Dr. Laurin 80 – Wir finden deinen Vater, kleiner Jeremias

Dr. Laurin –80–

Wir finden deinen Vater, kleiner Jeremias

Roman von Patricia Vandenberg

Es hatte zu regnen begonnen, als Antonia Laurin aus der Stadt zurückkam, und sie fuhr entsprechend vorsichtig. Die Straße hatte ihre Tücken, sie war kurvenreich, und stellenweise konnte plötzlich Nebel auftauchen. Außerdem saß Kyra auf dem Rücksitz, mit der sie beim Zahnarzt gewesen war, der ihre Spange kontrolliert hatte.

Kyra war ein geduldiges Kind, und sie hatte auch die Zahnspange bisher ohne Murren ertragen.

»Du bist bald erlöst, Schätzchen«, sagte Antonia gerade, da schoss ein graues Cabrio so schnell an ihnen vorbei, dass es ihr wie ein Spuk erschien.

»Wenn das nur gut geht«, murmelte sie.

Es war nicht gut gegangen!

Zwei Kilometer weiter sah Antonia, dass der graue Wagen gegen einen Baum gefahren war, und auf der anderen Seite lag ein roter Wagen zerbeult im Graben.

Antonia hatte schon gebremst. »Du bleibst sitzen, Kyra«, sagte sie mit erzwungener Ruhe. »Ich muss sehen, ob ich irgendwie helfen kann.«

Ein anderer Wagen hielt hinter ihr. Ein junger Mann stieg aus.

»Sieht nicht gut aus«, meinte er, »ich verständige die Polizei.«

»Das ist gut, ich bin Ärztin, vielleicht kann ich helfen.«

Es kamen auch noch andere Autos, während Antonia schon bei dem grauen Autowrack stand. Über dem Steuer hing leblos eine blonde Frau, aber Antonia vernahm ein klägliches Kinderweinen und entdeckte einen kleinen Körper, der hinten eingeklemmt am Boden lag. Sie konnte nicht so einfach an ihn heran, sie wusste auch, dass sie dem verletzten Kind unter Umständen mehr schaden als helfen konnte.

Sie fühlte den Puls der Wagenlenkerin, er war noch schwach vernehmbar. Sie blutete stark aus einer Kopfwunde. Hastig entnahm Antonia ihrem Erste-Hilfe-Koffer ein Verbandspäckchen und drückte es auf die Wunde. Mehr wagte sie momentan nicht zu tun, aber dann vernahm sie schon Sirenen, und gleich darauf kamen ein Funkstreifen- und ein Notarztwagen.

Dr. Lohner kannte sie und begrüßte sie überrascht. »Ich bin ganz zufällig hier«, erklärte Antonia. »Im Wagen ist noch ein Kind.«

Das Wimmern hatte aufgehört. Es waren nun aber gleich mehrere Helfer zur Stelle, die die Schwerverletzten aus den Trümmern befreiten und auf der Trage in den Krankenwagen schoben. Das Kind war bewusstlos.

»Bringen Sie beide gleich zur Prof.-Kayser-Klinik«, bat Antonia, »ich fahre hinterher.«

Jetzt war es nicht angebracht zu sagen, dass die Fahrerin den Unfall wohl selbst verschuldet hatte, und Antonia war froh, dass sie nicht gefragt wurde.

Kyra sagte kein Wort. Sie saß blass und stumm auf dem Rücksitz.

Bei der Klinik angekommen, erfuhr Antonia, dass die Schwerverletzte auf der Fahrt gestorben war. Es gab keine Hilfe mehr.

»Das Kind werden wir versorgen«, erklärte Antonia. »Es ist besser, wenn es nicht herumtransportiert wird. Wir werden dann wohl benachrichtigt und den Namen des Kindes erfahren.«

Es handelte sich um einen kleinen Jungen, vielleicht drei Jahre, ein hübsches Kind. Als er in die Klinik getragen wurde, begann er zu blinzeln.

»Mami«, flüsterte er, als sich Antonia zu ihm beugte. Aber gleich war er wieder still.

Dr. Laurin kam aus seinem Zimmer. Moni Hillenberg hatte ihn schnell verständigt.

»Wieder ein Unfall«, sagte er kopfschüttelnd, »ihr wart doch hoffentlich nicht darin verwickelt?« Er nahm Antonia und Kyra in die Arme.

»Die Frau ist wie verrückt gerast«, sagte Kyra. »Das arme Kind, nun ist es allein.«

»Es wird schon Angehörige haben«, sagte Antonia tröstend. »Jetzt wollen wir ihn erst mal untersuchen.«

Es war ein zierliches Kind, gepflegt und gut gekleidet. Äußere Verletzungen waren nicht festzustellen, aber der Schock schien nachzuwirken.

»Er hatte einen Schutzengel – im Gegensatz zu seiner Mutter, die ist gleich gestorben. Ich nehme wenigs­tens an, dass es die Mutter war.«

»Du weißt den Namen?«, fragte Leon.

»Noch nicht, aber Dr. Lohner wird sich darum kümmern. Er war als Notarzt da.«

Den Namen erfuhren sie eine Stunde später. Der Junge hieß Jeremias Valborg, seine Mutter hieß Kerstin, und als Antonia den Namen hörte, wusste sie, dass es sich um eine bekannte Sängerin gehandelt hatte. Von einem Vater war nichts bekannt.

Jeremias war nun ein Waisenkind, und man musste erst in Erfahrung bringen, ob noch Verwandte vorhanden waren. Antonia hatte kein gutes Gefühl. Es hatte ihr schon nicht gefallen, dass Kerstin Valborg so gerast war. Mit einem Kind im Auto durfte man nicht so schnell fahren – und dabei waren weder Kerstin und das Kind angegurtet gewesen!

Während der kleine Jeremias bei Schwester Marie in guter Obhut war, wollte sich Antonia nach dem Unfallhergang erkundigen. Bei der Polizei waren die Laurins bekannt, und man stand mit ihnen auf gutem Fuß.

Antonia erfuhr recht schnell, was sie wissen wollte. Nach den Ermittlungen war der Fahrer des roten Wagens unvorsichtig gefahren und in der Kurve weit hinausgetragen worden. Er war aber nicht besonders schwer verletzt und nach ambulanter Behandlung schon nach Hause entlassen worden. Er hieß Karlheinz Richter.

Er freilich konnte mit Recht behaupten, dass Kerstin Valborg sehr schnell gefahren war, und das muss­te auch Antonia bestätigen, die es sehr schmerzte, dass der kleine Jeremias dadurch zum Waisenkind geworden war. Aber Kinder hatten nicht nur Mütter sondern auch Väter, und wenn Kerstin Valborg über Jeremias Vater nichts gesagt hatte, so konnte es doch sein, dass er durch diesen schrecklichen Unfall, über den bestimmt in den Zeitungen berichtet werden würde, von dem Kind erfuhr.

Wenn es um Kinder ging, waren die Laurins immer bereit, Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, und da sich Antonia nun mal des Kindes angenommen hatte, wollte sie auch dafür sorgen, dass es nicht herumgestoßen wurde.

Wie richtig und wichtig das war, sollte sich bald herausstellen!

Für die Laurins war es nicht schwer zu erfahren, was für die Zukunft des Kindes von Wichtigkeit war, denn Friedrich Brink, der Rechtsanwalt, der Schwager von Dr. Laurins Schwester Sandra, war von Kerstin Valborg mit der Wahrnehmung ihrer Interessen betraut.

Natürlich hatte er darüber nie geredet, denn er war ebenso an die Schweigepflicht gebunden wie die Ärzte.

Friedrich Brink atmete erleichtert auf, als er hörte, dass sich der kleine Jeremias in der Obhut der Prof.-Kayser-Klinik befand.

Nachdem Friedrich von Kerstin Valborgs Tod informiert worden war, rief er sofort Dr. Laurin an. Von dem wiederum hörte er, dass Antonia ihm mehr sagen könnte, und darauf verabredete er gleich ein Treffen mit ihr, dem Antonia mit großer Spannung entgegenblickte.

Der kleine Jeremias schlief, da ihm ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht worden war. Wie sich der Unfall bei ihm auswirken würde, war nicht abzusehen, aber alle waren bereit, ihn spüren zu lassen, dass er nicht verlassen war.

Dr. Friedrich Brink war einer der besten Anwälte weit und breit, und viele Prominente waren seine Klienten. So war es auch nicht verwunderlich, dass Kerstin Valborgs Wahl auf ihn gefallen war.

Antonia erfuhr von Friedrich, dass die Sängerin kurz vor der Geburt des Kindes Verbindung zu ihm aufgenommen hätte.

»Weißt du, wer sein Vater ist?«, fragte Antonia.

»Nein, das hat sie auch mir nicht verraten. Vielleicht war der Mann verheiratet. Und anscheinend gehörte sie zu den Frauen, die zwar ein Kind haben wollten, sich aber nicht fest binden mochten. Jedenfalls hat sie für das Kind bestens gesorgt. Der Kleine ist bereits zweifacher Millionär durch die Lebensversicherung, die sie für ihn abgeschlossen hatte. Und es ist auch noch Vermögen da. Außerdem hat sie mich zum gesetzlichen Vertreter und Vermögensverwalter bestimmt. Eigentlich mache ich das sonst ja nicht, aber ich habe auch nicht damit gerechnet, dass ich so schnell damit betraut werden würde.«

»Ist keine Verwandtschaft vorhanden?«, fragte Antonia.

»O doch, von ihrer Seite genug, und ich könnte mir vorstellen, dass in Anbetracht des Vermögens, das der Junge zu erwarten hat, ein heißer Kampf um ihn entbrennen könnte – wenn eben Kerstin Valborg nicht auch diesbezüglich weitsichtig gewesen wäre. Ich möchte der Testamentseröffnung nicht vorgreifen, Antonia.«

»Aber andeutungsweise könntest du mir doch sagen, was es für Verwandte gibt, damit wir vorbereitet sind, wenn sie die Klinik stürmen sollten.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das geschehen wird. Zu ihren Eltern hatte sie nur ein loses Verhältnis, das nicht allzu gut war. Und als sie das Kind bekam, haben die vornehmen Valborgs sich wohl ganz zurückgezogen. Es hatte ihnen nie behagt, dass Kerstin unter ihrem Geburtsnamen Karriere machte, auch nicht, als sie berühmt wurde. Dann wären da noch ein Bruder und eine Schwester, beide verheiratet. Es sind auch Kinder vorhanden. Und dann gibt es noch eine Cousine, die auch ihre Eltern früh verlor, und die als Aschenputtel im Haus Valborg aufwuchs. Ihr Name ist Anik Carpais.«

»Klingt französisch.«

»Sie ist gebürtige Schweizerin. Ihre Mutter war die Schwester von Kerstins Mutter. Und Kerstin Valborg hält sie als Einzige der Verwandtschaft für würdig, Einfluss auf die Erziehung des Jungen zu nehmen.«

»Ist es nicht merkwürdig, dass eine so junge Frau schon so weit­reichende Zukunftssicherungen trifft?«, meinte Antonia nachdenklich. »Wie alt war Kerstin Valborg eigentlich?«

»Zweiunddreißig.«

»Ich frage mich, warum sie so gerast ist – und warum sie und das Kind nicht angeschnallt waren. Das sieht doch selbstmörderisch aus.«

»Man könnte es so auslegen, aber der andere Fahrer war mitschuldig, Antonia. Vielleicht war sie aus einem besonderen Grund in Eile.«

»Wenn nun der Junge auch ums Leben gekommen wäre, wer würde dann erben, Friedrich?«

»Eine Stiftung für Krebskranke. Für die Verwandtschaft hatte sie nichts vorgesehen.«

»Sie hat weit gedacht«, sagte Antonia gedankenvoll. »War sie krank?«

»Das kann ich nun wirklich nicht sagen, aber vielleicht stellt es sich bei der Autopsie heraus.«

»Das mit Sicherheit, aber vor allem werden sie wohl feststellen wollen, ob sie unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stand. Könnte das Schwierigkeiten mit der Versicherung nach sich ziehen?«

»Auf keinen Fall.«

»Dann werde ich mich mal um den Autopsiebericht kümmern. Wann ist die Testamentseröffnung?«

»Nach der Beerdigung. Um die muss ich mich auch kümmern. Es ist ein Jammer um diese Frau. Sie hatte nicht nur Stimme, sie hatte auch Charakter.«

»Und sie war eine sehr attraktive Frau«, sagte Antonia gedankenvoll. »Wie gut kanntest du sie, Friedrich?«

Er sah sie konsterniert an. »Liebe Güte, du wirst doch nicht denken, dass ich ein Verhältnis mit ihr hatte? Nein, nein, Antonia, Kerstin Valborg war kühl bis ins Herz. Sie kannte nur zweierlei: Ihren Sohn und ihre Karriere, alles andere war ohne Bedeutung für sie.«

*

Am Abend wurde es bereits im Rundfunk und Fernsehen bekanntgegeben, dass die bekannte Sängerin Kerstin Valborg tödlich verunglückt, ihr Sohn aber mit leich-

ten Verletzungen davongekommen war.

Sofort wurde im Haus Valborg eine Familienzusammenkunft einberufen, veranlasst von Robert Valborg junior, Kerstins Bruder, denn ihre Eltern hatten noch nichts von dem Unglück gehört.

Robert senior und seine Frau Margot erwarteten die Jüngeren in ihrem Haus am Ammersee. Man musste sich ihnen anpassen, wenn sie dabei sein sollten, und das schien allen angebracht. An Geld mangelte es keinem von ihnen, aber davon konnten sie nie genug bekommen, und deshalb wurde jetzt auch schon heftig darüber diskutiert, wie viel Kerstin wohl hinterlassen haben könnte und was nun aus dem Jungen werden sollte.

Anik war von dieser Familienzusammenkunft ausgeschlossen worden. Wenn es um Geld ging, hatte sie nichts am Tisch zu suchen. Sonst jedoch wurde sie von allen sträflich ausgenutzt und tagtäglich daran erinnert, wie dankbar sie sein müsse.

Anik war zu schüchtern, um sich aufzulehnen. Sie war im Alter von dreizehn Jahren zu den deutschen Verwandten gekommen und tatsächlich dankbar gewesen, aufgenommen worden zu sein. Sie hatte eine gute Schulbildung genossen, war perfekt am Computer und auch als Babysitterin bestens zu gebrauchen. Sie war jetzt dreiundzwanzig und wartete insgeheim auf das Wunder, das ihr persönliche Freiheit verschaffen sollte. Aber sie hatte bisher noch nicht den Mut gefunden, diese selbst zu suchen.

Sie hatte allerdings auch kein Bedürfnis, an dieser Diskussion teilzunehmen.

Sie hatte die Nachricht von dem Unfall im Radio gehört und war tieftraurig, denn sie hatte an Kerstin nur die besten Erinnerungen und hatte es nie verstanden, dass die Familie kein gutes Haar an ihr ließ. Niemand sah ihre Tränen, die ihr unaufhörlich über die Wangen rollten, als sie allein in ihrem Zimmer saß.

Robert Valborg junior war dazu ausersehen worden, sich als Onkel des kleinen Jeremias zu erkennen zu geben und in Erfahrung zu bringen, was Kerstin hinterlassen hatte. So makaber es war, aber allein das spielte eine Rolle bei dem ganzen Gespräch, nachdem nebenbei bemerkt worden war, dass die Verstorbene wohl ein loses Leben geführt hätte.