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Anne Grasse

Sehnsucht nach Freiheit





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

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 Sehnsucht nach Freiheit

 

 

   

 ein historischer Piratenroman

 

 

von

 

 

Anne Grasse

 

  

komplett überarbeitete Fassung (2020)

 

 

Mit herzlichen Dank an Sandy Fischer für das wunderschöne Cover

 

Ebenso ein großes Dankeschön an 'Sandra Linke Wortnörgler' für die tolle Hilfe, sowie den vielen Hinweisen und lektorischen Tipps.

 

Prolog

Auf dem großen Platz mitten in London drängten sich die Menschen. Selbst der laute Glockenschlag der nahen Kirche, der die achte Stunde anzeigte, ging in dem Stimmengewirr fast unter. Nur rechts und links des breiten Eingangstores, auf den beiden breiten Tribünen, war es deutlich stiller. Auf der einen befanden sich die wohlhabenderen Bürger, die sich einen Sitzplatz leisten konnten, die andere war den Mitgliedern des Adels vorbehalten.

In der Mitte des Platzes stand unheimlich und faszinierend zugleich der große Galgen. Und direkt daneben, stumm und unbeweglich die maskierte Gestalt des Henkers. Als die acht Glockenschläge verklangen, wandten sich alle Gesichter dem breiten Gang zu, der von den britischen Soldaten freigehalten wurde. Zwei von ihnen führten ein kleines Mädchen bis dicht vor den Galgen. Verwundert sahen die Menschen auf die schmächtige, armselige Gestalt. Ein paar Frauen schlugen mitleidig das Kreuz.

Das etwa vierjährige Mädchen war totenblass. Dadurch erschienen die dunklen, verängstigten Augen noch größer in dem kleinen Gesichtchen. Sein Blick irrte über die Menschenmenge, während es unbarmherzig von den Soldaten bis zu den Stufen, die zum Galgen hinaufführten, gezerrt wurde.

Hinter dem Galgen begannen die Trommler zu schlagen. Dumpf hallten die lauten Töne über den Platz. Kurz wurde es leiser in der Menschenmenge. Dann erschollen die ersten Rufe: „Da! Seht! Sie bringen ihn.“

Mehrere Soldaten führten einen Mann heran, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Das kleine Mädchen richtete sich auf und wollte zu ihm laufen, wurde von den Soldaten jedoch sofort festgehalten.

„Bleib stehen, Göre!“

Gonzales Karemindaz, der Gefangene, presste kurz die Lippen zusammen, als er seine Tochter entdeckte. Während der bis dahin so gefürchtete spanische Pirat an ihr vorbeigeführt wurde, flüsterte er fast lautlos zwei Worte: „Sei tapfer“. Nicht einmal die Soldaten hörten es, aber die kleine Inez las die Worte von seinen Lippen. Ihr schmächtiger Körper straffte sich. Als der Henker ihrem Vater die schwarze Kapuze überstreifte, verkrampfte sich ihr Magen vor Kummer und Entsetzen. Ihre kleinen Fäuste schmerzten, so fest presste sie die Finger zusammen, doch ihr entfuhr kein Laut. Stumm und starr sah sie zu, wie der Vater gehenkt wurde.

Inez wusste nicht, wie viele Schiffe durch den Piraten versenkt, und wie viele Menschen durch seine Hand getötet worden waren. In ihre junge Seele brannten sich die Bilder des sterbenden Vaters ein – und des dabei jubelnden Volkes. Ebenso wie es immer wieder den gräßlich zugerichteten Leichnam der Mutter vor Augen hatte, die bei dem Angriff der britischen Soldaten tapfer an der Seite der Männer gekämpft hatte.

 

Auf der Zuschauertribüne saßen auch Lord Couland und seine Gattin, Lady Marian Couland. Die anmutige, schöne Frau betrachtete fasziniert das Mädchen, das bewegungslos und bleich vor dem Galgen stand. Der Anblick löste ein seltsames, unbekanntes Gefühl in ihr aus. Sie atmete schneller und konnte die Augen nicht von der kleinen Gestalt abwenden.

„Wer ist dieses Kind?“ flüsterte sie ihrem Gatten zu.

„Die Tochter dieser Bestie“, erwiderte er bissig. „Die kleine Ratte gehört ebenfalls an den Galgen. Aber Seine Majestät möchte nicht, dass Kinder öffentlich getötet werden.“

Deshalb hatte er sich gehütet, seine Meinung laut zu äußern. Mit seinen knapp über vierzig Jahren war er einer der jüngsten Berater des Königs und würde diese einflussreiche Stellung garantiert nicht aufs Spiel setzen.

„Was ist mit dir? Du wirst doch nicht unwohl werden? Heute Abend ist im Palast ein großer Empfang. Ich brauche dich dort. Du weißt, der König liebt es, mit den Gattinnen seiner Berater zu plaudern.“ Mehr verärgert, als besorgt über die Blässe seiner Gattin, musterte Lord Couland sie.

„Natürlich. Es ist nichts. Selbstverständlich werde ich mit dir dorthin gehen.“ Lady Couland riss sich zusammen. Doch von der Hinrichtung des spanischen Piraten bekam sie kaum etwas mit. Ihre Augen sahen nur das blasse Kind.

 

Lady Couland amüsierte sich prächtig auf dem Ball des Königs. Ihre Schönheit wurde ebenso wie ihre Klugheit von vielen bewundert. Sie verstand es, sich weiblich zurückhaltend zu geben und dennoch ihre Meinung zu den meisten politischen wie gesellschaftlichen Themen selbstbewusst zu vertreten.

Der König lehnte sich interessiert zu ihr: „Ihr glaubt wirklich, Kinder aus niederen Schichten könnten tatsächlich wertvolle, nützliche Menschen werden?“

„Ich bin davon überzeugt, Euer Majestät. Heute Morgen erst habe ich darüber nachgedacht, als ich ein kleines Mädchen sah. Sie ist wohl die Tochter dieses grässlichen Piraten, der endlich gefasst und hingerichtet wurde. Ich bin sicher, mit einer guten Erziehung würde aus diesem Kind eine wohlerzogene, junge Dame.“

Nachdenklich schaute der Herrscher in ihre schönen, klaren Augen. „Aber in welchem Haus – und es müsste ja wohl ein gebildeter Haushalt sein – wäre eine solche Kreatur willkommen?“

Einen Moment zögerte Lady Marian noch. Ihr Blick streifte den Rücken ihres Mannes, der sich gerade mit einem hohen Militäroffizier unterhielt. „Ich habe mit meinem Gatten noch nicht darüber gesprochen, wäre jedoch gerne bereit, diese Aufgabe auf mich zu nehmen. Sind wir als gebildete Menschen nicht geradezu verpflichtet, solch minderwertigen Geschöpfen zu helfen, taugliche, nutzbringende Mitglieder der Gesellschaft zu werden?“

Niemals würde sie zugeben, dass sie das kleine Mädchen einfach nicht vergessen konnte. Es hatte eine unbändige Sehnsucht in ihr geweckt. Seit Jahren hoffte Lady Marian vergebens darauf, einem Kind das Leben zu schenken. Sie konnte sich selbst nicht erklären, weshalb ausgerechnet dieses kleine, verdreckte, schwarzhaarige Mädchen ihren Kummer neu entfacht hatte. Aber sie wünschte sich innig, diesem Kind eine Zukunft und vor allem die Liebe einer Mutter geben zu können.

„Ein bemerkenswerter Gedanke, Lady Couland. Es wäre sehr interessant zu beobachten, wie ein solches Kind sich in einer gebildeten Umgebung entwickelt. Die Idee gefällt mir immer besser. Ich werde mich mit Lord Couland darüber beraten. Doch die Kapelle beginnt wieder zu spielen. Sicher wartet schon ein Tanzpartner auf Euch. Ich werde Euch nicht länger um Euer Vergnügen bringen.“ Der König küsste ihr lächelnd die Hand und Lady Marian erhob sich gehorsam.

 

Wenige Tage später holte die Leiterin des Armenhauses, in das Inez sofort nach dem Tod ihres Vaters gebracht worden war, das Kind in die Küche. Sie stellte ihr einen großen Teller Suppe mit Brot hin. „Iss!“

Inez schlang das Essen hungrig hinunter. Etwas ängstlich folgte sie der Frau dann in den Nebenraum, in dem eine große Wanne stand, aus der Dampf aufstieg.

„Na, los! Rein mit dir. Du wirst abgeholt und sollst sauber sein.“

Die harten Hände rubbelten sie derart schmerzhaft ab, dass Inez kaum ein Wimmern unterdrücken konnte. Nachdem sie saubere Kleidung angezogen hatte, schubste die Frau sie zum Hauseingang. Ein Mann stand wartend dort.

„Das ist die Kleine.“

Der Mann nickte und zog Inez zu einer Kutsche. Er hob sie hinein und setzte sich ihr gegenüber. Streng musterte er sie: „Du wirst dich anständig und respektvoll verhalten. Wage es nicht, einfach loszuplappern! Du schweigst, solange du nicht angesprochen wirst. Und wenn du etwas gefragt wirst, antworte offen und ehrlich. Hast du das verstanden?“

Verschüchtert nickte Inez. Der Mann meinte abfällig: „Kannst du dich überhaupt englisch ausdrücken? Nun los, sag etwas!“

Wieder nickte sie erst stumm, dann brachte sie leise und stockend hervor: „Ich spreche englisch.“

„Was für ein grässlicher Akzent. Ich weiß wirklich nicht, was Ihre Ladyschaft sich dabei gedacht hat“, seufzte der Mann.

Als die Kutsche endlich hielt, kletterte Inez vorsichtig die steilen Stufen hinunter. Dann staunte sie bewundernd die große Villa an, die inmitten eines herrlichen Gartens lag.

„Hör auf zu starren und komm!“

Durch einen schmalen Seiteneingang führte der Mann Inez hinein und schubste sie vor sich her in den großen Ballsaal. Tief verbeugte er sich: „Euer Majestät, Mylord, Mylady. Hier ist das Kind.“

Der König, in dem breiten, extra für ihn herbeigeschafften herrschaftlichen Sessel, musterte neugierig das kleine Mädchen. Inez sah ihm direkt in die Augen. Der Bedienstete stieß ihr hart in den Rücken. „Los, verbeuge dich endlich, dummes Ding.“

Lady Marian stand auf. „Bitte, Euer Majestät. Die Kleine hat noch keine Ahnung von anständigem Benehmen, wie Ihr seht. Wenn Ihr Euch einen Moment gedulden würdet.“ Sie wartete kaum dessen Nicken ab und beugte sich leicht zu Inez hinunter. „Ich bin Lady Marian Couland, meine Kleine. Du musst vor dem König einen Knicks machen. Weißt du, wie das geht?“

Inez blickte die Frau vor sich erstaunt an. Ihre Stimme klang so lieb und freundlich, ganz anders als die harten, schrillen Befehle der Frauen im Armenhaus. Und sie war wunderschön. Sie nickte und knickste leicht.

Lady Couland lobte sie: „Das hast du sehr gut gemacht. Jetzt noch einmal zum König, so tief du es kannst.“ Sie drehte das Kind wieder zu dem Herrscher. Inez beugte das Knie, bis es fast den Boden berührte.

„Seht Ihr, Majestät? Sie ist willig und lerneifrig.“

„Es scheint so“, wohlwollend lächelte der König Lady Couland an. „Wo war das Kind inzwischen untergebracht?“

Während die Erwachsenen sprachen, sah Inez sich verstohlen um. Außer den Dienstboten befand noch ein vornehm gekleideter Mann im Raum. Fasziniert betrachtete sie die vielen Fältchen seines breiten Hemdkragens. Als sich jedoch seine Augen auf sie hefteten, wich Inez erschrocken zurück. In ihnen stand Wut und Abscheu. Sie wagte nicht mehr aufzuschauen, bis sich eine weiche Hand auf ihre Schulter legte.

„Komm, mein Kind. Ich zeige dir dein Zimmer.“ Lady Couland lächelte sie liebevoll an und nahm ihre Hand. Verblüfft betrachtete Inez den großen, herrlich ausgestatteten Raum, in den sie geführt wurde. Er war noch schöner und größer als ihr früheres Zimmer zu Hause. Bei der Erinnerung an das wundervolle Haus auf ihrer Insel, rann eine Träne über ihre Wange. Inez hatte längst begriffen, dass sie wohl niemals wieder dorthin zurückkehren konnte, jetzt, wo Vater und Mutter tot waren.

„Elisabeth, was hast du denn? Gefällt es dir nicht?“

Verwirrt verbesserte das Mädchen die schöne Lady: „Ich heiße In..“

Marian Couland hielt ihr den Mund zu und schüttelte den Kopf. „Nein. Ab jetzt heißt du Elisabeth. Elisabeth Couland. Wir haben dich adoptiert, mein kleiner Schatz. Du bist jetzt meine Tochter.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Du wirst es verstehen, Elisabeth. Jetzt sieh dich um.“

Gehorsam schaute Inez umher, ein Regal mit kostbar gekleideten Puppen entlockte ihr ein sehnsüchtiges Lächeln. „Ich muss nicht mehr zurück ins Armenhaus?“, versicherte sie sich vorsichtig.

Lady Couland strich ihr liebevoll über die Haare. „Nein. Nie wieder.“

Inez sah dankbar zu ihr auf. Hier war es viel schöner, auch wenn sie sich dafür Elisabeth nennen lassen musste. Eine weitere Frau trat ein. Sie knickste vor Lady Marian und musterte Inez dann aufmerksam.

„Dies ist Mrs. Garenter, Elisabeth. Sie wird bei dir sein und dir alles erklären und beibringen, was du lernen musst. Ich habe nicht genug Zeit dafür, aber ich werde oft zu dir kommen. Dann sprechen und spielen wir miteinander“, erklärte Lady Couland ihr. „Du musst immer schön brav sein und gut aufpassen. Ich komme heute Abend und bete mit dir.“

Lady Couland traf ihren Gatten vor dem Zimmer des Kindes. Nun, da sein Herrscher nicht anwesend war, zeigte er seinen Zorn offen. „Wie konntest du dem König diesen Vorschlag machen?“, fuhr er sie an. „Du weißt genau, dass ich diesen Bastard nicht in meinem Haus haben will.“

„Ich habe es für dich getan“, verteidigte sich Lady Marian. „Seine Majestät hat mir gegenüber schon oft von seinen Ideen zur Erziehung gesprochen. Ich habe das nur aufgegriffen. So kannst du dich ihm gegenüber auszeichnen.“

Lord Coulands Miene glättete sich wieder. Auch wenn ihm das Kind zuwider war, seine Gattin hatte Recht. Er musste jede Gelegenheit nutzen, seine Stellung zu stärken. Nur so würde er der erste Berater des Königs werden können.

„Nun gut. Es ist ohnehin nicht mehr zu ändern. Der König möchte regelmäßig Bericht über das Kind erhalten. Sorge dafür, dass sie ihm gefallen. Aber halte mir diesen Balg vom Hals.“

„Du wirst sie kaum sehen. Sie wird von der Gouvernante unterrichtet und sich meist in ihren Räumen aufhalten. Natürlich muss sie regelmäßig an die Luft, der hintere Bereich des Gartens eignet sich dafür. Du gehst selten dorthin“, versprach Lady Marian. Heimlich warf sie einen Blick zurück zum Kinderzimmer.  Sie fühlte schon jetzt Sehnsucht nach dem Kind. Wenn ihr Gatte Elisabeth fernblieb, würde er zum Glück nicht bemerken, wie viel ihr die Kleine bedeutete.

 

Dame und Straßenjunge

„Elisabeth! Was machst du hier?“

Das junge Mädchen wandte sich um und senkte die Augen. In Lady Coulands Stimme lag, wie so oft, dieses leichte Erstaunen, als habe sie sich erst besinnen müssen, wer da eigentlich vor ihr stand. Es tat Elisabeth weh.

Doch sie erwiderte ruhig: „Ich warte auf Rosemarie, um ihr beim Ankleiden zu helfen.“

Marian Couland erklärte streng: „Das ist Sache der Zofe, Elisabeth. Du wirst zu einer Dame erzogen. Eine Lady verhält sich niemals wie ein Dienstbote.“

„Es tut mir leid, Lady Couland. Ich wollte nur gerne Rosemaries neues Festkleid sehen. Es ist bestimmt wunderschön.“

„Oh“, Elisabeths Adoptivmutter überlegte kurz, „wenn noch Zeit ist, kann Rosemarie nachher zu dir kommen. Nun geh in deine Räume. Ich möchte nicht, dass meine Tochter zur ihrer Geburtstagsgesellschaft zu spät kommt.“

Elisabeth neigte wieder den Kopf und ging in den hinteren Teil des Hauses. Nach Rose’s Geburt vor neun Jahren hatte man ihre Räume hierhin verlegt. Ansonsten gab es hier nur Gästezimmer, die meist leerstanden. Das Mädchen lehnte sich an die mit Stoffen bespannte Wand und sah nachdenklich aus dem Fenster. Doch sie beachtete weder die sorgsam gepflegten Büsche noch die hohen Bäume im Park, deren Schatten in der Dämmerung immer länger wurden. Ein schwerer Seufzer entfloh ihren Lippen. Ihre Finger zupften und zerrten unbewusst an einem zierlichen Spitzentuch, bis es in Fetzen riss.

Vier Jahre lang war sie Marian Coulands Liebling gewesen. Behütet und liebevoll umsorgt wuchs sie auf und öffnete ihr Herz Lady Couland. Dann wurde Lady Marian, entgegen aller Erwartungen, doch noch Mutter einer eigenen Tochter. Mit der Geburt der kleinen Rosemarie erlosch ihre Liebe zu ihrer Adoptivtochter Elisabeth.

Seitdem waren einzig die gesellschaftlichen Kenntnisse ihrer Adoptivtochter für Lady Marian noch wichtig. Sie ließ Elisabeth fast täglich in ihren Salon kommen und überprüfte ihr Verhalten. Aber von der einstigen Liebe war dabei nichts mehr spürbar. Gleichgültig blickte die stolze Lady über das Mädchen hinweg. Anfangs hatte Elisabeth verzweifelt versucht, sich die fürsorgliche Anteilnahme wieder zu erringen. Irgendwann sah sie dann resigniert ein, dass sie diese unwiderbringlich verloren hatte.

Inzwischen wurde Elisabeth auch zu den wöchentlichen Teegesellschaften der Hausherrin befohlen, damit sie sich in Konversation üben konnte. Sie sollte schließlich eine wohlerzogene, junge Dame werden. Dann behandelte Lady Marian das Mädchen immer sehr freundlich, niemand durfte auch nur ahnen, dass ihr Mündel ihr längst gleichgültig war. Noch immer erkundigte sich der König nach dem Ergehen des Mädchens und durfte nicht enttäuscht werden.

Doch wenn die adligen Damen die Villa verlassen hatten, ging oft ein hartes Donnerwetter auf Elisabeths Haupt hernieder. Traurig erinnerte sich Elisabeth an den gestrigen Tag. Wie immer war sie Lady Marian nach der Teestunde in deren Salon gefolgt. Schon die missbilligend zusammengepressten Lippen hatten ihr gezeigt, was nun folgen würde.

„Wie kannst du mich derart blamieren, Elisabeth? Du solltest dich schämen! Wage es nie wieder, Lady Meghanbotton derart frei und offen zu antworten. Ein junges Mädchen widerspricht einer Lady nicht.“

„Lady Couland, ich darf doch nicht lügen. Wie soll ich dann reagieren?“

„Das müsstest du längst wissen. Dann erklärst du, dass du nicht genug Erfahrung hast, um dich zu diesem Thema zu äußern. Ich erwarte, dass so etwas niemals wieder vorkommt! Hast du mich verstanden?“

Gehorsam hatte sie sich entschuldigt und Besserung versprochen, obwohl sie in ihrem Inneren heftig protestierte. Lady Meghanbottons Bemerkung war völlig unsinnig gewesen, sie hatte diese nur berichtigen wollen. Aber Elisabeth hatte längst gelernt, sich ihre Gedanken nicht anmerken zu lassen.

 

Lautes, schnell aufeinanderfolgendes Klopfen riss sie aus ihrem Brüten. Elisabeth zwang sofort einen gleichmütigen Ausdruck in ihr Gesicht und wandte sich um. Auf ihr „Herein“ stürmte ein kleines Mädchen in den Raum.

„Sieh nur, Bethy, das Kleid ist wundervoll.“ Freudestrahlend drehte sich Rosemarie im Kreis.

Zärtlich betrachtete Elisabeth das zierliche Kind mit dem goldblonden Haar. In dem zartblauen Kleidchen glich es einer Märchenprinzessin. Sie umarmte die Kleine liebevoll.

„Du siehst hinreißend aus“, stimmte sie ihr bewundernd zu. „Es ist schon spät, solltest du nicht längst unten im Salon sein?“

„Ja, aber ich wollte dir unbedingt noch mein neues Kleid zeigen. Mutter hat es erlaubt.“ Das strahlende Lächeln der Kleinen verschwand, sie senkte den Kopf. „Wie schade, dass du nicht mitfeiern kannst.“

Elisabeth küsste sie. „Dein Vater möchte es nicht. Sei nicht traurig deswegen. Heute ist dein neunter Geburtstag, und du sollst ihn feiern und fröhlich sein. Später erzählst du mir, wie schön es war.“

„Es wäre viel schöner, wenn du mitfeiern würdest. Aber ich weiß ja, dass es nicht geht. Ich bin jetzt groß und vernünftig.“ Ernst sah Rosemarie die geliebte Adoptivschwester an und Elisabeth verbarg schnell ein kleines Schmunzeln.

„Stimmt, das bist du. Und deshalb läufst du jetzt hinunter, bevor dein Vater ungeduldig wird. Schließlich musst du deine Gäste begrüßen.“

Rosemarie umarmte sie noch einmal stürmisch und rannte dann hinaus. Elisabeth schloss die Tür und wandte sich wieder dem Fenster zu. Jetzt wirkte das feingeschnittene, ovale Gesicht hart und bitter. Fest presste sie die schön geschwungenen Lippen aufeinander. Die dunklen Augen starrten blicklos in die Dämmerung hinaus, ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück.

Es waren wundervolle vier Jahre gewesen. Obwohl – wenn sie ganz ehrlich war –, auch in dieser Zeit hatte sie sich nie völlig glücklich gefühlt. Sie liebte und verehrte Lady Couland und je älter sie wurde, desto mehr begriff Elisabeth, was sie ihr zu verdanken hatte. Ohne deren Eingreifen wäre sie in dem Armenhaus verkommen.

Aber mit den engen Grenzen, die ihr als Mädchen gesetzt waren, dem Zwang sich ständig zu kontrollieren und formvollendet zu benehmen, konnte sie sich nie abfinden. Elisabeth sehnte sich nach der Freiheit, die sie bei ihren Eltern erlebt hatte. Doch das durfte sie niemals zeigen. Alle glaubten, sie habe keine Erinnerung an ihre frühe Kindheit. In Wirklichkeit hatte sie weder ihre Herkunft noch ihren wahren Namen vergessen: Ines Karemindaz, Tochter des berüchtigten, spanischen Piraten Gonzales Karemindaz und seiner mutigen, kämpferischen Frau Lucia.

Energisch schob Elisabeth die Erinnerungen beiseite und richtete sich für die Nacht. Sie zog die Haarnadeln heraus und kämmte die Haare, bis sie glatt und glänzend schwarz bis weit über die Schultern fielen. Dann griff sie nach dem warmen Morgenrock und wartete. Sicher kam Rose noch zu ihr, um von dem Fest zu erzählen. Hin und wieder verließ Elisabeth das Zimmer und ging den breiten Gang entlang bis zur Verbindungstür, die zu den Gesellschaftsräumen führte. Von hier konnte sie die Musik und manchmal auch Gelächter hören. Ein klein wenig bedauerte sie es, dieses Fest nicht miterleben zu können. Aber dann dachte sie daran, wie verächtlich Lord Couland sie wieder ansehen würde und kehrte hastig in ihr Zimmer zurück.

Kurz nach zehn Uhr abends schlüpfte Rose zu ihrer großen Schwester ins Zimmer. Lebhaft und strahlend berichtete sie ihr von all den schönen Überraschungen, die ihre Mutter für sie arrangiert hatte. Elisabeth freute sich mit ihr, und schließlich schlief Rose in ihrem Arm ein. Liebevoll legte sie das Kind auf den Diwan.

Einen Moment überlegte Elisabeth und zog die Tasche mit der einfachen, derben Jungenkleidung aus ihrem Versteck, schüttelte jedoch sofort den Kopf. Nein, wenn Rosemarie aufwachen sollte, musste sie hier sein. Heute würde sie nachts nicht das Haus verlassen und zu den Straßenjungen laufen können. Elisabeth lächelte. Diese gestohlenen Stunden der Freiheit entschädigten sie für alles, was sie hier vermisste. Seit über drei Jahren führte sie ein Doppelleben – seit dieser einen furchtbaren Nacht …

 

Wie so oft schlich Elisabeth am späten Abend heimlich in den Garten. Hier konnte sie die Arme in die Luft recken oder laufen, sogar rennen, wenn sie wollte. Sie musste sich nicht brav und sittsam verhalten, wie es sich für das Mündel einer hochangesehenen, adligen Familie gehörte.

Ein paar Mal warf sie einen Blick auf den Turm, der ganz am Ende des Gartens stand. Doch auch dort blieb alles dunkel und ruhig. Elisabeth hatte es noch nie anders erlebt. Vor gut zwei Jahren ließ Lord Couland ihn errichten. Er verlangte, dass dieser Bereich des Gartens nicht mehr betreten wurde, da er für seine alchemistischen und sternkundlichen Studien Ruhe brauche. Und er verbrachte tatsächlich viel Zeit in dem Turm, wie Elisabeth erfahren hatte. So durfte sie nicht mehr hier spazierengehen, was sie sehr bedauerte, sie liebte diesen dicht bewachsenen, parkähnlichen Teil des Gartens.

Sie huschte durch die Dunkelheit zu den drei ineinander gewachsenen Bäumen. Deren Äste bildeten, tief im Laub verborgen, einen bequemen Ausguck. Trotz des knöchellangen Kleides kletterte das fast vierzehnjährige Mädchen behände hinauf. Von hier sah sie über die Gartenmauer auf die nächtlichen Straßen Londons.

In hellen Nächten, wenn der Mond schien, konnte Elisabeth die schattenhaften Gestalten der Straßenjungen erkennen. Meist suchten sie in den Hinterhöfen nach Essbarem. Manchmal schlichen sie auch einem leichtsinnigen Spaziergänger hinterher, um ihn zu überfallen und auszurauben. Das Mädchen beneidete diese Jungen, obwohl sie erkannte, wie elend deren Leben war. Aber sie besaßen etwas, nach dem Elisabeth sich verzweifelt sehnte: Freiheit.

Doch in dieser Nacht bedeckten meist Wolken den Himmel. Nur die kleinen, fahlen Lichtkreise der wenigen Öllampen an den Straßenrändern durchbrachen die Dunkelheit. Hin und wieder tauchte die schwankende Laterne in der Hand eines späten Fußgängers auf, der die Gehsteige entlangeilte. Elisabeth wollte schon wieder ins Haus zurückkehren, als endlich der Mond durch die Wolken brach. In dem silbernen Licht wurden die Straßenzüge deutlicher und auch die Bäume und Büsche im Garten waren nicht mehr nur dunkle Schemen. Das Mädchen setzte sich wieder bequemer hin und beobachtete weiter das verstohlene, nächtliche Treiben.

Kurz nach Mitternacht hörte sie Geräusche, jedoch nicht auf der Straße, sondern im Garten: schnelles, hastiges Laufen, ein ersticktes Keuchen. Unter den Bäumen tauchte der Schatten eines Menschen auf. Ein halbwüchsiger Junge lief direkt auf ihr Versteck zu. Er trug einen knielangen Umhang, in der Hand hielt er ein Bündel. Weiter entfernt ertönten laute Stimmen. Zwei Männer rannten hinter ihm her.

Voller Angst beobachtete Elisabeth, wie die schmale Gestalt immer näher kam. Rasch zog sie die Beine enger in das dichte Laub. Sie durfte auf keinen Fall entdeckt werden! Aber der Junge warf nicht einen einzigen Blick in den Baum hinauf. Er atmete keuchend und sah sich hektisch um. Plötzlich schleuderte er sein Bündel ins Gebüsch und versuchte, sich an der Mauer hochzuziehen, schien jedoch nicht die Kraft dazu zu haben. Dann erreichten die Männer ihn auch schon.

Der Junge ließ sich plötzlich fallen. Etwas blitzte im Mondlicht auf und seine Gestalt sackte zusammen. Elisabeth schrie in ihrem Versteck fast auf. Entsetzt starrte sie nach unten. Die Männer griffen nach dem Körper und rissen ihn hoch.

„Tot“, zischte der eine wütend. „Das kleine Miststück! Verdammt, der Lord wird toben, der Bengel war sein Lieblingsspielzeug.“

Der andere brummte etwas, das das Mädchen im Baum nicht verstehen konnte. Dann zerrten die Männer den leblosen Körper fort und verschwanden hinter den Bäumen in Richtung des Turmes. Blass und verstört kletterte Elisabeth aus ihrem Versteck. Hastig lief sie zum Haus zurücklief, beobachtete dabei aber ängstlich den Garten rund um den Turm. Doch dort war wieder alles dunkel und still.

Sie verkroch sich in ihrem Bett, stundenlang schüttelten sie Angstschauer. Das Bild des toten Jungen stand wieder und wieder vor ihren Augen, obwohl Elisabeth ihn in der Dunkelheit nicht deutlich gesehen hatte. In dem schwachen Mondlicht war das ganze Geschehen seltsam unwirklich gewesen. Hatte sich dieser Junge tatsächlich in ein Messer fallen lassen? Was hatte er in dem Turm gemacht und was bedeuteten die Worte der Männer? Ein Junge konnte doch kein ‚Lieblingsspielzeug‘ sein.

Zwei Tage wagte Elisabeth sich nicht hinaus. Dann wurde die Neugier stärker als ihre Furcht. Sie schlich in der Nacht wieder in den Garten. Allerdings kletterte sie nicht zu ihrem Ausguck hinauf, sondern suchte leise das Bündel, das der Junge fortgeworfen hatte. Es lag immer noch in den Büschen. Vorsichtig schaute sie sich nach dem geheimnisvollen Turm um. Aber wie üblich stand er still und schweigend am Ende des Gartens. Kein Laut kam von dort.

Elisabeth rang mit sich. Sollte sie versuchen, dorthin zu gelangen? Es gab genug Büsche, die sie verbergen würden. Einige Schritte schlich sie in diese Richtung, bis ihr klar wurde, welches Risiko sie damit einging. Lord Couland würde sie furchtbar bestrafen, wenn man sie in diesem Teil des Gartens entdeckte. Sie schüttelte den Kopf und lief leise zurück zum Haus.

Wieder in ihrem Zimmer untersuchte Elisabeth ihren Fund und entdeckte zu ihrem Erstaunen –Kleidung! Die derbe Kleidung der Straßenjungen, sogar sauber und fast ohne Risse oder Löcher, obwohl die Sachen nicht neu waren. Das Rätsel des Jungen wurde dadurch nicht kleiner. Aber in Elisabeths Kopf begann sich eine Idee zu formen, was sie mit diesen Sachen machen könnte. Sorgfältig versteckte sie das Bündel. Tagelang dachte sie darüber nach.

Schließlich wagte sie es. Nachts zog Elisabeth die völlig ungewohnte Kleidung an, versteckte ihre Haare unter der Kappe und schlich sich in den Garten zu ihrem Versteck. Von hier aus gelangte sie ohne Schwierigkeiten auf die Gartenmauer – und hinunter auf die Straße. In die Freiheit!

Ihre ersten ‚Ausflüge‘ waren kurz. Voller Furcht lief sie, sobald jemand sie bemerkte, zurück. Doch mit der Zeit wurde sie mutiger. Sie stellte fest, dass die anderen Straßenjungen sie kaum beachteten. Wenn sie von ihnen entdeckt wurde, verkroch sie sich in kleinen Verstecken. Gleichzeitig suchte das Mädchen die Straßen nach diesen Jungen ab und beobachtete sie. So lernte Elisabeth, wie sie sich vor anderen nächtlichen Passanten und vor allem vor den Gendarmen verstecken konnte. Immer öfter streifte sie stundenlang nachts durch die Straßen und kehrte manchmal erst kurz vor Morgengrauen in die Villa zurück.

So gern Elisabeth Kontakt zu den Straßenjungen gehabt hätte, sie wagte sich nicht zu ihnen. Sie hatte Angst, als Mädchen erkannt zu werden. Denn nur Jungen lebten in diesen Straßenbanden. Aber immer wieder folgte sie ihnen. Eine dieser Banden hatte dicht beim Hafen einen Unterschlupf. Elisabeth suchte sich oft ein Versteck in der Nähe und beobachtete ihre Streifzüge in sicherem Abstand.

Eines Nachts sah sie, wie mehrere, in dunkle Umhänge gekleidete Männer zwei der Jungen auflauerten. Einem gelang die Flucht, der andere wurde überwältigt und in eine geschlossene Kutsche mit dichten Vorhängen geworfen. Dann nahm einer der Männer die Kapuze des Umhangs herunter. Das Licht der direkt über ihm hängenden Öllampe beschien ein hartes, leicht verunstaltetes Gesicht. Eine hässliche Narbe zog sich die Wange herab, und sein Mund mit den dicken, wulstigen Lippen war zu einem grausamen Lächeln verzogen.

Elisabeth stand verborgen in einem Hauseingang und starrte ihn erstaunt an. Das war einer der Männer, die den Jungen im Garten verfolgt hatten. Sie hatte sein Gesicht damals im Mondlicht gesehen. Die Männer spähten aufmerksam die Straße rauf und runter und sprachen leise miteinander. Elisabeth wagte sich etwas vor, konnte aber dennoch nichts verstehen. Ihre Gedanken rasten. Was wollten sie von diesem Jungen? War der Junge im Garten auch so gefangen worden?

Schließlich stiegen die Männer auf den Kutschbock und trieben die Pferde an. Elisabeth rannte los, durch einige enge Gassen und Gärten konnte sie fast ebenso rasch nach Hause zurückkehren wie die Kutsche, die die breiteren Straßen benutzen musste. Sie wollte herausfinden, was das alles zu bedeuten hatte.

Als sie hinter der Villa an der Gartenmauer ankam, stand dort auch die Kutsche – und in der Gartenmauer gähnte eine Öffnung. Elisabeth hatte nicht einmal geahnt, dass es hier ein Tor gab. Sie war sich völlig sicher, dass auch sonst niemand im Haus davon wusste. Dies war ein Geheimnis des Lords, ebenso wie alles, was den Turm betraf – was auch immer darin vor sich ging.

Leise schlich sie sich an die Kutsche heran und unterdrückte ihr angestrengtes Keuchen. Es war nur noch einer der Männer da, die anderen schienen in den Garten gegangen zu sein. Sie musste sich beeilen, denn wenn diese zurückkamen, hatte Elisabeth keine Chance mehr, an die Kutsche heranzukommen. In ihrer Hand lag ein großer Pflasterstein, sie zitterte, noch nie hatte Elisabeth jemandem Gewalt angetan. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, ihre Beine fühlten sich wie gelähmt an.

‚Sei tapfer!‘, tönte eine lautlose Stimme in ihrem Kopf.

Sie war die Tochter eines Piraten!

Ihr Vater hatte gekämpft, ihre Mutter ebenso, also konnte auch sie kämpfen. Ihr Zittern hörte auf, Elisabeth fasste den Stein fester. Noch zwei Schritte, der Mann drehte sich um und sie schlug mit aller Kraft zu. Die Kante des Steins traf den Schädel knapp über dem Ohr und färbte sich sofort rot. Lautlos sackte der Mann zu Boden. Einen Moment war das Mädchen unfähig, sich zu bewegen. Dann riss sie sich zusammen. Mit fliegenden Händen löste sie den Ledergurt und schob den Eisenriegel der Kutschentür zurück. Sie zerrte an der Tür, bis diese sich endlich knarrend öffnete.

Elisabeth stand drei verängstigten Jungen gegenüber. Niemand rührte sich. „Schnell“, flüsterte sie. „Sie kommen bestimmt gleich wieder.“

Als wäre das ein Signal, kam Bewegung in die drei. Flink schlüpften sie aus ihrem Gefängnis und rannten in die Gassen hinein. Elisabeth folgte dem Jungen aus ‚ihrer‘ Bande, wohin die anderen liefen kümmerte sie nicht. In einem Hinterhof verbargen sie sich zwischen Kisten und Gerümpel.

Der Junge starrte sie an: „Wer bist Du? Wie ... wie ... warum hast du uns geholfen?“ Er blickte sie genauer an. „Ich hab dich doch schon gesehn. Du bist manchmal am Hafen. Und du läufst immer vor uns weg.“

Elisabeth nickte stumm.

„Wie heißt du? Sag schon!“

„B... Billy!“ stotterte sie, beinahe hätte sie sich verraten. Aber würde der Junge nicht sowieso gleich merken, dass sie ein Mädchen war?

„Jemmy – Jeremy eigentlich. Und warum läufst du immer weg?“

„Ich habe Angst vor euch“, sagte ‚Billy‘ ehrlich. „Ich ... ich ... das kann ich nicht erklären.“

Plötzlich senkte Jemmy den Kopf. Leise sagte er: „Danke. Willste mitkommen? Brauchst keine Angst haben, schließlich haste mir geholfen. Dir passiert bei uns nichts, ehrlich.“

Einen Moment zögerte Elisabeth noch, dann nickte sie wieder. Von da an gehörte ‚Billy‘ zu den Straßenjungen.

 

Diese Nächte, in denen sie zu ‚Billy‘ wurde, waren in den letzten Jahren immer wichtiger für sie geworden. Manchmal floh Elisabeth drei bis viermal in der Woche aus ihrem Gefängnis, als das sie die Villa längst ansah, und kehrte erst morgens wieder zurück.

Immer wieder dachte sie darüber nach, vollends auf der Straße zu leben. Doch wie sollte sie das verwirklichen? Selbst wenn sie Hunger und Elend der Straßenjungen in Kauf nähme, Lord Couland würde sie suchen und irgendwann auch finden, dessen war sich Elisabeth sicher. Die Blamage, wenn der König erfuhr, dass Lord Coulands Erziehung nichts gebracht hatte, dass im Gegenteil sein Schützling einfach fortgelaufen war, würde dieser nicht auf sich sitzenlassen.

Und noch etwas gab es, das Elisabeth festhielt: Rosemarie. Obwohl sie ihr die Zuneigung Lady Coulands genommen hatte, liebte sie das Kind innig. Vom ersten Tag an hatte sie sich um die kleine Rose gekümmert, mit ihr gespielt und war ihre beste Freundin geworden. Sie wollte ihre Schwester nicht verlieren.

 

Am nächsten Morgen half Elisabeth dabei, Roses Festkleidung sorgfältig wegzuräumen, als eines der Hausmädchen sie ansprach: „Miss Elisabeth, Ihr möchtet sofort in Lady Coulands Boudoir kommen.“

Erstaunt sah sie das Hausmädchen an, nickte jedoch nur. Es schickte sich nicht, einen Dienstboten zu fragen. Sie legte das Unterkleid ab, das sie gerade zurechtgeschüttelt hatte, und verließ Rosemaries Ankleidezimmer. Mit schnellen Schritten, Lady Couland liebte es nicht, warten zu müssen, ging Elisabeth über die weichen Teppiche zum Hauptflügel des Hauses. Hier lagen die reich ausgestatteten Zimmer Lady Marians.

„Ihr habt nach mir gerufen, Lady Couland?“ Sittsam blieb Elisabeth an der Tür stehen und blickte fragend zu der in dem durchscheinenden Morgenkleid wunderschön aussehenden Hausherrin.

„Ja. Setz dich, Elisabeth. Wir müssen miteinander reden. Du bist jetzt siebzehn und damit im heiratsfähigen Alter. Lord Couland und ich haben uns Gedanken über deine Zukunft gemacht.“

Nur mühsam konnte das Mädchen ihr Erschrecken verbergen. Worauf wollte Lady Marian hinaus? Elisabeth wusste genau, dass Lord Couland sie schon vor Jahren gerne aus seinem Haus entfernt hätte – seit seine Gattin das Interesse an ihr verloren hatte. Aber solange der König sich für Elisabeth interessierte, musste der Schein gewahrt bleiben. Offiziell blieb sie das Adoptivkind des Hauses, auch wenn sich nur noch bezahlte Dienstboten und Erzieherinnen um sie kümmerten – wenn sie es taten.

„Natürlich ist eine unserem Hause entsprechende, standesgemäße Heirat für dich nicht möglich“, sprach Lady Couland weiter. „Du trägst unseren Namen, doch du hast kein hochherrschaftliches Blut in dir. Mein Gatte meinte, eine Stellung als Gouvernante in einem angesehenen Haus wäre das Richtige für dich. Ich sehe das anders. Du bist als Dame erzogen worden, und ich möchte, dass du auch als solche lebst. Ich dachte an ein Kloster. Es wäre schicklich und deiner Situation angemessen.“

Elisabeth rang nach Atem. Dass eine arrangierte Heirat nicht in Frage kam, war eher eine Erleichterung. Aber diese Aussicht war das Schlimmste, das sie sich vorstellen konnte. In einem Kloster wäre sie lebendig begraben!

Lady Marian spielte mit ihrem Fächer und sah einen Moment aus dem Fenster. „Du hast jedoch auf der letzten Abendgesellschaft großen Eindruck auf Seine Majestät gemacht. Du erinnerst dich sicher, dass er dich mit einer Ansprache ausgezeichnet hat. Der König hat sich dieser Tage nach dir erkundigt. Und er hat eigene Pläne für dich. Seine Majestät wird sich noch mit Lord Couland beraten, doch vermutlich wird dir die Möglichkeit geboten, als Hofdame Ihrer Majestät zu leben.“

Stirnrunzelnd musterte sie Elisabeth. „Was ist mit dir? Warum siehst du mich so entsetzt an?“

„Ich … ich bin nur etwas fassungslos, Lady Couland“, stotterte das Mädchen mühsam. Ihre Majestät, die Gattin des Königs, galt als höchst launisch. Ihre Hofdamen wurden allgemein bedauert, obwohl das niemand offen zugab.

Langsam wurde der missbilligende Blick Lady Marians wieder milder. „Nun, es ist verständlich, dass du ein wenig – verwirrt – reagierst. Das Angebot eines solchen Postens ist eine hohe Ehre für dich. Ich weiß nicht, wann Seine Majestät sich entscheiden wird, aber es kann sein, dass du in Bälde am königlichen Hof leben wirst. Versuche, dich darauf vorzubereiten, Elisabeth.“

Die nickte nur noch stumm, sie brachte kein Wort mehr heraus. Erst als sie wieder in ihren Zimmern war, begriff sie völlig, was ihr bevorstand. Zumindest wusste sie nun, weshalb sie vor einigen Wochen zu einer Abendgesellschaft des Königs mitgehen durfte. Bisher hatte es immer geheißen, sie sei zu jung dafür. Doch das war jetzt alles unwichtig. Elisabeth graute vor allen Zukunftsaussichten, die Lady Marian ihr aufgezählt hatte.

Aber was konnte sie dagegen machen? Auf der Straße leben und hoffen, dass Lord Couland sie nicht finden würde? Das würde ihr nicht gelingen. Sie müsste London verlassen, am besten in eine völlig andere Gegend gehen. Wie? Und wovon sollte sie dann leben?

Sie besaß eine gute Bildung, obwohl sich seit Rosemaries Geburt kaum noch darum gekümmert worden war. Ihre Erzieherin hatte schnell erkannt, dass weder Lord noch Lady Couland bemerkten, ob sie den üblichen Unterricht tatsächlich abhielt oder nicht. Wäre Elisabeth nicht schon als Kind so wissbegierig gewesen, ihre Kenntnisse wären sehr mangelhaft geblieben. Viele Stunden verbrachte sie über ihren Schulbüchern, oder holte sich Bücher aus der großen Bibliothek.

Dichtung und Malerei liebte sie sehr. Auch Fachbücher über die verschiedensten Handwerkskünste interessierten sie – was ihre Erzieherin völlig unverständlich fand. Am liebsten las Elisabeth aber über die Seefahrt. Dann geriet sie ins Träumen und sehnte sich zurück auf das Schiff ihrer Eltern. Doch davon wusste selbst die Erzieherin nichts. Elisabeth achtete sehr darauf, dass niemand von ihrer Liebe zur Seefahrt erfuhr. Niemals durfte herauskommen, dass sie ihre Vergangenheit nicht vergessen hatte, strenge Strafen waren ihr sonst sicher. Lord und Lady Couland ließen nicht zu, dass ein Kind sich ihren Erziehungswünschen widersetzte.

All dies würde ihr jedoch nicht helfen, sich zu ernähren. Vielleicht könnte sie als Magd auf einem Bauernhof oder als Hausmädchen ihr Leben fristen. Diese Arbeiten sollte sie erlernen können. Aber das bedeutete, dass sie Rosemarie, ihre geliebte Schwester, verlieren würde. Elisabeth presste die Hände vor das Gesicht, um die Tränen zurückzuhalten.

Nach dem Mittagessen stürmte Rose ohne anzuklopfen in das Zimmer ihrer Schwester. „Bethy, was ist denn? Du bist heute gar nicht zu meinem Unterricht gekommen. Miss Holden …“, sie brach ab. Besorgt sah sie Elisabeth an. „Was hast du denn? Du bist so blass? Bist du etwa krank?“

Liebevoll legte sie der großen Schwester die Hand auf die Stirn. Die zog sie in die Arme und schüttelte den Kopf. „Nein, Liebling. Ich bin nicht krank. Nur ziemlich durcheinander.“

„Sag mir bitte, was mit dir ist“, bat Rosemarie inständig. „Du weißt, dass ich nichts ausplaudere, wenn du das nicht willst. Ich kann ein Geheimnis bewahren.“

Sie legte den Finger auf den Mund und lächelte verschwörerisch. Trotz ihres Kummers musste Elisabeth schmunzeln. Die Kleine hatte recht. Sie wusste inzwischen sogar von den heimlichen, nächtlichen Ausflügen. Beide erinnerten sich gleichzeitig:

Rose war kurz nach Elisabeths siebzehntem Geburtstag in einer stürmischen Nacht zu ihrer geliebten, großen Schwester gekommen, da sie sich vor dem heulenden Wind gefürchtet hatte. Sie hatte bei ihr in der Sicherheit ihrer Arme schlafen wollen. Doch Elisabeth war nicht da gewesen. In deren Bett hatte die kleine Rose nur zusammengeknüllten Stoff und ein Wollknäuel gefunden, das Haare vortäuschte. Rose hatte sich schlaftrunken in das Bett gekuschelt war auch bald wieder eingeschlafen.

So hatte Elisabeth sie gefunden, als sie im Morgengrauen wieder zurückgekommen war. Erschrocken hatte sie auf das schlafende Kind gesehen. Was würde nun geschehen? Sie hatte Rose gebeichtet, dass sie manchmal nachts weglief. Und Rose hatte versprochen, nichts zu verraten.

Auch sie wusste, dass Elisabeth schlimm bestraft werden würde, sollte ihr Vater davon erfahren. Selbst gegen Rosemarie war Lord Couland streng und unduldsam, und die Kleine fürchtete ihn mehr, als sie ihn liebte.

Elisabeth nickte ernst: „Ja, das weiß ich. Ein wirkliches Geheimnis ist es diesmal auch nicht. Aber du solltest dennoch nicht darüber reden.“ Dann berichtete sie, was sie am Vormittag erfahren hatte. Und dass sie ein solches Leben auf keinen Fall führen wollte.

„Was willst du denn tun? Du kannst doch nicht dem König gegenüber ungehorsam sein?“, fragte Rosemarie schockiert. Niemand wagte es, sich gegen den König zu stellen! Das war fast noch schlimmer, wie Widerspruch gegen die Eltern zu äußern.

„Ich werde weglaufen.“ Jetzt war es ausgesprochen.

Rose blieb der Mund offen stehen. „Weg… wohin?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Und was willst du dann machen?“

„Weiß ich auch noch nicht. Ach, Rose, ich weiß überhaupt nicht, was dann sein wird. Ich muss erst einmal selbst darüber nachdenken.“