Witiko + Der Nachsommer + Brigitta + Bunte Steine + Der Hochwald + Die Mappe meines Urgroßvaters + Abdias + Der Hagestolz + Nachkommenschaften + Der beschriebene Tännling + Der Waldsteig…
Ich habe einen Freund, der, obwohl er noch am Leben ist, und bei uns von lebenden Leuten nicht leicht Geschichten erzählt zu werden pflegen, mir doch erlaubt hat, eine Begebenheit, die sich mit ihm zugetragen hat, zum Nuzen und zum Frommen aller derer zu erzählen, die große Narren sind; vielleicht schöpfen sie einen ähnlichen Vortheil daraus, wie er.
Mein Freund, den wir Tiburius Kneigt hießen, hat jezt das niedlichste Landhaus, das man sich in unserem Welttheile zu denken vermag, er hat die vortrefflichsten Blumen und Obstbäume um das Haus herum, er hat ein schöneres Weib, als je auf der Erde gewesen sein kann, er lebt Jahr aus Jahr ein mit diesem Weibe auf seinem Landhause, er trägt heitere Mienen, alle Menschen lieben ihn, und er ist jezt wieder sechs und zwanzig Jahre alt, da er doch noch vor Kurzem über vierzig gewesen ist.
Das alles ist mein Freund durch nichts Mehreres und nichts Minderes geworden, als durch einen einfachen Waldsteig; denn Herr Tiburius war früher ein sehr großer Narr, und kein Mensch, der ihn damals gekannt hat, hätte geglaubt, daß es mit ihm einmal diesen Ausgang nehmen würde.
Die Geschichte ist eigentlich recht einfältig, und ich erzähle sie blos, damit ich manchem verwirrten Menschen nüzlich bin, und daß man eine Anwendung daraus ziehe. Mancher, der in unserm Vaterlande und in unsern Gebirgen bewandert ist, wird auch, wenn er überhaupt diese Zeilen liest, den Waldsteig sogleich erkennen, und wird sich mancher Gefühle erinnern, die ihm der Steig eingeflößt hat, wenn er auf ihm wandelte, obgleich niemand durch denselben so gründlich umgeändert worden sein mag, als Herr Tiburius Kneigt.
Ich habe gesagt, daß mein Freund ein sehr großer Narr gewesen sei. Dies ist er aus mehreren Ursachen geworden.
Erstlich ist sein Vater schon ein großer Narr gewesen. Die Leute erzählten verschiedene Sachen von diesem Vater; ich will aber nur Einiges anführen, was ich verbürgen kann, da ich es selbst gesehen habe. Ganz im Anfange hatte er viele Pferde, die er alle selber verpflegen, abrichten und zureiten wollte. Als sie insgesammt mißlangen, jagte er den Stallmeister fort, und weil sie sich durchaus von den Regeln und Einübungen, die er ihnen beibrachte, nichts merken konnten, verkaufte er sie um ein Zehntel des Preises. Später wohnte er einmal ein ganzes Jahr in seinem Schlafzimmer, in welchem er stets die Fenstervorhänge herabgelassen hielt, damit sich in der Dämmerung seine schwachen Augen erholen könnten. Auf die Vorstellungen derer, die sagten, daß er immer gute Augen gehabt habe, bewies er, wie sehr sie im Irrthume seien. Er that das Schubfach, welches er in dem hölzernen finsteren an sein Zimmer stoßenden Gange hatte, auf, und sah eine Weile auf den von der Sonne beleuchteten Kiesweg des Gartens hinaus, worauf er sogleich mit Gewissenhaftigkeit versichern konnte, daß ihm die Augen schmerzten. Der Schnee war gar erst ganz unerträglich. Weitere Einreden nahm er nicht mehr an. In der lezteren Zeit dieser Vorgänge that er in dem dämmernden Zimmer noch eine Blendkappe auf das Haupt. Da das Jahr herum war, fing er gemach an, die Aerzte zu tadeln, welche Schonung der Augen anrathen, und überhaupt alle Arzneiwissenschaft und deren Ausübung zu verwerfen. Zulezt sagte er sich vor, die Aerzte hätten ihn zu dem ganzen Verfahren gebracht, er häufte Schimpf und Schande auf das Gewerbe, und that die Prophezeiung, daß er sich nun selber behandeln werde. Er zog die Fenstervorhänge empor, machte alle Fenster auf, ließ den hölzernen Gang wegreißen – und wenn die Sonne ganz besonders heiß und strahlenreich schien, so saß er ohne Hut mitten in dem Lichtregen im Garten und schaute auf die weiße Mauer des Hauses. Er bekam hiedurch eine Augenentzündung, und als diese vorüber war, wurde er gesund. – Von weiteren Dingen führe ich nur noch an, daß er, als er sich mehrere Jahre sehr eifrig und sehr erfolgreich mit dem Schafwollhandel beschäftigt hatte, plözlich dieses Geschäft wieder aufgab. Er hatte dann eine sehr große Anzahl Tauben, durch deren Vermischung er besondere Farbenzeichnungen zu erzielen strebte, und dann wollte er eine Sammlung aller möglichen Cactusarten anlegen.
Ich erzähle diese Sachen, um die Geschlechtsabstammung des Herrn Tiburius fest zu stellen.
Zum Zweiten war die Mutter. Sie liebte den Knaben außerordentlich. Sie hielt ihn warm, daß er sich nicht verkühle, und ihr durch eine plözlich hereinbrechende Krankheit entrissen werde. Er hatte sehr schöne gestrikte Unterleibchen, Strümpfchen und Aermlein, die alle außer dem Nuzen noch manches sehr schöne rothe Streifchen hatten. Eine Strikerin war das ganze Jahr für das Kind beschäftigt. Im Bettchen waren feine Lederunterlagen und Lederpolster und gegen die Zugluft der Fenster stand eine spanische Wand. Für die Gehörigkeit der Speisen sorgte die Mutter schon selber und ließ sie durch keine Dienstleute bestellen. Als er größer war und herum gehen konnte, wählte sie nach bester Einsicht die Kleider. Zur Beschäftigung seiner Einbildungskraft, und daß sie ja nicht durch unliebliche Vorstellungen gepeinigt werde, brachte sie ihm allerlei Spielzeug nach Hause und trachtete dahin, daß das folgende immer das vorhergegangene an Glanz und Schönheit übertreffe. Allein hierin erlebte sie eine Verkehrtheit an dem Knaben, die sie sich ganz und gar nicht denken konnte; denn er legte alle die Dinge, nach kurzer Beschauung und einigem Spielen damit, wieder hin, und da er durch eine Seltsamkeit, die niemand begriff, immer lieber Mädchen- als Knabenspiele trieb, so nahm er alle Male den Stiefelknecht seines Vaters, wikelte ihn in saubere Windel ein, und trug ihn herum und herzte ihn.
Drittens war der Hofmeister. Er bekam nehmlich einen solchen. Derselbe war ein sehr ordentlicher Mann, und wollte, daß alles in Gehörigkeit geschehe, ob nun die Ungehörigkeit einen Schaden bringe, oder nicht. Gehörigkeit an sich ist Zwek. Daher litt er nicht, daß der Knabe etwas weitschichtig erklärte, oder in abschweifenden Bildern vortrug; denn er, der Hofmeister, war in dem Stüke der Meinung, daß jedes Ding mit denjenigen Worten zu sagen sei, die ihm einzig noththäten, mit keinem mehr, mit keinem minder – am allerwenigsten, daß man Nebenumstände bringe und das nakte Ding in Windel wikle. Da nun der Knabe nicht reden durfte, wie Kinder und Dichter, so redete er fast, wie ein Recept, das kurz, kraus und bunt ist, und das niemand versteht. – Oder er schwieg und dachte sich innerlich allerlei zusammen, das niemand wissen konnte, eben weil er es niemanden sagte. Er haßte alle Wissenschaft und alles Lernen, und konnte nur dazu gebracht werden, wenn der Hofmeister einen langen und bündigen Beweis über den Nuzen und die Vortrefflichkeit der Wissenschaften herbei führte, der den Knaben quälte. Wenn dieser dann nach fleißigen Tagen alles auf einmal hersagen wollte, wurden Dämme und Verschläge aufgebaut, und nur der dünne Wasserfaden der Hauptsache heraus gelassen. Da der Hofmeister wegen seiner Tacitus'schen Forderung kein Weib bekommen hatte, so blieb er recht lange in dem Hause.
Zum Vierten und Lezten war der Oheim. Derselbe war ein reicher, unverheiratheter Kaufmann in der Stadt; denn Vater und Mutter des Knaben lebten außerhalb derselben auf einem Gute. Obwohl nun die Eltern des Knaben selber reich genug waren, so war doch noch die Erbschaft des Oheims für denselben zu erwarten, und der Hagestolz hatte dies selber oft genug durch seine ausdrüklichen Erklärungen bestätigt. Er nahm sich daher die Befugniß heraus, mit an dem Knaben zu erziehen. Er schrie ihm Praktisches zu, und erklärte ihm deutlich, wenn er zu seiner Schwester auf das Landgut herauskam, wie man es bei dem Baumklettern, was aber der Knabe nie that, machen müsse, daß man die wenigsten Hosen zerreiße.
Ehe ich in der Geschichte weiter gehe, muß ich auch sagen, daß mein Freund unglüklicher Weise gar nicht Tiburius hieß. Er hatte den Vornamen Theodor; aber er mochte, als er herangewachsen war, noch so groß unter seine schriftlichen Aufgaben sezen: »Theodor Kneigt,« er mochte, als er später gar reiste, in die Fremdenbücher schreiben: »Theodor Kneigt,« es mochte auf allen Briefen, die an ihn kamen, stehen: »An den hochwohlgebornen Herrn Theodor Kneigt,« – es half alles nichts; jedermann nannte ihn in der Rede nur »Tiburius« und die meisten Fremden, die sich in der Stadt aufhielten, meinten nach und nach, das schöne Landhaus, das an der Nordstrasse liege, gehöre dem Vater des Herrn Tiburius Kneigt. Der Name klingt so wirblicht und steht in keinem Kalender. Die Sache kam aber so: weil der Knabe öfter so sinnend und grübelnd war, so geschah es, daß er in der Zerstreuung Dinge that, die lächerlich waren. Wenn er nun, um etwas von dem hohen Kleiderkasten herab zu holen, seine Kindertrommel als Schemel hinstellte – wenn er sich zum Spazierengehen seine Kappe ausbürstete, und dann die Kappe niederlegte und mit der Bürste fort ging – wenn er bei gräulichem Wetter sich beim Fortgehen noch vorher die Schuhe auf der vor der Thür liegenden Matte sauber abwischte – oder wenn er mitten im Salatbeete saß und zu Kazen und Käfern sprach: pflegte gerne der Oheim zu rufen: »Oho! Herr Theodor, Herr Turbulor, Herr Tiburius, Tiburius, Tiburius!« Und da dieser Name als der leichteste auch von andern nachgesagt wurde, kam er in der Familie auf, trug sich dann unversehens in die Nachbarschaft, und kroch von da, weil der Knabe ein reicher Erbe war, auf den alles schaute, wie Schlingkraut in das Land, und schlug endlich seine Wurzelhaken in der entferntesten Waldhütte fest. So entstand der Name Tiburius, und wie es zu geschehen pflegt, daß, wenn einer einen ungewöhnlichen oder gar lächerlichen Vornamen hat, ihn keine Seele mehr bei seinem Familiennamen nennt, sondern eben nur bei seinem lächerlichen Vornamen, so geschah es auch hier: alle Welt sagte Herr Tiburius, und die meisten meinten, er heiße gar nicht anders. Es wäre nicht auszurotten gewesen, wenn man den wahren Namen auf alle Gränzpfähle des Landes geschrieben hätte.
Unter dem Einfluße seiner Erzieher wuchs Tiburius heran. Man konnte nicht sagen, wie er wurde: weil er sich nicht zeigte, und weil unter dem Erziehungslärm nur die Erzieher zu vernehmen waren, nicht das, was an dem Knaben davon haften blieb.
Als er beinahe zum Manne geworden war, fielen nach und nach in kurzer Zeit alle Erzieher hinweg. Zuerst starb der Vater, dann sehr schnell darauf die Mutter, der Hofmeister war in ein Kloster gegangen, und der lezte, den er verlor, war der Oheim gewesen. Er hatte von dem Vater das Familienvermögen geerbt, von der Mutter die einst bei ihrer Vermählung beigebrachte Mitgabe, und von dem Oheime das, was seit dreißig Jahren in dessen Handelschaft gearbeitet hatte. Der Oheim war kurz vor seinem Tode in den Ruhestand getreten, er hatte sein Geschäft in Geld verwandelt, und wollte sodann von den Renten desselben leben. Allein er war nicht mehr im Stande, sie zu genießen, sondern er starb und die Sache fiel an Tiburius. Herr Tiburius war also durch diese Umstände ein sehr reicher Mann, und zwar vorzüglich im Gelde, dessen Früchte zur Einsammlung die wenigste Mühe machen, nur daß man die Verfallszeit ruhig abwarte, dann darum hinschike, und sie hierauf verzehre. Was er von dem Vater erhalten hatte, bestand freilich zum Theile in dem Gute, das er eben bewohnte, aber in demselben lebte schon seit unvordenklichen Zeiten ein Altknecht, der das Gut verwaltete, und von demselben meistens sehr reichliche Zinsen ablieferte. So blieb es auch bei Herrn Tiburius. Derselbe hatte also wenigstens in dem Augenblike, da er das einzige Glied der Familie geworden war, nichts zu thun, als seine bedeutend großen Einkünfte zu verzehren. Er war von allen denjenigen, die bisher bei ihm gewesen waren, verlassen, und war recht hülflos.
Da die Umstände in der weiten Nachbarschaft bekannt geworden waren, gab es sehr viele Mädchen, welche den Herrn Tiburius geheirathet hätten, er erfuhr es auch immer, aber er fürchtete sich, und that es durchaus nicht. Er fing im Gegentheile an, für sich seinen Reichthum zu genießen. Er schaffte vorerst sehr viele Geräthe an, und sah auch darauf, daß sie schön seien. Hiebei wurden auch schöne Kleider, an Linnen und Tuch, dann Vorhänge, Teppiche, Matten und alles ins Haus gebracht. Auch war endlich jedes, was als gut zu essen oder zu trinken gepriesen ward, im Vorrathe und reichlich vorhanden. So lebte Herr Tiburius unter allen diesen Dingen eine Weile fort.
Nach Verfluß dieser Weile fing er an, die Geige spielen zu lernen, und da er einmal angefangen hatte, geigte er gleich immer den ganzen Tag, nur sah er darauf, daß die Dinge, die er spielte, nicht zu schwierig seien, weil er dann nicht unbeirrt fort geigen konnte.
Als er die Geige zu spielen wieder aufgehört hatte, malte er in Öhl. In der Wohnung, die er sich auf dem Landgute eingerichtet hatte, hingen die Bilder, die er verfertigt hatte, herum, und er hatte sich sehr schöne Goldrahmen dazu machen lassen. Es waren später manche nicht mehr fertig geworden, und die Farben trokneten auf den vielen Palleten ein.
Es geschahen indessen auch andere Dinge und es wurden viele Sachen herbei geschafft.
Herr Tiburius las in den Zeitungen sehr begierig die Bücherverzeichnisse, ließ dann Ballen kommen, und schnitt viele Stunden die Bücher auf. Zum Lesen hatte er sich ein feines breites ledernes Ruhebett machen lassen, auf dem er liegen konnte, oder er hatte auch einen Ohrsessel hiezu, oder er konnte an dem Stehpulte stehen, das so eingerichtet war, daß man es höher und niedriger schrauben konnte, damit er sich, wenn er genug gestanden war, auch davor niedersezen könnte. Er hatte eine Sammlung berühmter Männer angelegt, deren Köpfe in lauter gleiche schwarze Rahmen gethan, das ganze Gebäude schmüken sollten. Auch eine Pfeifensammlung hatte er, die später in schöne Schreine gethan werden sollte, jezt aber noch auf den Tischen lag. Beschläge, Röhre, Kettchen, Zündmaschinen, Tabakgefäße und Cigarrenfächer waren sehr kostbar gearbeitet. Er hatte eine sehr schöne Dogge aus England kommen lassen, die auf einem eigens hiezu verfertigten Lederpolster im Zimmer des Bedienten lag. Auch hatte er vier Pferde blos zu seinem ausschließlichen Gebrauche, falls er manchmal ausführe; darunter waren zwei Grauschimmel, die wirklich ausgezeichnete Thiere waren. Der Kutscher liebte sie außerordentlich und pflegte sie sehr gut. Zur Unruhe mehrten sich viele Dinge. Der neue Schlafsessel konnte nirgends gestellt werden, weil die alten noch die Pläze einnahmen, und die neuen Kästen, die er sehr fein gearbeitet, bestellt hatte, konnten, da sie ankamen, nicht aus ihren Kisten gepakt werden, weil man noch keinen Ort auszumitteln im Stande war, auf den sie zu stehen kommen sollten. Herr Tiburius hatte es auf zwölf Schlafröke gebracht, und der Uhrschlüssel waren unzählige geworden; deßgleichen, wenn er jeden Tag des Jahres einen andern Stok hätte nehmen wollen, falls er aus ging, hätte ihm einer gedient. Manchmal an einem schönen Sommerabende, wenn er durch das Glas seiner wohlverschlossenen Fenster in den Hof hinab schaute, und die Knechte mit einer Fuhr Heu oder mit einem Garbenwagen herein kommen sah, konnte er sich recht ärgern, wie denn dieser Schlag Menschen in seiner leichtsinnigen rohen Lustigkeit in den Tag hinein lebe, sich um nichts bekümmere, und unter dem Thorwege die Heugabeln und Hemdärmel schüttle.
Endlich mußte er sichs eingestehen, daß er krank sei. Es waren sonderbare Sachen vorhanden. Wenn man auch von dem Zittern der Glieder, dem Schwanken der Augen und der Schlaflosigkeit nicht reden wollte, so war etwas anderes Außerordentliches da. Wenn er nehmlich in der Abenddämmerung von einem Spaziergange nach Hause kam, traf es jedes Mal unabweislich und ohne Ausnahme ein, daß ein seltsamer Schatten wie ein Käzchen neben ihm über die Stiege hinauf ging. Nur über die Stiege, sonst nirgends. Dies griff seine Nerven ungemein an. Er hatte genug gelesen, er hatte Bücher, in denen die alte und neue Weisheit stand; aber was zwei leibliche Augen sehen, das muß doch in Wahrhaftigkeit da sein. Und je unglaublicher den Menschen, die um ihn waren, der Gedanke vorkam, desto ernster und ruhevoller behauptete er ihnen die Sache in das Angesicht, und lächelte über sie, wenn sie sie nicht begriffen. Er ging deßhalb am Abende nie mehr nach Hause, sondern immer früher.
Nach einiger Zeit ging er überhaupt nicht mehr aus dem Hause, und schritt in dem Zimmer und in den Gängen mit den gelbledernen herabgetretenen Pantoffeln herum. In jene Zeit fiel es auch, daß er einen Band Gedichte, die er noch bei Lebzeiten seiner Eltern gemacht und sauber abgeschrieben hatte, behutsam in ein geheimes Fußbodenfach unter seinem Bette verbarg, daß ihm niemand darüber komme. Auf seine Leute wurde er stets aufmerksamer, daß jeder seiner Befehle auf das Strengste vollführt würde, und er heftete dabei, so lange sie um ihn waren, immer seine Augen auf sie.
Endlich ging er nicht nur nicht mehr aus dem Hause, sondern gar nicht mehr aus seinem Wohnzimmer. Er ließ einen großen Stehspiegel in dasselbe tragen, und betrachtete seine Gestalt. Nur des Nachts ging er in sein Schlafzimmer, das daneben war, und legte sich ins Bett. Wenn noch gelegentlich ein Besuch aus der Ferne oder aus der Stadt kam, wurde er bei dem Verweilen desselben ungeduldig, trieb ihn beinahe fort, und schloß hinter ihm die Thür ab. Er sah wirklich übler aus: er bekam sogar Falten in dem Angesichte, und wenn er so auf und ab ging, hatte er meistens lange Bartstoppeln auf dem Kinne, wirrige Haare auf dem Haupte, und den Schlafrok wie ein Büßerhemd um die Lenden. Nach einer Zeit ließ er Flanelstreifen auf die Fensterfugen nageln und die Thüren verpolstern. Auf das Zureden und Dringen seiner Freunde, deren noch mehrere zu haben sich Herr Tiburius nicht erwehren konnte, wurde er nur spöttisch, und gab nicht undeutlich zu verstehen, daß er sie für dumm halte, und daß es eigentlich am besten wäre, wenn sie ganz und gar nie mehr bei ihm erschienen. Dieses Leztere geschah auch endlich, und es kam keiner mehr zu ihm. Der Mann war nunmehr einem Thurme zu vergleichen, der sauber abgeweißt und überall verpuzt wird, so daß ihn die Mauerschwalben und Spechte, die ihn sonst allseits umflogen hatten, verlassen müssen. Der Schwarm ist verflogen, und der Thurm steht allein da. Herr Tiburius war über dieses Ereigniß eigentlich freudig, und er rieb sich seit langer Zeit zum ersten Male die Hände; denn er konnte nun ungestört an etwas gehen, was er schon öfter gewollt hatte, wozu er aber nie gekommen war. Er hatte nehmlich, obwohl seine Krankheit als erwiesen da stand, noch nie etwas gegen sie gebraucht, weder hatte er einen Arzt holen lassen, noch hatte er sonst ein Mittel dagegen angewendet. Jezt beschloß er sich selber zu behandeln. So wie der Altknecht seit jeher schon die Bewirthschaftung des Gutes führte, mußte nun der Bediente die Kleiderkammer übernehmen, der Schaffner erhielt die Geräthe, der Verwalter das Vermögen, und er, der Herr, hatte kein anderes Geschäft, als sich zu heilen.
Um den Zwek völlig zu erreichen, schaffte er sich sofort alle Bücher an, die über den menschlichen Körper handelten. Er schnitt sie auf und legte sie in Stössen nach derjenigen Ordnung hin, nach der er sie lesen wollte. Die ersten waren natürlich die, die über die Beschaffenheit und Verrichtungen des gesunden Körpers handelten. Aus ihnen war nicht viel zu entnehmen, aber
sobald er zu den Krankheiten gekommen war, so war es ganz deutlich, wie die Züge, die beschrieben wurden, in aller Schärfe auf ihn paßten, – ja sogar Merkmale, die er früher nicht an sich beobachtet hatte, die er aber jezt aus dem Buche las, fand er ganz klar und erkennbar an sich ausgeprägt und konnte nicht begreifen, wie sie ihm früher entschlüpft waren. Alle Schriftsteller, die er las, beschrieben seine Krankheit, wenn sie auch nicht überall den nehmlichen Namen für sie anführten. Sie unterschieden sich nur darin, daß jeder, den er später las, die Sache noch immer besser und richtiger traf, als jeder, den er vorher gelesen hatte. Weil die Arbeit, die er sich vorgestekt hatte, sehr umfangsreich war, so blieb er bedeutend lange Zeit in dem Geschäfte befangen, und hatte keine andere Freude, als die, wenn man das überhaupt eine Freude nennen darf, daß er manchmal seinen Zustand so außerordentlich und unglaublich treu angegeben fand, als hätte er ihn dem Manne selber in die Feder gesagt.
Drei Jahre hatte er sich behandelt, und er mußte zuweilen den Plan der Behandlung wechseln, weil er nach und nach zu einer bessern Einsicht gelangte. Endlich war er so schlecht geworden, daß er alle Merkmale aller Krankheiten zu gleicher Zeit an sich hatte. Ich führe nur einige an: er hatte jezt einen kurzen Athem; denn er konnte, wenn er der Vorschrift eines Buches zu Folge doch an einem Sommertage in den Garten ging, nicht weit gehen, ohne müde zu werden und sich zu erhizen – die rechte Schläfe pochte ihm zuweilen, und zuweilen die linke – wenn der Kopf nicht brauste und Müken flogen, so war die Brust gepreßt oder stach die Milz – er hatte die wechselnden Fröste und die ziehenden Füße der Nervenkrankheiten – die plözlichen Wallungen deuteten auf Erweiterung der Blutgefäße – und so war noch Vieles. Er konnte jezt auch nie mehr ordentlich hungrig werden, wie einst so köstlich in seiner Kindheit, obwohl er statt dessen eine falsche Begehrungsempfindlichkeit hatte, die ihn stets reizte, alle Augenblike zu essen.
So weit war es mit Herrn Tiburius gekommen. Manche Menschen hatten Mitleiden mit ihm, und manches Mütterlein sagte sogar voraus, er werde es nicht lange mehr treiben. Aber er trieb es doch noch immer fort. Zulezt redete man gar nicht mehr von ihm, weil er doch nicht sterben konnte; sondern nahm ihn als einen hin, der eben ist, wie er ist; oder man sprach von ihm blos in der Art, wie man von einem spricht, der schon einmal etwas Ungewöhnliches an sich hat, wie zum Beispiele einen schiefen Hals, oder schreklich schielende Augen, oder einen Kropf. Mancher, wenn er an dem Landhause mit den verschlossenen Fenstern vorüber ging, schaute hinauf und dachte, wie er doch das Vermögen da oben, wenn er es hätte, so ganz anders genießen würde, als der verworrene Herr. Die lange Weile und die Ode hatte ihre breite Fahne über das Landhaus des Herrn Tiburius ausgebreitet, im Garten standen die einförmigen Arzneikräuter, die er pflanzen zu lassen angefangen hatte, und ein Schalk behauptete, die Hähne krähten viel trauriger innerhalb der Gemarkungen seines Hofes als anderswo.
Somit wären wir denn so weit gelangt, das Elend des Herrn Tiburius einzusehen – wir gehen nun zu dem freudigern Ereigniß über, wie er wieder aus diesem Abgrunde heraus gekommen, und alles das geworden ist, was wir am Eingange dieser Geschichte so rühmlich von ihm erwähnt haben.
Da war ein Mann in der Gegend, von dem die Leute ebenfalls sagten, daß er ein großer Narr sei. Von diesem Manne ging plözlich das Gerücht, daß er den Herrn Tiburius behandle. Der Mann war allerdings ein Doctor der Heilkunde, aber er heilte nichts, obgleich viele sein schriftliches Befugniß hiezu gesehen hatten; sondern er war eines Tages in die Gegend gekommen, hatte ein schlechtes Bauernhaus, dessen Besizer im Abwirthschaften begriffen war, sammt Garten, Feldern und Wiesen gekauft, baute das Haus um, und trieb Landbau und Obstzucht. Wenn aber doch einer zu ihm kam, der ein Uebel hatte, so gab er ihm keine Arznei, sondern schikte ihn fort, und verschrieb ihm viel Arbeit, ein besseres Essen, als er bisher hatte, und ein angelweites Öffnen aller Fenster seiner Wohnung. Da nun die Leute sahen, daß er mit der Doctorei nur Schalksnarrheit treibe, und statt der Mittel nur lauter natürliche Dinge verordne, kam keiner mehr zu ihm, und sie ließen ihn fahren. Hinter seinem Hause hatte er ein ganzes Feld voll ruthendünner Bäumchen, auf die er sehr achtete, und in einem gläsernen Gebäude standen auch Ruthen mit grünen lederglänzenden Blättern, die niemand kannte. So wie nun ein Narr den Andern anzieht, sagten sie, hätte Herr Tiburius zu dem einzigen Manne Vertrauen, und nehme von ihm Mittel.
Das war aber eigentlich nicht wahr, sondern die Sache verhielt sich so: da Herr Tiburius sich um alles, was Arzneiwissenschaft angeht, sehr bekümmerte, meinten seine Leute ihm einen Gefallen zu thun, wenn sie ihm von dem neuen Doctor erzählten, der das Querleithenhaus gekauft habe und nun dort wirthschafte. Der Zimmerdiener des Herrn Tiburius sprach ein paar Male davon, ohne daß der Herr Tiburius sonderlich darauf achtete; aber wie der Himmel zuweilen ganz wunderliche Wege einschlägt, damit sich das Schiksal eines Menschen erfülle, geschah es auch hier, daß Herr Tiburius in einer Schrift des alten nun bereits schon seit langer Zeit seligen Haller auf eine Stelle gerieth, die offenbar einen Widerspruch in sich enthielt, das heißt, in so ferne offenbar, als man ein Arzneigelehrter ist – für einen andern war die Rede weder so noch so verständlich – in so ferne aber doch wieder nicht ganz offenbar, als es zweifelhaft war, ob man ein Arzneigelehrter sei, oder nicht. In diesen Zweifeln, die den Herrn Tiburius quälten, fiel ihm wieder wunderbarer Weise der neuangekommene Doctor ein, obwohl sein Diener schon lange nicht mehr von ihm gesprochen hatte. Hier müssen wir aber der geschichtlichen Wahrheit die Ehre geben und bekennen, daß der Mann dem Herrn Tiburius gerade darum eingefallen ist, weil er von den Leuten ein Narr genannt wurde; denn Herr Tiburius hatte ganz eigene Ansichten von der Narrheit, und der Mann wurde ihm darum merkwürdig. Allein wenn Leute, wie Herr Tiburius, auf etwas denken, so bleibt es gewöhnlich bei dem Gedanken. Bei Herrn Tiburius mußte es auch eine Weile so geblieben sein, bis er einmal plözlich befahl, daß man den geschlossenen Wagen anspannen solle, er werde zu dem Doctor im Querleithenhause hinüber fahren. Seine Leute staunten, wie er sich bei seiner schweren Krankheit in die Luft und in das Wagenrütteln hinaus wagen könnte, da er doch reich genug war, um sich diesen Doctor und noch zehn andere in das Haus kommen zu lassen. Allein Herr Tiburius sezte sich in den Wagen und fuhr in die Querleithen hinüber.
Er fand den Doctor in Hemdärmeln und einen breiten gelben Strohhut auf dem Haupte im Garten, wo er heftig arbeitete. Der Doctor war ein nicht gar großer Mann, mit lauter grober ungebleichter luftiger Leinwand bekleidet. Er sezte ein wenig von seiner Arbeit aus, als er den Wagen an seinen Garten heran fahren sah, und blikte mit dunkeln feurigen Augen darnach hin. Herr Tiburius, gegen die Luft mit einem sehr diken Anzuge verwahrt, stieg aus dem Wagen und ging auf den erwartenden Mann zu. Er sagte, da er vor ihm in dem Gartengange stand, er sei sein Nachbar Theodor Kneigt, er gebe sich viel mit Wissenschaften ab, insbesondere mit der Arzneikunde. Vor mehreren Wochen sei er im Haller auf eine Stelle gerathen, welcher er mit seinen Kräften allein nicht völlig Herr werden könne, darum sei er zu ihm, den der Ruf als einen in diesen Dingen kundigen Mann verkünde, herüber gefahren, und bitte ihn, daß er mit Aufopferung einiger Minuten seiner Zeit ihm mit einem Rathe in der Sache beispringen möge.
Auf diese Anrede erwiederte der kleine Doctor, er lese veraltete Schriften, wie den Haller, gar nicht, er doctere jezt auch ganz und gar nicht mehr, er wisse auch nur in ganz wenigen Fällen zuverlässige Mittel anzugeben, und er wende die Kunde, die er über Dinge des menschlichen Körpers habe, blos dazu an, daß er sich selber ein Leben verschreibe, welches seinem Körper das bei Weitem nüzlichste und heilbringendste sei. Deßhalb habe er die Hauptstadt verlassen und sei so weit auf das Land heraus gegangen, daß er hier das gesündeste Leben führe und das höchste Alter erreiche, welches überhaupt der Zusammenstimmung der Elemente seines Körpers möglich sei. Wenn übrigens der Herr Nachbar den Haller bei sich habe, so könnte man ja die Stelle ansehen und einen Versuch wagen, was aus ihr heraus zu bringen sei, was nicht.
Herr Tiburius ging auf diese Rede zu seinem Wagen, zog den Haller aus der Tasche desselben, und kam mit ihm wieder zu dem kleinen Doctor zurük. Dieser führte seinen Herrn Nachbar in ein Gartenhaus, dort blieben die Männer einige Zeit, und als sie wieder daraus hervor gingen, hatte Herr Tiburius die Genugthuung, daß der fremde Doctor über die Stelle im Haller das nehmliche dachte und sagte, wie er. Der Doctor sagte, nachdem das eigentliche Geschäft abgethan war, zu Herrn Tiburius, er habe zwar ein junges sehr schönes Weib, es sei auch gewöhnlich Sitte, daß man einen Gast und Nachbar, der den ersten Besuch mache, zu der Frau des Hauses führe; allein er wisse nicht, ob der Herr Nachbar seinem Weibe nicht widerwärtig sein könnte; denn es ist unter seinen Grundsäzen auch der obenan, daß seine Gattin, so wie er, in allen nicht zur Ehe gehörigen Dingen die völligste Freiheit zu handeln haben müsse; darum werde er sein Weib fragen, und wenn der Herr Nachbar wieder einmal komme, werde er ihm sagen können, ob er ihn zu ihr führen werde, oder nicht.
Hierauf erwiederte Herr Tiburius, er sei wegen des Hallers herüber gekommen, das sei abgethan und es sei gut.
Deßohngeachtet zeigte ihm der Doctor noch flüchtig seine Anlagen, wo er die Camellienhäuser habe, wo er seine Rhododendern, seine Azalien, Verbenen, Eriken und andere ziehe, und wo er die Erden mische und brenne. Von dem Obste und andern Dingen sei noch nicht viel zu sehen.
Sodann stieg Herr Tiburius in seinen Wagen und fuhr davon. Der Doctor hatte eine hölzerne Vorrichtung, die mit Klöppeln sehr laut klapperte, um seine Leute, die in verschiedenen Geschäften zerstreut waren, zum Essen oder zur Arbeit oder zu einer Ankündigung zusammen rufen zu können. Als Herr Tiburius den Abhang der Querleithen hinab fuhr, hörte er schon wieder das Klappern dieser Vorrichtung, was andeutete, daß der fremde Doctor mit seinen Leuten schon wieder in einem Verkehre befindlich sei.
Zu diesem Manne kam Herr Tiburius nach einiger Zeit wieder, und dann öfter und so immer fort; war es nun, daß er, wie es bei derlei Leuten ist, einmal im Geleise war, und daher in demselben fort ging, oder wollte er von dem Doctor etwas lernen. Da standen nun die zwei Männer, welche von den Menschen Narren geheißen wurden, manchmal in dem Garten beisammen; der eine in einem Strohhute und in einem grobleinenen Anzuge, daß ihm der Wind bei den Oeffnungen hinein ging und durch alle Glieder strich: der andere mit einer Filzkappe auf dem Haupte, die er bis über die Ohren herab zog, mit einem langen Roke, der fast die Erde kehrte, über die andern Kleider zusammen geknöpft war, und oben unter dem Kragen noch ein großes zusammengebauschtes Tuch sehen ließ, daß der Hals warm sei, und endlich mit großen weiten Stiefeln, in denen er doppelte Strümpfe an hatte, daß sich die Füsse nicht erkälten. Bei diesen Besuchen sagte der Doctor nichts mehr davon, daß er den Herrn Tiburius zu seinem Weibe hinein führen werde, und dieser verlangte es auch niemals.
Weil also Herr Tiburius zu keinem Menschen kam, als zu dem Doctor, und weil er überhaupt nicht aus seinem Zimmer ging, als wenn er zu dem Doctor fuhr, so war es natürlich, daß die Leute glaubten, er werde von dem närrischen Doctor ärztlich behandelt, und beide hätten Mittel ausgesonnen, die sehr merkwürdig seien und geheim gehalten würden, weßhalb sie immer zu einander kämen und die Köpfe zusammen stekten.
Dies war, wie wir wissen, allerdings nicht so: aber wie der Scharfsinn des Volkes immer in den ungegründeten Gerüchten, die in ihm empor tauchen, einige Kernchen Wahrheit und Veranlassung hat, so war es auch hier; denn von diesem Doctor ging wenigstens der erste Anstoß aus, der dann fortwirkte, und in Folge dessen sich Herr Tiburius ganz und gar verwandelte, wie die Raupe des Tagpfauenauges, die auch, nachdem sie auf dem Nesselkraute einförmig gelebt, sich dann gar aufgehängt hatte und eingeschrumpft war, eines Tages plözlich aufspringt, den garstigen schwarzen mit Dornen besezten Balg zurükstreift und die Hörner und Höker der schönen Puppe zeigt, in der gar schon die künftigen farbigen schimmernden und glänzenden Flügel eingewikelt liegen. Herr Tiburius fragte nehmlich den Doctor eines Tages plözlich um das, was er gewiß schon so lange auf dem Herzen getragen haben mußte; er sagte: »Wenn Sie mein hochverehrtester Herr Doctor, wie Sie ja selber gerade heute vor fünf Wochen zu mir gesagt haben, in ganz wenigen Fällen zuverlässige Mittel wissen, so wüßten Sie etwa zufällig auch eins in dem meinigen?«
»Allerdings, mein verehrter Herr Tiburius,« antwortete der Doctor.
»Nun also – um Gottes willen – so reden Sie.«
»Sie müssen heirathen, aber zuvor müssen Sie in ein Bad gehen, wo Sie sogar ihr Weib finden werden.«
Das war für Herrn Tiburius zu viel!!
Er kniff seine Lippen zusammen und fragte mit ungläubigem spöttischem Lächeln: »Und in welches Bad soll ich denn gehen?«
»Das ist in Ihrem Falle schier einerlei,« antwortete der Doctor, »nur irgend ein Gebirgsbad dürfte am vorzüglichsten sein, etwa das in unserm Oberlande, wohin jezt so viele Menschen ziehen. Oheime, Tanten, Väter, Mütter, Großmütter, Großväter sind mit sehr schönen Mädchen dort, und darunter wird auch die sein, welche Ihnen bestimmt ist.«
»Und also endlich, weil Sie die Mittel so gut angeben, welches ist denn mein Fall?«
»Das sage ich nicht,« erwiederte der Doctor, »denn wenn Sie ihn einmal wissen, dann hilft kein Mittel mehr, weil Sie keins nehmen – oder Sie bedürfen keins mehr, weil Sie bereits gesund sind.«
Herr Tiburius fragte um nichts weiter, er sagte auf diese Unterredung kein Wort mehr, sondern er ging allmählich zu seinem Wagen und fuhr davon.
»Der verrükte Doctor hat Recht,« sagte er zu sich in dem Wagen, »nicht in Beziehung des Heirathens hat er Recht, das ist eine Narrheit – – aber ein Bad – ein Bad! – das ist das einzige, auf das ich noch nicht verfallen bin – es ist unbegreiflich, wie ich denn nicht darauf denken konnte. Ich werde mir gleich alle Bücher zu Rathe ziehen, die von Bädern handeln, und auszumitteln suchen, welches Bad unseres Welttheiles für meine Zustände in Anbetracht kommen könnte.«
Und auf dem ganzen Wege brütete er an dem Gedanken fort.
Der Doctor hatte den Herrn Tiburius bedeutend aufgerührt. Auch an das Heirathen mußte er ein wenig gedacht haben; denn er schnitt sich mit einer Scheere den Bart, den er sich in dem ganzen Angesichte hatte wachsen lassen, bis auf eine gewisse Kürze weg, rasirte ihn dann über und über sehr fein ab, und stellte sich vor den Spiegel und betrachtete sich.
»Nein, nein,« sagte er, »das ist nichts, das hat ganz und gar keinen Sinn, und das kann nicht sein.«
Deßohngeachtet schikte er noch an diesem Abende um ein sehr gutes Zahnpulver in die Stadt; denn er hatte vor dem Spiegel bemerkt, daß er seine Zähne bisher in hohem Maße vernachlässigt habe.
In Bezug auf das Bad fing er am Morgen des nächsten Tages an, sehr ernsthaft die nothwendigen Anstalten zu treffen. Er schrieb in die Stadt um alle Bücher, welche von Bädern handeln, um zuerst aus ihnen zu entnehmen, wohin er gehen solle, dann wolle er erst das Weitere anordnen. Allein der Gedanke des Bades hatte ihn so ergriffen, daß er nicht seinen bisherigen gewöhnlichen Weg, nehmlich erst alle möglichen Bücher zu lesen, einschlug, was übrigens auch zur Folge gehabt hätte, daß er in diesem Sommer in gar kein Bad mehr gekommen wäre; sondern er entschied sich in der That sofort für das Bad, welches der Doctor vorgeschlagen hatte. Das erste, was er nun that, war, daß er befahl, daß sein Reisewagen in reisefertigen Stand gesezt werde. Seine Leute erschraken über diesen Befehl, leisteten ihm aber Folge. Er hatte in seinem ganzen Leben keinen Reisewagen gebraucht, da er nie weiter von seinem Gute gekommen war, als in die Stadt. Daher glaubten seine Hausgenossen, daß er erst jezt vollends närrisch geworden sei, oder sich im Beginne der Besserung befinde. Sie zogen den Reisewagen aus seinem Behältniß, in welchem er, seit ihn Herr Tiburius hatte machen lassen, gestanden war, auf den Hof hervor, und untersuchten, ob er an allen Stellen gut sei, und versahen ihn dann mit allen Sachen, welche ein solcher Reisender wie Herr Tiburius war, auf seinem Wege brauchen könnte. Hierauf schikte er um alle Bücher, welche über dieses einzelne Bad vorhanden wären, daß er sie mitnähme und dort lese. Dann schrieb er selber auf einen Bogen Papier die Sachen auf, welche seine Diener mit nehmen mußten, worunter auch seine Grauschimmel und sein Spazierwagen waren, die vorausgehen mußten, daß er sie dort gleich habe. Endlich mußte noch sogleich an den nöthigen Kleidern, Sizkissen und andern Geräthen gearbeitet werden. Er machte diese Sachen mit ziemlichem Geschike.
Zu dem Doctor, zu dem er noch zweimal während der Zeit gekommen war, sagte er kein Wörtlein; derselbe schien auch auf die Unterredung über das Bad völlig vergessen zu haben.
Nachdem so eine Weile vergangen war, kamen eines Tages vier Postpferde auf das Gut des Herrn Tiburius und zogen den Herrn in seinem Reisewagen zur Verwunderung aller Menschen in die Fremde fort.
Ich darf mich nicht darauf einlassen, seine Reise zu beschreiben, da sie mit dem Zweke dieser Zeilen nicht gar innig zusammen hängt: aber das muß ich doch sagen, daß es dem Herrn Tiburius vorkam, als fahre er schon viele, viele Meilen, als sei er schon in der fernsten Entfernung, da er bereits einen Tag fuhr, da er den zweiten fuhr, und da endlich gar der dritte gekommen war.
Am Nachmittage dieses dritten Tages, da eine unbeschreiblich große Sommerhize herrschte, fuhr er in einem langen schmalen Gebirgsthale einem schönen grünen rauschenden spiegelklaren Wasser entgegen. Als das Thal sich erweiterte, sah man aus einer großen Hütte eine weiße Dampfwolke aufsteigen, und der Diener sagte zu Herrn Tiburius, das sei der Dampf, der aus der Sole aufsteige, die in dem Hause gekocht werde, und man sei ganz nahe an dem Ziele der Reise. Bald nach diesen Worten fuhr Herr Tiburius in seinem von allen Seiten geschlossenen Wagen in die Gassen des Badeortes ein. Es war in demselben wegen der großen Hize sehr still, niemand war im Freien, die gegliederten Fensterläden und die Fenstervorhänge waren zu, höchstens, daß bei einer Spalte oder bei einer Falte ein paar Augen heraus schauten, um zu sehen, wer denn wieder gekommen sei.
Herr Tiburius fuhr vor den Gasthof, in welchem ihm auf ein Schreiben seines Dieners ein Zimmerlein war aufgehoben worden. Er stieg aus und wurde in das Zimmerlein hinauf geleitet. Dort sezte er sich an das gelbangestrichene Tischlein, das da stand. Seine Diener und die Leute des Gasthauses waren beschäftigt, die Dinge, die der Wagen enthielt, auszupaken und herauf zu tragen.
Herr Tiburius konnte sich nun mit Beruhigung sagen, daß er da sei. Aus der spöttischen Aeußerung des kleinen Doctors war Ernst geworden. Gestern, da er noch in der Ebene draußen fuhr, hatte Herr Tiburius gedacht, wenn er nur nicht eher stürbe, ehe er ankäme, dann wäre alles gut: jezt war er angekommen, und saß bereits neben seinem Tischlein da. Die Leute räumten beinahe die ganze Stube mit den Sachen voll, die sie in dem Wagen fanden. Durch die grünen Schienen der Fensterläden sahen duftige Bergwände herein – er war fast berauscht und legte sich seine Reiseeindrüke zurecht. Da waren noch die unendlichen Felder und Wiesen und Gärten, durch die er gefahren war, und die Häuser und Kirchthürme, die alle an ihm vorüber gegangen waren, dann rükten gar Gebirge näher, dann schwankte ein langer grüner See in seinem Haupte, über den er sammt seinem Reisewagen gefahren war, und dann war das eilende Wasser in dem Thale und das erschrekliche Blizen der Sonne auf allen Bergen. – –
Aber auf das alles durfte Herr Tiburius zulezt doch nicht gar zu stark denken; denn es waren jezt ganz andere Dinge nothwendig, nehmlich, daß seine Wohnung für seine Krankheit gehörig eingerichtet werde, und daß man sehr bald den Badearzt rufe, daß er ihn kennen lerne, und daß sie mit einander den Plan der Heilung verabredeten und sogleich zur Ausführung desselben den Anfang machten.
Es mußte vor allem noch ein größerer Tisch herbei, auf den er die Stöße Bücher, die sein Diener auspakte, legte, daß er sie bei erster Gelegenheit aufschneide, und zu lesen beginne. Dann mußte das Bett, dessen Bestandtheile er selber mitgebracht hatte, im noch kleineren Nebenzimmerchen, das an sein Wohngemach stieß, aufgestellt werden. Das Stahlgerüste desselben wurde in der Eke aufgerichtet, in welcher am wenigsten Zugluft herrschen konnte. Hierauf wurden die Stäbe der spanischen Wand, die er mitgebracht, auseinander geschraubt, gestellt, und mit dem dazu gehörigen Seidenstoffe bespannt, auf dem unzählige rothe Chinesen waren. Weil so viele Mantelsäke, Wagenkoffer und andere Lederfächer herumlagen, mußte der Wirth noch einen Schrein herauf schaffen, den man in das Vorzimmer, wo die Diener schliefen, stellte, daß man das Weißzeug, die Schlafröke und die Kleider unterbringen könne. Zulezt mußten noch die Schirme vor die Fugen der Fenster und Thüren gestellt und die leeren Koffer und Lederfächer in das Wagenbehältniß gebracht werden.
Als alles in Ordnung war, sendete Herr Tiburius nach dem Badearzte. Es durfte nicht aufgeschoben werden, und es war überhaupt ungewiß, ob nicht auf die viele, viele Bewegung, die er auf der langen Reise her gemacht habe, eine arge Krankheit folgen könne.
Der Badearzt war nicht zu Hause und auch sonst nirgends zu finden. Herr Tiburius mußte bis auf den Abend warten. Er saß in seiner Stube und wartete. Am Abende kam der Arzt, und die zwei Männer beredeten sich über eine Stunde lang, und sezten die ganze Wesenheit des zu befolgenden Heilplanes auseinander.
Am andern Morgen begann Herr Tiburius schon den Plan ins Werk zu sezen. Man sah ihn in einem langen grauen zugeknöpften Oberroke den Brunnengebäuden zu gehen und in denselben verschwinden. Er nahm darinnen sein erstes Bad. Und wo man die Molken nahm, wo man in der Sonne saß, und ein wenig hin und her ging, konnte er später auch gesehen werden. So machte er es jeden Tag, und er ging gewissenhaft dorthin, wo es der Zwek erheischte. Um die von dem Arzte vorgeschriebene Bewegung mittelst Gehen zu machen, hatte er sich eine eigene Art ausgesonnen. Er fuhr nehmlich mit seinen Grauschimmeln auf der Straße, die tiefer in das Gebirge führt, eine Streke fort, bis er zu einem gewissen großen Steine kam, den er gleich am ersten Tage entdekt hatte. Neben dem Steine war eine ziemlich große trokene Erdstelle, die aus fest gelagertem Sande bestand. An dieser Stelle stieg er aus, und ging nach der Uhr so lange hin und her, als die zur Bewegung festgesezte Zeit dauerte, dann saß er wieder ein und fuhr nach Hause. Die Leute, die im Bade versammelt waren, lernten ihn bald kennen, und sagten, das sei der Herr, der neulich in dem geschlossenen Wagen gekommen sei.
Die Badezeit war eigentlich schon ziemlich vorgerükt, aber da in diesen Gebirgsthälern die lezten Sommermonate die heißesten und trokensten sind, so war noch ein großer glänzender und auserlesener Besuch zugegen. Darunter waren manche sehr schöne Mädchen. Herr Tiburius, welcher nicht umhin konnte, doch manchmal eine zu sehen, erinnerte sich flüchtig an die Heirathsworte des Doctors – aber er dachte, der Doctor sei ein Schalk, und verlegte sich hier nur auf das, was seiner Gesundheit unmittelbar noth that. Er las allgemach von dem Bücherhügel ein großes Stük herunter, er verrichtete genau alles, was ihm der Badearzt vorgeschrieben hatte, und that noch manches andere dazu, was er selber aus den Büchern lernte und sich verordnete. Er hatte sich auch an seinem Fensterstoke ein Fernrohr angeschraubt, und betrachtete durch selbes öfter die närrischen Berge, die hier herum standen, und die das Gestein in höchster Höhe oben trugen.
Es war seltsam, daß auch hier in dieser großen Entfernung, und zwar schon in sehr kurzer Zeit, nachdem Herr Tiburius angekommen war, der Name Tiburius im Munde der Leute gebräuchlich war, obwohl in dem Fremdenbuche Theodor Kneigt stand, und obwohl ihn niemand kannte. Es mochten ihn wohl insgeheim seine Diener so genannt haben.