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Karima Carmen Evelyn
aus dem Siepen

Der Geist
des Wolfes

Erzählung

R. G. Fischer

© 2016 by R. G. Fischer Verlag
Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: RGF
ISBN 978-3-8301-1706-3 EPUB

Wahrheit und Phantasie liegen sehr oft
nah beieinander. Es ist eine individuelle
Entscheidung, was ich glauben will.

Vorwort

Diese Geschichte bewegt sich zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Sie befasst sich sowohl mit real existierenden Lebewesen, als auch mit Wesen, die einer Kreation von Traum- und Wunschvorstellungen entsprungen sein können. Es geht in dieser Erzählung vorrangig um geistige, Erfahrungs- und Überwindungskraft in den jeweiligen Situationen.

Auf einer abenteuerlichen Reise suchen sich zwei sehr unterschiedliche Lebewesen. Das eine ist ein mit Bewusstsein existierendes, das andere ein sich seinem Instinkt hingebendes Lebewesen. Beide kommen sie aus ihrer eigenen gearteten Welt. Sie haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Natur und ihren jeweiligen Bezug zum Menschen.

Über teilweise reale Ereignisse und eine imaginäre Gedankenwelt beider Individuen erreichen sie letztendlich, viele Hindernisse überwindend, ihr angestrebtes Ziel.

Grau bis schwarz ist sein Fell, dunkel und scharf blicken seine Augen in die Ferne. Er hört jedes Geräusch und ortet es. Sein Körper bewegt sich geschmeidig und gewandt durch jegliche Landschaft. Geschickt schleicht er sich an seine Beute heran, ergreift sie in geschwinder Behändigkeit, im kurzen Kampf zum geschmackvollen Mahl. Wie oft schon hatte die zähe, unscheinbare, weibliche Person dieses Schauspiel von ferne beobachtet. Wie lange schon faszinierte sie dieses dunkle, doch irgendwie weise erscheinende Wesen. Es war ihr immer wieder ein neuer Reiz, eine neue Herausforderung, dieses Wesen kennen zu lernen, um es dann zu überwinden. Sie hatte sich immer der Gefahr, selber zum Opfer zu werden, ausgesetzt, doch bisher blieb das besondere Menü für jenes fellige Geschöpf aus.

Eines Tages im Sommer, es wehte für diese Jahreszeit ein viel zu kühler Wind, der Himmel wurde abwechselnd von weißen und grauen Wolken bedeckt, so dass die eigentliche Sonnenkraft nur hin und wieder zu spüren war. Sie, die Frau, die das Leben an sich als abenteuerlich und vielfältig empfand, wurde so zur Wahrheitssuchenden. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, dieses scheinbar gespaltene Lebewesen da draußen aufzusuchen, um es zu verstehen und zu überwinden. Dieses Bedürfnis, ja dieser Drang danach, entstammte einem subtilen Wissen in ihrem Innern, dass nur dieses Lebewesen ihre Wildheit und Unberechenbarkeit verstehen könne. Dem Wesen, welches ihre Sehnsucht nach Ruhe und Frieden stillen und ihren Zorn brechen könnte, wollte sie nun folgen. Sie war die Wahrheitssuchende, und dies war unvermeidlich mit einem Weltschmerz verbunden, der gespickt war mit der Sehnsucht und dem Willen nach Auflösung und Befreiung von dieser verdrehten Welt. In dieser Welt lebten beide auf ihre vorbestimmte Art und Weise.

An diesem das Wetter wechselnden Tag ging nun die Wahrheitssuchende jenes fellige Wesen aufspüren. Sie wusste nicht, warum sie sich gerade jetzt der Begegnung aussetzen wollte. Ein unbeschreibliches Verlangen ließ ihr keine Ruhe, sodass sie sich gleich auf den Weg machte. Entschieden und zielstrebig ging sie die Pfade, die ihr als richtig erschienen. Kein Hindernis wollte sie meiden. Und der Schmerz wurde größer und größer. Der Weg, den Wolf zu finden, sollte ein langer Weg werden. Länger als sie sich vorstellte. Sie durchquerte Felder, Wiesen und Wälder, begegnete anderen Tieren und einigen einzelnen Menschen, die ihr besonders interessant erschienen. So machte sie hier und da Rast und ließ sich auf aufschlussreiche Gespräche ein. Ihr wurde deutlich, dass alle Lebewesen etwas Gemeinsames hatten und zwar den unwiderstehlichen Drang sich fortzupflanzen und sich in jeglicher Weise dem Leben zu stellen, um dann am Ende zu sterben in der Hoffnung, in die wohl versprochene, wenn auch nicht bekannte Ewigkeit zu gelangen – oder vielleicht als ein neues Lebewesen zu inkarnieren. Die Gemeinschaft ist für den Menschen wie auch für Tiere von tragender Bedeutung, und sie ist entscheidend für das Überleben eines jeden Lebewesens. Dem Menschen ist das Fühlen und Denken zu eigen, das Tier jedoch treibt der Instinkt zum Überleben. All dies wusste die Wahrheitssuchende und je mehr sie erkannte, umso größer wurde die Begierde nach mehr Wissen und Erklärungen von scheinbar Unerklärlichem.

Das Wolfswesen hatte sich inzwischen in ein anderes Gebiet begeben. Seine Beute, welches es er bisher erlegt hatte, wurde von ihm verzehrt bis auf kleine Reste, die sich später andere Tiere holen würden.

Der Wolf trottete in einen Wald, der sich in die Berge hineinzog und hinter anderen Landschaften wieder verschwand. Dort befand sich ein Tal. dem eine besondere Bedeutung zugrunde lag. In alten Überlieferungen nannte man es das Tal der Verwandlungen und beschrieb es als einen Ort der Stille. Zu jenem Ort begab sich das Wolfswesen, um sich dort auszuruhen, seinen Artgenossen zu begegnen und seiner Bestimmung nachzugehen.

Wölfe weisen eine soziale Struktur auf, in der sich auf der einen Seite eine gelassene Kampfeslust und Großzügigkeit im Umgang mit den Artgenossen zeigt, zum anderen jedoch ein patriarchisches Gehabe ist, das keinen Nebenbuhler duldet. Nur das Bedürfnis des Rudelanführers gilt, und der Drang nach Kampf und Sieg kann ihn überwältigen, denn das ist sein Lebenselixier. Der Wolf war immer tiefer in den Wald eingedrungen, und die Stille des Waldes umgab ihn wie ein flauschiges Fell. Jedoch – je stiller der Wald, umso aufmerksamer wurde der Wolf. Der Platz seiner Artgenossen schien nicht weit entfernt zu sein. Seine Ohren hatte er empfindlich gespitzt, als hinter ihm ein jammerndes und gleich darauf ein wütendes Geheul ertönte. Das war auch für dieses Wolfswesen überraschend und doch ungewöhnlich. Im gleichmäßigen Laufschritt bewegte sich der Wolf weiter, die Sinnesorgane und seinen Körper aufs äußerste angespannt. Es raschelte, rauschte und zischte plötzlich, als würde direkt an seinem Ohr ein Blitz herabfahren. Instinktiv machte einen geschwinden Satz nach vorn, als würde er im Vorpreschen sich drehend durch die Luft wirbeln und schoss dann wie ein Pfeil in die Richtung, in der er das Geräusch wahrgenommen hatte. Ein markerschütterndes Geheul erklang. Gleich darauf war es sehr still und nichts schien sich mehr zu bewegen.

Die Wahrheitssuchende hatte inzwischen einige Gebiete erreicht, wo zuvor der Wolf sich aufgehalten hatte. Hier und da fand sie typische Spuren von ihm. Es waren immer Aasreste und Spuren, die er in der feuchten Erde zurückgelassen hatte. Einmal vernahm sie den scharfen Geruch seines Felles sehr intensiv an einer Stelle am Rande einer Lichtung. Der Platz am Rande schien ihr noch warm zu sein. Er konnte nicht so weit entfernt sein. Sie entschied sich nicht zu ruhen, sondern weiterzusuchen. Als wäre sie selber ein Wolf, spitze sie die Ohren und horchte auf jedes Geräusch, das sie vernehmen konnte. Vor einiger Zeit hatte sie den Wolf aus einer kleinen Entfernung erleben können, wie er in fliegender Geschwindigkeit seine Beute ergriff. In einem solchen Moment, wenn er die Beute erfasst hatte, erklang ein zunächst aggressives, dann aber jammerndes Geheul, welches fast menschlich klang. Er hatte seine Beute besiegt und erlegt. Doch die Wahrheitssuchende traute sich niemals an den Ort des Geschehens, denn sie fürchtete sich doch selber zum Opfer zu werden.