Wind und Wetter schützten. Er schloss sein Fahrrad auf und fuhr los, bevor er die Zeit fand, es zu bereuen.