Mein Leben
im Dschungel

Anthologie

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Erste Auflage 2015

© Coverbild: Sandra Braun

Covergestaltung, Korrektorat

und Layout: net-Verlag

Auswahl der Geschichten:

Lysann Rößler & Leserteam

© Illustrationen:

Christine Prinz (S. 23)

Heidemarie Opfinger (S. 142)

Andreas Tampe (S. 159)

Franziska Buchner (S. 247)

© net-Verlag, Tangerhütte

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95720-143-0

Mein Leben im Dschungel

In dieser Anthologie erleben Sie spannende, ergreifende und teilweise realistisch wirkende Begebenheiten.
Viele Autoren zeigen Ihnen eine Welt des tatsächlichen Dschungels auf, einige sogar eine alternative Dschungelwelt – die des Alltags.

Wir wünschen allen Lesern

einige unterhaltsame Stunden!

Ihr net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zum Buch

Christine Prinz

Begegnungen

Ronny Gempe

Am Abgrund

Michael Johannes B. Lange

Jenseits von Brasília

Brit Gögel

Wie immer – oder Überleben im Alltagsdschungel

Wenke Giwsok

Mein Leben im Dschungel oder Reif für die Insel

Saskia V. Burmeister

Das Spiel von Licht und Schatten

Karen Wright

Viel Glück im Urwald

Karin Pelka

Eine Trommel-Symphonie

Susanne Rübner

Verloren

Sabine Kohlert

Survival

Susanne Zetzl

Allein, allein

Heidemarie Opfinger

Begegnung mit einem Waldmenschen

Susanne Haug

Sergio

Sophie Jauch

Urwaldexpedition

Heike Großmann

Wildes Uganda

Michaela Weiß

Gefangen

Gina Grimpo

Verschollen

Volker Liebelt

Das dritte Auge

Angie Pfeiffer

Wolfsbruder

Sabine Kranich

Anna und ihr Dschungel

Ingeborg Henrichs

Undurchdringlich

Martina Bracke

Die goldene Sonne

Dr. Silke Vogt

Urwaldessen

Markus L. Schmid

Mein Leben im Dschungel

Mona Schneider-Siepe

Dschungel in der Stadt

Hans-Peter Lorang

Dschungelnächte

Karen Plate-Buchner

Tarzan

Anja Kubica

24 Stunden

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Christine Prinz

Begegnungen

1 – Bauchlandung (Jessikas Perspektive)

Die Aussicht war einfach atemberaubend! Bis zum Horizont erstreckte sich der grüne Urwald. Hie und da durchbrochen von größeren und kleineren Flüssen. Ich war begeistert und schoss ein Foto nach dem anderen. Speicherkarten hatte ich ja genug mitgenommen. »Thomas, sieh dir das an!«, quiekte ich alle paar Augenblicke in höchster Verzückung. Ich war so glücklich, dass ich meinen Verlobten auf dieser Reise begleiten durfte. Noch dankbarer war ich aber dafür, dass er mir seinen Fensterplatz überlassen hatte.

Thomas saß schmunzelnd zwischen mir und Elsa, seiner Schwester. Er kannte den Dschungel aus Vogelperspektive wohl schon zur Genüge. Es bereitete ihm aber offensichtlich großes Vergnügen mitanzuhören, wie ich und Elsa uns gegenseitig Worte des Erstaunens zuriefen.

Die Seitenfenster waren zwar winzig und zeigten zum Großteil auch nur graue Tragfläche, aber ich sah noch genug grünen Wald! Das, was ich sah, verschlug mir jedenfalls den Atem. Unsere Maschine flog nicht gar so hoch. Ich konnte die vielen bunten Wasservögel ausmachen, welche die Flussläufe bevölkerten. Ich konnte ganze Kolonien mit ihren vielen Tieren und Nestern erkennen.

»Elsa, siehst du die Vögel da unten?«

»Ja! Wunderschön!«

»Jessi, schau, der große Baum da!«

»Irre!«

So ging das in einer Tour. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir alle einen lauten Knall hörten. Der Pilot fluchte auf Spanisch. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie tiefschwarzer Rauch aus dem linken Propeller entwich. Der Propeller wurde langsamer, stotterte, setzte endgültig aus. Wir stürzten ab! Mitten über dem Dschungel!

Unsere kleine Maschine würde wie ein Spielzeug zerschmettert werden. Da war ich mir sicher. Aber wir hatten unvorstellbares Glück und ein Ass von einem Piloten! Es gelang ihm doch tatsächlich, die Maschine auf einem Flusslauf notzulanden. Die Kufen setzten mit einem harten Ruck auf der Wasseroberfläche auf. Links und rechts von uns stoben große weiße Wasservögel empört kreischend auf. Wie ein Pfeil schoss unsere Maschine auf dem dunklen Gewässer dahin. Wir hatten wirklich verdammtes Glück, dass der Fluss erst in einiger Entfernung eine Biegung machte. Ansonsten wären wir nämlich ungebremst in die nächste Baumreihe gerast. So hatte unser kleines Flugzeug aber bereits einen Großteil seiner Geschwindigkeit eingebüßt, als wir auf den Uferbewuchs trafen.

Ich hörte metallisches Kreischen und das gewaltsame Splittern von Holz. Dann war, bis auf die verschreckten Tierlaute, alles ruhig.

Ich öffnete vorsichtig die Augen.

»Ist jemand verletzt?«, rief der Pilot.

Wir sahen uns gegenseitig an. Bis auf einige Prellungen und blaue Flecken hatten wir es alle gut überstanden.

Der Pilot bekreuzigte sich.

Wir krabbelten aus dem Flugzeug, weil wir das dringende Bedürfnis hatten, Land unter den Füßen zu spüren und kräftig durchzuatmen. Elsa war sehr blass und wacklig auf den Beinen. Ihr Blick ging ins Leere. Ich bugsierte sie auf einen umgestürzten Baumstamm und versuchte, sie zu beruhigen.

»Madre de díos«, hörte ich den Pilot fluchen. Heilige Mutter Gottes – so viel Spanisch verstand ich gerade noch. Der Pilot stand vor der abgeschlagenen linken Tragfläche und begutachtete den Schaden. Dann kletterte er wieder ins Flugzeug und klemmte sich auf seinen Sitz.

»Qué pasa?«, rief ihm Thomas nach.

Dem weiteren Gesprächsverlauf konnte ich nicht mehr folgen. Ich sah nur das angespannte Stirnrunzeln auf Thomas’ Gesicht, als Santos, der Pilot, zu uns zurückkehrte. Die Maschine sei hinüber und die Funkeinrichtung ebenfalls. Aber wir sollten uns keine Sorgen machen.

Nachdem sich der erste Schrecken gelegt hatte, verpflegten wir uns mit dem Wenigen, was wir eingepackt hatten. Wir hatten angenommen, in ein, zwei Stunden im Camp einzutreffen. Außer ein paar Butterbroten, Müsliriegeln und Mineralwasser in Plastikflaschen gab es nichts. Mir knurrte deshalb schon bald wieder der Magen. Die Notfallkonserven rührten wir nicht an.

Als es zu dämmern begann, verkrochen wir uns wieder im Flugzeug. Als ich sicher war, dass Elsa bereits schlief, stellte ich Thomas eine brennende Fragen: »Die werden uns doch suchen, oder?«

»Sicher. Wir sind längst überfällig. Mach dir keine Sorgen. Die haben sicher schon Verbindung mit dem Flughafen aufgenommen. Und morgen schicken sie dann die ersten Suchflugzeuge los.«

Seine Worte und seine Nähe beruhigten mich. In eine dünne Rettungsdecke gehüllt, schlief ich dicht an Thomas gekuschelt ein.

Am Himmel des nächsten Tages zeigte sich aber keine Suchmaschine. Auch nicht am Tag darauf. Thomas erklärte das damit, dass es sich ja um ein riesiges Dschungelgebiet handele. Elsa konnte das zufriedenstellen. Mich jedoch nicht. Ich wusste, dass man die Suche sehr wohl hätte eingrenzen können. Unsere Flugroute war ja schließlich vorab bekannt gewesen. Jede Suchaktion hätte sich zunächst entlang dieser Fluglinie bewegt.

Zugegeben, unser kleines Wrack war in dem grünen Wildwuchs nur schwer auszumachen. Aber zu diesem Zweck führte man ja schließlich immer Leuchtpistolen mit sich, mit deren Geschossen man deutlich auf sich aufmerksam machen konnte. Wir wechselten uns dabei ab, den Himmel nach Flugzeugen abzusuchen.

Des Nachts schreckte ich öfter mal aus meinem unruhigen Schlaf auf, weil ich dachte, Motorenlärm gehört zu haben. Aber es war immer nur ein Wunschtraum. Alles, was man hörte, waren die unterschiedlichsten Ruflaute nachtaktiver Tiere.

Wir verpflegten uns mit Trockennahrung aus dem Notfallkoffer und öffneten die ersten Konservendosen. Unsere Vorräte schmolzen dahin. Besonders was das Trinkwasser anlangte. Schon am zweiten Tag nach unserem unfreiwilligen Stopp suchten wir deshalb die nähere Umgebung nach Essbarem ab. Santos grub ein paar Wurzeln und auch Insekten aus, die, wie er behauptete, essbar waren. Etwa hundert Meter flussabwärts entdeckten wir auch mehrere Sträucher, die vor reifen, roten Beeren fast überquollen. Weil Santos sie nicht kannte, wollte er sie aber auch nicht anrühren. Also rührten wir sie auch nicht an.

Am dritten Tag regnete es wie aus Eimern. Den allnachmittäglichen Regenschauer hatten wir bereits zweimal erlebt. Diesmal war es aber kein kurzer Schauer, sondern ein ausgewachsener Tropensturm. Mich plagte die Befürchtung, dass wir vom Unwetter auf den Fluss hinausgezogen würden. Aber das Propellerflugzeug war derart in den dichten Uferbewuchs verkeilt, dass alles Rütteln und Zerren des Windes vergeblich blieb.

Thomas meinte, es sei wahrscheinlicher, dass wir von einem umkippenden Baum zerquetscht würden. Nicht gerade die rosigsten Aussichten.

Wir hockten aneinandergedrängt beisammen und hofften zitternd das Beste. So wie es die vielen Dschungeltierchen in ihrem Bau wohl auch gerade taten.

Der vierte Tag brach herein. Der Sturm hatte sich gelegt. Wir waren erleichtert, hatten allerdings kein Trinkwasser mehr und mussten Wasser aus dem Fluss schöpfen. Dazu bedienten wir uns der leeren Konservendosen vom Vortag. Die wassergefüllten Dosen kochten wir dann über einem Ein-Mann-Kocher ab und fügten noch Desinfektionstabletten aus dem Notfallkoffer hinzu. Trotzdem war mir bei jedem Schluck etwas mulmig zumute.

Bis zum Mittag hatte sich immer noch kein Suchflugzeug gezeigt. Thomas und Santos wollten etwas weiter in den Dschungel vordringen. Also blieben Elsa und ich beim Flugzeug zurück, um den Himmel im Auge zu behalten.

Elsas Blick wanderte immer wieder hundert Meter flussabwärts. Zu der Böschung, wo die Sträucher mit den leuchtend roten Beeren wuchsen. Schließlich stand sie auf und ging darauf zu.

»Nicht, Elsa!«, warnte ich sie. »Die könnten giftig sein!«

»Quatsch,« entgegnete sie. »Die Tiere essen schließlich auch davon.«

Ich wiederholte stur das, was Santos uns eingebläut hatte: »Nur weil die Tiere sie essen, muss das nicht heißen, dass sie für Menschen genießbar sind!«

Doch Elsa hörte nicht auf mich. Sie pflückte zaghaft eine Beere. Ich fiel ihr in den Arm. Sie gab mir einen kräftigen Schubs. Ich plumpste rücklings auf mein Hinterteil.

»Lass mich!«, giftete sie mich an, und ich ließ sie resigniert gewähren.

Sie probierte eine Beere. Dann noch eine und noch eine. »Hey, die schmecken echt lecker!« Sie hielt mir welche hin.

Aber ich lehnte kopfschüttelnd ab, und das war auch gut so. Denn einige Stunden später zeigten sich bei Elsa erste Symptome einer Vergiftung.

Schnell wuchs sich das dumpfe Drücken zu massiven Bauchkrämpfen aus, die Elsa wimmernd auf den Boden zwangen. Sie hatte sich zwar den Finger in den Mund gesteckt und erbrochen, aber das Beerengift war wohl schon in zu hoher Dosis in ihr Blut gelangt. Das Einzige, was sie damit erreicht hatte, war, sich auch noch die Speiseröhre zu verätzen.

Ich richtete ihr im Laderaum des Flugzeuges ein Lager ein und verabreichte ihr dann in kleinen Schlückchen Wasser. Vielleicht verdünnte das ja den Beerenbrei in ihrem Magen soweit, dass sich ihre Beschwerden linderten.

Mich plagten arge Gewissensbisse. Warum hatte ich Elsa nicht aufgehalten?

Als die anderen zurückkehrten, war Thomas außer sich. »Elsa!«, tobte er verzweifelt. »Wie kannst du nur so blöd sein?«

»Die sahen so lecker aus«, stammelte Elsa kraftlos.

Dann sah mich Thomas vorwurfsvoll an. »Du hättest sie aufhalten müssen!«, zischte er.

Ich senkte beschämt den Kopf.

»Nein, Thomas«, wisperte Elsa von ihrem Krankenlager. »Es ist meine Schuld. Ich hatte Hunger. Solchen Hunger.«

Nachdem Elsa in einen fiebrigen Schlaf gefallen war, forderte Thomas entschlossen: »Wir müssen Hilfe holen!«

»Hilfe? Von wem denn?«, antwortete ich verzweifelt, die Schultern zuckend. »Wir sind mitten im Dschungel. Wir haben keine Funkverbindung. Niemand weiß, wo wir sind!«

»Vielleicht gibt es hier in der Nähe ein Dorf oder einen Handelsposten«, konterte Thomas. Er wandte sich händeringend an Santos. Aber nach genauerem Kartenstudium stand fest, dass wir an einem recht ungünstigen Fleck abgestürzt waren. Wir konnten nur hoffen, dass man uns bald finden würde.

»Ich gehe«, verkündete Thomas schließlich.

Ich hockte immer noch neben Elsa und bewachte ihren Schlaf. Verwundert sah ich auf: »Gehen – wohin?«

»Ich werde versuchen, mich bis zur nächsten Siedlung durchzuschlagen.«

»Du kannst doch nicht einfach so in den Dschungel laufen!«

»Santos wird mir die Karte, den Kompass und ein paar Vorräte überlassen.«

Ich sah ihn an, als ob er verrückt geworden wäre.

»Ich muss es versuchen«, erwiderte er stürmisch. »Elsa stirbt!«

»Dann komme ich mit!«, verkündete ich spontan.

»Nein!« Thomas schüttelte energisch den Kopf. »Du bleibst hier bei Elsa!«

»Aber wenn dir etwas passiert?«

Wir sahen uns eine Weile schweigend an. Er nahm mich sanft an der Schulter. »Bleibt beim Flugzeug«, wisperte er. »Die werden euch schon bald finden. Aber bis dahin ist es für Elsa wahrscheinlich zu spät.«

»Bis du mit Hilfe zurück bist, doch auch«, gab ich mit tränenerstickter Stimme zu bedenken.

»Ich muss es versuchen. Sie ist meine Schwester.« Er nahm mich tröstend in seine Arme. »Würdest du für mich nicht dasselbe tun?«

Selbstverständlich würde ich. Ich würde alles versuchen, und wenn es noch so aussichtslos erschien.

Nachdem er seine Siebensachen gepackt hatte, verließ er uns. Als ich ihn hinter der nächsten Flussbiegung verschwinden sah, war ich mir sicher, ihn niemals wiederzusehen.

2 – Beerendrama (Thomas’ Perspektive)

Weit bin ich nicht damit gekommen, Hilfe zu holen. Bei dem Versuch, einen im Sturm umgestürzten, immer noch glitschigen Baumriesen zu übersteigen, rutschte ich aus. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Fuß. Ich verstauchte mir nachhaltig den Knöchel und machte eine weitere Bruchlandung auf dem Dschungelboden.

»Du bist ja ein schöner Held!«, schalt ich mich, während ich meinen Stiefel abstreifte und meinen schmerzenden Fuß abtastete. Ich verfluchte mich, weil ich so leichtsinnig gewesen war. Ich hätte ja um den Baum herumlaufen können. Aber nein, ich musste ja darüber hinwegsteigen und mich zum Krüppel machen. Ich hatte nicht nur mein Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Elsa würde sterben!

Mit einem Mal verspürte ich das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Ich sah mich schniefend um. Zu meiner Rechten sah ich eine kleine Gestalt. Ich stutzte. Tatsache, da stand ein Junge! Als wäre er aus dem Boden gewachsen! Stand da und begaffte mich mit weit offenem Mund.

Er war vielleicht zehn bis zwölf Jahre alt, hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Für einen Indianer war er zu hellhäutig, für einen Europäer zu dunkel. Ein Mestizo also, ein Mischling. Er trug eine fleckige, dunkelgrüne Hose, ein ebenso dreckig wie grünes Shirt und eine Art Gurtsystem, an dem allerlei kleine Taschen und Behälter baumelten.

Irgendwann klappte er seinen Mund zu, zog die Hände artig an seine Hosennaht und grüßte mich mit einem artigen: »Buenos días, Señor!«

»Buenos días«, stammelte ich instinktiv. Ein Teil von mir hielt den Jungen immer noch für ein Produkt meiner Fantasie.

Als er sich aber sofort neben mich kniete, fragte, wie es mir ging, ob ich Schmerzen hätte, wo ich Schmerzen hätte – da kam er mir sehr real vor. Er befühlte mit seinen kleinen Kinderhänden mein geschwollenes Fußgelenk. Zog mir die Socke ab. Dann griff er flink in eine große Tasche und zauberte allerlei Verbandszeug daraus hervor.

Meine Augen quollen fast über vor Staunen. Geschickt wickelte der kleine Kerl einen sauberen, weißen Verband um meinen schmerzenden Fuß, nachdem er eine dunkle, intensiv riechende Heilpaste darauf gepappt hatte.

Ich bedankte mich mit einem kleinlauten »Gracias«.

Der Junge erwiderte das mit einem »De nada« und fing an, zwischen den Baumästen herumzuturnen. Zurück kam er mit einem langen, dicken Ast in Händen, den er mir sogleich als Krücke anbot.

Da endlich erwachte ich aus meiner Lethargie.

»Elsa!«, rief ich aus, und der Junge zuckte verstört zusammen. Ich hievte mich auf die Beine und beschwor den Jungen auf Spanisch, mir zu helfen. Elsa hätte giftige Beeren gegessen. Ich wollte noch wissen, wo seine Eltern waren und ob hier in der Nähe ein Arzt wäre, aber der Junge schnitt mir energisch das Wort ab. Er wollte wissen, welche Beeren die Patientin zu sich genommen habe.

Ich war schlau genug gewesen, ein paar der roten Früchte einzustecken. Die holte ich jetzt aus meiner Hosentasche hervor und zeigte sie ihm.

Wie viele, wollte er umgehend wissen. Ich formte mit meinen beiden Händen eine kleine Kugel, so wie es Elsa getan hatte, als ich sie nach der Dosis gefragt hatte.

Der Junge grinste, dann hüpfte er auf den Baumstamm und feuerte mich Worten und Gesten an, ihm zu folgen. Ich wollte, dass er seine Eltern verständigte, dass er einen Arzt holte. Aber er wehrte herzhaft lachend ab: »Не волнуйтесь!«

Das war jetzt aber Russisch. Klar. Mestizo. Mischling. Ich musste aber ziemlich doof ausgesehen haben, denn der Junge bog sich vor Lachen. Ich schöpfte Hoffnung. Für Elsa.

Der Kleine schien nicht sonderlich bekümmert. Er wollte nicht auf meine Fragen antworten, meinte bloß, ich solle mir keine Sorgen machen. Er würde das schon richten. Und ich vertraute dem Urteil dieses zehnjährigen Bengels. Immerhin hatte er auch schon meinen Knöchel verarztet, oder?

Er half mir dabei, über den Baumstamm zu klettern. Zur einen Seite auf den Jungen gestützt, zur anderen auf den Stock, humpelten wir los. Für den Rückweg brauchten wir deshalb etwas länger.

Als wir uns dem Flugzeugwrack näherten, hatte Santos gerade Wache. Er sah uns kommen und verständigte die anderen.

Jessika lief uns entgegen und begrüßte mich mit einer stürmischen Umarmung. »Thomas!«

»Alles okay, Jess. Alles okay.«

»Dein Fuß!«

»Nur ’ne kleine Verstauchung.«

»Buenos días, Señora«, begrüßte sie der kleine Mestizo artig und entließ mich und mein drückendes Körpergewicht in Jessikas Obhut.

»Wer ist das?«, wollte sie erstaunt wissen, doch ich schüttelte den Kopf. Meine Gedanken galten jetzt ganz und gar Elsas Genesung. Der Junge war mir bereits weit voraus, mit einem »Buenos días, Señor« an Santos vorbei geeilt und in der Maschine verschwunden.

Als mich Jessika und Santos ins Innere hievten, sah ich Elsa immer noch wimmernd unter der Rettungsdecke liegen.

Mein kleiner Retter hockte bereits auf dem Boden und hantierte mit unserem Ein-Mann-Kocher.

Ich ließ mich an der Wand niedergleiten und beobachtete aufmerksam sein Tun.

Jessika setzte sich neben mich. Santos kehrte wieder auf seinen Posten draußen zurück.

»Wer ist das?«, flüsterte Jessika nach einer Weile.

»Keine Ahnung«, gestand ich. »Ich hab ihn unten am Fluss getroffen. Er behauptet, er könnte ihr helfen.«

Der Junge ließ sich durch unser fremdländisches Geschnatter nicht im Geringsten ablenken. Er hatte sich schon ziemlich häuslich eingerichtet. Rings um ihn lagen allerlei Habseligkeiten bereit. Unter anderem ein sauberer Metallbecher, den er aus einem zusammensteckbaren Essgeschirr-System zog. Ich staunte nicht schlecht, als er aus einer großen Tasche auch noch einen waschechten Sanitätskoffer zog. Der Kleine war erstaunlich gut ausgerüstet.

Mit großen Augen verfolgten Jessika und ich, wie der Junge flink darin herumkramte und ein eingeschweißtes Päckchen herausnahm. Er riss es auf, warf einen abschätzenden Seitenblick auf Elsa. Dann schüttete er so viel Pulver aus dem Päckchen auf ein Stück Papier, wie er es wohl für richtig hielt. Er benutzte das gefaltete Stück Papier, das er vorab aus seinem Notizblock abgerissen hatte, als Trichter. Ohne auch nur ein Korn zu verstreuen, kippte er das Pulver in den Becher. Als nächstes goss er vorsichtig Wasser hinein. Dazu benutzte er seine Trinkflasche. Zum Umrühren nahm er eine Spatel aus seinem Sanitätskoffer. Als er fertig damit war, zog er aus seinem klappbaren Essgeschirr auch eine Schachtel Esbit hervor. Mit einem Würfelchen aus dieser Schachtel und einem Feuerzeug aus seiner Brusttasche setzte er unseren Ein-Mann-Kocher in Gang.

Die ganze Prozedur hatte nur wenig Zeit in Anspruch genommen. Schon dampfte es aus dem Trinkbecher auf dem Kocher.

Jessika und ich sahen uns überrascht, aber auch glücklich an. Der Kleine war wirklich unverschämt gut in diesen Dingen. Irgendjemand hatte ihm das beigebracht. Daran bestand kein Zweifel. Was aber tat ein kleiner, zehnjähriger Junge mitten im Dschungel?

Der Bursche wisperte vor sich hin, und dabei streckte er von Zeit zu Zeit einen Finger nach dem anderen aus. Sein halblautes Geplapper war weder Spanisch noch Russisch. Es musste irgendein Indianerdialekt sein. Ein unverständlicher, melodiöser Singsang.

»Was macht er da?«, wisperte ich verwundert. »Beten?«

»Quatsch!«, erwiderte Jessika. »Ich glaube, er zählt die Zeit! Er hat ja keine Uhr, schau!«

Tatsache, der Kleine trug keine Uhr an seinem Handgelenk. Wie sollte er also die Kochzeit einhalten? Er ratterte die Strophen irgendeines Liedes herunter und zählte dabei mit den Fingern mit!

Wir waren wirklich baff.

»Meinst du, es gibt ein Dorf hier in der Nähe?«

»Ne«, raunte ich. »Auf der Karte ist doch nirgends was eingezeichnet.«

»Es muss ja nicht jedes Kaff eingezeichnet sein, oder?«

So unterhielten wir beide uns gedämpft, während das Gebräu vor sich hin dampfte und der Kleine vor sich hin sang.

Als die Arznei endlich fertiggestellt war, half Jessika meiner Schwester dabei, sich aufzusetzen. Ich hielt Elsa sogleich den fertigen Becher an die Lippen. Sie nippte schwach daran. Dann wollte sie sich wieder hinlegen, weil ihr schwindlig wurde. Aber weder ich noch unser kleiner Arzt ließen das zu.

Ich zwang Elsa noch ein paar Schluck Gebräu auf. Sie legte sich wieder hin, und nach ein paar Minuten, da sie sich besser fühlte, wiederholten wir das Ganze.

So lange, bis der Becher geleert war.

Und schon bald stellte sich die positive Wirkung des Gebräus ein. Elsa gewann deutlich an Gesichtsfarbe und an Kraft. Wir waren alle sehr erleichtert. Dann stöhnte sie nach einer Weile aber wieder auf und hielt sich den Bauch: »Uh-oh …«

»Was ist los?«, wollte ich alarmiert wissen. Ich dachte, sie hätte einen Rückfall erlitten.

»Ich muss raus«, presste Elsa verlegen hervor und ich wurde puterrot im Gesicht.

Weil ich dastand wie ein verzauberter Ölgötze, war es Jessika, die Elsa nach draußen half, wo sie sich ungeniert erleichtern konnte.

Als meine Schwester zurückkam, auf eigenen Beinen stehend, strahlte sie von einem Ohr zum anderen. »Schon viel besser«, verkündete sie, und der Junge bog sich vor Lachen. Er verstand zwar kein Wort Deutsch, aber Elsas seliger Gesichtsausdruck sagte alles.

Voller Erleichterung fielen erst Elsa und dann ich, schließlich auch Jess in das Lachen ein. Wir lachten so laut und ausgelassen, dass Santos besorgt seinen Kopf zur Türe hereinstreckte.

So endete der vierte Tag unseres Dschungelaufenthalts doch noch mit einem Lichtblick.

3 – Der Waldläufer (Santos Perspektive)

Was soll ich sagen? Ich bin nicht wirklich religiös. Ich bin Pilot. Ich halte mich lieber an die Naturgesetze der Aerodynamik. Aber was diesen Jungen angeht, ist der abergläubische Teil in mir felsenfest davon überzeugt, dass Gott uns einen Engel geschickt hat. Einen kleinen grünen Engel im Sanitätsdienst.

Er war ein zurückhaltendes, scheues Kerlchen. Ein Indianer eben. Die sind auf uns Städter nicht sonderlich gut zu sprechen. Aus gutem Grund. Trotzdem hatte ich ihn schon bald ins Herz geschlossen. Denn in Sachen Survival-Training hatte er eindeutig die Nase vorn. Das gebe ich ungeniert zu. Ich bin zwar Pilot und auch für Notfälle ausgebildet. Der Kleine aber lebt den Notfall vierundzwanzig Stunden am Tag.

Als ich mich mit ihm länger unterhielt, fand ich heraus, dass er sich als Waldläufer verdingte. Er beförderte Kleinkram und Botschaften von Dorf zu Dorf. Was das für Botschaften seien, habe ich ihn gefragt. Und als Antwort hatte er nur eine Schnute gezogen und schmatzende Kusslaute gemacht. Wir mussten beide herzhaft lachen. Klar, so etwas will man nicht über Funk verbreiten. Schon gar nicht, wenn das halbe Dorf mithörte. Apropos Dorf. Schon am nächsten Tag nach Fräulein Elsas Genesung brachen wir auf. Unser kleiner, grüner Waldläufer führte uns an und versorgte uns unterwegs mit so ziemlich allem, was wir brauchten.

In kleinen Etappen ging es durch den Dschungel. Von einem Unterschlupf zum nächsten. Nicht nur die Deutschen waren erstaunt, das muss ich zugeben. Ich bin zwar auf dem Land aufgewachsen, aber ich bin kein Dschungelkind. Ich kenne die Routen der Eingeborenen und Guerillatruppen nicht. Der kleine Jaguar hingegen schon. Er erzählte mir brühwarm von allem, was ihm nur in den Sinn kam. Von giftigen Spinnen, großen Raubkatzen und noch größeren Würgeschlangen, von heftigen Tropenstürmen und nicht minder heftigen Feuergefechten zwischen Regierungstruppen und Drogenkartellen. Ich merkte wohl, dass der Kleine sein Wissen nicht aus fremder Erzählung schöpfte. In diesem kleinen Kinderkörper, das wurde mir während unserer gemeinsamen Reise deutlichbewusst, steckte bereits ein breites Spektrum menschlicher Erfahrung. Dieser Knirps war seinen Altersgenossen in manchen Dingen schon weit voraus. In anderen Dinge allerdings immer noch ein Kind. Bei jeder Rast zum Beispiel nötigte er einem von uns ein Spiel ab. Egal ob Händeklatschen, Hasch-mich oder Kitzel-mich. Vor dem Schlafengehen wollte er immer eine Geschichte erzählt bekommen. Und es war ihm vollkommen egal, ob Spanisch oder Deutsch. Ob er sie also verstand oder nicht, er lauschte mit andächtig gespitzten Ohren. Ich war so gerührt, dass ich, sofern ich Zeit und Energie dazu hatte, den Dolmetscher zum Besten gab.

Durch unseren kleinen Waldläufer erfuhr ich auch, warum man keine Suchflugzeuge losgeschickt hatte. Ein Vorbote des Tropensturms hatte nämlich weiter südlich schon kurz nach unserem Abflug zugeschlagen und sowohl Funk als auch Rollbahn lahmgelegt. Letztlich hatte sich aber doch alles zum Guten gewendet. Dank unserem kleinen grünen Engel.

4 – Was ich diesen Sommer erlebt habe (Jaguars Perspektive)

Hallo! Ich heiße Jaguar. Ich bin 10 Jahre alt und lebe in einem kleinen Dorf in einem riesigen Dschungel. Ich bin ein Mischling. Denn meine Mutter ist eine Eingeborene, mein Vater ist aber ein Russe. Ich spreche kein Deutsch. Fräulein Elsa lehrt mich Deutsch. Sie hilft mir, das hier zu schreiben. Wer ist Fräulein Elsa? Sie ist eine Touristin. Ihr Bruder ist Archäologe. Sie kam, um ihn zu besuchen, aber sie stürzten allesamt mit dem Flugzeug ab. Ich war droben auf der Hügelkette und habe gesehen, wie das Flugzeug auf dem Fluss gelandet ist. Ich ging hin, um den Menschen dort zu helfen. Es waren vier. Ich führte sie zu unserem Dorf. Sie waren sehr glücklich und dankbar. Mein Vater war auch sehr stolz auf mich. Er hat mir seine Mütze geschenkt! Sie ist mir noch viel zu groß, aber ich liebe sie!

Ronny Gempe

Am Abgrund

Eine weitere Biegung an einer herabhängenden Liane vorbei, und noch immer ist er mir dicht auf den Fersen. Er trägt eine Waffe, und als Mann ist er mir zudem auch körperlich überlegen. Eiskalte Todesangst verschnürt meine Kehle. Doch es bleibt keine Zeit, um nach Luft zu schnappen. Denn Zeit ist ein ›Luxus‹, der mir in meiner Lage nicht vergönnt ist.

Lauf, Anna! Du kannst es schaffen! Mein verzweifeltes Mantra begleitet mich, während ich tiefer und tiefer in einem Dschungel aus undurchdringlichem Geäst verschwinde. Einem blinden Fleck im nordöstlichen brasilianischen Regenwald, welchen bisher nur wenige Forscher vor mir betreten haben.

Der mich umgebende Lianenwald ist unterdessen eine grüne Mauer, die mir beim atemlosen Hindurchkämpfen aufgrund der Vegetation die Unterarme und Beine zerkratzt. Schmerz empfinde ich trotzdem nicht. Hierfür ist mein Adrenalin-Level viel zu hoch. Ich muss es schaffen! Das bin ich ihnen schuldig. Sie dürfen nicht einfach von der Landkarte verschwinden!

Hinter mir ertönt ein Warnschuss gen Himmel. Ich laufe geradeaus weiter, drehe mich nicht um, damit keine wertvollen Sekunden meines Vorsprungs verlorengehen. Mit angstverzerrtem Gesicht springe ich über die geschwungenen Wurzelausläufer eines Andiroba-Baumes, und wieder werden Schüsse abgefeuert, welche diesmal das tiefgrüne Blattwerk über mir zerfetzen. Ohne Navigationsgerät und Kompass, die mir die Richtung vorgeben könnten, laufe ich im brasilianischen Bundesstaat Maranhão im nordöstlichen Teil des Landes um mein Leben.

Dieses knapp 1.200 Quadratkilometer große Gebiet wurde zwar schon vor Jahren dem fern der Zivilisation lebenden Volk der Awá-Indianer zugesprochen, welche im Zentrum meiner Forschungstätigkeit stehen, und dennoch ist es massiv bedroht. Vor allem illegale Holzfäller und Rinderzüchter versuchen immer wieder, das Land der Awá durch Waffengewalt in ihren Besitz zu bringen. Obwohl die brasilianische Regierung den territorialen Schutz dieses indigenen Amazonas-Volkes in ihrer Verfassung verankert hat, geschieht dessen Umsetzung vor Ort de facto nicht.

Das beste Beispiel dafür ist der bewaffnete Angreifer, vor dem ich gerade fliehe. Nun erlebe ich erstmals am eigenen Leib, mit was für einer Bedrohung dieses friedliebende Volk tagtäglich konfrontiert ist.

Ich kann förmlich spüren, wie sich meine zweckmäßige und dennoch für diesen Ort viel zu westlich geschnittene Kleidung mit Schweiß und Luftfeuchtigkeit vollsaugt, während mir mein eigener Herzschlag in den Ohren nachhallt. Immer weiter verliere ich mich in einem Dickicht aus majestätisch anmutenden Bäumen, Schlingpflanzen und farbenfroh schillernden Blüten. Mein Verfolger rückt unterdessen mehr und mehr auf.

Wie soll ich aus diesem Labyrinth jemals wieder herausfinden?, schießt es mir durch den Kopf. Aber dieser Frage muss ich mich später widmen. Jetzt heißt es: überleben um jeden Preis!

Trotz der zwei Monate, in denen ich nun schon die Kultur und Lebensumgebung der Awá studiere, ist mir diese grüne Welt noch immer so fremd, als hätte man mich auf dem Mars ausgesetzt. Tausende Kilometer von den klimatisierten Büros unseres Genfer Forschungsinstituts für Ethnologie und Kulturanthropologie entfernt erkenne ich, wie nicht nur der namenlose Söldner hinter mir mein Feind ist. Nein, die Natur selbst ist ein Gegner in meinem Wettlauf um Leben und Tod. Tropische Feuchtigkeit, die allein das Atmen mit jedem Schritt geradezu in einen Hochleistungssport verwandelt. Und kein Awá-Indianer ist in der Nähe, der mir mit seinem zwei Meter großen Bogen zu Hilfe eilen könnte.

Geschützt und versteckt leben hier nur noch etwa 350 von ihnen, dazu kommen die ca. 100 Awá, die bisher keinerlei Kontakt zur Zivilisation aufgenommen haben und wie schon seit Jahrhunderten als Jäger und Sammler durch das Unterholz des Regenwaldes ziehen. Sie alle leben nicht nur in der Natur, sondern mit ihr.

In meiner aktuellen Situation bräuchte ich ihre Instinkte und Lebenserfahrung. Dachte ich anfangs noch, dass ich den Awá in puncto Wissen weitaus überlegen sei, zeigt sich nun, dass dies ein gefährlicher Trugschluss war. Ich bin schlichtweg aufgeschmissen und muss einsehen, dass die Awá in ihrem natürlichen Umfeld deutlich überlebensfähiger sind, als es jeder Westliche je sein könnte. Ein Wissen, welches sich die Awá auf eine unbeschreiblich schmerzhafte Art zwangsläufig aneignen mussten. Denn die traurige Geschichte ihrer Vertreibung und ihr Kampf ums nackte Überleben haben einen mehr als zweihundertjährigen Ursprung.

Angefangen hatte alles mit der Besiedlung durch die ersten Europäer, die das Land der Awá für sich einnahmen. Den Indianern blieb nichts anderes übrig, als sich gegen 1800 zum Rückzug in das grüne Dickicht des immergrünen Regenwaldes zu entschließen, um so den Übergriffen der neuen Bewohner des südamerikanischen Kontinents zu entgehen. Und doch bot selbst dieses Versteck keinen gänzlichen Schutz vor den weißen Angreifern. Genau wie der Mann, der mich gerade verfolgt, so werden auch die Awá weiterhin von Männern gejagt, deren tödliche Waffen durchschlagskräftiger sind als jeder kunstvoll geschnitzte Pfeil und Bogen der brasilianischen Ureinwohner.

Ich vollziehe eine scharfe Kurve und verschwinde hinter einer dichten Anhäufung von Attalea-Palmen. Zum ersten Mal während meiner Flucht kann ich mich kurz ausruhen. Die belebten Geräusche des Regenwaldes sind noch die gleichen, aber die lauten Schritte des Angreifers sind zumindest von meiner Warte aus nicht mehr zu hören. Und dann sehe ich es.

Hinter einer weiteren Baumgruppe lugen die grauen Umrisse einer Behausung hervor. Vorsichtig schleiche ich mich durch Büsche und Gras zu ihr hinüber. Passe dabei auf, möglichst keine Geräusche zu produzieren. Als ich nach etwa fünfzig Metern endlich vor der Behausung stehe, erkenne ich, dass es sich um eine verlassene Goldgräberhütte handelt. Ein aus Stein erbautes Haus mit Türen und Fenstern. Obwohl ich weiß, warum ein solch fremdartig wirkendes Gebäude an einem Ort wie diesem zu finden ist, verwirrt mich der ungewohnte Anblick im ersten Moment. Über die letzten Wochen hinweg war ich schließlich nur die typischen aus Holz und Palmblättern errichteten Unterkünfte der Awá gewohnt.

Die Fenster der Goldgräberhütte sind mit Brettern zugenagelt. Um mich dennoch abzusichern, dass sie wirklich verlassen ist, versuche ich, zwischen den Schlitzen ins Innere zu schauen.

Wie vermutet, ist sie menschenleer.

Ich habe weiter Glück, da die Türen nicht verschlossen sind. Schnell schlüpfe ich geräuschlos hinein und lasse mich mit dem Rücken an einer der kühlenden Steinwände auf den von der Natur zurückeroberten Boden herabsinken.

Zeit für eine Bestandsaufnahme: Ich bin von Kratzern übersät, ein unbekannter Mann trachtet nach meinem Leben, und die nächste Polizeiwache ist meilenweit entfernt. Panisch blicke ich mich um und suche meine neue Umgebung nach etwas ab, mit dem ich mich notfalls zur Wehr setzen könnte. Eine Spitzhake, Axt oder Schaufel vielleicht. Doch das Einzige, was ich zwischen einem Grasbüschel am Boden finde, ist eine achtlos liegengelassene Siebe-Pfanne zum Waschen des Erdreichs.

Ich hebe sie auf und werfe sie frustriert an die gegenüberliegende Wand. Genau dieses Werkzeug ist schuld daran, weswegen ich überhaupt hier bin. Warum sich die Situation der Awá vor gar nicht allzu langer Zeit auf so dramatische Weise zugespitzt hat.

Denn trotz des Rückzugs der Awá in den Regenwald im Zuge der weißen Invasion verschärften sich hierzulande die Verhältnisse, als Geologen Mitte des 20. Jahrhunderts bei ihren Grabungen zufällig auf das größte Erzvorkommen auf unserem Planeten stießen. Von den USA, Japan, der Weltbank sowie der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eifrig finanziert, ward innerhalb kürzester Zeit das Grande Carajás Projekt geboren. Über eine Fläche hinweg, welche mit der menschlichen Vorstellungskraft kaum zu erfassen ist, entstand genau hier die größte Erzmine der Welt, in der seitdem unter anderem auch Rohstoffe wie Gold, Mangan, Kupfer, Nickel und Zinn abgebaut werden. Mit bloßem Auge ist dieser weltgrößte Tagebau sogar aus dem Weltall aus sichtbar. Und mit jeder verstreichenden Sekunde, in der ich in meinem derzeitigen Versteck verharre, kommt es mir so vor, als sei auch diese Hütte aus dem All heraus sichtbar. Bitte, bitte, lass ihn mich hier nicht finden! Diesen Ort haben schon zu viele Leute vor ihm entweiht.

Von den Verheißungen nach schnellem Geld und Reichtum in der Region angelockt, folgten im Zuge des kommerziellen Raubbaus an der Natur unzählige weitere Siedler, Schatzsucher, Holzfäller und Viehzüchter, die die alteingesessenen Awá nur als »lästiges Primitiven-Volk« betrachteten. Sie auf brutalste Weise jagten, vergifteten oder ganze Familien mit Müttern, Vätern, Kindern und Greisen noch an Ort und Stelle durch die erbarmungslosen Mündungen ihrer Gewehre regelrecht hinrichteten.

In den Neunzigerjahren erstmals publik gemacht, warnten etwa Forscher wie Fiona Watson von Survival International davor, dass dieses indigene Volk inzwischen dramatisch umzingelt sei. So bestätigen etwa neuere Satellitenbilder, dass über dreißig Prozent des Waldes um die Awá herum bereits abgeholzt und damit einhergehend auch ihr vertrauter Lebensraum zerstört wurde.

Gefangen in einer Spirale aus Geld, Gier und Gewalt, konnten den Awá nicht einmal mehr die Jahrhunderte alten Bäume und Pflanzen des tropischen Regenwaldes Sicherheit vor dem schweren maschinellen Gerät und der Feuerbereitschaft der fremden Eindringlinge geben. Nach wie vor werden riesige Weideflächen für die Rinderzucht der anliegenden Großgrundbesitzer benötigt. Da der Import von südamerikanischem Rindfleisch im Gegensatz zu heimischen Produkten größtenteils billiger ist, steigt schon seit Jahren die Nachfrage in Absatzmärkten wie Russland, China und Europa. Hinzu kommt die systematische Abholzung des Baumbestandes für den Export der exotischen Tropenhölzer zur Herstellung von Autoarmaturen für Nobelklassefahrzeuge und hochpreisigen Möbelstücken.

Während sich die brasilianische Wirtschaft innerhalb kürzester Zeit zum weltweit zweitgrößten Exporteur von Rindfleisch und einem der wichtigsten Lieferanten von Tropenhölzern mauserte, verschloss die Regierung des Landes hartnäckig die Augen vor dem grausamen Genozid an ihren Ureinwohnern.

Die letzten Informationen und Studien, welche ich zur Vorbereitung meines Aufenthaltes bei den Awá untersucht hatte, ließen den Schluss zu, dass die Awá das inzwischen am meisten bedrohte indigene Volk der Erde sind. Es war demnach schon fast meine Pflicht, sie mithilfe einer großangelegten Forschungsstudie wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit zu holen. Denn in dem Stundenglas der Awá befinden sich nur noch ein paar winzige Sandkörner, und mit jedem neuen Tag droht ein weiteres in den schwarzen Abgrund der Vergessenheit zu fallen.

Ich schrecke aus meinem Gedankenfluss hoch, als ein Schuss die geschlossenen Fensterbretter zersplittern lässt. Mein Versteck wurde soeben entdeckt. Bietet keinerlei Schutz mehr. Unter Schock renne ich zur Hintertür hinaus und laufe wie schon zuvor in den Tiefen des Dschungels einen Zickzack-Kurs, um so meinem Angreifer möglichst wenig Schussfläche zu liefern.