Inhalt

Julia Adrian

Die Dreizehnte Fee

Entzaubert

Astrid Behrendt
Rheinstraße 60, 51371 Leverkusen
www.drachenmond.de, info@drachenmond.de

Satz, Layout
Martin Behrendt

Lektorat, Korrektorat:
Michael Lohmann, worttaten.de

Bildmaterial
Hintergrundmuster: lolloj / shutterstock.com
Brombeeren: Guzel Studio / shutterstock.com
Blätter und Ranken: Kopainski Artwork

Umschlaggestaltung
Alexander Kopainski, kopainski-artwork.weebly.com

ISBN: 978-3-95991-232-7
ISBN der Druckausgabe: 978-3-95991-132-0

Prolog

Wir sind Geschichten. Ich bin eine und die Eishexe ist eine. Alle meine Schwestern, die mächtigsten Feen des Landes, der Hexenjäger und sogar Elle, das Kind, welches mein Herz im Sturm eroberte. Das Kind, mit dessen Tod auch mein Herz starb.

Wir alle sind geschaffen aus Tinte, wir sind geschaffen aus schwarzem Blut. Und mögen unsere Leben auch enden, so werden unsere Spuren auf ewig zwischen den Seiten eines Buches zu finden sein. Papier und Tinte, Schatten einer düsteren Vergangenheit.

Und jedes Mal, wenn ein Kind ein Märchenbuch aufschlägt und mit heller Stimme die Worte zum Leben erweckt, werden wir auferstehen.

Palast in Antarktika

Der Nordwind der Eishexe trägt uns höher und höher, fort von der dahinrauschenden Landschaft, den Bergen, Siedlungen, Flüssen und Tälern. Die Welt bleibt hinter uns zurück und mit ihr auch der Hexenjäger. Er wollte mich töten. Und doch scheint er etwas für mich zu empfinden, denn er fürchtet um mich. Er fürchtet die Gefahr, in der ich jetzt schwebe: neben meiner Schwester in ihrem gläsernen Schlitten.

Ich blicke die Eishexe an und frage mich, ob je eine von den zwölf anderen gefunden hat, was ich beim Hexenjäger fand. Und bei dem Kind, das ich weder lieben durfte, noch beschützen konnte.

Ich würge den Schrei hinunter, der seit Elles Tod in mir tobt. Die Eishexe soll mich nicht schwach sehen, niemand soll das!

In mir hallt das Lachen der Königin, sie weidet sich an meinem Leid. Sie hasst die Liebe und die Menschen. Sogar die Feen.

Getrieben von dem Hass der Königin richte ich mich auf. Sie verlangt nach Vergeltung, ich will Vergeltung. Denn sie haben mich mit meinem eigenen Zauber betrogen, sie haben mich eingesperrt und versteckt vor der Welt für ein ganzes Jahrtausend. Meine Schwestern.

Die Eishexe blickt mich kurz von der Seite an. Sie und ich, wir waren die Ersten. Zusammen durchstreiften wir die Wälder, zusammen fanden wir den Turm. Doch sind die Erinnerungen nichts als ein entferntes Echo in meiner Wut.

Ich hebe die Hände, die Hände der Königin. Lachend werfe ich den Kopf in den Nacken und genieße das Gefühl der Macht. Die Eismagie pulsiert in meinen Fingern.

Sie haben geglaubt, mich vernichten zu können, indem sie mir meine Macht stahlen. Doch ich hole sie mir zurück, denn sie gehört mir allein.

Ich balle die Fäuste und die Magie fließt durch meine Adern. Hier und jetzt wird die älteste Schwester für ihren Verrat bezahlen. Die Königin in mir befiehlt der Eismagie, ihre Meisterin zu töten, sie samt ihres Schlittens vom Himmel zu stürzen, gleich, was aus mir wird – wenn sie nur stirbt.

Ich will nicht hinsehen und doch muss ich. Sieh hin!, flüstert die Königin. Lerne, was es heißt, mich zu betrügen!

Ich blicke mit den Augen der Königin, die ich einst war und noch immer bin. Ich fühle den alten Hass und lasse mich mitreißen. Ich werde das Monster. Ich werde die Königin. Es zählt nichts mehr, nicht seit Elle starb und der Hexenjäger seine Wahl traf. Einzig der Wunsch nach Rache ist geblieben – doch die Antwort der Magie bleibt aus und meine Hand kalt und leer.

»Was …?«

Die Eishexe fixiert mich. »Du hättest es also getan.«

Ich rufe erneut nach der Magie, doch obwohl ich sie spüre, sie mich durchfließt und umgibt, gehorcht sie nicht. Warum gehorcht sie nicht?

»Ich begehe nicht denselben Fehler wie unsere Schwestern«, sagt die Eishexe und lenkt ihren Schlitten durch die Wolkendecke. »Ich habe beobachtet, wie du die Giftmischerin getötet hast. Ich sah, wie die Meerhexe starb. Du stiehlst unsere Macht und verwendest sie gegen uns.«

»Jetzt nicht mehr«, knurre ich und blicke auf meine geöffnete Hand. »Warum?«

»Weil ich verstehe, wer du bist.«

Ich lache auf. Sie maßt sich an, mich zu verstehen. Mich, die Königin! Ich könnte sie stoßen, über den Schlittenrand, hinabstoßen in die Wolken, auf dass sie falle bis zur Erde, wo ihr eisiger Körper in tausend Stücke zerbräche und von ihrem vermeintlich königlichen Stolz nichts bliebe als Brei aus Blut und Knochen! Doch ich tue es nicht, denn ich weiß, dass ich ihr unterlegen bin. Ich gebe mir keine Blöße und ihr keine Genugtuung. Nein. Stattdessen verziehe ich die Lippen zu einem schmalen Lächeln, hinter dem sich das Bild ihres zerstörten Leibes verbirgt, und sage: »Du glaubst zu wissen, wer ich bin?«

Sie nickt und lässt den Schlitten sinken. »Als ich dich im Spiegel sah …« Sie zögert, mustert mich kurz und fährt fort. »Du hattest dich kein bisschen verändert. Du warst kalt und schön wie eh und je. Aber dann …« Sie forscht nachdenklich in meinem Blick, so als verstünde sie es selbst nicht. »Dann sahst du den Mann an, der hinter dir stand und deine Augen … sie begannen zu leuchten. Das erinnerte mich an das Mädchen von einst. Es erinnerte mich an Lilith, nicht an die Königin.«

»Das Mädchen von einst gibt es nicht mehr.«

»Das glaubte ich auch lange Zeit«, antwortet die Eishexe. Wir brechen durch die Wolkendecke. Inmitten einer schroffen und vereisten Bergkette erheben sich die spitzen Türme eines Herrschersitzes, der im schummrigen Zwielicht des hohen Nordens mit seiner Umwelt verschmilzt. Das ist ihr Zuhause.

»Willkommen in Antarktika!« Ihr erwähltes Reich.

Bögen und überdachte Brücken verbinden die Türme und verflechten sie zu einem verwunschenen Palast. Die Mauern sind geschaffen aus silbernen Steinen, die unzähligen Bogenfenster aus hauchdünnem Eis. Flackerndes Licht schimmert im Inneren und verspricht trügerische Wärme.

»Gefällt es dir?«, fragt die Eishexe.

Ich antworte nicht. Wir sinken tiefer und tiefer. Ich fixiere die Gebieterin der Nordwinde, die Herrscherin über Eis und Schnee, und überlege, wo ihr wunder Punkt liegt. Jeder besitzt einen, auch sie und ich werde ihn finden, um sie zu vernichten, so wie ich die anderen zuvor vernichtete. Für einen Moment sehe ich Gretchen, wie sie ihre verfaulende Hand dem Geist von Hans entgegenstreckt, das entrückte Lächeln im Gesicht, und meine Entschlossenheit bricht. Schuld, bittere Schuld schmecke ich auf der Zunge. Ihr wunder Punkt. Mein wunder Punkt. Kurz meine ich Elles Lachen zu hören, ehe der Schrei der Königin meinen Schmerz erstickt. Ich strecke mich, verdränge Hans, verdränge Elle. Meine Schwestern nahmen mir tausend Jahre meines Lebens, sie nahmen mir meine Krone und mein Reich, sie nahmen mir meine Magie und letztendlich die Liebe selbst. Elle ist tot. Und mit ihr die einzige Chance auf Vergebung. Ich werde sie vernichten!

Wir landen auf einem verschneiten Hof, dessen Mitte ein silberner Brunnen ziert. Säulengänge umschließen den Platz, dahinter strecken sich Türme in den Himmel, die Spitzen verborgen in den Wolken, als hüteten sie schreckliche Geheimnisse.

»Komm, Schwester, folge mir!« Die Eishexe gleitet aus dem Schlitten. Ihr langes weißes Kleid fließt über den Schnee und hinterlässt eine sanfte Spur. Es scheint, als würde sie schweben.

Ich richte den roten Wolfsfellmantel, den der Uhrmacher für mich anfertigen ließ, und erkenne, dass er von all dem wusste. Er wusste, dass ich meiner eisigen Schwester folgen würde. Ahnt er auch, dass ich sie töten werde? Und ihn – sollte ich je die Gelegenheit haben, denn er ist nicht mehr als ein Spielball des Orakels.

Er wusste von all dem und hat doch nichts gesagt.

Verräter!, dröhnt es in mir und sinnend folge ich meiner Schwester.

Rache, oh köstliche Rache!

Sie führt mich durch leere Flure und Säle. Matte Fackeln erhellen den Weg, weiß leuchten ihre kalten Flammen. Sie spenden keine Wärme, nur Licht, kaltes Licht, wie das der Sterne.

Mein Schritt hallt durch die endlosen Abzweigungen. Gemälde hängen an den Wänden. Eines neben dem anderen. Porträts von Menschen in allen Hautfarben und jeglichen Alters, Frauen und Männer, Könige und Bettler. Die Gesichter auf den Leinwänden wirken täuschend echt, es scheint, als folgten sie mir mit den Blicken. Als klagten sie mich an. Nur zu!, flüstert die Königin in mir. Nur zu!

»Komm, Schwester!« Zwei weiße Wölfe bewachen eine Flügeltür. Starr und kalt, die Augen so weiß wie das Fell, und hörte ich ihre Herzen nicht rhythmisch schlagen, so hielte ich sie für Statuen. Ich fixiere die blassen Augen. Ob sie wissen, dass ich einen von ihnen in der Hütte der Sieben tötete? Ich lege den Kopf schief. Ja, ich denke, dass sie es wissen, denn ihr Herzschlag beschleunigt sich.

»Zu lange dientet ihr der falschen Königin«, zische ich und folge der Eishexe.

»Dies ist meine Bibliothek.« Fließend schreitet meine Schwester durch das Tor, hebt die Arme empor und dreht sich zu mir herum. Fast lächelt sie.

Ich kneife die Augen zusammen und mustere den größten Schatz der Eishexe. Endlose Regale und mit Raureif überzogene Bücher. Treppen und Galerien schlängeln sich von Etage zu Etage bis zu der gläsernen Kuppel, die sich hoch oben über dem kreisrunden Saal wölbt. Bücher: Papier und Buchstaben – sie scheint viel zu lesen. Sie scheint die Worte zu lieben. Liebe bedeutet Schwäche.

»Dies ist mein Reich«, ruft die Eishexe und ich höre den Stolz in ihrer Stimme. Die Hand liegt auf der Lehne eines purpurnen Throns. Sie maßt sich an, eine Königin zu sein, dabei ist sie nichts als eine verlorene Seele.

»Es hat mich acht Jahrhunderte gekostet, alle Werke dieser Welt zu sammeln und zu lesen. Ich kenne jedes einzelne Buch und jede Geschichte.«

»Rührend.«

»Hier verbringe ich meine endlose Zeit«, fährt sie ungerührt fort und setzt sich auf ihren Herrschersitz, »und Zeit besitzen wir Feen im Überfluss.«

Ich betrachte die überfüllten Regale, fahre mit dem Finger über einen vereisten Globus. Er dreht sich. Unsere Welt. Geteilt in die Herrschaftsgebiete der Feen. Einst meine Welt. Und sie wird wieder mir gehören!

»Du wolltest mit mir sprechen, Schwester, also sprich!«, fordere ich.

Sie greift nach einem blauen Buch mit goldenen Lettern, streicht zärtlich über den zerschlissenen Einband. Sie scheint es oft zu lesen. Ich höre das poröse Knistern der abgegriffenen Seiten. Ein altes Buch, so alt wie sie. Die Eishexe hebt den Blick. Ihre Augen, die meinen so ähnlich sind. »Die Zauber sind gebrochen. Du bist frei.«

»Das bin ich.«

»Niemand von uns konnte ahnen, dass es so kommen würde. Es wäre uns viel Leid erspart geblieben, wenn du nicht erwacht wärest. Uns allen. Auch dir.«

»Das Leid, das über euch kommt, habt ihr selbst heraufbeschworen.« Es ist kalt in ihrem Eispalast, doch ich spüre die Kälte kaum, so heiß brennt der Wunsch nach Rache in mir. »Habt ihr erwartet, ich würde euch verzeihen?«

»Wir haben erwartet, dass du nie wieder auferstehst«, gesteht die Eishexe und mustert mich neugierig. »Wer konnte schon ahnen, dass die Liebe für uns Feen wahrhaftig möglich ist? In all den Jahren habe ich nicht ein einziges Mal an den Lehren der Feenmutter gezweifelt.«

»Liebe.« Ich lache höhnisch auf.

»Du hast sie gefunden.«

Der Hexenjäger. Und Elle, kleine süße Elle … Das Lachen erstickt in meiner Kehle. Ich fixiere sie. Keine Regung zeichnet sich in ihrem Gesicht ab, ebenso wenig in meinem. Elle ist verloren, aber er lebt noch. Sie darf nicht wissen, was ich für den Hexenjäger empfinde. Er ist meine einzige Schwachstelle. Er ist nur ein Mensch, haucht die Königin in mir. Er wird dich verraten, so wie alle Menschen dich verraten haben.

»Ich habe gehört, was du zu Eva gesagt hast, bevor sie starb«, murmelt die Eishexe. »Über die Liebe, über den Schmerz und die Verletzlichkeit. Du hast sie geliebt, du hast Eva geliebt.«

»Was willst du von mir?«

»Ich will wissen, was mit dir geschehen ist. Ich will begreifen, wer du bist, denn du bist so menschlich.«

»Ich bin die Königin«, halte ich dagegen und in meinem Inneren höre ich sie kalt lachen. »Die Königin bin ich.«

»Nein«, sagt die Eishexe. »Nein, das glaube ich nicht.«

»Dann bist du eine Närrin!«

»In diesem Turm im Wald verloren wir einst unsere Unschuld und wurden zu dem, was wir heute sind«, fährt die Eishexe fort. »Aber du fandest an ebendiesem Ort zurück zu deinem ursprünglichen Wesen. Das Mädchen von früher – es ist wieder da. Ich verstehe nur nicht, warum ausgerechnet dir diese Gnade zuteilwird.«

»Wieso habt ihr mir meine Magie genommen?«, lenke ich ab und ignoriere ihre Worte.

Du hast sie geliebt, du hast Eva geliebt.

»Weil es zu schade um sie gewesen wäre«, lautet die einfache Antwort. »Und weil es die logische Konsequenz unseres Handelns war. Jede von uns nahm sich ein Stück, während du schliefst. Wie konnten wir ahnen, dass du im Gegenzug unsere Magie würdest beherrschen können? Sie ist vermischt mit deiner, deshalb gehorcht sie dir.«

»Nicht mehr«, knurre ich.

Die Eishexe nickt siegessicher, in ihren Augen sehe ich ein gefährliches Schimmern. Sie hebt die Hand. Auf ihr glänzt ein langer Kristallsplitter aus klarem Eis. »Du hast nicht bemerkt, wie ich ihn dir ins Herz stieß, so sehr warst du mit deinem Abschiedsschmerz beschäftigt. Betrachte es als Wiedergutmachung.«

Meine Hand fährt zur Brust. Ich reiße das Cape auf und die Rüstung darunter. Aus meiner linken Brust ragt das winzige Ende eines Splitters heraus.

»Du hast es gewagt«, zische ich und fasse ihn mit den Fingernägeln. Ich zerre daran. Glühend heißer Schmerz strahlt vom Herzen durch meine Adern. Ich keuche, ziehe stärker, doch der Splitter sitzt fest. Er rührt sich nicht.

»Ich dachte mir schon, dass du es nicht verstehen würdest.« Die Eishexe schüttelt bedauernd den Kopf. »Ohne Magie bist du deinem Wunsch nach Liebe so viel näher als je zuvor. Ich gebe dir die Chance, Lilith zu bleiben, das Mädchen mit den Träumen.«

»Was verstehst du schon von Träumen«, brülle ich. »Du, die du dich hier in der Abgeschiedenheit vor der Welt versteckst. Du weißt doch nichts von den Menschen, nichts von Liebe oder Träumen. Du weißt nichts von mir!«

Die Wimpern der Eishexe zucken ein paar Mal. Dann richtet sie sich auf.

»Du bist nicht die Einzige, Schwester, die je für einen Menschen Liebe empfunden hat.«

Ich stocke und in meinem Kopf entsteht ein Bild. Ihr Schwachpunkt, oh ja, jetzt erinnere ich mich. Jetzt weiß ich, wie ich sie leiden lassen kann.

»Rette ihn!«, keucht sie und zeigt mit ihren verbrannten Händen zu einem kleinen Jungen mit pechschwarzem Haar, der abseits kauert und das Flammenmeer aus schreckensbleichen Augen anstarrt. Er schwankt im Angesicht des Todes, er schwankt vor Angst. »Rette ihn!«

Ich teile die Flammen, weise ihm einen Weg, fort von dem Dorf, das dem Untergang geweiht ist und all den brennenden, kreischenden Menschen. Er flieht stolpernd, auf viel zu kurzen Beinen, die ihn nicht schnell genug tragen. Die Albträume werden ihn einholen.

»Doch du bist die Einzige«, fährt sie fort, »mit der Chance, diese Liebe zu leben, solange du ohne Macht bist.« Sie hebt den Blick von dem Eissplitter zu mir und ihre kalten blauen Augen sind unendlich klar. Sie sagen: Ich helfe dir. Ich gebe dir diese Chance. Auf Kosten deiner magischen Natur.

Und etwas in mir weint vor Dankbarkeit. Aber die Königin rast.

»Wie kannst du es wagen!«, brülle ich und schleudere der Eishexe den Globus entgegen. Noch im Flug wird er von ihrem Nordwind erfasst und beiseite gestoßen. Krachend landet er an dem Tor. Ich schreie und verfluche sie mit den schlimmsten Flüchen der Feengeschichte, reiße Bücher aus den Regalen und schleudere sie nach ihr. Sie lässt mich toben. Sie lässt mich fluchen. Ungerührt steht sie da und beobachtet den hilflosen Zorn der Königin.

»Entferne ihn!«, befehle ich.

»Nein.«

»Entferne ihn!«

Sie steht nur da, wie eine Statue aus Eis, wie einer ihrer verdammten Wölfe. Kalt, leblos und übermächtig. Und in meiner Wut begreife ich, dass ich nichts, aber auch gar nichts gegen sie ausrichten kann. Ich bin ihr ausgeliefert, die Macht der Königin durch einen eisigen Splitter gebändigt. Meine Lippen verziehen sich zu einem breiten Lächeln und dann bricht es aus mir heraus. Ich lache, laut und schwer. Es ist das Lachen der Königin.

»Du bist seltsam«, murmelt die Eishexe und lässt die Bücher zurück in die Regale tragen.

»Nein, Schwester. Ich bin zutiefst amüsiert.«

»So?«

»Die ganze Zeit frage ich mich, wie aus der feigen und schwachen Fee von einst eine solch mächtige und gefürchtete Herrscherin werden konnte. Jetzt habe ich es verstanden.« Ihr Gesicht wird ausdruckslos. Ob sie sich erinnert? An den Wald? An den Turm? Erinnert sie sich, wie erbärmlich sie war … ohne mich?

»Ich tue nur, was von mir erwartet wird«, sagt sie steif und in ihren Augen glüht der Zorn. »Ich bin eine Fee. So wie du.«

»Niemals hast du es gewagt, mir Widerstand zu leisten, Schwester«, unterbreche ich sie. »Du bist mir gefolgt, wohin ich auch ging, was ich auch tat, egal, wie viele ich tötete.« Ich blicke auf sie hinab. »Ich war deine Königin und werde es immer sein.«

»Du bist meine Schwester«, hält sie dagegen.

»Schwestern töten einander nicht!«, schreie ich.

»Ich habe dich nicht getötet.«

»Du hast mich verrotten lassen in diesem Turm! Und wenn das Schicksal nicht anders entschieden hätte, würde ich noch heute dort liegen, eingesperrt und vergessen von allen. Und du würdest in deinem eisigen Palast thronen und dich an deiner falschen Freiheit ergötzen.«

»Es ging nie um Freiheit.«

»Nicht?«

Die Eishexe schüttelt langsam den Kopf. »Es ging um Erlösung.«

»Erlösung.« Ich lasse das Wort auf meiner Zunge zergehen.

»Wie konnten wir uns anders von deiner Herrschaft befreien?«, fragt sie und von der mächtigsten Fee der neuen Zeit ist nicht mehr viel zu sehen.

War ich so grausam?, möchte ich fragen, doch die Königin reckt das Kinn empor. »Befreit.« Ich lache auf. »Fühlst du dich frei? Du versteckst dich wie ein jämmerliches Kind vor der Welt und den Menschen. Du fürchtest ihre Abneigung und das Leid, das du ihnen bereitest. Du erträgst deine Schuld nicht, hast sie nie ertragen.«

»Ich tue, was von mir verlangt wird«, ruft sie, doch es klingt wie ein verlorenes Mantra, an das sie sich verzweifelt zu klammern versucht.

»Verlangt? Von wem? Ich war fort, Schwester. All diese Menschen sind deine Opfer. Du bist schuld. Du trägst die Verantwortung.«

Sie schluckt und hebt den Blick. »Lilith?«

Ich keuche, weiche zurück. »Nenn mich nicht so!«

»Aber du bist es«, beharrt sie. »Schuld und Verantwortung kennt die Königin nicht. Sie kennt nur Rache.«

In mir tobt ein Sturm, Angst, Freude und Zorn. Ich weiche weiter, fliehe fast und stoße mit dem Rücken gegen ein Bücherregal.

»Du hast recht, Lilith«, fährt die Eishexe fort. »Niemand zwingt mich, das Monster zu sein, für das ich mich halte. Ich schicke den Nordwind und meine Wölfe. Ich töte und das nur aus einem Grund: Es ist das Einzige, was ich je lernte zu tun. Es ist das Einzige, was ich gut kann.«

»Du hast Marie im Brunnen beschützt«, wispere ich, ehe die Königin in mir aufschreit.

Etwas im Blick der Eishexe flackert auf. »Wenn alles falsch ist, was wir über uns lernten, wie können wir dann wissen, wozu wir bestimmt sind?«

»Du bist schwach«, knurrt die Königin in mir. »Du bist jämmerlich. Ich verachte dich.«

Die Lippen der Eishexe sind nicht mehr als eine schmale Linie. »Und doch stehst du jetzt hier vor mir und bist mir unterlegen.«

Ich nicke, doch in meinen Augen steht keine Anerkennung, nur die Verachtung der Königin. »Genieße den winzigen Moment deines Triumphes, Schwester. Er wird vergehen, so wie du. Kein Buch und keine Geschichte, nicht ein einziges Wort wird an deine jämmerliche Existenz erinnern. Nein, ich werde dafür sorgen, dass jede deiner Spuren von der Erdoberfläche getilgt wird!«

»Ich weiß, dass du irgendwo da drin bist, Lilith. Ich weiß es. Das bist nicht du.« Sie sieht mich lange an. »Du musst nicht die Königin sein.«

Doch ihre Worte erreichen mich nicht … nicht mich, nicht mich.

Höhnisch applaudierend starre ich sie an. Bei jedem Klatschen meiner Hände zuckt die Eishexe zusammen. Die Güte verschwindet aus ihrem Antlitz. Sie legt das blaue Buch auf einen Bücherstapel. Ihre Hand zittert. Dann strafft sie den Rücken und vor mir steht die gefürchtetste Fee der neuen Zeit. Hoch hält sie den Kopf, die Augen glühen und sie trifft eine Entscheidung. »Ich werde Nachrichten an die verbliebenen Sechs schicken. Bei Anbruch der Nacht werden wir zu Gericht sitzen und dein Urteil fällen.«

»Gericht?«, höhne ich. »Urteil? Hast du noch nicht verstanden, dass es keine Gerechtigkeit gibt? Sie ist eine Lüge. Genau wie Liebe und Freundschaft. Und wie das Wort ›Schwester‹.«

Ohne mich zu beachten, wendet sie sich ab. »Das Schloss steht zu deiner freien Verfügung. Nutze die letzten Stunden deiner Freiheit!«

»Woher willst du schon wissen, was Freiheit ist, wo du doch in einem Gefängnis lebst«, rufe ich verächtlich und strebe der Flügeltür zu. Ich weiß, dass sie mir hinterhersieht. Die Fingerspitzen am Splitter in meiner Brust, verlasse ich das Heiligtum meiner ältesten Schwester und mit jedem Schritt, den ich mich von ihr und ihrer Magie entferne, spüre ich die Reue über meine Worte wachsen. Ich weiß, dass ich niemals die Chance haben werde, sie in die Arme zu schließen und ihr zu verzeihen, da die Nähe ihrer Macht das Monster in mir weckt.

Gemälde

Mein erster Gedanke ist Flucht. Ich stürze an den Wölfen vorbei, den Gang entlang. Mit jedem Schritt werde ich schneller, fliehe zwischen den Gemälden hindurch. Sie alle starren mich an, verfolgen mich.

Es gibt kein Entkommen.

Dennoch laufe ich weiter, folge dem Weg, den wir gekommen sind, hinaus zum Hof. Doch als ich durch die Türen breche und in die eisige Nacht stolpere, weiß ich, dass dies hier nicht der Ausweg ist. Ihr Schlitten ist verschwunden. Einsam thront der Brunnen in einem Feld aus jungfräulichem Schnee. Ich drehe mich im Kreis, meine Schritte knirschen. Hoch ragt die matte Silhouette der Bibliothek auf. Die Schneeflocken tanzen um mich herum. Mein Weg ist vom Schicksal bestimmt, oder besser: vom Orakel. Sie hat mich erwecken lassen und den Hexenjäger geschickt. Sie wird kommen. Genau wie die anderen Schwestern, jene, die noch nicht verloren sind, es aber sein werden. Es gehört alles zu ihrem Plan.

Die Sonne scheint hell über der sanften, goldenen Hügellandschaft, glitzert in den vergoldeten Giebeln und Turmspitzen der königlichen Stadt. Alles ist Gold – selbst die herbstlichen Blätter, das Korn auf den Wiesen und die Schilder der Soldaten, die noch nicht wissen, dass sie zum letzten Mal die schimmernde Sonne sehen. Ihre Stadt ist dem Untergang geweiht, denn nicht weit entfernt liegen die Feenkinder auf der Lauer. Heute werden sie ihre Fähigkeiten erproben. Heute werden sie eine Stadt dem Erdboden gleichmachen – und die Feenmutter stolz.

Wie auf ein geheimes Kommando erheben sich die schmalen Mädchen und laufen den Hang hinunter, nebeneinander auf die Stadt zu. Schon von Weitem erkennen sie das Entsetzen in den Augen der Soldaten. Sie kommen nicht dazu, um Hilfe zu rufen, denn auf den Wink des ersten Mädchens gehen ihre Körper in Flammen auf und ihre Schreie verwandeln sich in schmatzendes Gurgeln.

Die Kinder achten nicht auf die sterbenden Soldaten, von denen nichts als Asche bleibt. Sie schlüpfen durch das Tor ins Innere. Kaum erreichen sie die Straßen, als gellende Schreie die Luft erfüllen. Fluch um Fluch krallen sie sich die Leben. Feuer, Eis und Gift sickern durch die Stadt, dringen in die Häuser, vernichten alles und jeden. Schnell wachsende Dornenhecken versperren den verzweifelten Flüchtigen jeden Ausweg. Die Kinder kesseln sie ein, treiben sie zusammen.

Doch plötzlich erstarrt die älteste Schwester. Sie rührt sich nicht mehr. Vor ihr, unter der sterbenden Masse, sieht sie einen Jungen mit pechschwarzem Haar, einen besonderen Jungen. Sie kennt ihn aus ihrem ersten Leben. Aus ihrer Zeit, als sie noch keine Schwester war. Ehe die anderen Feenkinder sie hindern können, reißt sie den Jungen am Arm aus der Menge und fort von den Todgeweihten, fort von ihren Schwestern.

»Was machst du hier?«, presst sie hervor und zerrt ihn hinter eine Hausecke. »Verschwinde, verschwinde so schnell du kannst!«

Der Junge antwortet nicht. Bleich starrt er sie an, den Teufel in Feengestalt.

Er erkennt sie nicht, er weiß nicht, wer sie ist.

»Flieh!«, drängt die älteste Schwester mit Tränen in den Augen. »Um Himmels willen, flieh!«

Sie schubst ihn fort, er zögert, blickt sie noch einmal an. Dann, ohne sie zu erkennen, fährt er herum und flieht die entmenschlichte Straße entlang. Das Feenmädchen sieht ihm lange nach, ehe es sich umdreht und vollendet, was es begonnen hat. Eis und Tod bringt sie den Verbliebenen.

Sie sieht nicht, wie sich eine andere Schwester aus dem Rudel löst. Sie hört nicht den gemurmelten Fluch, hört nicht das Knistern der Flammen, das abrupte Ende der fliehenden Schritte. Selbst als die Feenkinder siegestrunken die Stätte ihres grausamen Ruhmes verlassen und die Älteste direkt durch den Aschehaufen läuft, der einmal der Junge mit den pechschwarzen Haaren war, erkennt sie ihn nicht.

Noch lange wird sie sich fragen, was aus ihm geworden ist. Noch lange wird sie an ihn denken und glauben, ihn gerettet zu haben. Niemand außer seiner Mörderin weiß die Wahrheit. Niemand außer seiner Mörderin und mir.

Mich zieht es hinein. Ich weiß nicht warum, aber etwas lockt mich in diesem Palast, in dem es keine Räume gibt und keine Türen. Ein Gang folgt dem nächsten, Dutzende weichen ab, doch führen sie alle zurück zur Bibliothek, und allmählich begreife ich, dass sie das Zentrum des Palastes bildet, dass alle verschlungenen Wege nur diesem Ziel dienen: zurück zu ihr. Der Palast ist nichts anderes als ein verlassenes, einsames Labyrinth. Wie das Herz seiner einzigen Bewohnerin.

Es gibt kein Entkommen, weder vor der Eishexe, noch vor dem Schicksal, das mir bestimmt ist.

Doch ich wandere weiter. Mich zieht es fort von dem Raum, in dem meine älteste Schwester ihr einsames Dasein fristet und ihre Jahre an zerfallende Seiten aus Papier verschwendet, bis sie selbst nichts weiter ist als eine schwindende Erinnerung.

Die Menschen auf den Gemälden lassen mich nie alleine. Von allen Seiten beobachten sie mich und es scheint, als könnte ich das Echo ihrer längst vergangenen Stimmen hören, wie sie über die seltsame Fremde tuscheln, die orientierungslos durch die Gänge irrt.

Ohne Ziel, so dachte ich, bis ich es finde.

Das Porträt hängt zwischen einer schwarzen Bäuerin und einem Greis mit wissendem Blick. Erst glaube ich, mich zu täuschen und trete näher. Helle Haut, blonde Haare und wässrige Augen. Die Mundwinkel hängen missmutig herab, die Schultern sind steif. Er sieht verängstigt aus und ich frage mich, ob ich je etwas für ihn hätte empfinden können? Ich hebe eine Hand zu den Lippen, die mich einst erweckten, streiche über die raue Farbe auf der Leinwand und spüre doch nichts.

»Ist er das?«

Ich fahre herum. Ich habe sie weder kommen hören noch ihre Magie gespürt. Die Eishexe sieht mich aufmerksam an.

»Ist das der Mann, der dich erweckte?«

»Ja«, sage ich und wende dem Prinzen auf dem Gemälde den Rücken zu. Ich ertrage den Blick aus seinen Augen nicht, vorwurfsvoll und ängstlich zugleich. »Wer schuf all diese Bilder?«

»Ich.« Sie tritt an die Wand und legt ihre schmale weiße Hand auf das Gesicht der schwarzen Bäuerin. »Ich male sie, um ihre Gesichter nicht zu vergessen.«

»Wer sind sie?«

»Menschen«, antwortet die Eishexe nur. »Hast du sie näher betrachtet? Hast du ihre schlichte Schönheit gesehen? Keiner gleicht dem anderen. Sie sind einzigartig. Sie sind perfekt in ihrer Unvollkommenheit. Siehst du diese Frau? Siehst du den Glanz in ihren Augen? Sie starb, um ihre Schwester zu retten … sie weiß nicht, dass sie zwei Flure weiter hängt. Sie weiß es nicht und deshalb ist da dieser Glanz. Sie glaubt über mich gesiegt zu haben und das macht sie glücklich, selbst im Tod. Ist das nicht seltsam?«

Ich blicke zum Porträt der Bäuerin. Ich sehe keinen Glanz. Ich sehe nichts als tote Leinwände. Doch ich begreife, dass jedes dieser Gemälde ein Opfer der Nordwinde ist, gebannt auf Papier für die Ewigkeit. Wie Wörter in Büchern …

»Es tut mir Leid, dass es ein so schnelles Ende nahm«, murmelt sie und blickt zu mir und sieht doch nicht mich an, sondern das Gemälde hinter mir. »Wir werden es nie erfahren, nicht wahr? Ob es die wahre Liebe für uns gibt. Für dich – und für uns. Ob er es war.«

Ich starre sie nur an, ich kann ihr nicht antworten. Was soll ich auch sagen? Dass ich seinen Tod nicht bedauere? Dass er mir nichts bedeutet? Dass ich ihr vergebe?

Sie nickt mir kurz zu, als würde sie verstehen. Ihr Blick ist sanft, dann wendet sie sich ab.

So leise, wie sie gekommen ist, verschwindet die Eishexe – ihr Schritt verklingt wie ein Seufzen, wie das Fallen des Schnees.

Ich blicke ihr nach, bis sie am Ende des Ganges verschwunden ist.

Langsam folge ich ihr, wie könnte ich auch nicht? Jeder Weg führt zum Ziel, einige brauchen länger, andere sind kürzer. Ich wähle den längsten, fort von der Magie meiner Schwester, die mein Blut zum Kochen bringt, mich reizt und juckt, mich lockt und quält. Ich steige in den höchsten Turm und stoße die gläsernen Fenster auf. Der Nordwind schlägt mir kalt entgegen, seine Magie umfließt mich, dann – ganz plötzlich – zieht er sich zurück und lässt mich alleine am Fenster hoch oben im Turm. Meine Schwester gibt mir Zeit, um klar zu sein. Sie lässt mir Zeit, mir, Lilith, und für einen gnädigen Moment schweigt die Königin und ich sehe hinab auf die Welt, der ich mehr Unglück als Glück brachte, und frage mich, wie ich jemals für meine Schuld aufkommen kann?

»Wer ist er?«, frage ich sie, während wir den Jungen mit den pechschwarzen Haaren aus unserem Versteck heraus beobachten. Wir liegen auf dem Bauch unter einem rot blühenden Sommerstrauch. Sie ist mir ganz nah. Ich höre ihren Atem und sehe die unterdrückten Tränen, die ihre Augen zum Schimmern bringen. Ich spüre ihre vernarbten Arme neben meinen, die noch nicht ganz verheilten Brandblasen.

»Mein Bruder«, flüstert sie. »Er entkam an dem Tag, als sie mich und meine Mutter auf die Scheiterhaufen brachten …«

Der kleine Junge steht abseits von den anderen Kindern. Er spielt mit einem Ast, zeichnet Figuren in den Sand. Er sieht einsam aus. Sein Gesicht ist ernst, der Blick verschlossen. Er hat schon großes Leid erlebt. Ich erinnere mich an ihn, wie er davonlief, fort von den Sterbenden im Dorf.

Sie wird unruhig, übermächtig wirkt der Wunsch in ihr, aufzuspringen, ihn in die Arme zu schließen und ihm zu versichern, dass es ihr gut geht, dass sie lebt, dass sie ihn liebt …

Doch ich hindere sie.

»Und dann?«, frage ich leise. »Was dann? Nehmen wir ihn mit in den Wald? Soll er zwischen den Geistern aufwachsen?«

Sie stöhnt und schließt die Augen. »Ich weiß es nicht …«

Eine Frau kommt aus dem großen Backsteingebäude, das hinter der großen Wiese liegt. Sie ruft die Kinder, sie alle gehorchen, auch der kleine Junge. Mit gesenktem Kopf folgt er den anderen. Die Frau wartet auf ihn, streicht ihm durch die Haare und sagt etwas Freundliches. Ich sehe sie lächeln.

»Er hat es gut hier«, sage ich leise. »Was könnten wir ihm schon bieten?«

Kaum hat sich die Tür hinter ihnen geschlossen, herrscht gespenstische Stille über den Wiesen. Nur dumpf klingen die Stimmen der Kinder durch die Fenster.

Sofort springt sie auf und flieht den Hang hinab.

»Nicht«, zische ich, doch sie ist schon fort. Schnell folge ich ihr, hole sie erst beim Baum ein und zerre sie dahinter. »Wenn sie uns sehen würden!«

Doch es interessiert sie nicht. Zitternd kniet sie nieder, greift nach dem Stock, den ihr Bruder vor wenigen Augenblicken noch hielt. Ich senke den Blick und sehe, was sie sieht.

»Er malt mich«, flüstert sie rau. »Er malt meinen Tod!«

Ich starre auf die Linien im Sand. Er malt Pfähle und Scheiterhaufen, brennende Körper und Flammen. Überall Flammen.

»Oh Gott.«

Ich sinke nieder und greife nach ihren Fingern. Kein Wort der Welt kann ihren Schmerz lindern. Ich hebe die Hand und lasse den Wind die gezeichneten Flammen ersticken, lasse die Pfähle verschwinden, den Rauch und das Reisig, lösche es aus und verändere es, bis sie Hand in Hand da stehen, er und sie und ihre Mutter, auf einer Wiese aus Blumen.

Sie schluchzt auf, Tränen fallen in den Sand. Aus ihnen lasse ich kleine Rosen wachsen, lasse sie ranken um das Bild, wie ein Herz.

Dann ziehe ich sie fort. Ich kann ein Bild verändern, nicht die Vergangenheit.

Während der Wald uns verschluckt, nimmt sie Abschied von ihrem alten Leben und von ihm.

Ankunft

Die Zeit der Rechtsprechung naht, der Nordwind ruft mich und ich weiß, dass ich erwartet werde. Ich erhebe mich von meinem einsamen Platz und straffe die Schultern. Herrscher kommen, Herrscher gehen. Stufe für Stufe steige ich hinab, vorbei an den hängenden Särgen, der Mitte zu. Es kommt, wie es kommen muss.

Ich weiß, wo ich hinmuss, hinaus auf den Hof. Hier werden sie kommen, eine nach der anderen. Der Schnee glimmt im ewigen Zwielicht des hohen Nordens. Faustdicke Flocken erfüllen die eiskalte Luft, tanzen in ihrem trügerischen Fall. Ich verkrieche mich tief in meinem roten Mantel. Der Duft des Hexenjägers haftet noch an ihm. Ich schließe die Augen und gestatte mir einen kurzen Moment der Erinnerung und der Schwäche.

Ob er mich vermisst? Oder bin ich nur ein Name auf seiner Liste? Er wollte mich töten, im letzten Moment unserer Reise, da wollte er mich töten. Weil er gesehen hat, wie ich wirklich bin, wie ich sein kann. Er hat die Königin gesehen, als ich die Meerhexe tötete.

Und seltsamerweise kann ich ihn verstehen. »Ich bin gefährlich.« Und wenn ich all meine Macht habe, dann kann mich niemand mehr aufhalten, auch nicht er.