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Collect 3

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Collect 3

Verlag Voland &Quist, Dresden und Leipzig, 2005

© by Verlag Voland &Quist – Greinus und Wolter GbR
Umschlaggestaltung: Marcel Theinert und Mario Helbing
Gestaltung und Satz: Jörn Damkröger, Leipzig
ISBN: 978-3-86391-043-3

www.voland-quist.de

Inhaltsverzeichnis

Vorworte

Dan Richter

Robert Naumann

Volker Strübing

Stephan Zeisig

Andreas Kampa

Jochen Schmidt

Robert Naumann

Volker Strübing

Stephan Zeisig

Dan Richter

Jochen Schmidt

Andreas Kampa

Robert Naumann

Volker Strübing

Dan Richter

Stephan Zeisig

Andreas Kampa

Jochen Schmidt

Dan Richter

Robert Naumann

Andreas Kampa

Stephan Zeisig

Jochen Schmidt

Robert Naumann

Dan Richter

Volker Strübing

Andreas Kampa

Stephan Zeisig

Robert Naumann

Robert Naumann

Chaussee der Enthusiasten

Dank

Vorworte

Vorwort Andreas Kampa

Schon in der Bibel steht: am Anfang war das Wort. Doch was war vor dem Wort? Die Frage ist so unsinnig wie die Antwort einleuchtend: das Vorwort. Niemand braucht es wirklich und selten hat es etwas Wichtiges zu sagen. Trotzdem drängt es sich genauso hartnäckig wie überflüssig immer wieder vor den Anfang unserer Lesungen, vor den Anfang der »Brillenschlange« – die Zeitschrift, die wir einmal im Jahr herausbringen – und nun auch vor den Anfang unseres ersten Buches. Was ist nur los mit dieser literarischen Randerscheinung, die die Griechen Prolog nennen und die sich unter dieser Bezeichnung selbst im Radsport frech vor alle Etappen schummelt?

Vielleicht schwingt im Vorwort die unterschwellige Angst mit, dass, rückwärts gesehen, der Anfang auch ein Ende ist. Ein Ende, das wir mit Vorworten hinauszögern, in dem verzweifelten Versuch, es zu verhindern. Ich möchte es vergleichen mit der Todesangst, die die Menschen befällt, wenn sie in die Zukunft blicken. Was gäben wir darum, das Leben wenigstens um ein paar Nachleben zu verlängern!? Der Schriftsteller jedoch, der berufsmäßig in die Vergangenheit schaut, erkennt, dass auch sie zeitlich begrenzt ist und mit dem Tod durch Geburt endet. Kein Wunder also, dass es gerade der Anfang ist, der dem Schriftsteller am meisten zu schaffen macht.

Mein Gott, worauf man so kommt, wenn man ein Vorwort schreibt. Möge dieses Buch also nie beginnen. Es wäre schade drum.

Vorwort Robert Naumann

Immer, wenn ich ein Vorwort schreiben soll, verfalle ich erstmal für Stunden in völlige Apathie. Das Gleiche passiert übrigens auch, wenn ich abwaschen muss. So türmen sich in der Küche Berge von schmutzigem Geschirr und auf meinem Schreibtisch kleine Häufchen ungeschriebener Vorworte. Manchmal habe ich dann Lust, Küche und Schreibtisch einfach wegzuschmeißen. Aber der Gedanke an die Energieleistung, die dafür nötig ist, lässt mich wiederum in völlige Apathie versinken. So vergeht die Zeit. Da ist es nicht weiter erstaunlich, dass mich dieses Vorwort immerhin anderthalb Jahre Arbeit gekostet hat, was man ihm wahrscheinlich mal wieder nicht anmerkt, dabei sieht man doch den Schweiß noch von den Buchstaben tropfen, wenn man genau hinguckt.

Vorwort Dan Richter

Wenn Sie dieses Buch in Geschenkpapier verhüllt verschenken, kann es sein, dass man Ihnen beim Abtasten des Geschenks unwillkürlich antwortet: »Ein Buch? Ah ja.« Lassen Sie sich nicht davon irritieren. Was der unbedarfte Empfänger zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt, ist, dass dieses Buch von den schönsten Schriftstellern Berlin – der »Chaussee der Enthusiasten« – in wochenlanger Friemelarbeit zusammenkomponiert wurde.

Wenn der Beschenkte dann das hierzulande übliche Geschenkpapier entfernt und auf Anhieb den wahren Wert des Geschenks erkennt, wird er es Ihnen mit ewiger Liebe und Zärtlichkeit vergelten. Für den Fall, dass Ihr zukünftiger Liebhaber Schwierigkeiten beim Entziffern von Buchstaben hat, legen wir hinten noch eine CD rein.

Vorwort Jochen Schmidt

Das Leben ist kein Pausenbrot, umso schöner, wenn man noch einmal durchatmen darf, bevor es ans Lesen geht, und dafür steht dieses Vorwort.

Nun gibt es uns sechs Jahre, und jedes Jahr werden es mehr. Sechs Jahre, das heißt auch 600 Texte für jeden. Also 3600 Texte insgesamt, aus denen wir 33 ausgewählt haben. Schon das hätte eigentlich weitere sechs Jahre gedauert, wenn man uns nur hätte machen lassen. Dass es schneller ging, beweist wieder einmal, dass Deutschland den Wettlauf mit der Zukunft noch nicht verloren hat, wenn es nur will. Zum Glück ist jetzt erst mal wieder Pause.

Vorwort Volker Strübing

Oft zerbreche ich mir tagelang den Kopf und trotzdem fällt mir keine Geschichte ein. Und jetzt, wo ich doch eigentlich ein Vorwort schreiben will, purzeln die Ideen nur so. Zum Beispiel sitzt meine Katze gerade auf meinem Schoß und schnurrt und unter dem Schreibtisch schläft der Hund meiner Freundin. Wer denkt da nicht sofort an eine Geschichte, die im Jahre 2013, also unmittelbar nach der Machtübernahme der Tiere, spielt, und in der ein junger idealistischer Anwalt (ein Fuchs natürlich) gegen seinen Willen die Verteidigung der wegen Kollaboration und Schnurren vor dem Feind angeklagten Hauskatzen übernehmen soll? Ich hoffe, meine Geschichten sind besser als meine Vorworte und deshalb will ich mich lieber schnell dem eben skizzierten Gerichtsdrama und der heimlichen Vorliebe des Anwaltes für ehemalige Käfighühner zuwenden.

Viel Spaß mit unserem Buch und besucht uns bald (wieder)!

Vorwort Stephan Zeisig

Lieber Empfänger dieses Buches,

wenn Sie dieses Buch geschenkt bekommen, ist es durchaus möglich, dass hinten die CD fehlt oder, umgekehrt, sogar das Buch. Auf Ihre Nachfrage wird Ihnen der Verschenker vermutlich erwidern, der fehlende Teil des Präsents sei bereits vergriffen. Geben Sie sich auf keinen Fall mit dieser Erklärung zufrieden. Ihr Gegenüber lügt und macht sich mit ziemlicher Sicherheit gerade daran, CD oder Buch zu vervielfältigen, um es unter der Hand gewinnbringend zu verscherbeln. So verständlich Sie sein Handeln auch finden mögen, vergessen Sie nie: Raubkopierer sind Verbrecher und gehören hinter Gitter. Raubkopien bezahlen wir alle, die Künstler, die Produzenten, die Verlage, die Bücherläden und Sie als Buchkäufer natürlich durch höhere Preise. Fordern Sie also von Ihrem Beschenker mit Nachdruck die unverzügliche Herausgabe des ausstehenden Werkes und zögern Sie nicht, ihn bei Zuwiderhandeln anzuzeigen. Erst recht ist Ihre Unnachgiebigkeit gefordert, sollte Ihr Beschenker sich erdreisten, Sie weder durch Buch noch durch CD zu beglücken. Dann erhalten Sie wahrscheinlich zum nächsten Anlass nur eine Kopie von beidem. Ziehen Sie es vor, sich diesen Ärger ganz zu ersparen, sollten Sie sich Buch und CD vielleicht gar nicht schenken lassen, sondern lieber selber kaufen.

DAN RICHTER

Daheim

Ein angenehmer Aspekt meines Lebenswandels besteht darin, tagsüber nicht in fremden Büros, auf fremden Baustellen oder in fremden Leichenhallen arbeiten zu müssen, sondern mich daheim am eigenen Schreibtisch ausbreiten zu dürfen. Kein Chef nörgelt, wenn ich beim Arbeiten esse, zwischendurch Solitär spiele oder meine Korrespondenz nackt auf dem Bett erledige.

Der Nachteil dieser Art von Arbeit besteht darin, dass es keine Sekretärin gibt, die das Telefon bedient, keine Kantine, in der für mich Nudeln gekocht werden, keinen Hausmeister, der mir die Klingler vom Leibe hält. Vielleicht sollte ich mir mal eine 1-Euro-Job-Koch-Hausmeister-Sekretärin leisten. Zurzeit ist das wegen der unverschämten Gewerkschaften leider noch nicht drin. Dabei würde ich bei den Tarifverhandlungen durchaus mit mir reden lassen. Die Angestellte hätte bei mir prima flexible Arbeitszeiten, könnte mein Telefon für Privatgespräche nutzen, und schlüge auf diese Weise die zweite Fliege mit derselben Klappe. Die Klappe heißt Telefonleitung besetzen. Die zweite Fliege sind die unangemeldeten Telefonanrufer. Auch übers Kochen ließe sich reden. Notfalls könnte sie uns auch zwei Falafel vom arabischen Imbiss bestellen. Die einzige Aufgabe, auf die ich allergrößten Wert legte, wäre das Klinglerabwimmeln. Werber, Elektriker, Umfrager, Müllmänner (auch Müllfrauen, falls dieser Berufszweig dereinst von Feministinnen der vierten Generation für sich reklamiert werden sollte). Am schlimmsten allerdings sind jedoch die Paketboten. Da ich der einzige Mieter in unserem Haus bin, der zur Austragezeit zuhause ist, muss ich sämtliche Pakete des Hauses entgegennehmen. Und falls ich doch mal nicht zuhause bin, kommt garantiert ein Paket für mich an. Blöd nur, dass es niemand annehmen kann und ich es am nächsten Tag bei der gefühlte vier Lichtjahre entfernt liegenden Post abholen muss.

Verzeihung, ich kann diesen Text leider nicht weiterschreiben, es klingelt an der Haustür.

»Was? Ein Paket? Klar, nehm ich das entgegen. Zweiter Stock Vorderhaus. »Der Postbote stöhnt. Was hat er nur, er wird doch fürs Schleppen bezahlt. Was soll ich denn sagen! Ich warte im Bademantel an der Wohnungstür. Ich höre ein langsames gleichmäßiges Treppehochstapfen. Er hat diesmal 15 Minuten gebraucht. Der Grund dafür ist ein ein Kubikmeter großes Paket, mit dem er sich abmüht, als stecke darin ein mit WinZip komprimiertes Klavier. Angesichts seiner zahlreichen Schweißtropfen nehme ich es ihm ausnahmsweise nicht aus der Hand und lotse ihn stattdessen ins Wohnzimmer (im Flur hätte das Paket kaum Platz): »Ja, stellen Sie es ruhig ab, ich räume es nachher weg«, irre ich mich. »Für wen ist das? Korbke? Kenn ich gar nicht. Muss wohl aus dem Hinterhaus sein. Werfen Sie ihm eine Benachrichtigung rein? Quittieren?

Klar.«

Tür zu. Ich kann die Geschichte leider immer noch nicht weiterschreiben. Solche unerwarteten Kommunikationsakte stressen mich ungemein. Außerdem stört mich, dass das Paket dort steht, wo es nun steht. Ich weiß, ich hatte dem Postboten die Erlaubnis gegeben, es einfach abzustellen, aber hätte er ein Fitzelchen mehr Gespür für effiziente Raumgestaltung gehabt, hätte er es unter den Keyboardtisch gestellt. Ich hebe das Paket an…

Zweiter Versuch. Ich hebe das Paket an…

Dritter Versuch. Ich bandagiere mir die Handgelenke und pudere die Handflächen mit Talkum ein. Ich hebe das Paket an… Es bewegt sich zwei Zentimeter vom Boden. Ich gebe meine ganze Kraft in den Boden ab. Jetzt nicht nachlassen. Vier Zentimeter, fünf, zehn, zwanzig… vierzig… Ein Bein darunter… Kurz durchatmen, noch ein Zentimeter. Ich lasse es fallen. Anscheinend muss ich noch an meiner Atemtechnik feilen.

Hat das eben beim Fallenlassen geknirscht im Paket? Scheiße! Ich hab dafür quittiert. Nachher bin ich dafür verantwortlich, wenn das Klavierkomprimat zerbrochen ist oder das Tier tot. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, dabei liegt das doch auf der Hand. Der Absender hat an Herrn Korbke ein leicht zerbrechliches, aber schweres Tier geschickt und die Zwischenräume wie man es beim Umzug mit dem Geschirr macht mit Papier ausgestopft. Ich untersuche das Paket nach Atemlöchern. Sie sind nicht vorhanden. Dann ist wohl Eile das Gebot der Stunde. Ich nehme ein Messer…, doch halt! Nachher passiert Schlimmeres! Soll das doch der Korbke selber ausbügeln.

Verzeihung, ich kann die Geschichte leider nicht weiterschreiben, ich muss mal ins Hinterhaus zu Korbke gehen, um dem Bescheid zu sagen, dass hier ein quaderförmiges Überraschungs-Ei mitGewichten auf ihn wartet. Hurtig flitze ich ins Hinterhaus, in welcher Etage wohnt eigentlich dieser Korbke? Erster Stock, zweiter Stock, dritter, vierter, Dachboden. Beim Heruntersteigen prüfe ich noch mal intensiv die Namenschilder und die mit ca. 4.500 Inschriften und Losungen versehene Tür einer unkonventionellen WG im dritten Stock. Als ich beim unteren Drittel angekommen bin und versuche, ein Gekrakel, das Griechisch sein könnte, daraufhin zu prüfen, ob es vielleicht Korbke heißen könnte, öffnet mir eines der männlichen WG-Mitglieder, das mir schon des Öfteren im Hausflur durch seine medizinisch gewagten Piercings und seine zur Schau gestellte Abscheu gegen Körperhygiene aufgefallen ist. Ich sehe zunächst nur seine Waden, erkenne den Träger aber eindeutig am Geruch und nachdem er »Kann ick dir helfen?« fragt, auch an seiner Stimme. So auf Knien kommt mir die Korbke-Story extrem unglaubwürdig vor, also flunkere ich: »Ich suche meine Wohnungstür, aber da du nicht ich bist, der da die Tür öffnet, muss ich mich wohl geirrt haben.«

Schlecht. Äußerst schlecht pariert, da wäre ja die Korbke-Wahrheit noch besser gewesen.

»Bist du nicht der Penner aus’m Vorderhaus?«

Ich wundere mich über das Image, das sich die Bewohner des Hinterhauses über mich gebildet haben, es entspricht in etwa dem, das ich von ihnen pflege. Um die Schraube der missverständlichen Kommunikation nicht zu überdrehen, bestätige ich ihn in seinem Vorurteil, in dem ich den Betrunkenen spiele: Auf allen Vieren krieche ich zur Treppe und lalle: »Trink ma noch ein Tröpfchen, trink ma noch ein Tröpfchen, aus dem kleinen…«

Scheiße! Liedtextschwäche! Aber das unterstreicht meine Maskerade nur. Der WG-Satan schmeißt die Tür ins Schloss. Ich stehe wieder auf und höre, wie eine weibliche Stimme undeutlich eine Frage ruft. Mr. Dreckspiercing antwortet: »Ach, dis war der Korbke aus’m Vorderhaus!« Was? Korbke? Er weiß, wo Korbke wohnt? Ich lasse alle Beherrschung fallen und klingle Sturm. Im selben Moment fällt mir ein, dass ich erstens eben noch den Betrunkenen gespielt habe und zweitens mich dieser Irre für Korbke hält. Wenn ich ihn nun frage, wo Korbke wohnt, würde das zwar in das Bild, das er sich vom desorientierten Besoffenen gemacht hat, passen, mich aber keinen Schritt weiterbringen. Ich renne also im Galopp die Treppen hinunter, wie das letzte Mal als Elfjähriger beim Klingelstreich. Dummerweise öffnet er schon, als ich nicht einmal die ersten drei Stufen geschafft habe. Einem Instinkt folgend, der mir sagt, dass alles, was jetzt kommt, die Sache nur noch schlimmer machen würde, renne ich einfach weiter. Er holt mich schon nach einer halben Treppe ein.

»Wat sollte’n ditte?«

»Ach, entschuldigen Sie? Haben Sie nicht eben gesagt, ich heiße Korbke?«

»Wie?«

»Korbke!«

»Wat soll’n dit für’n Name sein?«

»Das weiß ich doch nicht.«

»Na, du hast dir den doch eben ausjedacht!«

»Ich? Du hast den doch eben deiner Mitbewohnerin zugerufen!«

»Mitbewohnerin? Hab ick jar nich.«

»Was?«

»Was was?«

»Ha, na dann ist ja alles klar.«

»Pass bloß uff, Freundchen.« Er verzieht sich wieder. Habe ich schon Halluzinationen?

Es gibt auch im Vorderhaus keinen Korbke. Verzweifelt gehe ich wieder in meine Wohnung und setze mich abgekämpft ins Zimmer.

Heute war doch Geschichtenschreibtag. Jetzt ist alles versaut, keine Inspiration mehr, weil ich auf diesem verfluchten Korbke-Paket sitze. Jetzt ist mir’s auch egal. Das Messer liegt ja noch da. Ich fühle mich wie ein Serienmörder auf Ecstasy, als ich auf die Kiste einsteche. Sand rieselt heraus. Das ist es also, was die Kiste so schwer gemacht hat. Aber was ist in dem Sand verborgen? Ich zerreiße die Pappe und den Leinensack, steche immer wieder auf ihn ein, als sei es Korbke selber. Nichts, nichts darin. Nur Sand, Sand und noch mehr Sand, der so langsam meinen Teppich versaut. Sandsendung, wie lustig, ob es da einen Spartarif bei der Post gibt? Verbrauche beim Staubsaugen fünfunddreißig Tüten.

•   •   •

Es dunkelt. Ich liege auf dem Bett und starre an die Decke. In der Hand halte ich einen Zettel. Es ist ein von Messerstichen zerfledderter Lieferschein vom Kristallografischen Institut der Humboldt-Universität an Herrn Dr. Korbke aus der Libauer Straße 7. Der Postbote hatte sich wohl in der Hausnummer geirrt. Inhalt des Pakets: Quartzproben vom Grund des Indischen Ozeans. Das alles würde mich noch nicht umhauen, stünde da nicht der Wert der Lieferung am Ende des Zettels: 85.000 Euro. Keine Ahnung, ob meine Haftpflichtversicherung dafür aufkommt. Ich traue mich nicht zu fragen.

Ich liege auf dem Bett und starre an die Decke. Ich bin nackt. Gut, dass ich jetzt keinen Chef habe.

ROBERT NAUMANN

Babysitten gehört eindeutig nicht zu meinen Aufgaben

Die Rollenverteilung bei uns zu Hause ist eigentlich klar geregelt. Da mein Arbeitslosengeld wesentlich höher ist als die Arbeitslosenhilfe meiner Frau, fällt mir die Rolle des Ernährers zu. Ich müsste somit von Haushaltspflichten entbunden sein, um mich meiner Rolle ungestört widmen zu können, aber da ist noch viel Sand im Getriebe.

Für Schuldzuweisungen ist hier kein Platz. Aber zum Beispiel ließ mich meine Frau neulich mitten in der Woche mit den Kindern allein, um eine Freundin zu besuchen. Wir verabschiedeten uns etwas unorthodox: Ich hielt sie am Ärmel fest, sie trat mich vors Schienbein, ich hielt mir das Schienbein und sie war entwischt.

Was nun? Das Spielen mit zwei kleinen Kindern ist zeitlich nicht mit meiner Ernährerrolle vereinbar. Obwohl wir gerade gefrühstückt hatten, versuchte ich es erstmal mit: »So, jetzt ist aber Mittagsschlaf!« Kinder haben ja noch kein so ausgeprägtes Zeitgefühl.

»Aber Papa«, entgegnete Marie, »Es ist erst halb neun.«

Oh, sie konnte die Uhr lesen. Na ja, sie ist meine Tochter, ziemlich reif für ihr Alter, genau wie ich damals.

»Na gut«, sagte ich, »dann spielen wir…« Ich überlegte fieberhaft, dann hatte ich den rettenden Einfall. Ich klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Wir spielen Arbeitsamt!«

»Ja, Arbeitsamt!«, riefen die Kinder und klatschten ebenfalls begeistert. Sie kannten ja die Spielregeln noch nicht.

»Wie geht’n das?«, fragte Grete.

»Also«, begann ich zu erklären, »Arbeitsamt ist ein stark an die Realität angelehntes Gesellschaftsspiel für drei Personen.«

Ich zählte durch. »Ja, wir haben Glück«, rief ich überrascht, »keiner zuviel und keiner zuwenig.«

Die Kinder fielen sich in die Arme, ganz närrisch vor Freude.

»So«, erklärte ich weiter, »ich bin euer Sachbearbeiter. Ihr müsst im Kinderzimmer warten, bis ich euch aufrufe. Das kann sehr lange dauern. Man muss auch sehr leise sein beim Arbeitsamt.«

Die Kinder nickten, sie hatten verstanden.

Ich ging in die Küche, rauchen, Kaffee trinken und was sonst noch so anfiel. Eine Minute später kam Grete hereingeplatzt. Sie legte die Spielregeln sehr großzügig aus.

»Raus!«, brüllte ich. »Warten Sie, bis Sie aufgerufen werden!«

Grete guckte mich erschrocken an und rannte heulend weg. Mein Gott, es war doch nur ein Spiel. Hatte ich so sensible Kinder?

»Nun hör schon auf«, tröstete ich Grete. Wenn es drauf ankam, konnte ich ein sehr liebevoller Vater sein. Trotzdem nervte mich das Geheule. Ich wurde sehr wütend auf meine Frau. Bis mir einfiel, wie ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte.

»Kommt Kinder«, sagte ich, »ihr dürft Kekse backen für Mama.«

Ich stellte Mehl, Eier, Milch, Butter und Zucker auf den Küchentisch und sagte anspornend: »Na, dann tobt euch mal so richtig aus!«

Seitdem spricht meine Frau nicht mehr mit mir. Aber die Rollenverteilung klappt jetzt prima.

VOLKER STRÜBING

Wurst!

Neulich früh, nach kurzer Nacht

Kaum dass ich halbwegs aufgewacht

Hat meine Freundin mir erst Frühstück

und dann mit mir Schluss gemacht

Sie sagte, dass sie mich verlasse

Weil ich nicht mehr zu ihr passe

Ich nickte nur und hielt mich

dabei fest an meiner Kaffeetasse

Mach’s gut, und tschüss, auf Wiedersehn

Sprach sie, ich müsse das verstehn

Es gäb da einen andern Typ

Ein ganzer Kerl und furchtbar lieb

Modern und hipp und voll auf Zack

Kein abgefackter Künstlersack

Er ist Fleischer! - FLEISCHER!

Und ich bin nur Poet

Mein Zug ist abgefahrn

weil keine Frau heut mehr auf Künstler steht

Fleischer! - FLEISCHER!

Fleischer musst du sein

Dann himmeln dich die Mädchen an

als Künstler bleibst du nachts allein!

Okay, ich geb’s zu: Mein neues Gedicht war etwas selbstmitleidig, aber was spielte das schon für eine Rolle, wer kümmerte sich schon um meine Poesie, wenn er doch genauso gut zu einer Event-Schlachtung gehen oder ein gutes Buch über die Historie des Hamburgers lesen konnte…

Ich legte mein Schreibheft weg und trat ans Fenster.

Die Sonne schien und vor der neu eröffneten Szenegrillstube gegenüber drängten sich aufgedonnerte Jugendliche auf dem Bürgersteig. Der Grilljockey legte die ganzen angesagten Sachen auf: Thüringer Rostbratwurst, Berliner Buletten, Frankfurter und Nürnberger Würstchen und exotische Fleischspezialitäten aus aller Welt.

Der GJ hatte sein T-Shirt ausgezogen und stemmte eine halbvolle Bierflasche in seinen Schritt. Mit der anderen Hand strich er sich über den prächtigen Bier- und Wurstbauch. Ein paar melancholische Zeilen fielen mir ein:

Weißt du noch es war einmal

da war eine Wurst nur eine Wurst

keine Glücksverheißung, kein Sexobjekt

kein Thema für Feuilletons

es kam nur darauf an

ob sie dir schmeckt

Wann hat die Wurst ihre Unschuld verloren?

Weißt du noch es war einmal

da war eine Wurst nur eine Wurst

da waren die Mädchen noch rank und schlank

und ganz knackig vom Gemüse essen

und sie liebten uns Künstler und nicht die Leute

Wurstle Wurst pour le Wurst

Ich seufzte und nahm Stift und Papier wieder zur Hand

Er hat immer die leckersten Würste im Haus

und sieht im blutbefleckten Kittel so sexy aus

ER IST FLEISCHER

und ich wünschte mir

ich wäre selber einer

denn dann bleibst du bei mir

ER IST FLEISCHER

FLEISCHER

FLEISCHER… und ich bin dir Wurst…