cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 2865

 

Die Finale Stadt: Hof

 

Atlan in der entschlafenden Welt – in einem Land ohne Himmel

 

Oliver Fröhlich

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

img2.jpg

 

Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Perry Rhodan ist von einer Expedition in vergangene Zeiten in die Gegenwart zurückgekehrt. Diese wird nicht nur durch die Atopen bedroht, sondern auch durch die brutalen Tiuphoren, die durch einen Zeitriss aus tiefster Vergangenheit zurückgekehrt sind. Immerhin scheint mit dem ParaFrakt eine Abwehrwaffe gefunden zu sein.

Indessen hat sich der Arkonide Atlan ins vermutete Herz der Atopischen Macht begeben – die Ländereien jenseits der Zeit, über die Thez regiert. Mit Thez selbst oder einem seiner Vögte zu sprechen und dadurch die Milchstraße von der Atopischen Ordo zu befreien, ist Atlans Ziel. Über das Unten und das Oben führt ihn sein Weg nun in DIE FINALE STADT: HOF ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan da Gonozal – Der Unsterbliche reist im Conestoga-Wagen.

Vogel Ziellos – Der Vogelartige fällt auf.

Lua Virtanen – Die Freundin Vogels verspürt Müdigkeit.

Der Revolvermann – Ein Mann mit einem alten Auftrag.

Maybelle Carr – Eine Witwe flieht vor den Wilden.

Litanei der Finalen Stadt: Hof

(Faszikel Eins)

 

Die Letzte Stadt ist auch

die Stadt der Letzten.

Hier wohne ich;

es gibt kein anderswo.

 

 

1.

Es ist kein Himmel

 

Das Weißhaupt streifte durch die Finale Stadt, und der Revolvermann folgte ihm.

Er zog den Colt aus dem tief in der Hüfte hängenden Gurt, ließ die Patronentrommel rotieren, spuckte einen Strahl tabakbraunen Speichels ins Gras und seufzte. Schon klar, dieser Satz, mit dem er gedanklich seine Aufgabe beschrieb, traf nicht mal annähernd ins Schwarze. Denn um der Figur mit den weißen Haaren zu folgen, müsste er erst einmal wissen, wo sie sich herumtrieb.

In der Finalen Stadt – logisch, das hatte er kapiert, er war ja nicht blöd. Das hieß aber nicht, dass Atlan überhaupt schon im Hof aufgetaucht war. Nee, hieß es nicht. Vielleicht geisterte er noch im Oben oder im Unten herum.

Doch eines schönen Tages würde er im Hof aufkreuzen, jede Wette. Sonst hätte der Boss ihm ja kaum den Auftrag gegeben, stimmt's?

Es war dem Revolvermann aber im Grunde reichlich egal, ob der Satz ins Schwarze traf. Die Worte klangen gut, mehr interessierte ihn nicht.

Er steckte den Colt zurück ins Holster und schob den Stetson so weit hoch, dass die hintere Krempe den Nacken berührte.

Eines schönen Tages wird Atlan aufkreuzen, dachte er erneut – und konkretisierte gleich darauf mit einem Lächeln: Eines nicht mehr allzu fernen schönen Tages. Das spüre ich.

Der Revolvermann sah nach oben. Dorthin, wo es in anderen Welten einen Himmel gab.

Rasch wandte er sich wieder ab. Er hatte so einiges erlebt, aber diesen Anblick ertrug er nicht.

Wenn es eines letzten Beweises bedurft hätte, dass der Hof entschlummerte, ach Bullshit: dass er elend verreckte, fand man ihn über den Köpfen seiner Bewohner.

»Dir ist schon klar, was das bedeutet«, sagte er zu sich selbst – etwas, das er sich mangels Gesellschaft vor langer Zeit angewöhnt hatte. »Das Ende ist nah.«

O ja, die Begegnung mit Atlan war abzusehen. Die Erfüllung seiner großen Aufgabe, die in nicht weniger bestand, als dem Weißhaupt den Tod zu schenken.

 

*

 

Maybelle Carr zuckte aus dem Schlaf hoch. Für einen Augenblick fühlte sie sich desorientiert. Erst nach und nach sickerte die Erinnerung durch ihr vom Schlummer vernebeltes Bewusstsein. Als jedoch die Bilder des Überfalls auf die Wegstation allmählich in ihr hochkrochen, sehnte sie die sekundenlange Unbeschwertheit des Unwissens zurück.

Sie saß auf dem Kutschbock des Conestoga-Wagens. Des mitten in der Prärie stehenden Wagens!

Offenbar hatten die Pferde bemerkt, dass die Lenkerin eingenickt war, und sich deshalb selbst eine kleine Pause gegönnt. Nur zu verständlich, immerhin mussten Bravo und der alte Huub die Arbeit von sechs Zugtieren verrichten. Kein Wunder, dass sie erschöpft waren.

Am Horizont zeichneten sich sanfte Hügel ab, die Ausläufer des Gebirges. Eine kleine Bisonherde stand in einiger Entfernung und graste. Nur gelegentlich hob eines der Tiere den Kopf und schaute gelangweilt zu dem Conestoga-Wagen.

Wie lange hatte Maybelle gedöst? Eine Stunde? Ein paar Minuten? Wenn es danach ging, wie müde und erschlagen sie sich fühlte, dürfte sie überhaupt nicht geschlafen haben – und das seit einigen Tagen. Jede Bewegung fiel ihr schwer, jeder Gedanke kostete Kraft. Am liebsten hätte sie sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und nie wieder ...

Nein! Sie musste sich zusammenreißen und stark bleiben. Für Jocy.

Sie zog eine Lederflasche aus der Proviantmulde im Kutschbock, entkorkte sie mit trägen Fingern und trank. Der bitter-muffige Geschmack des Suds aus Teufelswurzel widerte sie an, doch sie zwang sich zu vier großen Schlucken. Sofort setzte die belebende Wirkung ein. Wie lange sie anhalten würde, war eine andere Frage.

Mit etwas Wasser aus einer zweiten Flasche spülte sie nach, aber der ekelhafte Geschmack blieb ihr im Mund kleben.

Maybelle schaute zu den beiden Rappen. Huub stand regungslos und mit gesenktem Kopf, als döste er vor sich hin. Bravo zupfte ein wenig Gras und schnaubte leise. Dabei bewegte er sich so langsam, dass die drei Bronzeglocken auf dem Kummet still blieben.

Schade. Maybelle liebte den Klang der Glocken. Er erinnerte sie an früher. An bessere Zeiten, als ihr Vater noch gelebt hatte. Sie lächelte, als ihr einfiel, wie sie ihm als Achtjährige hatte helfen dürfen, den Kutschbock in den schweren, langen Planwagen einzubauen.

»Ungewöhnlich für einen Conestoga-Wagen, ich weiß«, hatte er gesagt. »Aber was gibt es Schöneres, als die Pferde so nahe vor sich zu sehen, mit dir, mein Honigblümchen, neben mir als Kutschergehilfin?«

Maybelle wäre vor Stolz beinahe geplatzt, wenn sie ihr Vater um die Zange, die Nägel, die Vibrationssäge oder den Positronikhammer bat. Wenn es einen Tag gab, der die Essenz ihrer Kindheit symbolisierte, dann war es jener. Und während sie die schönsten Stunden erlebte, an die sie sich auch nach Jahren noch erinnerte, bimmelten leise die Glöckchen von Bravos Kummet.

Eine Woche später hatte sich Vater einen schweren Stein an den Fußknöchel gebunden und war damit in den See hinter dem Haus gesprungen. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief, keine Erklärung, nichts.

Wozu auch? Jeder wusste, was geschehen war: das, was im Hof häufiger geschah.

»Er hat zu lange in den Himmel gestarrt«, hörte Maybelle wochenlang die Leute im Dorf flüstern.

»Das zehrende Nichts hat ihm ein Loch in den Schädel geschlagen«, sagten andere, »aus dem die Lebensfreude sickerte, bis nichts mehr davon übrig war.«

Die Leute wussten, wovon sie sprachen. Der alte Jeremiah Carr war bei Weitem nicht der Erste gewesen, der freiwillig aus dem Leben schied.

Er sollte auch nicht der Letzte bleiben, den Maybelle auf diese Weise verlor: Sieben Jahre später steckte sich ihr Bruder den Lauf einer Schrotflinte in den Mund und drückte ab. Und vor elf Monaten folgte ihr Ehemann diesem Beispiel mit ähnlich zerstörerischem Ergebnis.

Maybelle wischte die Tränen weg, die ihr plötzlich über die Wangen rannen, und rieb sich die Augen. Kurz schaute sie nach oben – in der lächerlichen Hoffnung, etwas anderes zu sehen als das zehrende Nichts, das ihren Vater, ihren Bruder, ihren Ehemann und viele mehr das Leben gekostet hatte.

Sinnlos.

Dort, wo der Himmel sein sollte, trieb lediglich ein Schwarm Kometen und versank irgendwo. Ansonsten sah sie nur ...

Rasch senkte sie den Blick und heftete ihn beinahe krampfhaft an den Rücken der Pferde.

»Und wenn es doch einen Himmel gibt?«, hatte Maybelle ihren Vater als kleines Kind gefragt, Jahre bevor er mit einem Stein baden ging. »Vielleicht muss man nur die Augen zusammenkneifen und lange genug hinsehen, bis man ihn findet hinter dem ...«

»Nein!«, hatte seine ungewohnt harsche Antwort gelautet. Etwas sanfter: »Früher soll es einen Himmel gegeben haben, wie man sich erzählt. Aber das ist bloß eine Legende, der du nicht glauben darfst. Schau nicht zu lange hin, mein Honigblümchen. Du wirst dort oben nichts finden. Wenn du versuchst, den Himmel zu entdecken, ist es, als versuchtest du, mit der Fußsohle in deinen Schuh zu sehen.«

Maybelle hatte bei dem albernen Vergleich kichern müssen, und auch an diesem Tag auf dem Kutschbock des Conestoga-Wagens entlockte er ihr ein mattes Lächeln.

Merkwürdig. All diese Erinnerungen, nur weil Bravos Glöckchen nicht bimmelten ... Für einen Augenblick war ihr sogar der Überfall auf die Wegstation entfallen und ...

Jocy!

Maybelle zuckte zusammen und keuchte auf. Wie hatte sie nur ihre Tochter vergessen können? Diese verdammte Müdigkeit, die dafür sorgte, dass ihre Gedanken ziellos umherspazierten!

Die Witwe Carr mühte sich vom Kutschbock hoch und kletterte darüber hinweg in den Wagen. Sofort umfing sie muffiges Halbdunkel. Es roch nach dem Staub der Wege und nach Krankheit.

Zu ihrer Rechten stapelten sich Stühle und zwei Tische, die Maybelle mit faserigen Seilen an den Verstrebungen des Wagens vertäut hatte. Links fanden sich drei Truhen mit Kleidung und eine große Blechwanne, bis zum Rand gefüllt mit Töpfen, Tellern, Krügen und Besteck. Alles, was Maybelle Carr auf die Schnelle für die Flucht hatte zusammenraffen können.

Erneut stiegen vor ihr die Bilder des Überfalls auf: der reglos daliegende Körper des Schmieds, die Zange mit dem auskühlenden Hufeisen noch in der Hand. Oder die alte Patricia Henderson, die mit ausgestreckten Armen über der Theke des Drugstores hing, davor die kleine Sophie, ihre Enkelin, eine aufgeplatzte Tüte mit Lakritz in der Hand. An der Wange des Mädchens klebte ein Lutscher, der ihm aus dem Mund gerutscht war.

Mit aller Macht verdrängte Maybelle die Erinnerung und schob sich durch den schmalen Gang in der Wagenmitte. Hin zu ihrer Tochter.

Jocelyn lag in dem gläsernen Heilbett, das ihnen Doc Goodfellow vor ein paar Wochen vorbeigebracht hatte. Eine Klapperschlange hatte Jocy gebissen, weil sie wieder einmal zu weit vom Haus weggestromert war, und ohne die Hilfe des Docs wäre sie vermutlich gestorben. Wie oft hatte ihr Maybelle gesagt, dass sie nicht im Schatten der Sandblütensträucher spielen sollte, weil die Giftrassler dort ihre Nester anlegten? Offenbar nicht oft genug.

Eigentlich hätte Goodfellow das Bett vorgestern abholen wollen, aber der Überfall war dazwischengekommen. Wahrscheinlich war er selbst bereits ein Opfer der Wilden geworden.

Welch schrecklicher Verlust das wäre! Immerhin galt er als einer der besten Ärzte bei der Behandlung von Schusswunden.

Andererseits, mit dieser Art von Verletzung wäre vermutlich sogar er überfordert.

Maybelle starrte auf das Loch im Kleid ihrer Tochter. In Bauchhöhe, wo sie der Schuss getroffen hatte.

»Solche Bestien«, flüsterte die Witwe mit zittriger Stimme. »Nicht einmal vor Kindern schrecken sie zurück.«

Anken, Jocys Lieblingspuppe, ruhte Wange an Wange mit ihr. Maybelle hatte sie eigens so hingelegt, dass die Kleine etwas Vertrautes sähe, wenn sie aufwachte.

Falls sie aufwachte.

Atmete sie überhaupt noch? Versorgte sie das Glasbett mit genug Flüssigkeit und Nährstoffen?

»Schatz?«, fragte sie leise.

Einerseits sehnte sie sich danach, dass Jocy die Lider aufschlug und sie ihr in die strahlend blauen, lebhaften Augen sehen konnte. Andererseits fürchtete sie den Moment. Was, wenn ihre Tochter sie nicht mehr erkannte? Was, wenn Maybelle keine Spur von der lebensfrohen Rabaukin in ihrem Blick wiederfand? Wenn ihr das zehrende Nichts den nächsten geliebten Menschen raubte?

Das Mädchen reagierte nicht. Wie tot lag es in dem Glasbett. Wenigstens glaubte Maybelle, endlich ein sanftes Anheben und Senken des Brustkorbs zu bemerken. Ihre Tochter atmete, dem Herrn Jesus sei Dank.

Mit Mühe widerstand Maybelle der Versuchung, der Kleinen über die Stirn zu streicheln. Jocy einmal zu berühren, nämlich als sie sie in das Heilbett gelegt hatte, war vermutlich schon zu viel gewesen. Sie wollte das Schicksal nicht zusätzlich herausfordern.

Schweren Herzens kehrte sie zurück zum Kutschbock und kletterte vom Wagen.

»Obie!«, schrie sie – und irgendwie gelang es ihr, leise zu schreien. Jocy sollte nicht aufwachen, solange sie nicht in Fort Mann angekommen waren und dort hoffentlich einen Arzt fanden. Falls die Stadt nicht ebenfalls bereits zu einem Opfer der Überfälle geworden war. »Obadia!«

»Ich bin hier«, kam die Antwort von der linken Seite des Wagens, vom Lazy Board.

Wie immer blieb Obie der Tradition verhaftet und saß während der Fahrt auf dem dicken, ausziehbaren Eichenbrett, dem üblichen Platz für den Lenker oder dessen Assistenten. Von einem Conestoga-Wagen mit Kutschbock hielt er nichts.

Bereits seit Generationen diente Obadia der Familie Carr. Als Hausdiener, als Knecht, als Kutscher, Koch und Heiler kleinerer Wehwehchen. Ein echtes Mädchen für alles. Dabei war er gar kein Mädchen. Und auch kein Mann – oder auch nur ein Mensch.

Als Kind hatte Maybelle ihn für einen Troll gehalten. Einen lieben Troll, klar, aber trotzdem einen Troll.

Obie kam nach vorne, ein metallisches, kegelförmiges Wesen, keinen Meter groß, das eine Handbreit – bei Bedarf auch ein bisschen mehr – über dem Boden schwebte. Aus seinem Leib wuchsen zwei metallene Tentakel. An der Stelle eines Kopfes saß ein Kranz mit vier mechanischen Augen. Wie immer trug er das alte Flanellhemd, das Jeremiah Carr ihm vor Ewigkeiten aus einer Laune heraus übergezogen hatte.

»Jungchen, du kannst nicht dauernd nackt herumrennen«, hatte er gesagt.

War das vor oder nach dem Gespräch gewesen, das Maybelle mit Vater über das zehrende Nichts geführt hatte? Sie erinnerte sich nicht.

Auf Obies ... nun ja: Kopf saß der übliche alte Filzhut. In der Öffnung, die den Mund darstellte, klemmte eine Zigarre. Oder besser: ein kurzer, stinkender Stumpen.

Aber etwas stimmte mit dem Rauch nicht, der davon aufstieg. Maybelle brauchte mehrere Sekunden, bis sie es erkannte. Der Rauch bewegte sich nicht. Er stand starr und still in der Luft, als hätte ihn jemand mit Kreide auf eine Schiefertafel gezeichnet. Oder als wäre er weggedöst. So wie sie auf dem Kutschbock, so wie der alte Huub vor dem Wagen, so wie inzwischen ein Großteil des Hofes.

Was war nur los mit diesem Teil der Finalen Stadt?

Was geht hier vor?, wollte sie fragen. Doch als sie den Mund öffnete, drangen andere Worte über ihre Lippen: »Ich war bei Jocy.«

»Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Obie, obwohl er es ohne Zweifel wusste.

»Unverändert«, sagte sie.

»Es tut mir sehr leid, dass ich ihr nicht helfen kann. Aber ich bin nur auf kleinere Verletzungen spezialisiert.«

»Ich weiß. Mach dir keine Vorwürfe. Warum ist der Wagen stehen geblieben?«

»Die Pferde sind erschöpft. Und auch Sie sind eingeschlafen, Mylady. Ich habe Sie geweckt.«

Tatsächlich? Daran konnte sie sich nicht erinnern. »Warum?« Im nächsten Augenblick schämte sie sich der Frage. Sie wollte nicht schlafen. Durfte es nicht. Wer vermochte zu sagen, ob sie jemals wieder aufwachte?

»Jemand kommt«, sagte Obadia.

»Doc Goodfellow?«, fragte sie in einem irrationalen Aufwallen eines tot geglaubten Gefühls: Hoffnung.

»Ich fürchte, es ist nicht Doctor Goodfellow.«

»Wer dann?« Sie fröstelte, als ihr eine Alternative einfiel: »Der Mann mit der hölzernen Taschenuhr?«

Maybelle hatte ihn nie selbst getroffen. Niemand, den sie kannte, hatte das. Aber jeder wusste, was man sich von ihm erzählte: dass er in unregelmäßigen Abständen in den Städten des Hofes auftauchte, wahllos Leute anhielt und sie in breitestem Südstaatendialekt fragte, ob sie einen Mann mit auffällig weißen Haaren gesehen hatten – oder »so 'ne Figur mit bleichen Flusen auf dem Schädel«, wie er es angeblich selbst ausdrückte.

Immer wenn die Gefragten verneinten, zog er eine hölzerne Uhr an einer Kordel aus der Westentasche, ließ den Deckel aufspringen und warf einen Blick auf das Zifferblatt.

Jedes Mal – wirklich jedes Mal, wenn man den Geschichten glauben durfte – spuckte er einen nach Kautabak stinkenden Speichelschwall zu Boden, steckte die Uhr weg und sagte: »Wird aber bald auftauchen! Jeez, das wird er! Ist schließlich schon vier Minuten vor zwölf. Und wenn ich ihm den Tod geschenkt habe, wird diese Welt aufhören zu sein.« Dann drehte er sich grußlos um und stapfte mit klirrenden Stiefelsporen davon.

Niemand wusste, was es mit dem Weißhaarigen auf sich hatte, den er suchte, warum er ihn umbringen wollte und was das mit der Existenz des Hofes zu tun hatte, aber jeder verstand die Drohung am Ende seiner Worte. Und jeder fürchtete ihn.

»Auch nicht der Mann mit der Taschenuhr«, sagte Obie. »Er ist nur eine Legende.«

»Bist du dir da sicher?«

»Nein, Mylady.«

Ein weiterer Gedanke drängte sich in ihr müdes Bewusstsein. Zu abwegig und zugleich beängstigend, um ihn laut auszusprechen: Was, wenn es der Mann mit den weißen Haaren war, der kam? Der, nach dessen Tod diese Welt aufhören würde zu sein? Für jemanden, der die Legende für bare Münze nahm, musste alles darauf hindeuten: Das zehrende Nichts mit all den Selbstmorden hatte den Anfang gemacht. Dann kamen die Überfälle der Wilden, das Einschlafen der Welt. Und nun, anders als im Bibelbuch beschrieben, als letztes Zeichen der Apokalypse, der Mann mit den weißen Haaren.

»Wir sollten fort«, sagte Maybelle, wohlwissend, dass es keine Flucht vor dem gab, was sie fürchtete.

»Das sollten wir«, stimmte Obie zu.

 

*

 

Um mich herrschte Leere. Das Glazialplateau, das Lua Virtanen, Vogel Ziellos und ich im Oben erlebt hatten, lag längst hinter uns.

Längst?

Seit wann schwebten wir denn in diesem ausdehnungslosen Nichts? Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Es konnte sich um Minuten handeln, vielleicht auch um Jahre.

Du Narr!, ermahnte mich mein Logiksektor. Du hast solche Reisen oft genug mitgemacht, um zu wissen, dass du deinen Sinnen nicht trauen darfst. Ein paar Sekunden sind vergangen, mehr nicht.

»Atlan?«, erklang Vogels Stimme über Helmfunk. »Lua? Seid ihr irgendwo? Ich kann euch nicht sehen.«

»Keine Panik«, sagte ich. »Wir kommen gleich im Hof an. Auf Pend ist Verlass. Glaube ich.«

»Aber wir sind seit Ewigkeiten unterwegs!«, behauptete Lua.

»Eine Täuschung. In Wirklichkeit liegt unser Aufbruch gerade mal ein paar Sekunden zurück.«

Großkotz!, spottete der Extrasinn.

Ich ging nicht darauf ein, sondern dachte über Pend 1749 nach. Wir hatten dieses sehr spezielle Wesen, das vage einer aufrechten Riesenlibelle ähnelte, im Oben gefunden – eingeschlossen in einen kristallinen Eisblock. Hauchzart, transparent und kaum sichtbar stand es da. Dank unserer Hilfe kam es frei, und wir begriffen den Grund für seine Halbexistenz. Pend hatte sich lange, wahrscheinlich für Äonen, in einem der entzogenen und/oder in sich versunkenen Lande aufgehalten und tat es teilweise noch. Mit anderen Worten: Er war bisher nicht vollständig zurückgekehrt.

Zum Dank für die Befreiung – und weil er sich ohnehin auf die Suche nach seinen restlichen Aspekten oder Fragmenten machen wollte – erklärte er sich bereit, uns in den Teil der Finalen Stadt zu bringen, der als Hof bezeichnet wurde.

Und im Augenblick war er dabei, genau das zu tun. Obwohl ich nicht viel davon mitbekam, gefangen mitten im Nirgendwo. Allmählich blühten erste Zweifel in mir. Vielleicht hatte ich mit meiner Aussage Vogel gegenüber etwas zu viel Zuversicht gezeigt. Durfte man sich tatsächlich auf ein halb existentes Wesen verlassen? Falls ja, was erwartete uns im Hof? Das Unten und das Oben waren nicht dazu angetan, mir Hoffnung auf einen zur Abwechslung idyllischen Ort zu machen. Dennoch entstand vor meinem geistigen Auge das Bild eines Palastes oder einer Burg, an dem ein König Hof hielt. Ich sah vor meinem geistigen Auge Zinnen, Stallungen, Ritter, die auf edlen Rössern an mir vorbeiritten.

Im nächsten Moment verpuffte die Leere um uns. Plötzlich spürte ich Boden unter den Füßen und die Gravitation, die an mir zerrte. Ich erkannte, wie weit ich mit meinen Traumbildern neben der Wirklichkeit lag.

»Puh!«, stieß Lua hervor, die ich zu meiner Linken ausmachte. »Das nenne ich eine Überraschung.«

»Stimmt«, sagte Vogel Ziellos. »Aber auf jeden Fall besser als eine Kloake oder eine Eiswüste wie in den letzten beiden Stadtteilen.«

Wir fanden uns in einer Welt wieder, die Terra glich. Vor uns breitete sich eine weite, grüne, fruchtbare Ebene aus. Große, braune Tiere, wahrscheinlich Bisons, grasten in der Ferne. Am Horizont erhoben sich blaue Berge. Ich sah vereinzelte Bäume, aber auch ganze Wälder, einen Fluss, da und dort ein Haus.

Ein wahres Idyll – dem ich nicht traute.