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Titelseite

 

 

 

 

 

Für unsere Heldin Andrea Spooner :-) – J. P.
 
Stimmt, stimmt … ich schließe mich an. – G. C.

 

 

 

 

 

Ich glaube an die Aristokratie …
nicht an eine Aristokratie der Macht, die auf Rang und Einfluss gründet, sondern an eine Aristokratie der Empfindsamen, der Besonnenen und Beherzten. Ihre Vertreter sind in sämtlichen Ländern und Klassen zu finden, und auch in allen Zeitaltern, und wann immer sie aufeinandertreffen, herrscht zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Sie stehen für die wahre Tradition der Menschlichkeit, für den einzig dauerhaften Triumph unserer sonderbaren Spezies über Grausamkeit und Chaos.
 
E. M. Forster,
Ein zweifaches Hoch auf die Demokratie

 

 

 

 

Willkommen in deinem schlimmsten Albtraum –

in einer Welt, die du dir vielleicht nicht mal vorstellen kannst.

Es ist eine Welt, in der sich alles verändert hat.

Es gibt keine Bücher, keine Filme, keine Musik,

keine Redefreiheit mehr.

Alle Menschen unter achtzehn Jahren gelten als verdächtig.

Man könnte dich und deine Familie

jederzeit verschleppen und einsperren.

Du bist vollkommen überflüssig.

Unerwünscht.

 

Was ist das für eine Welt?

Wo könnte so etwas passieren?

Darum geht es nun wirklich nicht.

 

Es geht darum, dass es passiert ist.

Bei uns passiert es genau jetzt.

Und wenn du nicht die Augen aufmachst und achtgibst,

könnte es als Nächstes in deiner Welt passieren.

Alles verändert sich …

JETZT!

Wisty

Es ist überwältigend: Abertausende zornige Gesichter, die Bevölkerung einer ganzen Stadt, und alle starren mich an wie eine gefährliche Verbrecherin. Aber ich bin keine Verbrecherin. Ehrenwort. Das Stadion ist randvoll, eigentlich überfüllt. Die Leute stehen in den Seitengängen, auf den Treppen, auf den Betonmauern. Sogar auf dem Spielfeld hocken ein paar Tausend. Heute wird hier kein Football gespielt. Es ist so voll, dass die Mannschaften es nicht mal von den Umkleiden auf den Rasen schaffen würden.

Und diese himmelschreiende Ungerechtigkeit wird auch noch im Fernsehen übertragen, und natürlich im Internet. All die nutzlosen Zeitschriften und Zeitungen sind hier. Da oben, in gleichmäßigen Abständen auf den Rängen, haben sich die Kameramänner postiert.

Sogar eine ferngesteuerte Kamera zischt an Drähten über dem Spielfeld hin und her. Da ist sie – sie schwebt direkt vor der Bühne und zittert leicht im Wind.

Ich muss also davon ausgehen, dass noch Millionen Augen mehr zuschauen, als ich sehe. Aber die, die mir hier im Stadion entgegenblicken, brechen mir das Herz. Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende neugierige, gefühllose, bestenfalls gleichgültige Gesichter … jetzt weiß ich, was Angst bedeutet.

Da draußen gibt es keine feuchten Augen und schon gar keine Tränen.

Keine Protestschreie.

Keine stampfenden Füße.

Keine solidarisch erhobenen Fäuste.

Kein Anzeichen, dass irgendwer zumindest darüber nachdenken würde, die Bühne zu stürmen, die Absperrung zu durchbrechen und meine Familie hier rauszuholen.

Nein, es ist kein guter Tag für uns Allgoods.

Angesichts des tickenden Countdowns, der auf den riesigen Videowänden des Stadions blinkt, dürfte es eher unser letzter Tag sein.

Das denkt man sich erst recht, wenn man den sehr großen, kahlköpfigen Mann auf dem eigens errichteten Podest in der Mitte des Spielfelds entdeckt. Der Mann erinnert an eine Kreuzung aus dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofs und Ming dem Grausamen. Aber ich weiß, wer er ist. Ich habe ihn kennengelernt. Es ist Der Eine, Der Der Einzige Ist.

Gleich hinter seiner Einzigartigkeit hängt ein riesiges Banner der N. O. – der Neuen Ordnung.

Über den Rängen erschallt ein Sprechchor, fast schon ein Gesang: »Der Eine, Der Der Einzige Ist! Der Eine, Der Der Einzige Ist!«

Als Der Eine gebieterisch die Hand hebt, schieben uns seine vermummten Untergebenen auf der Bühne nach vorne. So weit es geht, ohne uns die Schlingen vom Hals zu nehmen.

Ich sehe, wie mein gut aussehender, mutiger Bruder auf die Plattform unter unseren Füßen starrt. Er grübelt, ob es vielleicht eine Möglichkeit gibt, den Mechanismus zu blockieren. Ob man irgendwie verhindern kann, dass er sich entriegelt und uns in die Tiefe fallen lässt, bis es uns das Genick bricht. Er sucht einen Ausweg in letzter Minute.

Ich sehe meine Mutter. Sie weint leise. Natürlich nicht um sich selbst, sondern um Whit und mich.

Ich sehe meinen stattlichen, gebeugten Vater. Er hat aufgegeben. Doch er lächelt mich und meinen Bruder an, um uns Mut zu machen – um uns daran zu erinnern, dass wir unsere letzten Momente auf diesem Planeten genießen sollten.

Aber ich greife vor. Ich sollte doch eine Einleitung schreiben und stattdessen berichte ich von unserer öffentlichen Hinrichtung …

Fangen wir lieber von vorne an.

Erstes Buch

STRAFE OHNE
VERBRECHEN

WHIT

Manchmal wacht man auf und die Welt hat sich komplett verändert.

Der Lärm eines kreisenden Helikopters weckte mich. Kaltes blauweißes Licht zwängte sich durch die Jalousien und flutete das Wohnzimmer, bis es beinahe taghell war.

Dabei war es mitten in der Nacht.

Mit vernebeltem Blick spähte ich auf die Digitalanzeige des DVD-Players – es war genau 2.10 Uhr.

Gleichzeitig bemerkte ich ein regelmäßiges Tropp, tropp, tropp im Hintergrund. Es klang nach einem mächtigen Herzschlag. Es pulsierte, es bedrängte mich. Es kam näher.

Was ist das?

Ich stolperte zum Fenster. Nachdem ich zwei Stunden völlig weggetreten auf dem Sofa gelegen hatte, brauchte mein Körper eine Weile, um wieder zum Leben zu erwachen. Dann linste ich durch die Lamellen.

Und wich zurück und rieb mir die Augen.

Was ich da gesehen hatte, war absolut unmöglich. Was ich hörte, auch. Völlig ausgeschlossen.

War das wirklich das stetige, unerbittliche Stampfen Hunderter Soldaten, die im perfekten Gleichschritt durch unsere Straße marschierten?

Unsere Straße lag nicht im Stadtzentrum. Hier kamen keine Feiertagsparaden vorbei. Und normalerweise wurde die Straße auch nicht mitten in der Nacht von bewaffneten Männern in Kampfanzügen gestürmt.

Ich schüttelte den Kopf und federte ein paar Mal auf den Zehenspitzen auf und ab, ein bisschen wie beim Aufwärmen. Wach auf, Whit. Zur Sicherheit verpasste ich mir auch noch eine Ohrfeige, ehe ich wieder hinausblickte.

Da waren sie – eine riesige Kolonne Soldaten in unserer Straße! Hunderte Soldaten, klar und deutlich zu erkennen im Licht eines halben Dutzends fahrbarer Suchscheinwerfer.

Ein einziger Gedanke kreiste unaufhörlich in meinem Kopf: Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. Das kann nicht sein.

Doch dann erinnerte ich mich an die Wahlen, an die neue Regierung, an das wirre Gerede meiner Eltern über die ungewisse Zukunft unseres Landes, an die Sondersendungen im Fernsehen, an die politischen Petitionen, die meine Klassenkameraden im Netz weiterleiteten, an die erbitterten Diskussionen zwischen den Lehrern an der Schule. Bis zu diesem Moment hatte mich nichts davon interessiert.

Und bevor ich mir darüber klar werden konnte, was all das zu bedeuten hatte, machte die Vorhut der Kolonne an unserem Haus halt.

Zwei bewaffnete Trupps lösten sich aus der Formation und sprinteten über unseren Rasen wie Spezialeinheiten. Die eine Gruppe rannte hinter das Haus, die andere postierte sich vorne. Es ging so schnell, dass ich es kaum mitbekam.

Ich zuckte vom Fenster zurück. Mir war klar, dass die Typen nicht gekommen waren, um mich und meine Familie zu beschützen. Ich musste Mom, Dad und Wisty warnen …

Doch als ich den Mund aufmachen wollte, prügelten sie schon die Haustür aus den Angeln.

Wisty

Es ist nicht besonders angenehm, mitten in der Nacht aus dem eigenen Zimmer entführt zu werden. Aber genau das ist mir passiert …

Lautes Gepolter weckte mich: umkippende Möbel, splitterndes Glas. War das etwa Moms Teegeschirr?

Mann, Whit, dachte ich mir, während ich schläfrig den Kopf schüttelte. Mein großer Bruder war im letzten Jahr zehn Zentimeter gewachsen und hatte knapp fünfzehn Kilo Muskelmasse zugelegt. Dadurch war er zum breitschultrigsten und schnellsten Quarterback der Gegend geworden, zum – man kann es nicht anders ausdrücken – furchteinflößendsten Spieler der ungeschlagenen Mannschaft unserer Highschool.

Doch abseits des Spielfelds war Whit mindestens so tollpatschig wie ein durchschnittlicher Bär – wie ein durchschnittlicher Bär, der sich ein Sixpack Red Bull reingepfiffen hatte und sich enorm wichtig nahm, weil er hundertfünfundzwanzig Kilo stemmen konnte und von sämtlichen Mädchen der Schule für den heißesten Typen aller Zeiten gehalten wurde.

Ich rollte mich auf die andere Seite und vergrub den Kopf unter dem Kissen. Seit Neuestem trank Whit auch noch. Obwohl er schon früher nicht durchs Haus hatte gehen können, ohne irgendwas umzuschmeißen. Ein klares Elefant-im-Porzellanladen-Syndrom.

Aber das war heute Nacht nicht das eigentliche Problem. Das wusste ich.

Vor drei Monaten war Whits Freundin Celia im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwunden, und mittlerweile glaubte niemand mehr, dass sie noch zurückkehren würde. Ihre Eltern waren völlig am Ende, Whit natürlich auch. Und wenn ich ehrlich bin, ging’s mir auch nicht viel besser. Celia war – ist – ein sehr hübsches, intelligentes und kein bisschen eingebildetes Mädchen. Sie ist einfach nur cool, obwohl ihre Familie so reich ist. Celias Dad besitzt das örtliche Luxus-Autohaus, Celias Mom ist eine ehemalige Schönheitskönigin. Und jetzt war ausgerechnet Celia verschwunden. Ich konnte es immer noch nicht fassen.

Als ich hörte, wie sich die Schlafzimmertür meiner Eltern öffnete, kuschelte ich mich noch tiefer in meine gemütliche Flanellbettwäsche.

Im nächsten Moment dröhnte Dads Stimme durchs Haus. Er klang wütend. Sehr wütend.

»Was denken Sie sich eigentlich!? Sie haben kein Recht, hier einzudringen. Verlassen Sie sofort unser Haus!«

Ich schoss in die Höhe, auf einmal hellwach. Der Krach ging wieder los, und im nächsten Moment hörte ich ein … ein gequältes Wimmern? War Whit gestürzt, hatte er sich den Kopf angehauen? Oder war irgendwas mit Dad?

Um Himmels willen!, dachte ich und krabbelte eilig aus dem Bett. »Ich komme, Dad! Alles in Ordnung mit dir? Dad?«

In diesem Moment begann der Albtraum so richtig. Der erste Albtraum eines Lebens voller Albträume.

Meine Zimmertür flog krachend auf. Zwei massige Gestalten in dunkelgrauen Uniformen stürmten herein und glotzten mich an wie das Oberhaupt einer enttarnten Terrorzelle.

»Sie ist es! Wisteria Allgood!«, rief der eine, als ein grelles Licht die Dunkelheit zerfetzte. Damit hätte man einen ganzen Flugzeughangar ausleuchten können.

Ich hielt die Hände krampfhaft vor die Augen, während mein Herz zehn Gänge höher schaltete. »Wer sind Sie!?«, schrie ich. »Und was machen Sie in meinem gottverdammten Zimmer

Wisty

»Vorsicht!«, rief einer der riesenhaften Männer. »Sie ist extrem gefährlich.« Die beiden sahen aus wie Mitglieder einer Spezialeinheit. Auf ihren Uniformen prangten große weiße Nummern. »Du weißt, dass sie …«

Der andere nickte. Seine Augen huschten nervös durch mein Zimmer. »Du!«, bellte er mich an. »Du kommst mit! Wir sind von der Neuen Ordnung. Ein Mucks, und du wirst mit aller Härte bestraft!«

Ich starrte ihn an. Mir wurde schwindlig. Die Neue Ordnung? Das waren keine normalen Cops. Und erst recht keine Rettungskräfte.

»Ich … äh … ich …«, stotterte ich. »Ich muss mir was anziehen. Könnten Sie mich vielleicht ganz kurz … allein lassen?«

»Maul halten!«, brüllte der erste Soldat. »Schnapp sie dir! Aber nimm dich in Acht. Sie ist gefährlich. Die sind alle gefährlich.«

»Nein! Nicht! Wag es ja nicht!«, schrie ich. »Dad! Mom! Whit!«

Da kapierte ich es. Die Erkenntnis plättete mich, als wäre ich von einem führerlosen Sattelschlepper überrollt worden: Genau so war es Celia ergangen. Oder?

Oh Gott! Ich spürte kalten Schweiß im Nacken. Ich muss hier raus. Meine Panik wuchs und wuchs. Keine Ahnung, wie, aber irgendwie muss ich hier …

… verschwinden.

Wisty

Die beiden übertrieben muskelbepackten, grau gekleideten Männer erstarrten. Ihre kastenförmigen Schädel schnellten hin und her wie Marionettenköpfe.

»Wo ist sie? Sie ist weg! Sie ist verschwunden! Wo ist sie hin?«, krächzte der eine verzweifelt.

Sie leuchteten mit ihren Taschenlampen in alle Ecken. Der eine ließ sich fallen und spähte unters Bett, der andere rannte zu meinem Schrank und riss die Türen auf.

Wo sollte ich denn sein? Waren die beiden komplett durchgeknallt? Ich stand doch direkt vor ihnen. Was war hier nur los?

Vielleicht war das ein Trick. Vielleicht wollten sie mich dazu bringen, die Flucht zu ergreifen, damit sie einen Grund hatten, gewalttätig zu werden. Oder sie waren aus einer Irrenanstalt ausgebrochen und jetzt wollten sie mich holen, wie sie die arme Celia geholt hatten –

»Wisty!« Der ängstliche Schrei meiner Mutter drang durch den Nebel, der sich in meinem Hirn breitgemacht hatte. Mom war im Flur. »Renn, Liebling. Renn!«

»Mom!«, kreischte ich.

Die beiden Männer fuhren herum und blinzelten überrascht. »Da ist sie! Schnapp sie dir! Sie steht direkt vor dir! Schnell, bevor sie wieder verschwindet!«

Große, schwere Pranken schlossen sich um meine Arme und Beine, um meinen Kopf. »Lasst mich los!«, brüllte ich, während ich um mich schlug und mit den Füßen austrat. »Lasst. Mich. Los.«

Doch ihr Griff war hart wie Stahl. Sie zerrten mich durch den Flur ins Wohnzimmer und schmissen mich auf den Boden wie einen Sack Müll.

Hastig rappelte ich mich auf. Scheinwerfer blendeten mich. Ich sah nichts als Weiß. Da hörte ich Whits Schrei. Sie schleuderten ihn neben mich auf den Wohnzimmerboden.

»Whit«, ächzte ich. »Was ist hier los? Was sind das für … Monster

»Wisty!« Er klang halbwegs nüchtern. »Alles okay?«

»Nein.« Fast hätte ich geheult. Aber ich wollte nicht, ich durfte nicht vor den anderen schlappmachen. Ich weigerte mich. Alle miesen Thriller, die ich je gesehen hatte, flackerten in meinen Gedanken auf, das ganze Zeug, das angeblich »auf wahren Begebenheiten beruhte«. Mir wurde schlecht. Ich schmiegte mich an meinen Bruder. Er nahm meine Hand und drückte sie.

Die Scheinwerfer erloschen. Wir blinzelten und zitterten im plötzlichen Dämmerlicht.

»Mom?«, rief Whit. »Dad?« Spätestens jetzt war mein Bruder stocknüchtern.

Ich schnappte nach Luft. Vor uns standen unsere Eltern, in zerknitterten Schlafanzügen, die Arme auf den Rücken gedreht, als wären sie unberechenbare Kriminelle.

Okay, wir wohnten in einem der schlechteren Viertel der Stadt – aber keiner von uns hatte jemals Ärger mit der Polizei gehabt.

Soweit ich wusste.

Wisty

Stellt euch das mal vor: Eure eigenen Eltern stehen mit weit aufgerissenen Augen vor euch, komplett hilflos und wortwörtlich starr vor Angst. Erschreckend, was?

Meine Eltern. Ich hatte immer gedacht, sie könnten uns vor allem beschützen. Sie waren anders als andere Eltern. Sie waren intelligent, einfühlsam, verständnisvoll … sie wussten immer, was Sache war. Auch jetzt war ihnen anzusehen, dass sie mehr wussten als Whit und ich.

Sie wissen, was hier los ist. Und was auch immer es ist, es jagt ihnen eine Wahnsinnsangst ein.

»Mom …?« Ich blickte ihr fest in die Augen. Vielleicht konnte ich darin eine Botschaft ablesen, irgendeine Andeutung, was jetzt zu tun war …

Als ich sie so ansah, zuckten Erinnerungen durch meinen Kopf – Mom und Dad, wie sie merkwürdiges Zeug faselten: »Du und Whit, ihr seid etwas Besonderes. Etwas wirklich Besonderes, Liebling. Manchmal fürchten sich die Leute vor Menschen, die anders sind als sie. Und diese Angst macht sie wütend und unvernünftig.« Okay, aber war es nicht normal, dass Eltern ihre Kinder für etwas Besonderes hielten? »Nein«, hatte meine Mom einmal darauf geantwortet und mein Kinn leicht angehoben. »Ihr seid wirklich besonders. Pass gut auf dich auf, mein Schatz.«

Drei weitere Gestalten traten aus den Schatten, zwei davon mit Schusswaffe am Gürtel. Ich kapierte gar nichts mehr. Waffen? Soldaten? In unserem Haus? In einem freien Land? Mitten in der Nacht? Und das vor einem Schultag …

»Wisteria Allgood?« Das Scheinwerferlicht fiel auf die drei Gestalten. Es waren zwei Männer und …

Byron Swain?

Byron ging auf dieselbe Highschool wie Whit und ich, ein Jahr über mir, ein Jahr unter ihm. Wenn ich mich nicht sehr irrte, konnte Whit ihn auch nicht ausstehen. Den konnte keiner ausstehen.

»Was hast du hier zu suchen, Swain?«, fauchte Whit. »Verzieh dich aus unserem Haus!«

Byron. Ein unglaublicher Name. Als hätten seine Eltern schon geahnt, dass sie einen Schnösel in die Welt gesetzt hatten.

»Zwing mich doch dazu«, erwiderte Byron mit einem schmierigen, öligen Lächeln, das mich lebhaft an unsere unvermeidlichen Begegnungen im Schulflur erinnerte. Was für ein Vollarsch, hatte ich mir dabei jedes Mal gedacht. Byron hatte braunes, makellos gekämmtes und zurückgegeltes Haar und kalte braune Augen. Leguanaugen.

Der Typ war ein Idiot der Extraklasse, und jetzt wurde er von zwei Elitesoldaten eskortiert, die dunkle Uniformen, Stahlhelme und kniehohe, glänzende schwarze Stiefel trugen. Die ganze Welt stand kopf und ich hatte immer noch meinen albernen pinken Kätzchen-Schlafanzug an.

»Was hast du hier zu suchen?«, wiederholte ich.

»Wisteria Allgood«, sagte Byron im Tonfall eines Gerichtsvollziehers – und zog eine waschechte Schriftrolle hervor. Das Ding sah ziemlich offiziell aus. »Bis zu deinem Prozess wirst du von der Neuen Ordnung in Gewahrsam genommen. Du wirst hiermit beschuldigt, eine Hexe zu sein.«

Mein Kiefer klappte nach unten. »Eine Hexe?«, japste ich. »Bist du wahnsinnig?«

Wisty

Als die beiden Gorillas in Grau auf mich zumarschierten, hob ich instinktiv die Hände – und die Soldaten der Neuen Ordnung blieben tatsächlich stehen! Nicht zu fassen. Ich spürte eine Welle der Kraft … und dann war es auch schon wieder vorbei.

»Sagt mal, wo lebt ihr eigentlich?«, quiekte ich. »Ich dachte, wir wären hier im einundzwanzigsten Jahrhundert und nicht im siebzehnten!« Ich kniff die Augen zusammen. Doch nach einem weiteren Blick auf den schmierigen Byron Swain in seinen polierten Stiefeln konnte ich den Mund erst recht nicht mehr halten. »Ihr könnt hier nicht einfach so reinplatzen und uns …«

»Whitford Allgood!«, fiel Byron mir lauthals ins Wort, ehe er den Inhalt der Schriftrolle weiter herunterleierte. »Du wirst hiermit beschuldigt, ein Zauberer zu sein. Auch du wirst bis zu deinem Prozess in Gewahrsam genommen.«

Byron grinste Whit herausfordernd an. Normalerweise hätte mein Bruder ihn einfach am Nacken packen können wie ein Huhn, dem der Hals umgedreht werden soll. Doch mit einem Trupp Soldaten im Rücken fühlt man sich wohl gleich viel sicherer.

»Wisty hat recht«, zischte Whit. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen, seine blauen Augen funkelten vor Wut. »Das ist absoluter Schwachsinn! Es gibt keine Hexen und Zauberer. Oder glaubst du an Märchen? Für wen hältst du dich eigentlich, du widerliches Wiesel? Für den Oberbösen aus Gary Kleckser und die Klammer des Tackers, oder was?«

Meine Eltern wirkten entsetzt – aber nicht sonderlich überrascht. Was zur …

Da fiel mir ein, dass die beiden uns unsere ganze Kindheit hindurch ziemlich komischen Kram beigebracht hatten: Wissen über Pflanzen, Kräuter und das Wetter – die immer mit ihrem Wetter! Sie hatten uns gezeigt, wie man sich konzentriert, wie man sich auf etwas fokussiert. Und sie hatten uns von Künstlern erzählt, die in der Schule nie erwähnt wurden: Hexxon Trollock, De Monding, Frieda Halo … Als ich etwas älter war, hatte ich mir einfach gedacht, sie wären ein bisschen hippiemäßig drauf. Aber ich hatte mir nie groß Gedanken darüber gemacht – bis heute Nacht.

Byron betrachtete Whit gelassen. »Gemäß der Vorschriften der Neuen Ordnung darf jeder einen Gegenstand aus dem Haus mitnehmen. Wenn es nach mir ginge, würde ich euch auch das verbieten, aber selbstverständlich halte ich mich an das Gesetz.«

Unter den aufmerksamen Augen der grau gewandeten Soldaten huschte Mom zum Bücherregal. Sie zögerte und suchte Dads Blick.

Als Dad nickte, nahm sie einen alten Trommelstock aus dem Regal. Das Ding lag dort herum, seit ich denken konnte. In unserer Familie erzählte man sich, dass mein Großvater – ein ganz wilder Kerl – vor langer, langer Zeit bei einem Groaning-Bones-Konzert auf die Bühne gesprungen war und dem Drummer den Stock weggeschnappt hatte.

Mom hielt mir den Trommelstock hin. »Bitte«, sagte sie schniefend. »Nimm ihn einfach, Wisteria. Nimm den Trommelstock. Ich liebe dich so sehr, mein Schatz.«

Mein Vater zog ein Buch, das ich noch nie gesehen hatte, aus dem Regal neben seinem Lesesessel. Auf dem Umschlag stand kein Titel. Vielleicht ein Tagebuch oder so?

Dad drückte es Whit in die Hand. »Ich hab dich lieb, Whit.«

Ein Trommelstock und ein altes Buch? Mann, ich hatte doch nicht mal eine Trommel! Warum gaben sie uns kein Familienerbstück mit? Irgendwas, was uns ein bisschen was bedeutet hätte? Mir wäre sogar eine Tüte aus Whits gigantischem Vorrat an unendlich haltbarem Süßkram und Knabberzeug lieber gewesen. Damit hätte ich mir wenigstens einen Zuckerschock verpassen können.

Das Ganze war wie ein Albtraum, der hinten und vorne keinen Sinn ergab. Wenn es denn ein Traum gewesen wäre.

Byron riss Whit das alte Buch aus den Händen und blätterte es durch. »Das ist ja leer«, wunderte er sich.

»Stimmt«, meinte Whit. »Genau wie deine Freundesliste.« Ja, mein Bruder kann ganz schön schlagfertig sein. Aber leider war es der richtige Spruch zur falschen Zeit.

Byron donnerte ihm das Buch gegen die Schläfe, sodass Whits Kopf zur Seite klappte, als wäre seine Wirbelsäule aus Knete.

Whits Augen traten aus den Höhlen. Er wollte sich auf Byron stürzen, doch die massigen Soldaten blockten ihn ab.

Byron versteckte sich hinter den beiden Hünen und grinste gemein. »Schafft sie in den Lieferwagen!«

Wieder packten sie mich.

»Nein! Mom! Dad! Helft mir!« Ich versuchte, mich aus ihrem Griff zu winden, aber es war, als hätte ich mich in einer Bärenfalle verfangen. Stahlharte Arme zerrten mich zur Tür. Irgendwie gelang es mir, den Hals zu verrenken und einen letzten Blick auf meine Eltern zu werfen. Der Schrecken in ihren Gesichtern, die Tränen in ihren Augen brannten sich in meine Erinnerung ein.

Ich spürte ein stechendes Kribbeln, als würde mir ein starker, heißer Wind entgegenschlagen. In Sekundenschnelle stieg mir das Blut in den Kopf, bis meine Wangen brannten. Ein Schwall siedend heißer Schweiß schien aus meiner Haut zu schwappen, ein elektrisches Knistern umgab mich und im nächsten Moment …

Das glaubt ihr mir nie. Aber es ist die Wahrheit. Ich kann’s beschwören.

Ich sah – und spürte –, wie ellenlange Stichflammen aus jeder Pore meiner Haut schossen.

Wisty

Alle, sogar die Soldaten, schrien wie am Spieß, während ich bloß mit offenem Mund auf die orangegelben Flammenzungen starrte, die ich in alle Richtungen versprühte.

Und ob ihr’s glaubt oder nicht, das Schrägste kommt erst noch: Als die erste Hitze verflogen war, war mir nicht mal mehr heiß. Ich blickte auf meine Hände. Sie waren weder feuerrot noch verkohlt. Sie sahen ganz normal aus.

Es war … verdammt abgefahren.

Auf einmal kippte einer der Soldaten Moms Porzellanvase über mir aus. Ich war klitschnass – und die Flammen waren weg.

Byron Swains Handlanger stampften auf die kokelnden Vorhänge. Der Teppich qualmte, wo die Typen mich vor Schreck fallen lassen hatten.

Byron selbst war offenbar während meiner spontanen Selbstentzündung aus dem Haus geflohen. Als er wieder in der Tür auftauchte, war er ein wenig grün im Gesicht. Mit einem dürren, zittrigen Finger deutete er auf mich und krähte: »Habt ihr das gesehen? Sperrt sie ein! Erschießt sie von mir aus! Tut, was getan werden muss!«

Mein Magen verkrampfte sich und eine grausame Ahnung stieg in mir auf – war ich schon immer unaufhaltsam auf diese Nacht zugesteuert? War sie von Anfang an dazu bestimmt gewesen, Teil meiner Lebensgeschichte zu sein?

Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf kam oder was es zu bedeuten hatte.

WHIT

Bisher war ich mir sicher gewesen, dass ich mir das alles nicht nur einbildete. Doch als Wisty in Flammen aufging, dachte ich sofort, ich würde vor Stress halluzinieren.

Ich meine, selbst ein ausgeruhter, bodenständiger Mensch hätte sich doch nicht einfach gesagt: Ist ja ’n Ding! Meine kleine Schwester hat sich in eine menschliche Fackel verwandelt! Oder?

Aber als ich die Hitze, den Rauch und die qualmenden Wohnzimmervorhänge registrierte, dämmerte mir sehr schnell, dass Wisty wirklich brannte.

Dann dachte ich, die Schlägertypen von der Neuen Ordnung hätten sie angezündet, und das machte mich so wütend, dass ich mich tatsächlich aus ihrem Griff befreien konnte. Und eins kann ich euch sagen: Wäre ich nicht wie ein Verrückter zu Wisty gerannt, um die Flammen zu ersticken, hätte ich die Widerlinge k. o. geschlagen.

Kurz darauf brach das völlige Chaos aus.

Ich hatte zwar noch keinen Tornado miterlebt, aber ich war fest davon überzeugt, dass es einer war. Die Fenster zersprangen. Der Wind peitschte herein wie ein tosender Gebirgsfluss und schleuderte alles Mögliche – Glassplitter, Stehlampen, Beistelltische – kreuz und quer durchs Wohnzimmer.

Es war so laut, dass ich rein gar nichts mehr hören konnte, und der heftige Regen brannte auf meiner Haut wie ein Bienenschwarm, der durch einen Laubbläser gejagt wurde. Ganz abgesehen von den Trümmern, die uns um die Ohren flogen.

Sehen konnte ich natürlich auch nichts. Klar, ich hätte mich durchaus umschauen können. Aber ich hatte keine Lust, Holzsplitter, Glasscherben und Plastikbrocken ins Auge zu kriegen. Ich hänge an meinem Augenlicht.

Deshalb brachte es mir überhaupt nichts, dass ich die Schlägertypen abgeschüttelt hatte. Alle klammerten sich an den Boden, an die Wände, an alles, was irgendwie stabiler wirkte als sie selbst. Jetzt ging es nur noch darum, nicht ins Freie und in den sicheren Tod gesaugt zu werden.

Ich wollte nach Wisty rufen, aber ich hörte meine eigene Stimme kaum.

Doch mit einem Schlag – so plötzlich, wie es angefangen hatte – war alles wieder ruhig. Still.

Ich ließ die Arme sinken, die ich schützend vors Gesicht gehalten hatte. Was ich dann sah, werde ich nie vergessen.

In der Mitte unseres zertrümmerten Wohnzimmers stand ein hochgewachsener, kahlköpfiger, Ehrfurcht gebietender Mann. Ach, so ein alter Typ klingt nicht besonders gruselig? Wartet’s ab.

Das ist der Typ, der sich bald als das Böse in Menschengestalt entpuppen wird.

»Liebe Familie Allgood«, sagte der Mann. Er sprach leise, aber eindringlich. Ich lauschte auf jedes Wort. Ich konnte nicht anders. »Ich bin Der Eine, Der Der Einzige Ist. Vielleicht habt ihr schon von mir gehört …«

Mein Vater trat ihm mit hocherhobenem Kopf entgegen. »Wir wissen, wer Sie sind. Aber Sie machen uns keine Angst. Wir werden uns Ihren abstoßenden Gesetzen nicht unterwerfen.«

»Das hätte ich von dir auch nicht erwartet, Benjamin. Ebensowenig von dir, Eliza«, erwiderte der Mann mit einem Blick auf meine Mutter. »Ehrgeizige Abweichler, wie ihr es seid, legen schon immer größten Wert auf ihre Freiheit. Aber ob ihr die neuen Realitäten akzeptiert, ist nicht von Belang. Nein, mich interessiert das junge Volk. Es handelt sich um eine kleine Kommandoaktion, versteht ihr? Ich gebe die Kommandos und die beiden gehorchen.« Lächelnd musterte der Glatzentyp meine kleine Schwester und mich – er hatte ein sympathisches, geradezu warmherziges Lächeln. »Ich stelle euch vor eine einfache Wahl, Kinder. Ihr müsst euch nur von eurem früheren Leben lossagen – von euren Freiheiten, euren Gewohnheiten und insbesondere von euren Eltern – und schon werdet ihr verschont. Wenn ihr gehorcht, wird man euch nichts zuleide tun. Man wird euch kein Haar krümmen. Das verspreche ich euch. Verabschiedet euch von eurem alten Dasein und von euren Eltern. Das ist alles. Es ist ganz leicht. Kinderleicht.«

»Niemals!«, brüllte ich ihn an.

»Das können Sie sich abschminken«, schnaubte Wisty. »Wenn wir uns hier von irgendwem verabschieden, dann von Euch, Eure Glatzköpfigkeit und Hässlichkeit!«

Da kicherte der Typ. Damit hatte ich am allerwenigsten gerechnet.

»Whitford Allgood«, sagte Der Eine.

Als er mir tief in die Augen blickte, geschah etwas Seltsames – ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich konnte kein Wort mehr sagen. Ich konnte nur zuhören. Das war das bisher beängstigendste Erlebnis dieser Nacht.

»Ich muss schon sagen, du bist ein hübscher Kerl«, fuhr Der Eine fort. »Groß und blond, schlank und doch muskulös … perfekte Proportionen … und du hast die Augen deiner Mutter. Ich weiß, dass du noch bis vor Kurzem ein überaus braver Junge warst – bis zum tragischen, bedauerlichen Verschwinden deiner Freundin und Seelenverwandten Celia.«

In meinem Inneren brodelten Wut und Frust. Was wusste der Typ über Celia? Als er ihr Verschwinden erwähnt hatte, hatte er gegrinst. Der wusste was. Der verhöhnte mich.

»Die Frage ist …«, sagte Der Eine, »… ob du wieder brav sein kannst. Kannst du lernen, dich wieder an die Regeln zu halten?« Er warf die Hände hoch. »Was ist? Weißt du es nicht?«

Mein Mund war immer noch gelähmt. Sonst hätte ich ihm längst eine lange Liste erlesener Schimpfwörter ins Gesicht geschrien.

Der Eine wandte sich an Wisty. »Wisteria Allgood. Auch über dich bin ich gut informiert. Du hast noch nie gehorcht. Du bist ein aufsässiges, pflichtvergessenes Mädchen. In deiner Highschool hast du mehr als zwei Wochen Nachsitzen abzubüßen. Die Frage ist, ob du jemals brav sein kannst. Wirst du jemals lernen zu gehorchen?«

Er starrte sie ganz ruhig an. Er wartete.

Wisty antwortete mit einem reizenden Knicks und zwitscherte: »Aber selbstverständlich, Eure Hoheit. Euer Wunsch ist mir Befehl.« Typisch Wisty eben.

Doch ihre sarkastischen Worte verstummten abrupt – Der Eine hatte sie ebenfalls gelähmt. Er wandte sich an seine Wachen. »Schafft sie fort! Auf dass sie ihre Eltern niemals wiedersehen! Auf dass ihr, Ben und Eliza, eure ach so besonderen Sprösslinge niemals wiederseht – bis zum Tag eures gemeinsamen Todes!«

WHIT

Wisty und ich hockten in einem großen, schwarzen, fensterlosen Lieferwagen. Ich war halb blind vor Adrenalin. Mein Herz hämmerte wie das eines Kaninchens, das einen epileptischen Anfall hat. Ich musste mein letztes bisschen gesunden Menschenverstand zusammennehmen, um mich nicht pausenlos gegen die Wände des Wagens zu werfen. In Gedanken sah ich es bereits vor mir: Wie ich die Schulter gegen das Blech donnerte, wie ich die Hecktür aufkickte, Wisty ins Freie hob und mit ihr in die Nacht verschwand …

Aber das waren nur unsinnige Fantasien.

Soweit ich wusste, war ich kein Zauberer und auch kein Superheld. Ich war bloß ein Typ von der Highschool, den irgendwer aus seinem Zuhause gerissen hatte.

Ich warf einen Blick auf die arme Wisty. In der Dunkelheit konnte ich nur ihren Umriss erkennen. Als ihr nasses Haar auf meinen Arm tropfte, begriff ich, dass sie am ganzen Leib zitterte. Vielleicht vor Kälte, vielleicht vor Schreck, vielleicht vor Kälte und Schreck und absoluter, grenzenloser Fassungslosigkeit.

Es war gar nicht so leicht, sie in den Arm zu nehmen – man hatte uns Handschellen angelegt, und so musste ich ihre schmalen Schultern zwischen meinen Armen hindurchfädeln. Ich fragte mich, wann ich sie das letzte Mal festgehalten hatte – außer wenn ich sie in den Schwitzkasten genommen hatte, weil sie sich an meinen Sachen vergriffen oder Celia und mir hinterherspioniert hatte. Celia und mir.

Ich durfte jetzt nicht an Celia denken. Sonst würde ich noch komplett durchdrehen.

»Bist du okay?«, fragte ich. Zumindest schien Wisty nicht verkohlt zu sein. Sie roch nicht nach Hotdog.

»Natürlich nicht«, erwiderte sie. Vollidiot!, hätte sie normalerweise noch hinzugefügt, aber das sparte sie sich dieses Mal. »Die müssen mich mit irgendeinem leicht entzündlichen Zeug vollgesprüht haben. Aber wenigstens hab ich keine Verbrennungen.«

»Also wenn sie das gemacht haben, hab ich’s nicht mitbekommen. Du warst einfach so boom – Ganzkörperfeuerspucker.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Aber deine Haare haben mir ja schon immer Angst gemacht.« Wisty ist ein richtiger Rotschopf mit dichtem, lockigem, knallrotem Haar. Sie hasst ihr Haar, aber ich find’s eigentlich ganz cool.

Wisty war dermaßen von der Rolle, dass sie nicht mal auf meine Sticheleien über ihr Haar einging – vorerst. »Was ist hier los, Whit? Was hat der oberbekloppte Byron Swain damit zu tun? Was passiert mit uns? Und mit Mom und Dad?«

»Das muss alles ein Riesenmissverständnis sein. Mom und Dad können doch keiner Fliege was zuleide tun.« Als ich an meine hilflosen, machtlosen Eltern dachte, musste ich meine erneut aufkeimende Wut herunterschlucken.

Im selben Moment hielt der Lieferwagen abrupt an. Meine Muskeln spannten sich. Ich starrte auf die Tür. Ich war bereit, irgendwen über den Haufen zu rennen. Trotz Handschellen. Und wenn es ein riesiger, mit Steroiden aufgepumpter Soldat war.

Ich würde nicht zulassen, dass die Typen meiner Schwester wehtaten. Ich würde mich ganz sicher nicht lieb und brav an ihre bescheuerten Gesetze halten.

WHIT

Wir waren im normalen Leben schlafen gegangen und in einem totalitären Staat aufgewacht.