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Inhalt

– Ungefähre Vorlesezeit in Klammern –

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Inhalt

1. Alle Jahre wieder …

Matthias Claudius: Immer ein Lichtlein mehr (Gedicht)

Rudolf Kinau: Die Heimweh-Nacht (11 min)

Ulrich Fick: Es war zu laut (5 min)

Rudolf Hagelstange: Das junge Mitleid (7 min)

Stefan Andres: Moselweihnacht (12 min)

Pearl S. Buck: An jenem Morgen (7 min)

Nikolaj Lesskow: Der Heckrubel (40 min)

Renate Schupp: Das Bild der tausend Wünsche (9 min)

2. Hoffnungsgeschichten

Otto Ernst: Erwartung der Weihnacht (Gedicht)

Rudolf Irmler: Das Jesuskind kehrt heim (6 min)

Marie Hamsun: Ottar und der Stern (18 min)

Selma Lagerlöf: Die heilige Nacht (11 min)

Hans Bergel: … und Weihnacht ist überall (10 min)

3. Weihnachtsengel

Ursula Koch: Einen Engel wünsch ich dir (Gedicht)

Johannes Kuhn: Glauben Sie an Engel? (9 min)

Walter Benjamin: Ein Weihnachtsengel (3 min)

Fjodor M. Dostojewski: Der Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesu (10 min)

Ruth Lerp: Der goldene Engel (7 min)

Mathias Jeschke: Engel auf Probe (10 min)

4. Hirtengeschichten

Rudolf Alexander Schröder: Die Nacht der Hirten (Gedicht)

Max Bolliger: Eine Hirtenlegende (3 min)

Albrecht Gralle: Finstere Gestalten (6 min)

Gerhard Schneider: Die Geschichte vom Hirten Mathias (9 min)

5. Das Licht der Welt

Eduard Mörike: Die heilige Nacht (Gedicht)

Kurtmartin Magiera: Vor der Tür (6 min)

Werner Reiser: Es begann in Ägypten (15 min)

Dietrich Bonhoeffer: Uns ist ein Kind geboren (14 min)

Werner Reiser: Die drei Könige und ihre Knechte auf dem Heimweg (5 min)

Leo Tolstoi: Das Gottschauen (5 min)

Quellen

1. Alle Jahre wieder …

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Immer ein Lichtlein mehr

Immer ein Lichtlein mehr

im Kranz, den wir gewunden,

dass er leuchte uns so sehr

durch die dunklen Stunden.

Zwei und drei und dann vier!

Rund um den Kranz – welch ein Schimmer!

Und so leuchten auch wir,

und so leuchtet das Zimmer.

Und so leuchtet die Welt

langsam der Weihnacht entgegen.

Und der in Händen sie hält,

weiß um den Segen!

Matthias Claudius

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Die Heimweh-Nacht

Von Rudolf Kinau

„Ein Weihnachtsabend ohne Karpfen in guter Butter und Meerrettich“, sagt Julius Bahde, „das ist für mich überhaupt kein Weihnachtsabend!“ – „Aus Karpfen – oder Schollen oder Steinbutt mache ich mir gar nichts“, meint Paul Wittorf. – „Ich muss am heiligen Abend – muss ich Grünkohl mit Speck haben und hinterher ein paar Äpfel und Nüsse – sonst bin ich nicht zufrieden.“

„Ich brauche überhaupt kein Essen, kein warmes und kein kaltes – den Abend nicht“, sagt Hein Tiemann. „Wenn ich nur den Tannenbaum und die Lichter sehe, und kann ein paar Geschenke machen und höre mal ein kleines Lied – dann bin ich fein zuwege.“

„Aber es muss ein Lied vom Christkind sein!“ sagt Albert Harms. „Und muss ganz schlicht und einfach – von Kindern – gesungen werden. Denn Weihnachten ist nun doch mal das Fest der Kinder. Und wo keine Kinder im Hause sind …“

„Da werden die Großen wieder klein, und die Alten werden wieder kindisch!“, sagt Dieter Rolf. „Ich brauche jedenfalls keinen Kinderlärm und kein Görengeschrei um mich herum. Und ich brauche auch keinen Tannenbaum und keine Geschenke. Wenn ich nur im Hause bin und kann mit meinen Leuten in der warmen Stube sitzen, und kann mal ’n bisschen mit ihnen klönen – über alles, was so in der Welt passiert, dann will ich weiter gar nichts von Weihnachten haben.“

„Und ich bin am heiligen Abend ebenso gern auf See“, meint der alte Jochen Fock. „Oder bin irgendwo draußen – weit weg – und ganz allein. Und komm mal wieder zum Nachdenken über mich selbst. Und habe mal wieder richtiges Heimweh nach … nach früher – als ich noch jung – und als wir noch Kinder waren.“

„O Gott, ne – bloß das nicht!“, sagt Klaus Wulf. „Bloß nicht Weihnachten draußen sein! Bei den andern Festen, da will ich das noch gar nicht mal sagen, da kommt es mir auch nicht so genau darauf an. Ostern und Pfingsten und Verlobung und Geburtstag und Jubiläum und all so’n Kram, das kann man auch ebenso gut draußen und überall feiern. Aber Weihnachten …? Ne! Weihnachten muss ich im Hause sein. Weihnachten ist ein deutsches Fest – durch und durch. Das wird sonst nirgends so schön gefeiert wie bei uns.“

Sieben Mann, und jeder sagt was anderes. Und alle haben sie Recht – – –

Aber ich glaube, der alte Jochen Fock meint doch das Beste.

Heimweh – das ist es, was wir wohl alle haben oder haben möchten, am 24. Dezember. „Heimweh nach – früher – als wir noch jung, als wir noch Kinder waren.“ Und darum wird dieser Abend wohl auch immer ein „heiliger“ Abend bleiben, auch wenn die Menschen nicht mehr an das Christkind glauben. Es wird immer eine „Weihnacht“ – eine „Heimweh-Nacht“ bleiben – ein Abend und eine Nacht, wo sich jeder Mensch etwas wünscht und sich nach irgendetwas sehnt.

Wer draußen – im Kampf und in der Not ist, der möchte nach Hause und möchte den Frieden und die Freude. – Wer gesund und übersatt und reichlich warm daheim sitzt, der möchte zu Weihnachten mal hinaus in den Sturm. – Wer noch Kind ist, der möchte schon groß sein. – Wer schon alt ist, der möchte wieder jung sein, oder doch mitten im Leben stehen und die letzte Hälfte noch einmal wieder vor sich haben. – Wer arm ist, der möchte – wenigstens zu Weihnachten – gern mal reich sein und mit vollen Händen schenken können. – Wer reich und verwöhnt ist, der möchte Weihnachten gern mal arm und einfach sein und möchte wieder an Märchen und Wunder glauben. Jeder von uns hat zu Weihnachten – neben den kleinen – auch noch irgendeinen großen unerfüllbaren Wunsch, oder hat eine heiße unbändige Sehnsucht, oder – hat ein großes schönes Heimweh – – nach Hause oder nach draußen.

Und das ist auch gut so. Das müssen wir haben. „Weil da sonst etwas fehlt“, sagt Adelheid Achner. Und die muss es wissen, denn – sie hat es ausprobiert.

Adelheid hat sieben große Kinder, alle weit im Land und in der ganzen Welt verstreut. Und wünschte sich zwanzig Jahre lang nichts weiter zu Weihnachten als: dass sie noch mal alle wieder am heiligen Abend bei ihr zu Hause wären! – Sie kamen gern, sie kamen von ganz weit her und brachten viel Freude mit – aber sie kamen niemals alle zugleich – eins oder zwei fehlten fast immer, Jahr für Jahr. Und als es dann doch endlich soweit war, als sie endlich mal wieder alle sieben zugleich mit der Mutter unter dem Tannenbaum saßen – da war die alte Adelheid Achner ganz benommen und benaut. Und als die Kinder fragten, was sie denn eigentlich hätte, da meinte sie traurig: „Ich weiß ja gar nicht, wo ich denn nun heute hindenken soll –? Ihr seid ja alle so dicht bei mir.“ – Und sagte am nächsten Morgen zu ihrer Nachbarin:

„Ach ne, – das ist doch auch nicht das rechte. Wenn am Weihnachtsabend keiner fehlt – dann – dann fehlt da was!“

Und so geht es vielen von uns, auch wenn wir es nicht gleich so sagen. Etwas Heimweh muss dabei sein, und ist auch immer dabei. Da kann einer sagen, was er will – und wenn er noch so hart und hölzern ist. – –

Ich denke da wieder an einen Weihnachtsabend – im Seemannsheim in Bremen: Etwa vierzig wetterfeste Fahrensleute – von mindestens zehn verschiedenen Schiffen – viele wilde, verwegene Gestalten darunter – sitzen alle wie Kinder um einen großen Tisch, hören eine kurze kernige Ansprache, singen mit rauen Kehlen – so gut es gehen will – ein paar Lieder, und gucken mit großen hungrigen Augen – nicht immer nach den Lichtern, sondern viel mehr noch – nach den sechs jungen Frauen und Mädchen, die zuerst wie Engel unter dem Baum gestanden haben, und die nun – freundlich lächelnd und zum Greifen nahe – mit Kaffee und Kuchen kommen, und die ihnen Äpfel und Nüsse bringen, und die dann noch jedem einzelnen ein riesiges Paket auf den Tisch legen: „Frohes Fest! Und auch weiterhin: Guten Wind und gute Fahrt!“ – „Danke! Danke schön! – Ook velen Dank!“

Es gibt ein großes Auspacken und ein lautes Wundern und Freuen. – Dann dringt von vorne her wieder die Stimme des Hausvaters durch: „Ja, und nun mal alle herhören! – Nun habe ich hier noch ein kleines Päckchen – das ist uns mit der Post zugestellt, von irgendwoher – und da steht drauf: , An das Seemannsheim in Bremen – als Weihnachtsgabe für den Seemann, der am längsten von zu Hause weg ist!‘“

Alles guckt und grient und tuschelt, aber keiner meldet sich.

„Wir können das wohl am besten feststellen“, sagt der Hausvater, „wenn ich von hier aus mal eben frage: Wer ist länger als zwei Jahre von zu Hause weg? – Mal die Hand hoch, bitte!“

Er guckt die lange Reihe herum und zählt: „Zwei, vier, sechs, zehn, zwölf Mann! – Gut, danke! – Nu mal weiter: Wer ist länger als drei Jahre weg? – – Zwei, vier, sechs Mann! – – – Länger als vier Jahre? – – Drei Mann noch! – – – Länger als fünf Jahre? – Einer noch!“ Ein kleiner rothaariger Seemann mit Sommersprossen und hellen Augen.

„Na – wie lange?“, fragt der Hausvater.

„Acht und ’n halb!“, sagt der Kleine, und sagt es laut und stolz, und sitzt noch etwas gerader als vorher, und hält die Hand noch immer steil in die Luft.

„Acht und ’n halbes Jahr“, wiederholt der Hausvater ruhig und anerkennend, und kommt ein paar Schritte näher: „Das ist eine lange Zeit. – Woher sind Sie denn? – Aus welcher Ecke – –?“

„Ich bin aus – aus der Gegend von Sonderburg!“ Er lässt den Arm sinken.

„Sonderburg – Nordschleswig – aber das ist doch gar nicht so weit –? Da könnten Sie doch leicht mal – von Hamburg oder von Kiel aus …? Haben Sie denn keine Eltern oder keine Angehörigen mehr?“

Der Rothaarige wird etwas unsicher: „Vater ist tot – und meine Geschwister sind alle weit auseinander – –“

„Und Ihre Mutter –?“

„Mutter – –?“ Er dreht den Kopf zur Seite als wenn er ausspucken möchte. Dann guckt er wieder gradeaus und sagt hart und laut: „Mutter hat wieder geheiratet – hat einen Dänen genommen – Haus und Hof und alles ist dänisch geworden! Was soll ich denn da?“

Alles hält den Atem an.

„Aber Ihre Mutter ist doch immer noch – Ihre Mutter!“, sagt der Hausvater.

„Und wenn sie noch da ist, und noch lebt? Haben Sie denn wenigstens inzwischen immer mal geschrieben?“

Der Rote guckt auf seine klobigen Hände und schüttelt den Kopf: „Nein, auch nicht! Kein Wort!“

„Aber, das hätten Sie doch tun müssen!“, sagt der Hausvater freundlich. „Schreiben hätten Sie doch mal müssen, Herr … Wie war doch Ihr Name?“

„Erichsen!“ – – –

Da steht gegenüber am Tisch ein baumlanger Seemann auf und schiebt sein Paket zur Seite und fragt: „Bist du der Henning Erichsen aus Söderup bei Sonderburg?“

„Bin ich, ja! Was denn?“

„Wirklich? Du, dann soll ich dich grüßen – von deiner Mutter! Und soll dir – – Augenblick mal! – und soll dir diesen Brief geben. – Hier, fass an! Von deiner Mutter!“

Nun steht der Rothaarige auch auf und stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch: „Von meiner Mutter? Wie kommst du dazu? – Ich kenne dich ja gar nicht!“

„Ne“, sagt der andere, „ich kenne dich auch nicht, hab’ dich nie gesehen. Aber – dein Stiefvater, der zweite Mann von deiner Mutter – das ist mein Onkel. Und ich bin jetzt im Oktober – bin ich noch mal da gewesen – einen ganzen Tag war ich da – und ich habe lange mit ihm und mit deiner Mutter geklönt. Sie sprechen viel von dir, und denken oft an dich. Und deine Mutter wartet Tag und Nacht – du möchtest doch mal kommen, oder möchtest doch mal schreiben. – – Und darum hat sie mir diesen Brief mitgegeben und hat gesagt: Wenn ich dich mal treffen sollte – irgendwo in der weiten Welt. – – – Komm – hier – fass an!“

Der Kleine langt mit zitternder Hand nach dem Brief und beguckt ihn von allen Seiten und legt ihn vor sich auf den Tisch. Und setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.

Keiner mag sich rühren.

„Und hier ist denn auch das kleine Päckchen“, sagt der Hausvater. Das ist denn also auch für Sie, Herr Erichsen! Für den Seemann, der am längsten von zu Hause weg ist!“ Und er öffnet selbst den Knoten und wickelt es aus: „Ein Kasten Schreibpapier und ein paar Postkarten und ein Bleistift!“ – Und legt es ihm – ohne ein Wort weiter zu sagen – neben seinen Brief.

„Danke!“ sagt Henning Erichsen. Und er sagt es ganz leise und weich und nickt ein paar Mal mit dem Kopf und guckt wieder auf den Brief.

Und dann – dann geht der Hausvater wieder nach vorn und gibt den Ton an. Und dann – dann singen sie alle – mit rauen Kehlen – so gut wie sie können: „Dies ist der Tag, den Gott gemacht – –!“

Wir haben zu Weihnachten alle etwas Heimweh – nach Hause, und nach – „früher, als wir noch Kinder waren.“

Und darum wird unser Weihnachten auch immer ein „heiliger Abend“ und eine „stille Nacht“ bleiben.

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Es war zu laut

Von Ulrich Fick

Wir alle haben in diesen Wochen mehr als genug zu tun, um Weihnachten vorzubereiten. Bei manchen besteht das einfach darin, dass sie einkaufen. Bei anderen ist es ein wenig mehr oder viel mehr. Besuch wird kommen. Betten werden überzogen, Zimmer bestellt. Pakete müssen zur Post. Oder man wird wegfahren. Fahrkarten, Quartier, Reisevorbereitungen. Andere wieder haben ganz unmittelbar mit dem Feiern des Festes zu tun. Chöre proben. Spiele werden einstudiert.

Ein paar Jahrzehnte älter

Ich erinnere mich an die vielen Weihnachtsspiele, bei denen ich mitgespielt oder die ich mit anderen geprobt und aufgeführt habe. Bei manchen Szenen, an die ich mich erinnere, frage ich mich heute, ein paar Jahrzehnte älter, ob das eigentlich stimmt, was man damals auswendig gelernt, vorgetragen und dargestellt hat.

Zum Beispiel: Nehmen Sie dieses Bild von der Herbergssuche. Da kommen Maria und Josef müde und zu spät nach Bethlehem. Es ist kalt, Türen und Fenster sind zu, die Straßen sind menschenleer. Josef klopft an Türen und Fenster, und der Wirt antwortet nur mürrisch von innen, oder er steckt seinen verschlafenen Kopf zum Fenster heraus: Nein, es ist kein Platz. Und Josef und Maria ziehen weiter durch die Nacht, kalt und verlassen in einer Stadt, die keinen Raum für sie hat. Das ist eine Szene aus der Weihnachtsgeschichte, wie wir sie alle kennen.

Ich frage mich, ob sie stimmt. Denn warum hatte Bethlehem keinen Platz für die beiden? Weil es überfüllt war. Es wimmelte von Menschen, die zur Volkszählung kommen mussten. Jeder hatte Verwandtschaft im Haus. Familienangehörige, die sich lange nicht mehr gesehen hatten, begegneten sich wieder. Die engen Gassen hallten wider vom Geschrei und Gedränge. Straßenhändler priesen ihre Waren an. Ein orientalischer Basar, wo es nachts erst lebendig wird, wenn die Tageshitze ein wenig nachgelassen hat.

Wenn ich heute ein Weihnachtsspiel aufzuführen hätte, dann würden bei mir Maria und Josef nicht durch fröstelnd leere Gassen wandern, in denen jeder einzelne Schritt gefährlich widerhallt, – nein, sie würden sich mühsam durch die Mengen drängen, geschoben, gestoßen, mitten im Gewühl des Basars von Bethlehem. Sie würden fast nicht zu sehen sein im Gedränge – Vorsicht, da läuft einer mit einer schweren Last auf dem Kopf, und dort kommen andere mit Körben und Taschen, Hühner gackern in Tragekörben, man riecht den Knoblauch und das Hammelfett. So wie es in den Fußgängerzonen unserer Innenstädte heute nach Bratwürsten, Glühwein und Pfefferkuchen riecht, so dicht ist alles, und so hektisch wie heute in den Lebensmittelabteilungen der Kaufhäuser.

Es war zu laut

Und das ist erst eigentlich die Erklärung dafür, warum die Leute von Bethlehem keinen Platz für den Sohn Gottes hatten, der bei ihnen zur Welt kommen sollte. Die Leute waren nicht zu verschlafen – sie waren zu beschäftigt. Es war nicht zu still – es war zu laut. Alles rannte herum, raffte, gaffte, kaufte, verkaufte, bereitete sich vor auf andere Besucher, zählte den Gewinn zusammen oder überschlug den Verlust – und alle stöhnten unter der Last dessen, was noch zu erledigen war …

Das Bethlehem, in dem wir wohnen, hat sich darin nicht geändert. Vielleicht ist es so: Gott findet keinen Platz, weil jede Ecke schon für etwas anderes reserviert ist. Gott findet keine Zeit, weil jede Minute schon anderweitig verplant ist. Gott findet kein Gehör, weil wir pausenlos andere Nachrichten empfangen und verarbeiten müssen. Gott findet keine Herzen, weil sie schon ausgefüllt sind von dem, was wichtiger ist.

Kein Raum in der Herberge …

Das ist nicht das stille nächtliche Bethlehem, das ist der Supermarkt unseres Lebens, durch den wir ständig unseren leeren und gefüllten und wieder geleerten Einkaufskarren schieben …

Die Gefahr ist groß, dass wir Gott übersehen, vielleicht in den Menschen, in denen er uns begegnen will – so wie man ihn in Bethlehem übersah. Alle Reklamen sind lauter, alle Weihnachtsmänner sind fröhlicher. Und doch ist Gott ganz nah. Uns so nah wie jenen Menschen in der Stadt Davids, die keinen Platz für ihn hatten. Leute sind unterwegs, die weder etwas verkaufen noch kaufen, sondern die Gott selbst in unser Leben bringen wollen.

Um Himmels willen, bemerkt sie, und lasst sie ein!

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Das junge Mitleid

Von Rudolf Hagelstange

Es war in den späten Nachmittagsstunden des Heiligabend, und Andreas war vielleicht zehn Jahre alt, als ihm seine Mutter auftrug, ein kleines Päckchen in ein Altersheim zu bringen, das, am Rande der Stadt gelegen, unter vielen anderen Insassen auch eine alte Dame beherbergte, die seit etlichen Jahren gewisse Näharbeiten für die Mutter des Andreas ausführte.

Andreas machte sich auf den Weg, guter Dinge und gefügiger als sonst, weil er wohl wusste, dass seine Abwesenheit der mütterlichen Liebe dazu diente, seinen Gabentisch mit Sorgfalt herzurichten, und weil die Zeit ungeduldigen Wartens durch solche Gänge beschleunigt zu werden schien. Die Straßen wurden schon menschenleer, hier und dort erglänzte das zittrige Licht eines entzündeten Tannenbaums durch die verhängten Fenster, und der frische Schnee, der den schmutzigen, alten in dichten Wirbeln zudeckte, machte die kleine Wanderung zu einem echten Vergnügen.

Andreas stapfte munter dahin, das kleine Päckchen unter den Arm geklemmt, den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben, und war seinem Ziele bis auf einige hundert Meter genaht, als ihn plötzlich ein Stöhnen, wie von einem verwundeten Tiere, erschreckte und innehalten ließ. Er lauschte und blickte sich um. Die Straße war nur spärlich erhellt, und der Schnee fiel dicht. Schließlich – er konnte nicht hindern, dass sein Knabenherz schneller schlug – hörte er ein zweites Mal denselben Laut, und ihm wollte scheinen, dass er von der gegenüberliegenden Straßenseite käme, wo der Junge im Dunkel einen noch