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Nr. 2854

 

Der letzte Mensch

 

Atlan auf Geistreise – durch das Leben eines Atopen

 

Oliver Fröhlich

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Um die Herrschaft der Atopen zu brechen, hat sich der Arkonide Atlan ins vermutete Herz dieser Macht begeben. Nach einer unglaublichen Reise durch Gefilde, die sich niemand vorzustellen gewagt hätte, erreicht er sein Ziel: die Ländereien von Thez. Dort besucht er die Heimstatt des Atopen Matan Addaru – jener sei, so sagt man, DER LETZTE MENSCH ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide begibt sich auf eine Geistreise.

Matan Addaru – Der Atope lässt tief blicken.

YLA – NATHANS Tochter fungiert als Reiseleiterin.

Maay'char-raygonar – Der Jeadhal ist nicht immer Herr seines Körpers.

1.

Besuch in der Kreuzgalaxis

 

Ich fiel.

Zwei winzige Wörter nur, und dennoch so unbegreiflich, wie sie nur sein konnten.

Wer war ich? Wieso fiel ich? Von welchem Ort aus? Und wohin?

Eine Stimme erklang in meinem Kopf. Erinnere dich, warum du hier bist!

Sie kam mir bekannt vor. Ich glaubte, sie schon oft gehört zu haben. Hatte sie mich zuletzt nicht häufiger in gleicher Weise ermahnt?

Erinnere dich, warum du hier bist!

Leiser diesmal. Nur schwer zu verstehen, als entfernte sie sich von mir.

Erinneredicherinneredicherinn...

Die Stimme verwehte, und plötzlich fühlte ich mich allein gelassen.

Allein im Nichts, gefangen in einem ewig währenden Sturz in Richtung ...

Mit einem Mal wusste ich wieder alles. Ich war Atlan, der dank eines Zellschwingungsaktivators vor dem Alter und vor Krankheit gefeite Arkonide, der bei einer mehr als siebenhundert Jahre dauernden Reise eine erheblich größere Zeitspanne überbrückt hatte. Jahrmilliarden, über das Ende des Universums hinaus, bis in die Jenzeitigen Lande.

Und ich fiel, weil ich mehr über den Atopen Matan Addaru herausfinden wollte. Doch dazu musste ich in seine Erinnerungen eintauchen, musste zu ihm werden. Die erste Phase der Prozedur, bei der ich lernen sollte, mich nicht in einem fremden Bewusstsein zu verlieren, hatte ich in einem fiktiven Babylon hinter mich gebracht.

Ich fiel.

Zwei winzige Wörter nur, und dennoch so ungenau, wie sie nur sein konnten.

Nicht ich fiel, sondern nur mein Bewusstsein. Und es fiel nicht aus großer Höhe in die Tiefe, sondern es stürzte durch die Zeit, in die Abgründe der Vergangenheit – einer Erinnerung entgegen.

Einer menschlichen Erinnerung, wie ich erwartete. Doch ich irrte mich. Stattdessen ...

 

*

 

»Hypertransit stoppen!«, surrte eine Stimme in einer Sprache, die ich nicht kannte, aber trotzdem verstand. »Austrittspunkt bei Koordinaten Tse Grün, Tsu Orange und Tsök Gelb. Halt in fo ... do ... fan ... ed ... jetzt!«

»Hypertransit gestoppt«, bestätigte jemand neben mir. »Erbitte Situationsbeschreibung.«

Sekundenlang war ich wie benommen. Die Welt um mich bestand aus Vibration, Duft und Farbschattierungen, die sich zu keinem sinnvollen Ganzen zusammensetzten. Ich schwebte in einem Meer aus Empfindungen, für die ein humanoider Körper keine Rezeptoren besaß und die ein humanoides Gehirn nicht interpretieren konnte.

Ja, ich verstand die Sprache, begriff aber weder die Angabe der Koordinaten noch die Zahlenwerte des Countdowns. Sofern es sich denn um Zahlen handelte.

War etwas schiefgegangen? Hatte mich YLA an einen anderen Ort geschickt als beabsichtigt?

»Wir empfangen sonderbare Messwerte von der Kreuzgalaxis«, surrte die erste Stimme. Tatsächlich sprach sie nicht, sondern artikulierte sich in einer Vielzahl sich gegenseitig überlagernder Summtöne.

»Von GA-yomaad?«, fragte die zweite Stimme.

»So ist es.«

GA-yomaad. Der Name des Atopischen Tribunals für die Milchstraße. Das konnte kein Zufall sein. Offenbar hatte ich mein Ziel also doch erreicht.

Endlich durchschaute ich den Irrtum: Ich war nicht in einem menschlichen Bewusstsein gelandet, sondern in dem eines mir fremdartigen Wesens.

Kaum erkannte und akzeptierte ich diese Tatsache, veränderte sich die Umgebung. Oder nein, das tat sie nicht. Sie bestand weiterhin aus Vibration, Duft und Farbschattierungen. Was sich veränderte, war meine Wahrnehmung, das Verständnis dieser Sinneseindrücke. Nach und nach formten sie ein begreifbares Bild, und schon bald erschloss sich mir nicht mehr, warum es mich zunächst verwirrt hatte.

Ich befand mich in einer etwa hundert Meter durchmessenden Kugel, der Zentrale eines Raumschiffes, sofern ich den Wortwechsel richtig interpretierte. Ein Steg, der spiralförmig an der Innenwand hinabführte und der Wandung die Anmutung einer in die Ursprungsform gebrachten Apfelschale verlieh, ein vielzackiger, im Kugelzentrum schwebender Stern, hauchdünne und armdicke Streben, die ohne erkennbare Ordnung das Kugelinnere wie Speichen durchzogen, ja sogar die Hülle selbst – alles schien aus Kristall zu bestehen. Bläulich schimmernd, grün strahlend, gelblich matt oder durchsichtig, jede denkbare Schattierung war vertreten.

Zwischen den Kristallelementen schwebten Lebewesen, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Ihre nicht ganz einen Meter langen Leiber erinnerten an Libellen, deren hinteres Ende in einen gebogenen Salamanderschwanz überging. Anstatt Flügeln oder Beinen wuchsen aus einer Verdickung im Vorderleib kurze Stumpen, aus denen ein gutes Dutzend unterschiedlich langer Krallen ragte. Ähnliche, aber kürzere Extremitätenpaare bemerkte ich auf Höhe der Körpermitte und direkt vor dem Schwanzansatz.

Auch diese Wesen schienen trotz ihrer Beweglichkeit aus Kristall zu bestehen, blutrot in den Flächen, tiefschwarz in den Konturen. Sogar die Sinneshärchen, die den winzigen, knopfartigen Kopf umgaben, wirkten wie Kristallborsten.

Ich sah an mir hinab und stellte fest, dass auch ich die Gestalt eines solchen Wesens besaß. In der Schwerelosigkeit der Kristallkugel schwebte ich ziellos dahin.

»Maay'char-raygonar!«, ertönte eine Stimme neben mir, die meine Gehörborsten erzittern ließ. »Was tust du hier? Kehr sofort auf deinen Posten zurück!«

Plötzlich überkam mich das Gefühl, dass mich alle Anwesenden anstarrten. Ich wandte mich dem Libellenwesen zu, das mich angesprochen hatte. Es sah aus wie die anderen. Einen Unterschied oder besondere Merkmale erkannte ich nicht.

Ohne zu wissen, wie ich das in der Schwerelosigkeit tat, wich ich eine Körperlänge zurück.

Auf meinen Posten? Liebend gerne. Aber wie, wenn mir dieses Schiff und das Wesen, in dem ich steckte, völlig fremd waren?

Meine Unsicherheit blieb nicht unbemerkt. Von allen Seiten schwebten die Kreaturen auf mich zu, bedrängten mich, kratzten mir mit ihren Kristallkrallen über den Körper und hinterließen tiefe, peinigende Furchen. Schmerzen durchfuhren mich, als einige Borsten am Unterleib abbrachen.

Sie hatten mich durchschaut. Sie wussten, dass ich nicht hierher gehörte, spürten das Fremde in mir. Und sie würden nicht eher von mir lassen, bis sie mich, den Eindringling, aus ihrer Welt getilgt hätten.

Ich fühlte mich wie ein Virus, den weiße Blutkörperchen aus einem Organismus zu beseitigen versuchten.

»Lasst mich in Ruhe«, surrte ich – wie auch immer ich das tat. »Ich bin einer von euch.«

Ein weiterer Hieb traf mich, schnitt mir in den Kopf und riss Hunderte von Sinnesborsten ab, die durch die Schwerelosigkeit trudelten.

Sie glaubten mir nicht. Zumindest nicht, solange ich tatsächlich keiner von ihnen war.

Ich wartete darauf, dass mir mein Extrasinn einen wertvollen Hinweis gab, wie ich mich verhalten sollte. Ich wartete vergebens.

Plötzlich wusste ich – ohne jede Hilfe –, was ich zu tun hatte. So, wie ich in der ersten Phase meiner Geistreise im Bewusstsein des Anklägers von Babylon versunken war, musste ich in die Erinnerung des Fremdwesens eintauchen. Tief genug, um nicht als Eindringling erkannt zu werden, aber auch nicht zu tief, weil ich sonst Gefahr lief, mich selbst zu verlieren. Eine Gratwanderung.

Mit leichtem Widerwillen löste ich mich von meiner Existenz als Arkonide und wurde mir plötzlich bewusst, wie fest ich sie bisher umklammert hatte. Ich sank weiter. Das Wissen meines Wirts durchströmte mich, erst zögerlich, bald als klarer, Erkenntnis bringender Fluss. Ich musste aufpassen, dass er mich nicht mit sich riss.

Ich hieß Maay'char-raygonar und befand mich an Bord des Pionierschiffes FRAGDANK, eines Raumers der Triade, die im Auftrag der Wissgemeinschaft Jeadhal unterwegs war, um die Kenntnis der Jeadhali über das Universum zu vertiefen. Denn der verheißene Weg in das allumfassende Kristallseits führte über die mannigfaltigen Hürden der Wissensmehrung. So verkündete es die Hohe Lehre der Jeadhali, so war es in der Vergangenheit gewesen, und so würde es bis in alle Zukunft bleiben.

Plötzlich konnte ich die Mannschaft der FRAGDANK anhand ihres Äußeren auseinanderhalten. Warum auch nicht? Zu auffällig waren die Unterschiede in Körperlänge, Farbschattierung, Anzahl und Form der Aktionskrallen oder Biegungsverhalten des Steuerschwanzes.

Der Jeadhal, der mich angesprochen hatte, hieß Saa'yo-sochphal. Er war der Fürsprecher, der Kommandant der FRAGDANK.

Wie die anderen Jeadhali ließ er von mir ab, als ob nichts geschehen wäre. Wahrscheinlich war es das aus seiner Sicht auch nicht. Das bedeutete aber, dass ich nicht tatsächlich in die Vergangenheit gereist war, sondern nur in eine Projektion der damaligen Geschehnisse. Auf eine gewisse Weise wiesen sie zwar interaktive Elemente auf, denn offenbar konnte ich meinen Wirtskörper Maay'char-raygonar steuern. Am großen Ganzen änderte ich damit aber nichts.

Hoffentlich.

Die schmerzhaften Wunden, Risse und Furchen in meiner Kristallhaut waren mit einem Mal verschwunden.

Saa'yo-sochphal schwebte zur Kommandostrebe und verhakte sich mit den Haftborsten im Kristall.

»Illusoriumsverbindung zur WISSBURT herstellen!«, befahl er.

Die Aufforderung galt mir, wie ich begriff. Mit einem Antriebspuls aus dem Steuerschwanz bugsierte ich mich zu einer Ansammlung von Kristallspitzen auf dem spiralförmigen Steg. Erstaunlich, wie selbstverständlich ich den neuen Körper lenkte. Als hätte ich mich nie auf andere Weise fortbewegt.

Ich dockte an meinem Posten an und aktivierte mit gezielten Körperkontraktionen über die Kontrollkristalle das Illusorium.

Aus dem mehrzackigen Stern im Kugelzentrum lösten sich einige Schwaden feinsten Kristallstaubs, die sich innerhalb eines Schwanzschlags zur Darstellung eines Jeadhal zusammenfügten.

»Nei-tan'chryler«, begrüßte Saa'yo-sochphal den Fürsprecher der Informatischen Barke WISSBURT, des zweiten Schiffs unserer Triade. »Sind die Messdaten von GA-yomaad ausgewertet?«

»Das sind sie. Die Ergebnisse machen jedoch weitere Ortungen unumgänglich.«

»Begründung?«

»Alles deutet darauf hin, dass sich die Barriere um die Kreuzgalaxis aufgelöst hat. Mit den nächsten Messungen versuchen wir, das zu bestätigen.«

»Erstaunlich.« Saa'yo-sochphals Körper färbte sich für einen Moment hellblau. Ein Zeichen seiner Erregung. »Gibt es eine Erklärung?«

»Bislang haben wir keine gefunden.«

»Danke, Werter.« Der Fürsprecher schloss mit der üblichen Verabschiedung. »Möge der Zuwender deine Wissensmehrung würdigen.« Gleich darauf erteilte er mir den nächsten Befehl. »GA-yomaad im Illusorium zeigen.«

Die noch immer vor dem Zentralestern schwebende Gestalt von Nei-tan'chryler zerplatzte, und der Kristallstaub formte sich zur Darstellung zweier sich kreuzförmig durchdringender Galaxien: die Milchstraße und Andromeda.

Meine Sinnesborsten erzitterten bei dem Anblick. Eine schräg in der Zentrale hängende Spiralgalaxis, von einer gigantischen Kluft in zwei Hälften geteilt. An den Rändern des Spalts zeigten sich grell leuchtende Verwirbelungen aus Sternen und hochenergetischem kosmischem Staub. So sehr mich die Darstellung beeindruckte, die wahren Kräfte, die dort walteten, ließ sie bestenfalls erahnen.

Das Bild nahm mich so gefangen, dass mir erst nach und nach zwei Dinge ins Bewusstsein sickerten.

Zum einen bezeichneten die Jeadhali die gesamte Kreuzgalaxis als GA-yomaad. Hieß das, dass die Milchstraße als so viel bedeutender erschien als die ehemalige Nachbargalaxis? Aus welchem Grund sonst sollte Andromeda namentlich nicht erwähnt werden, obwohl sie doch einen Teil des Gesamtgebildes darstellte? Ich suchte in Maay'char-raygonars Erinnerungen nach einer Antwort, fand aber keine. Möglicherweise wagte ich mich nicht weit genug in sein Bewusstsein.

Zum zweiten konnte ich die Epoche, in der ich gelandet war, wenigstens grob eingrenzen. Aus Sicht der Jenzeitigen Lande mochte sie in tiefster Vergangenheit liegen. Von dem Moment aus gesehen, in dem ich mit der ATLANC in die Synchronie eingeflogen war, befand ich mich jedoch in einer weit entfernten Zukunft. Etwa vier Milliarden Jahre. Diese Spanne hatten die Forscher meiner Heimatzeit vorausgesagt, bis sich die Milchstraße und Andromeda durchdringen würden.

Vier Milliarden Jahre!

Wie mochte es um Terra bestellt sein? Kreiste die Erde als vereinsamter Planet um eine längst erloschene Sonne? Existierte sie überhaupt noch? Und was war mit dem Weltenbrand, den Perry Rhodan nach Auffassung des Atopischen Tribunals auslösen würde – oder aus Sicht der aktuellen Epoche bereits vor Ewigkeiten ausgelöst hatte? Ließen sich noch Spuren davon finden?

Ich bemerkte, wie sich mir einige Jeadhali näherten, die einander glichen wie ein Ei dem anderen.

Verdammt, ich war unbewusst zu weit aufgetaucht. Ich musste künftig darauf achten, einfach nur zur Kenntnis zu nehmen und weniger zu hinterfragen.

Sofort ließ ich mich tiefer in Maay'char-raygonars Bewusstsein sinken. Die nun wieder unterscheidbaren Jeadhali verharrten kurz und drehten ab.

»Die neuen Messungen haben den Verdacht bestätigt«, kam es über Bord-zu-Bord-Kom von der WISSBURT. »Die Barriere um GA-yomaad ist gefallen. Zum ersten Mal seit einigen Hundert Millionen Jahren.«

Seit etwa 280 Millionen Jahren, um ein wenig genauer zu sein, las ich in den Erinnerungen meines Wirtskörpers.

Ich suchte nach einer Antwort auf die Frage, warum die Milchstraße überhaupt von einer Barriere umgeben gewesen war, aber erneut wagte ich mich nicht tief genug in Maay'char-raygonars Bewusstsein.

»Illusoriumskontakt zur DENKZIEL herstellen«, ordnete Saa'yo-sochphal an.

Mittels Körperkontraktion nahm ich die entsprechende Schaltung vor. Der Fürsprecher des dritten Triadenschiffes, eines Hypertransit-Kommunikationsraumers, erschien oberhalb der Kreuzgalaxis. »Ich grüße dich, Werter.«

Ich erkannte die Stimme des Jeadhal wieder, der den Stopp des Hypertransits angeordnet hatte.

»Und ich dich«, gab Saa'yo-sochphal zurück. »Liegen Daten aus dem Inneren von GA-yomaad vor? Hyper- oder Normalfunk, Hinweise auf Schiffsverkehr, ungewöhnliche Energieentwicklungen?«

»Nichts dergleichen. Allerdings konnten wir bisher nur stichprobenhafte Messungen vornehmen.«

»Ich verstehe. Empfiehlst du eine Expedition?«

Der Fürsprecher der DENKZIEL zögerte. »Unser stetes Bestreben gilt der Wissensmehrung. Dennoch erscheint es mir ein großes Wagnis, in eine so lange unzugängliche Galaxis einzudringen. Bitte entschuldige, Werter, aber eine derartige Empfehlung übersteigt meine Entscheidungskompetenz.«

Saa'yo-sochphals Steuerschwanz zuckte hin und her. Offenbar hatte er auf eine triadeninterne Lösung gehofft. »Du hast recht. Ich werde unsere Beobachtung nach Jepehyr melden und auf eine Empfehlung von dort warten. Möge der Zuwender deine Wissensmehrung würdigen.«

»Und die deine.« Der Fürsprecher der DENKZIEL verschwand.

Saa'yo-sochphal löste sich von der Kommandostrebe, schwebte auf mich zu und dockte an die Funkkristalle neben mir an. Das Pulsieren seines Körpers zeigte, dass er Kontakt zur Hauptwelt der Wissgemeinschaft aufnahm.

Nur sieben Valryt später ...

Nein, ich durfte nicht zu tief in den Jeadhal einsinken. Ich musste die Erinnerung an mich selbst bewahren. So schwer es mir fiel, rechnete ich in eine mir geläufige Zeiteinheit um.

Keine zwei Minuten später schickte das Weiskartell eine Antwort. Ohne dass ich an den Einstellungen des Illusoriums etwas zu verändern brauchte, ballte sich der Kristallstaub aus der Kreuzgalaxisdarstellung zusammen und formte überlebensgroß einen Jeadhal, dessen Äußeres tiefrot glänzte.

Ay'Chem-somyar, der Zuwender höchstpersönlich, beehrte uns mit seinem Anblick.

»Wie weit ist die Triade von GA-yomaad entfernt?«, fragte er.

»130.000 Lichtjahre«, antwortete der Fürsprecher.

»Ein ausreichend großer Sicherheitsabstand.« Das Surren seiner Stimme klang samten. Ein Zeugnis der Weisheit. »Ihr wisst nicht, was euch in der Kreuzgalaxis erwartet. Eine Expedition birgt folglich ein Risiko. Dennoch seht ihr vor euch die Gelegenheit, das Wissen der Gemeinschaft zu vertiefen.

Wie aber sagt der dritte Satz der Hohen Lehre? Eine erzwungene Wissensmehrung schmeckt schaler als die Klugheit des Dummen. Deshalb gebe ich dir folgenden Rat: Halte schnellstmöglich ein Plebiszit auf dem Pionierraumer ab. Wenn die Mehrheit der Besatzung es will – und nur dann –, soll die FRAGDANK – und nur sie – in die Kreuzgalaxis vorstoßen.«

»Ich danke dir für deine Weisheit.«

»Viel Glück. Wie auch immer eure Entscheidung ausfallen mag, ich werde die Wissensmehrung würdigen.«

Die Gestalt des Zuwenders verpuffte und formte erneut das Bild der Kreuzgalaxis.

 

*

 

Das Ergebnis des Plebiszits fiel überzeugend aus. Fast vier Fünftel, also nicht ganz 80.000 der insgesamt 100.000 Jeadhali, stimmten für das Projekt.

Nicht zuletzt ich, bot sich mir doch die Gelegenheit, nach Terra und Luna Ausschau zu halten. Vor allem das Schicksal des Erdmonds interessierte mich, denn in der fernen Zukunft, aus der ich in diese Zeit gereist war, bildete er in den Jenzeitigen Landen das Haus Addaru.

Ich musste versuchen, den Fürsprecher dazu zu bringen, die FRAGDANK in das Solsystem zu steuern.

Aber wie? Wäre es nicht aussichtsreicher gewesen, in das Bewusstsein des Kommandanten zu schlüpfen und nicht in das eines einfachen Kommunikators?

Als hätte ich es mir aussuchen können ...

Hast du eine Idee?, fragte ich meinen Extrasinn.

Er schwieg.

Warum sprichst du nicht mit mir?

Keine Antwort.

Wie oft hatte ich darüber geschimpft, wenn sich der Logiksektor ungefragt in mir gemeldet hatte. Und nun, da er schwieg, sehnte ich mich nach seinem Rat.

Mir fiel ein, wie seine Stimme beim Sturz durch die Zeit immer leiser geworden und schließlich verstummt war. Bedeutete das etwa ...?

»Genau das bedeutet es.«

Ich zuckte zusammen. Meine Sinnesborsten erzitterten.

Hastig sah ich mich um. Wer sprach da?

Niemand aus der FRAGDANK, soweit ich das beurteilen konnte. Denn auf dem Pionierschiff herrschte plötzlich gespenstische Ruhe. Sämtliche Jeadhali wirkten wie eingefroren. Regungslos hingen sie an den Kristallstreben oder verharrten mitten im Raum. So, als sei die Zeit stehen geblieben.

»Hallo?«

Statt einer Antwort hörte ich ein statisches Rauschen. Was geschah da? Ein Fehler in der Geistreise-Technologie? Ein Programmabsturz? Und warum meldete sich der Logiksektor nicht?

Ich lauschte angestrengter. Schwamm da unter dem Rauschen nicht eine Stimme mit? Leise nur, fast unhörbar, wie aus weiter Ferne.

Die Stimme von ... »YLA?«

»Ich musste das Szenario kurz anhalten«, antwortete die Tochter des lunaren Großrechners NATHAN. Manche Silben gingen in dem Hintergrundrauschen beinahe unter. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie aus dem Rest des Satzes selbst zu erschließen. »Das werde ich aber nur selten und nie lange tun können.«

»Warum schweigt mein Extrasinn?«

»Weil er nicht fähig ist zu einem Het...nem...ischen Import, wie ihn deine Existenz im Augenblick darstellt.«

»Einem ... was?«, fragte ich nach den lückenhaften Passagen, bei denen mir selbst die größte Phantasie nicht half, sie eigenständig aufzufüllen.

»Einem Hetero-mnemotischen Import, kurz HMI. Ein außerordentlich komplexes Verfahren.«

»Davon habe ich nie gehört«, gab ich zu.

Erneut vernahm ich nur Rauschen. War die Verbindung abgebrochen? Oder rechnete YLA alle Varianten durch, mit denen sie mir die technischen Hintergründe erklären konnte, ohne mich zu überfordern? Aber das würde niemals so lange dauern, schließlich war YLA kein Mensch, sondern ...

Ich erkannte den Denkfehler. Woher wollte ich wissen, wie viel Zeit tatsächlich verging, während ich auf eine Antwort wartete? Womöglich steckte ich noch nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde in der Vergangenheitsszenerie, egal, wie lange es mir vorkam.

»NATHAN verfügt über die Mnemo-Essenz von Billionen Lebewesen«, erlauschte ich endlich durch das Rauschen. »Dabei solltest du bedenken, dass es sich nicht mehr um den NATHAN handelt, den du kennst, sondern um eine über Jahrmilliarden fortentwickelte Recheneinheit.«

Wenn ich an den technischen Fortschritt innerhalb weniger Jahrhunderte dachte, erschien es mir schier unvorstellbar, welchen Sprung NATHAN in einer derart gewaltigen Zeitspanne gemacht haben mochte.

»Die Essenzen liegen jedoch nicht in irgendwelchen Speichern«, fuhr YLA fort. »Sie agieren in einem Sextadim-Bezugsfeld, das zum Bewusstsein der Intotronik gehört.«

»Sie agieren?«

»Spielen ihre Erinnerungen nach, wenn du so willst. Bei einem Hetero-mnemotischen Import blendet NATHAN einen Bewusstseins-Avatar in das Sextadim-Bezugsfeld. Vereinfacht gesagt, hast du die Persönlichkeit des Jeadhal übernommen. Je nachdem, wie tief du in ihn eintauchst, überlässt du ihm die Steuerung oder übernimmst sie selbst.«

Es gab keinen Anlass, YLA nicht zu glauben. Dennoch fühlte sich etwas an ihren Erklärungen falsch an. Wenn mir doch nur der Extrasinn auf die Sprünge ... Halt! Unvermittelt fiel es mir selbst auf.

»Wenn ich die Steuerung übernehme und anders entscheide, als mein Wirtskörper es in der realen Vergangenheit tat, verändere ich den Verlauf der Szenerie. Erlebe ich folglich nicht Erinnerungen an Ereignisse mit, die sich so nie abgespielt haben?«

»Nur bedingt. Die Gesamtheit der Mnemo-Essenz verfügt über eine hohe Beharrungskraft. Der importierte Bewusstseins-Avatar hingegen ist NATHAN fremd. Das heißt, als HMI kannst du Aspekte des mnemotischen Gesamtpaketes ändern oder variieren. Theoretisch könntest du es sogar verfälschen. Das würde die Gesamtheit aber nicht zulassen und deswegen versuchen, Einfluss auf dich zu nehmen.«

Ich musste daran denken, wie mich die Jeadhali bedrängt und verletzt hatten. »Was im Zweifel so weit ginge, dass sie mich aus dem Bezugsfeld entfernen. Oder töten.«

YLAS Schweigen war mir Antwort genug.

»Was ich hier erlebe«, vergewisserte ich mich, »ist also mehr als eine Simulation.«

»Richtig. Es geschieht wirklich, wenngleich nicht materiell. Stell es dir als eine vergegenwärtigte Version der Geschichte vor, bereichert um deine Teilnahme. Und nun lasse ich dich wieder allein.«

»Warte!«, rief ich in Gedanken, so laut ich konnte. »Es gibt noch eine Sache, die ich nicht verstehe.«

»Frag!« Ihre Stimme war kaum noch zu hören.

»Du hast gesagt, ich müsse in Matan Addarus Erinnerungen eintauchen, zu ihm werden, wenn ich seine Geschichte erfahren will. Warum stecke ich also statt in seinem Bewusstsein in dem eines Jeadhal?«

»Weil es die HMI-Technologie nicht erlaubt, in den Geist eines Atopen einzudringen. Das muss er dir selbst gestatten. Hab Geduld, Atlan, nur ein bisschen Ged...«

YLAS Stimme verklang, und die Szenerie an Bord der FRAGDANK erwachte erneut zum Leben.

 

*

 

80.000 von 100.000 Besatzungsmitgliedern hatten für eine Expedition in die Kreuzgalaxis gestimmt. Ein beachtliches Ergebnis.

Ich bedauerte ein wenig die restlichen 20.000, die gegen ihren Willen an der Reise mit ungewissem Ausgang teilnehmen mussten –