Aus der Asche

 

 

 

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Band 74

 

Aus der Asche

 

von Christian Schwarz und Catalina Corvo

nach einer Story von Susanne Wilhelm

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Während eines Kampfes gegen einen Zentrumsdämon, der unter den Isles of Scilly gefangen war, übernimmt der in ihr schlummernde Asmodi die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Zur selben Zeit kann Olivaro von den Scillies ein seltenes Artefakt mitnehmen: den Feuerschädel. Daraus erschafft er den Stab des Schlichters, ein Artefakt, mit dem eine Schlichterin noch vor der Zeit der Schwarzen Familie für Ordnung unter den Dämonen gesorgt hatte. Nun soll der neue Schiedsrichter der Schwarzen Familie derjenige sein, der diesen Stab berühren kann, ohne zu verbrennen.

In einem rumänischen Dorf fällt die Entscheidung – und ausgerechnet Coco Zamis wird zur neuen Schiedsrichterin. Dorian Hunter fühlt sich verraten und verlassen und setzt alles daran, sie zurückzuholen. Doch seine Feinde sind ihm einen Schritt voraus, und obwohl es Dorian gelingt, Cocos größten Konkurrenten, Edwin Jong zu töten, zahlt er dafür einen hohen Preis: sein Leben.

 

 

 

 

Erstes Buch: Eis und Schnee

 

 

Eis und Schnee

 

von Catalina Corvo

nach einer Story von Susanne Wilhelm

 

1.

 

Fred Archer, London

Der nächtliche Nebel verschlang selbst das farbenfrohe Leuchten der Strahler des London Eye. Anhaltender Regen hatte die ansonsten ansehnliche Uferpromenade in eine bizarre Seenlandschaft aus grauen Pfützen verwandelt. Das harte, gelbe Neonlicht der Straßenlampen geisterte auf den nassen Pflastersteinen, erreichte aber kaum die Anlegestellen, wo Boote und Jachten wie zusammengekauertes Vieh vor sich hindümpelten. Ihre Schemen hoben sich schwach gegen die dunkle Tiefe des Wassers ab.

Selbst der niemals endende Verkehrslärm von der Westminster Bridge drang nur als verzerrtes Echo zum Ufer vor. Die nächtlichen Gassen des vornehmen Alt-London verschluckten ihn, als gehörten die Zeugnisse der Moderne nicht in ihren mitternächtlichen Traum.

Lediglich die hastigen Schritte eines einzelnen Mannes hallten von den Fassaden der schmucken Gründerzeitbauten wider. Immer wieder warf der Eilige nervöse Blicke über die Schulter. Die rechte Hand umklammerte einen Gegenstand in der Manteltasche.

Erst als er sich gründlich vergewissert hatte, dass ihm niemand folgte, hielt Fred Archer inne, um Luft zu holen. Sein eigenes Keuchen klang überlaut in seinen Ohren. Er suchte Halt am gusseisernen Ufergeländer und rang nach Luft. Dabei spähte er in die Gasse hinter sich, doch bereits nach der nächsten Straßenlaterne versank die Welt in undurchdringlichem Grau.

Dumpf brummte auf der Themse ein vereinzeltes Motorboot vorbei. Aus einem Pub auf der anderen Seite des Stroms drangen Stimmengewirr und Gelächter.

Er spähte dennoch in alle Richtungen, lauschte auf das leiseste Geräusch. Es mochte sich still verhalten, aber es war noch da. Das »Ding«, wie er es in Gedanken nannte. Es war seit drei Tagen immer da.

Es lauerte am Rande seiner Wahrnehmung und verkroch sich im Schatten. Es ließ ihn nie zur Ruhe kommen. Wie ein durchdringender Blick aus unsichtbaren Augen. Wie Fingernägel, die leise über eine Tafel rieben, oder der heiße Atem eines Verfolgers im Nacken.

Seit es aufgetaucht war, fand Fred keinen Schlaf mehr. Eine Unruhe hatte ihn erfasst, die ihn auf den Beinen hielt und durch das graue verregnete London trieb. Von Hotelzimmer zu Hotelzimmer, durch Busse und Bahnen. Selbst mit dem Taxi hatte er seinen unsichtbaren Verfolger nicht abschütteln können.

Doch sein Ziel, den Schutz der Jugendstilvilla, erreichte er nie. Wie durch Zufall stieg er in die falsche Bahn, Taxifahrer fanden die Adresse nicht, zu Fuß hatte er sich bereits viermal verlaufen. Ebenso gelang es ihm nicht, London aus eigener Kraft zu verlassen. Ein mysteriöser Zufall jagte den nächsten. Er verpasste Züge, und der Bus war immer gerade weg. Was immer sich an seine Fersen geheftet hatte und ihn in der Stadt wie in einem Pferch gefangen hielt, besaß auch die Macht, ihn an jeder sinnvollen Kommunikation zu hindern.

Aus jedem Telefon, das er anfasste, drang lediglich ein unheimliches Rauschen. Selbst geliehene Geräte, die ansonsten bestens funktionierten, verweigerten ihm den Dienst.

So war er ein Gefangener. Die Metropole war sein Gefängnis. Wie ein Wildtier im Gehege schlich er schließlich durch die Gassen. Schlaflos, ruhelos, immer mit dem Schlimmsten rechnend.

Mittlerweile fiel es dem Privatdetektiv schwer, seine Gedanken zusammenzuhalten. Der Schlafmangel verwandelte seinen Geist nach und nach in einen löchrigen Topf. Gedanken kochten hoch, entglitten ihm aber sofort wieder. Er starrte einige Herzschläge lang auf seine eigene Hand, die das Geländer umklammerte, dann erinnerte er sich an sein Ziel. Die Jugendstilvilla.

Warum er dorthin wollte, vermochte er nicht zu sagen, er wusste nur, dass er etwas suchte. Aber was? Bevor er dieses Rätsel lösen konnte, riss ein Schrei seine Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart.

Nicht weit entfernt klapperten schnelle Schritte über das Pflaster. Eine Frau kreischte gedämpft, Menschen rangen miteinander, Kleidung raschelte und dann erstarb der panische Schrei.

Freds Puls hämmerte. Sein Atem beschleunigte sich von selbst. Die eine Hand umklammerte noch immer das Geländer, die andere den Griff seiner Browning.

Die Waffe beruhigte ihn kaum. Dennoch ließ er schweren Herzens den vermeintlichen Halt der Brüstung fahren und schlich in die Richtung, aus der die Kampfgeräusche erklungen waren. Sein Schnüfflersinn war erwacht und zwang ihn, der Neugier und den verdächtigen Geräuschen nachzugehen.

Ein vorsichtiger Blick in die nächste Seitengasse enthüllte ihm zwei Gestalten. Ein Mann in einem langen, altmodischen Mantel beugte sich über den schlaffen Körper einer leicht bekleideten Frau. Unter ihrem kurzen Röckchen blitzten spitzenbesetzte Strumpfhalter hervor. Ihre Füße steckten in modischen Pumps, und ihre Platinmähne war auftoupiert.

Sie sank in seinen Armen zusammen und rutschte wie ein schwerer, nasser Sack auf das Pflaster. Ihre Kehle glänzte dunkel und ihr Kopf fiel in einem unnatürlichen Winkel zur Seite. Dunkle Flecken breiteten sich auf ihrem knappen, grellroten Top aus. In seiner Hand schimmerte ein breites Messer.

Fred zog die Browning. »Halt, keine Bewegung!«

Der Mann dachte nicht daran. Er fuhr herum. Sprang mit dem Messer auf seinen unerwarteten Beobachter los. Fred schoss. Der Killer warf sich direkt in den Schuss. Doch die Kugel hielt ihn nicht auf. Er stach zu. Fred warf sich zur Seite und trat gleichzeitig mit einem Bein nach den Kniegelenken seines Angreifers. Aber er trat ins Leere. Der Mann mit dem Messer war über ihn hinweggesprungen und hatte sich in Luft aufgelöst.

Nur die Frau war noch da.

Er sah sich noch einmal hektisch um, die Pistole noch immer schussbereit. Aber die Gasse lag wieder still und leer da. Lediglich das leise Gurgeln der Verletzten drang an sein Ohr.

Er kniete sich zur ihr und begriff sofort, dass der Frau nicht mehr zu helfen war. Ihre Kehle war aufgeschlitzt, ihr Brustkorb von Stichen übersät, und sie lag bereits in einer Lache aus Blut. Sie röchelte leise im Todeskrampf.

Doch plötzlich zuckte ihre starre Hand und packte ihn am Hemd. Ihr Kopf drehte sich wie durch einen künstlichen Mechanismus getrieben. Ihre grell geschminkten Augen starrten ihn an und zugleich durch ihn hindurch. Sie waren gebrochen. Ein heiseres Stöhnen drang aus ihrer Kehle, langsam bewegte sie die Lippen. »Er kommt.«

Der heisere Laut hatte nur schwache Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme. »Er kommt«, wiederholte die Frau und starrte den Detektiv mit ihrem unheimlichen Nicht-Blick an. »Er ...«

Doch bevor er fragen konnte, wem die Warnung galt und was sie meinte, sank sie wieder in sich zusammen.

Er richtete sich auf und fragte sich, ob und wie er den Mord der Polizei melden sollte oder ob er einfach besser seine Spuren verwischte. Da spürte er sie wieder. Die unsichtbaren Augen. Die lauernde Aufmerksamkeit des Jägers. Kein Ding, sondern ein »Er«?

»Wer bist du?«, schrie Archer in die Dunkelheit der schmalen Gasse. »Zeig dich endlich!«

Aus dem Nebel und der Finsternis raunte lediglich ein dunkles Lachen. Es war kein Laut im eigentlichen Sinne. Vielmehr spürte der Detektiv eine fremde Emotion wie einen Windhauch auf seinen Wangen, im Nacken, zwischen den Schulterblättern. Ein unheimliches Kribbeln, das sein Herz schneller schlagen ließ.

Und mit einem Schlag war er gewiss, dass im Schatten eine tiefe, grausige Finsternis lauerte. Ein Wille mächtig und stark, der ihn, den schwachen Sterblichen, jederzeit zerbrechen konnte wie trockenes Gras. Eisige Kälte kroch von den Ufern des Flusses hinauf und krallte sich in Freds Eingeweide.

Ehe der Privatdetektiv wusste, was er tat, rannte er. Am Flussufer entlang und dann durch ein Gewirr aus winzigen Gässchen. Er lief aus Leibeskräften. Erst, als ihn die bunten Lichter und der Lärm von Tottenham Court umfingen, hielt er inne, verschnaufte, sank auf eine Parkbank und fragte sich, ob er soeben tatsächlich Bekanntschaft mit Jack the Ripper gemacht hatte.

Den Rest der Nacht grübelte er, was es mit der Warnung der toten Hure auf sich hatte. War dies alles nur eine Halluzination gewesen, die ihm seine geistige Zerrüttung durch Schlafmangel vor Augen führte? Oder stellte es, seinen Verfolger inklusive, einen perfiden dämonischen Versuch dar, ihn in den Wahnsinn zu treiben, bis er zitternd und vor sich hin lallend zwischen den Mülltonnen hockte? Viel fehlte wohl nicht mehr dazu.

Er saß noch auf der Bank, als selbst die Nachtklubs den Zapfenstreich ansagten. Der Morgen fand ihn, wie er zusammengesunken vor sich hin döste. Doch es waren nicht die ersten Sonnenstrahlen, die ihn aus seinem unruhigen Schlummer rissen, auch nicht die Kehrmaschine eines mürrischen Straßenfegers oder das vorbeibrummende Auto eines UPS-Boten. Es war das Klingeln seines Telefons.

Schlaftrunken griff der erschöpfte Schnüffler danach und nahm das Gespräch an. Bereits nach den ersten Worten war er hellwach.

 

Jeff Parker, California State Prison

Viele Meilen und einen Ozean entfernt hockte ein anderer Mann im grauen Innenhof des Gefängnisses. Dort spielten acht Männer in orangefarbenen Overalls Basketball. Ein paar andere saßen abseits auf Bänken und gaben vor, dem Spiel zuzuschauen, während sie heimlich Zigaretten, Kekse und andere bescheidene Luxusgüter tauschten. Wieder andere joggten Runde um Runde.

Über ihnen allen ruhte der misstrauische Blick der Wachleute. Mit ihren MPs im Anschlag patrouillierten sie auf den Gefängnismauern. Einige standen unten im Hof, bereit, beim kleinsten Anzeichen eines Gewaltausbruchs mit Schlagstöcken und Tränengas auf die Gefangenen loszugehen.

Doch es waren nicht die Waffen, die Jeff den Angstschweiß auf die Stirn trieben. Es waren die Blicke. Manches Mal, wenn einer der Mitgefangenen in seine Richtung sah, erkannte er ein fremdartiges, gelbliches Schillern darin, das nicht in menschliche Augen gehörte.

Seit der Anklage wegen Geldwäsche hatte sich sein Leben in einen einzigen Albtraum verwandelt. Die aus dem Nichts ermittelnde Staatsanwaltschaft, die haltlosen, aber eifrig verfolgten Vorwürfe, die Hausdurchsuchung, die U-Haft. Alles war blitzschnell gegangen, ein unerklärlicher Taumel des Terrors wie in Kafkas Prozess.

Erst hinter Gittern ergaben die Scherben seines Lebens langsam, aber sicher ein Bild.

Er hatte bereits am ersten Tag der Gefängnishaft gespürt, dass nicht alle seiner Mitinsassen gewöhnliche Sterbliche waren. Und sie hatten scheinbar nur darauf gewartet, dass er zum Spielen in ihren Kreis trat. Er, der Reiche, der Lebemann mit dem Geldwäschevorwurf, der angeblich gierige Bonze, hatte schnell gemerkt, dass er unter dem Abschaum der Straße keine Freunde besaß.

Doch während die üblichen Muskelspiele und das Niederstarren begonnen hatten, war dem Lebemann nicht entgangen, dass er nicht nur keine Verbündeten, sondern auch ein paar ausgesprochene Feinde verzeichnete.

Sie umzingelten ihn unauffällig und stumm, blieben aber auf Abstand. Stets war einer von ihnen präsent. Bei den Mahlzeiten, bei der Arbeit, im Hof. Ein hämisches Zwinkern hier, ein verheißungsvolles, finsteres Lächeln dort.

Er spürte, dass ein gewisser Kreis seiner Mitinsassen und einige Aufseher eine dämonische Natur besaßen. Zugleich hegte er keinen Zweifel daran, dass er diese Ahnung nur hegte, weil sie es so wollten. Sie ließen ihn wissen, dass sie in seiner Nähe waren, dass er ihnen nicht entkommen konnte. Aber sie näherten sich ihm nicht.

Er vermutete, dass sie seine Furcht genossen. Es machte ihnen Spaß, den anderen Gefangenen und Vollzugsleuten Normalität vorzugaukeln, während sie zugleich ihre Kreise unbemerkt enger zogen.

Das Dämonenkiller-Team zu informieren, war unmöglich. Ein wöchentliches Telefonat mit seinem Anwalt war die einzige gestattete Kommunikation. Besucher durfte Parker auf richterlichen Beschluss nur in Ausnahmefällen empfangen. Selbst sein überbezahlter Anwalt hatte bestätigt, dass diese Härte für einen simplen Betrugsfall unbotmäßig und ungewöhnlich war, doch ändern konnte auch er an der Willkür nichts. In den Gesprächen zeigte er sich zunehmend nervöser. Ob ihn jemand unter Druck setze? Nein. Doch so etwas nicht. Aber wahrscheinlich müsse er den Fall aus gesundheitlichen Gründen demnächst abgegeben. Ja ja, ein guter Nachfolger würde sich bestimmt schnell finden lassen.

An dem Tag, als Parkers Anwaltsbüro mit Verweis auf einen Pflichtverteidiger mitgeteilt hatte, dass man sich nicht in der Lage sähe, den Fall weiter zu vertreten, zog sich auch die interne Schlinge enger um den Hals des einstigen gefragten Investors.

Bei der Essensausgabe rempelte ihn jemand an. So heftig, dass sich das Tablett nebst Mittagessen auf dem Boden verteilte.

»Bald bist du dran, Hollywood«, raunte eine Stimme. Und ihr Besitzer meinte sicher nicht die Strafstunde Putzdienst, die Jeff nach seiner »Ungeschicklichkeit« blühte.

Lediglich Parkers Zellengenosse Rooney war eine willkommene Zuflucht. Ein älterer, ruhiger Mensch, der ursprünglich aus Detroit stammte und so oft wie möglich im knasteigenen Fitnessstudio seine Muskeln stählte. Er hatte erst im Gefängnis richtig lesen gelernt und verschlang nun jeden Wälzer aus der leider sehr begrenzten Gefängnisbibliothek. Er neidete Parker den früheren Ruhm nicht, und sie unterhielten sich viel über Politik, Sport oder Filme. Rooneys schokobrauner Teint stellte dabei ebenso wenig ein Hindernis dar wie seine zahlreichen Tattoos.

Über Äußerlichkeiten war Jeff schon seit Langem erhaben. Nicht nur, weil er seit seinem Aufenthalt in der Padma-Sekte noch immer gewissenhaft sein Haupthaar schor und so selbst ein ungewöhnliches Erscheinungsbild bot. Sondern auch, da er um die Dämonen wusste, die seit Jahrtausenden den Alltag der Menschen wie eine Maske nutzten, um unerkannt ihren dunklen Gelüsten nachzugehen.

Rooney hingegen war in seiner einfachen Menschlichkeit ein Lichtblick in dem Dunkel, das sich aus heiterem Himmel über das Leben des einstigen Mäzens gesenkt hatte.

Wenn sie gemeinsam Ausgang hatten, spielten sie Karten im Hof. Im Flüsterton berichtete Rooney von einer Pokerrunde, die sich heimlich nach den wöchentlichen von ein paar frommen Insassen zelebrierten Bibelsitzungen traf. Ein »Vielleicht kann ich dich da reinbringen« versprach ein wenig Abwechslung vom drögen Gefangenenalltag.

Obwohl er mit Predigern höchstens an Feiertagen und bei Wohltätigkeitsgalas zu tun hatte, meldete sich Jeff sofort für die sonntägliche Bibelstunde an.

Sie war langweilig, zumindest der Teil mit der Textarbeit. Doch als die stets präsenten Wachen zugunsten eines schnellen Kaffees das Interesse verloren, zauberten die geschickten Hände eines ehemaligen Profi-Poolspielers ein Päckchen Spielkarten hervor. Der Einsatz bestand aus Erdnüssen und Zigaretten. Die Stimmung war gut, und schließlich stiegen sogar die zurückgekehrten Wachleute in das Spiel ein.

Wer seinen Einsatz gänzlich verspielte, musste die Runde und das Zimmer verlassen. Jeff merkte schnell, dass er den meisten seiner Mitspieler überlegen war. Er beherrschte das Spiel und seine Gepflogenheiten. Also waren die gelegentlichen Nächte in Vegas doch zu etwas gut gewesen.

Weder der Niederstarrversuch seines Gegenübers, noch die verengten Augen eines der Wachmänner brachten ihn aus der Ruhe. Ebenso wenig der Mangel an einem guten Blatt. Er taxierte seine Gegner, ging mit, setzte alles auf eine Karte und sah mit Vergnügen, wie sein letzter verbliebener Mitspieler die Karten auf den Tisch warf. Zufrieden kassierte er den Pot.

Beim nächsten Mal wollte Rooney sehen und verlor seinen Einsatz an drei vergnügte Damen von Parkers Hand.

Rooney hatte das Zimmer noch nicht verlassen, da teilte der Geber schon die nächste Runde aus.

»Nicht schlecht gespielt, Hollywood«, grunzte einer der Mitgefangenen und klopfte ihm auf die Schulter. »Hast echt Nerven, Mann«, gab sogar einer der beteiligten Wärter zu.

In diesem Augenblick bemerkte Jeff zwei Dinge. Er beobachtete aus den Augenwinkeln, wie einer der Wachleute Rooney nicht wieder zurück in den Zellentrakt eskortierte, sondern mit ihm in die falsche Richtung den Flur hinablief. Zugleich erschien ihm die plötzliche Kumpelhaftigkeit, die ihm entgegenschlug, falsch. Anscheinend versuchten die anderen, ihn abzulenken.

Sein Magen wurde flau. Er sah keine Möglichkeit, seinem Zimmerkameraden zu helfen, und spielte weiter. Stets hatte er den richtigen Riecher. Ließ seine Mitspieler glauben, dass sie ihn schlagen konnten, und gewann so wertvolle Zeit, bis endlich der Schichtwechsel der Vollzugsbeamten kam. Die Wachen mussten ihre kleine Indiskretion natürlich vertuschen und jagten ihn zurück in seine Zelle. Um ihn ebenso wie Rooney beiseite zu nehmen, blieb den korrupten Wachen keine Zeit mehr.

Parkers Zellengenosse wartete jedoch entgegen allen Befürchtungen bereits in ihrer gemeinsamen Unterkunft. Allerdings gab er sich ungewöhnlich schweigsam und einsilbig.

Fred wunderte sich, hielt sich aber auch diesmal an ihre stumme Absprache, einander nicht auszufragen.

Schon beim Frühstück bereute er seine Höflichkeit. Die Flüsterpost wusste zu berichten, dass es in der Nacht einen Todesfall gegeben hatte. Die Frühschicht hatte die Leiche von Regenbogennadel-Hawkins gefunden. Die meisten Gefangenen vermuteten, dass sich der frühere Heroinjunkie mit einer hereingeschmuggelten Spritze einen goldenen Abgang verschafft hatte.

Als einer der Wärter am Mittag verkündete, der Mann sei laut Untersuchung des Gefängnisarztes an einem Herzinfarkt zugrunde gegangen, glaubte es niemand.

Jeff grübelte. Hawkins war ebenfalls Teil der Pokerrunde gewesen. Er war jedoch durch seinen Konzentrationsmangel früh ausgeschieden.

Stunde um Stunde marterte der ehemalige Playboy sein Gehirn und rief sich das Pokerspiel mit allen Details in Erinnerung. Doch es wollte ihm trotz aller Bemühungen nicht einfallen, ob die Wachleute auch Hawkins nach dem Spiel genau wie Rooney in die ›falsche‹ Richtung geführt hatten. Niemand hatte dem schmierigen Hawkins Beachtung geschenkt. Das rächte sich nun.

Und Rooney war besorgniserregend still und in sich gekehrt.

Zu allem Überfluss hatten sie Wäschereidienst, und es blieb Parker keine Möglichkeit, seinen Zellengenossen unter vier Augen auf den vergangenen Abend anzusprechen.

Die Gelegenheit ergab sich erst nach dem Nachmittags-Hofgang.

Doch entgegen seiner sonstigen Eloquenz wollte es dem ehemaligen Hollywood-Magnaten nicht gelingen, ein unverfängliches Gespräch anzufangen.

Er wagte ein paar halbherzige Versuche, eine Plauderei einzuleiten, die Rooney völlig untypisch mit einem Schulterzucken oder einem Grunzen abwiegelte. Und schließlich mit einem hinterhältigen Grinsen.

Ein seltsamer kalter Ausdruck trat in seine Augen, den Jeff dort noch nie zuvor gesehen hatte.

»Du hältst dich wohl für clever, Hollywood.« Rooney hob seinen massigen Körper von der Pritsche. Er ließ seine Finger und Schultern hörbar knacken und dehnte lässig den Hals. »Ich weiß doch längst, was du willst. Der süße Gestank der Angst klebt doch den ganzen Tag schon an dir. Na los. Frag. Frag schon.«

Betont langsam schob sich der Hüne auf Jeff zu. »Frag mich endlich. Sonst platzt du, und das würde uns doch den ganzen Spaß viel zu früh versauen.«

Wer bist du und was hast du mit meinem angenehmen Zellengenossen gemacht?

Doch diesen Gedanken behielt Jeff lieber für sich. »Was weißt du über Hawkins' Tod?«, fragte er stattdessen. Ein irrationaler Teil seines Verstandes hoffte auf eine einfache, unschuldige Erklärung für den Todesfall und Rooneys absurdes Verhalten.

Doch je länger das sadistische Grinsen auf den Lippen des Bodybuilders schwebte, umso mehr schwächelte der zarte Hauch von Hoffnung.

Rooney stieß ein Zischen aus. Sein Grinsen wuchs noch stärker in die Breite, bis es seine freundlichen Züge zur Unkenntlichkeit verzerrte. Die Augen leuchteten unnatürlich hell.

»Dieser Junkie-Körper war nur ein Taxi. Ein Vehikel, das mich zu dir brachte. Als ich ihn verlassen habe, war die Hülle wertlos. So wird es auch deinem Freund hier ergehen, wenn ich ihn nicht mehr brauche. Aber im Augenblick ...« Der Fremde spannte Rooneys massige Muskeln an und ballte die Fäuste. »... finde ich diesen Fleischhaufen doch ganz praktisch.«

Unwillkürlich wich Parker zurück. Plötzlich erschien ihm die Zelle noch winziger als sonst. »Willst du mich umbringen, Dämon? Warum der Aufwand?«

»Nein.« Das Rooney-Imitat schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Nicht sofort. Vorher will ich noch Spaß mit dir haben. Und ein paar andere auch.«

Der Pseudo-Rooney nickte in Richtung der Überwachungskamera, die jede ihrer Bewegungen kontrollierte. »Die Wächter in der Zentrale werden dir nicht helfen. Die haben wir schon unter unserer Kontrolle. Aber das hier wird eine kleine Liveshow für meine Auftraggeber. Die wollen, dass jeder aus Hunters Clique so richtig leidet, bevor er draufgeht.«

Rooney schob genüsslich einen Stuhl beiseite, um Jeff dann mit schierer Körpermasse in eine Ecke zu drängen. In der Enge der Zelle nutzten dem Playboy auch seine Kampfsport-Kenntnisse wenig. Zwar verfügte er über gute Reflexe, doch es gab nicht genug Platz, um effektiv auszuweichen.

»Es ist mir doch immer wieder ein Vergnügen, einen Sterblichen zu brechen, bevor ich ihm seine Eingeweide herausreiße.«

Als habe er das wörtlich gemeint, packte er blitzschnell Parkers Kehle in unnachgiebigem, schmerzhaftem Griff. Der Millionär spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, dann gab es nur noch den Schmerz in seinem Hals und den Luftmangel, während der Dämon ihn mühelos mit einer Hand hochhob wie eine Puppe.

»Ich werde dir noch etwas Zeit lassen, über deine Verfehlungen nachzudenken, Parker. Dann wird der Schmerz dich lehren, was es bedeutet, sich gegen unseresgleichen zu stellen.«

Jäh flog Jeff in hohem Bogen durch die Zelle. Dann spürte er eine Weile nichts mehr, bis ihn Rooneys große Faust wieder ins Bewusstsein prügelte.

»Leide noch ein bisschen fürs Publikum.« Vergnügt schnaubend schleifte der Dämon sein Opfer vor die Kamera. »Und wink mal schön. Schließlich ist das dein letzter Abgang. Deine eigene Reality Show. Muss dir doch gefallen, Hollywood. Du bist ein Star, aber keiner holt dich hier raus.«

»Und wenn das Publikum mich rauswählt?«, krächzte der Millionär in dem simplen Bemühen, den nächsten brutalen Schlag wenigstens für ein paar Sekunden aufzuhalten.

Der Dämon wieherte vor Lachen. »Du verlässt diese Mauern höchstens in einem Plastiksack.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür.

Rooney blickte mindestens genauso überrascht drein wie sein Opfer. Aber er ließ geistesgegenwärtig die Fäuste sinken und gab Jeff frei. Ein unbekannter Wachmann beäugte die beiden Gefangenen misstrauisch. Schließlich tat er die Angelegenheit mit einem Schulterzucken ab. Sein Blick fixierte den Hollywood-Magnaten.

»Jeff Parker?«

Ein benommenes Nicken reichte scheinbar als Antwort.

»Sie können gehen. Alle Anklagepunkte gegen Sie wurden fallen gelassen.«

Der so vom Schicksal Begünstigte klappte den Mund auf und zu. Er konnte diese Wendung nicht fassen.

»Sind Sie sicher?«, stammelte er lediglich.

Der Wachmann schüttelte den Kopf. »Wollen Sie etwa bleiben, oder was?«

»Nein, durchaus nicht.« Blitzschnell fand Jeff seine Sprache wieder. »Ich bin schon weg.«

Das Letzte, was er von seiner neuen dämonischen Bekanntschaft sah, war dessen ehrlich verdutzter Blick, als die Zellentür zwischen ihnen beiden ins Schloss fiel.

Die Dankbarkeit für die Rettung überwog, dennoch fragte sich Jeff, welchem verrückten Umstand er diesen buchstäblichen Boten des Königs verdankte und welche Macht da an den Fäden gezogen hatte. Doch viel Zeit zum Überlegen blieb ihm nicht, denn zu Hause wartete auf dem Anrufbeantworter bereits eine Nachricht, die ihn sofort nach England beorderte.

Es hatte einen Todesfall gegeben.

 

Pjotr, Moskau

Der Tod lauerte überall in den Straßen. Besonders bei Nacht. Selbst in den U-Bahnhöfen, an den Bushaltestellen und vor allem auf jeder Parkbank. Väterchen Frosts kalter Atem zeigte sich bereits auf den Scheiben heruntergekommener Wohnhäuser. Die von innen beheizten Schaufenster der teuren Geschäfte konnten den Nachtfrost noch auf Abstand halten. Aber die Unglücklichen, die keinen Ofen und keine beheizte Wohnung besaßen, spürten bereits, wie der todbringende Anhauch des Winters langsam seine kalte Hand über die bunten Zwiebeltürme der Basilius Kathedrale reckte.

Obwohl es erst September war, hatte die härteste Zeit des Jahres dank einer überraschenden Kältewelle bereits begonnen. Die letzten Strahlen der Sonne glitten über die frierenden Obdachlosen hinweg. Müde vom Tag lauerten sie ein paar schnell vorübereilenden Angestellten auf, um noch ein paar Rubel zu erbetteln.

Aber die Passanten kannten das Prozedere. Sie bahnten sich einen Weg an den Verlorenen vorbei oder vertrieben sie mit drohenden Gesten und Flüchen. Niemand hatte etwas zu verschenken.

Pjotr Rubow wanderte trotz der Kälte gut gelaunt die Gasse hinter dem großen, blinkenden Einkaufszentrum entlang, dessen Läden seit gut einer halben Stunde bereits geschlossen hatten. Über ihm erloschen die Lichter in den Büros, im Sekundentakt surrten die Autos der Angestellten aus der Einfahrt der Tiefgarage. Er hielt inne und wartete.

Ein paar Leute starrten ihn im Vorbeifahren durch die Scheiben ihrer alten Ladas an. Aber es lag jene gleichgültige Kälte in ihrem Blick, die den Großstädtern zu eigen war. Sie sahen nur einen weiteren Verlierer, den die Stadt gefressen und wieder ausgewürgt hatte.

»Ja«, lallte er und hob drohend die Faust. »Glotzt nur, ihr Rindviecher! Bald blüht's euch auch. Wenn ihr alt seid und keiner euch will!«

Die Filialleiter, die sich schicke westliche Autos leisteten, sah er nicht einmal. Die getönten Scheiben ihrer glänzenden BMWs und Rover waren wie eine dunkle glänzende Mauer aus Verachtung.

»Verfluchte Bonzen!«, setzte Pjotr hinzu und trat nach einer Taube, die auf dem Gehsteig nach Krumen pickte. Vielleicht weil sie genauso armselig war wie er. Oder auch nur, weil sie da war. Pjotr wusste es nicht und die Taube kümmerte es nicht. Sie flatterte auf und suchte sich ihr neues Revier auf der anderen Straßenseite.

Er musste innehalten und seine Wut herunterspülen. Zum Glück besaß er heute Nacht das Wundermittel. Das Lebenswässerchen. Aus der Tasche seiner abgewetzten Felljacke zog er die ansehnliche Ein-Liter-Flasche hervor und nahm ein paar kräftige Schlucke. Sie brannten herrlich warm in der Kehle.

Immerhin war die Hochzeit im Petroff Palace ergiebig gewesen. Das Brautpaar hatte ihm eine Suppe spendiert. Und weil er ein altes sozialistisches Lied gesungen hatte, war sogar die Flasche Wodka drin gewesen. Hochzeitsgesellschaften waren ausgelassen. Und wer feierte, war freigiebig.

Und das galt auch für den Beschenkten. Sergej und der alte Burschoi, die er aufgrund ihres Alters bloß »Söhnchen« und »Großväterchen« nannte, würden sich freuen. Wenn einer von ihnen in den Mülltonnen des Einkaufszentrums ein paar Fischkonserven gefunden hatte, konnte es sogar ein angenehmer Abend werden.

Als es endlich still um die Garagenausfahrt wurde, und ihm niemand mehr Aufmerksamkeit schenkte, wankte Pjotr zum neuen Versteck seiner Bande. Seit sie die verdammten Bullen aus dem U-Bahn-Schacht am Rogoschskoje Friedhof vertrieben hatten, wohnten die drei Männer in einer ausrangierten und umgestürzten Containermülltonne, die das Einkaufzentrum weder aufgestellt noch entsorgt hatte. Dort ernährten sie sich von den Resten des Reichtums wie die Ratten, die sie aus der neuen Bleibe hatten vertreiben müssen und mit denen sie tägliche Kämpfe um weggeworfenen Wurstaufschnitt oder trockenes Brot führten.

Zu Hause im Container musste Pjotr feststellen, dass er der Erste war. Weder Großväterchen Burschoi noch der kaum dem Halbstarkenalter entwachsene Sergej waren von ihren Streifzügen zurückgekehrt. Pjotr tröstete sich mit noch etwas Wodka über die Einsamkeit hinweg.

Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Zu der Zeit auf der Kolchose, als er selber noch jung und stark gewesen war. Damals war auch nicht alles gut gewesen, aber wenigstens hatte es etwas bedeutet, Bauer und Russe zu sein.

»Jetzt sind wir nur Dreck«, grummelte er mit schwerem Kopf vor sich hin. »Ich war jung«, erklärte er den verblassten Gesichtern hochgelobter Jungunternehmer und ein paar von Luxuswäsche schlecht verhüllten Models. Sie lagen auf dem Zeitungshaufen, der ihnen Decke und Schlafstatt war, obenauf. »Ihr Wichser. Ich war mal wer. Entmannt habt ihr uns.«

Früher. Da war auch nicht alles besser gewesen. Aber damals hatte man wenigstens ein klares Feindbild gehabt. Die Bonzen der Regierung. Heute gab es so viele Bonzen. Und keiner wusste, wie die Leute Geld machten. Aber wenn sie es machten, dann gingen sie über Leichen. Der Rest musste ohne Geld sehen, wie er zurechtkam.

Pjotr fluchte noch ein bisschen über den Staat, die Polizei und überhaupt alle. Das hielt ihn warm, bis schließlich Sergej seinen dürren Leib in den Container zwängte.

»Papa, du hast was zum Trinken mitgebracht? Dich schickt die heilige Jelisaweta.«

Stumm hielt Pjotr seinem Beinahe-Sohn die Flasche hin. Der rückte daraufhin eine winzige Dose Dorschleber und ein paar angeschrumpelte Karotten heraus, die schon Druckstellen hatten. Sie aßen die Karotten und ließen dem Großväterchen etwas von der Leber übrig. Aus Respekt, wie sie stets betonten.

Aber der Alte ließ auf sich warten. Schließlich wurde die Versuchung zu groß. Sie teilten die restliche Dorschleber, und gegen Mitternacht war nicht einmal mehr Wodka übrig.

»Wo er wohl bleibt?«, nuschelte Sergej.

Ein Anflug von Verantwortung kämpfte sich durch die hochprozentige Betäubung, die sich wie warmer Schnee um Pjotrs Geist gelegt hatte. »Vielleicht sollten wir ihn suchen gehen.«

»Ja, er könnte sich was getan haben.«

»Vielleicht was gebrochen.«

Sie zögerten eine Minute. Dann seufzte Pjotr und raffte sich auf. Sergej folgte ihm schwerfällig.

Außerhalb der engen Plastikwände schlug ihnen die eisige Nachtluft entgegen. Noch waren die Temperaturen mit minus acht Grad verhältnismäßig harmlos, aber sie ließen Pjotr bereits das Alter seiner Knochen spüren.

Um die umliegenden Gassen schneller absuchen zu können, teilten sie sich auf. Pjotr beeilte sich, schnell voranzukommen, aber seine Füße wollten ihm nicht gehorchen. Seine Zehen schmerzten in den löchrigen Schuhen und dem Stoff der verschlissenen Wollsocken. Er fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis sie gar nicht mehr schmerzten.

Dennoch wagte er es nicht, nach Burschoi zu rufen. Die Polizei machte immer wieder Razzien, um nachts die Penner aus ihren Verstecken und in die Kälte zu treiben. Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass General Winter die Drecksarbeit für sie erledigte. Die Tonne war ein gutes Versteck. Es mochte noch für ein paar Wochen Bestand haben, wenn sie dem Blick des Gesetzes entgingen.

Während er den üblichen Bettelrouten des Großväterchens folgte, schlug Pjotr einen Weg zu dem mit Hundekot gepflasterten, winzigen Park einer nahe gelegenen, grauen Wohnblocksiedlung aus der Stalinzeit ein. Dort ruhte sich Burschoi ganze Nachmittage auf einer Bank aus. Vielleicht war der arme Tropf dort eingeschlafen.

Bald schon schälte sich aus dem Dunkel das Parkrondell, in dessen Zentrum ein bröckelnder Springbrunnen stand, der schon seit Jahren kein Wasser mehr enthielt. Darum gruppierten sich Bänke und Sträucher, ein paar Birken und ein paar verwaiste Spielgeräte, die höchstens noch besoffenen Jugendlichen zur Unterhaltung dienten. Kleine Kinder spielten in dem heruntergekommenen Viertel kaum noch.

Wie erwartet, hob sich auf einer der Bänke die zusammengekauerte Silhouette eines liegenden Menschen gegen das diffuse Licht einer einzelnen, hinter den Bäumen befindlichen Straßenlaterne ab.

Eine plötzliche Windbö ließ Pjotr frösteln. Er hielt inne, um seine alte Tschapka aus Militärzeiten noch tiefer in den Nacken zu ziehen. Da entdeckte er den Schatten. Eine Bewegung am Boden, unterhalb der Bank. Dort wälzte sich jemand oder etwas in erschreckender Lautlosigkeit.

Sein erster Impuls war, schreiend vorzustürmen, um den Köter oder was immer sich da breitgemacht hatte zu verscheuchen. Doch dann glitt der Schatten an der Bank hinauf, durch Ritzen der Bretter hindurch, wie Regen, der nach oben rieselte.

Auf einmal glitzerte gefrorener Tau auf den Birkenzweigen. Eine dünne Schneeschicht legte sich über die Bänke und den Brunnen. Die winzigen Eiskristalle schimmerten im grellgelben Licht der Straßenlaterne wie hässliche, sterbende Sterne. Der glitzernde Flaum breitete sich weiter aus, während sich das formlose Etwas verdichtete. Es blähte sich. Dann tanzte es.

Pjotr drehte sich um und rannte.

Als er später zitternd mit angewinkelten Beinen in der Mülltonne hockte, füllte ein einziges Bild seinen Geist. Der Anblick eisblauer, grausamer Augen. Eine uralte Kälte, die aus dem tiefsten, dunklen Herzen des Eises stammte, das in vergangenen Äonen große Teile der Erde unter sich begraben hatte.

Er wollte nicht mehr schlafen. Am besten nie wieder. Denn er fürchtete, dass er diese Augen in seinen Träumen wiedersah. Und mit ihnen würde die Kälte zurückkommen. So blieb er einfach hocken, kraftlos ausgelaugt und starrte mit offenen Augen in die Nacht.

 

 

2.

 

Don, London

Die Freunde trafen sich vor Trevor Sullivans Beerdigung in einem kleinen Pub nahe des East Finchley Friedhofs und tranken mittelmäßigen Kaffee, während draußen ein mittelmäßiger Nieselregen Stadt und Bewohner in mittelmäßiges, nasses Grau tauchte. Ein perfekter Tag für eine Beerdigung. Und eine Bestandsaufnahme.