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Collect 6

 

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Collect 6

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2007

© by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

Umschlaggestaltung: Mario Helbing und Marcel Theinert

Gestaltung und Satz: Tropen Studios, Leipzig

ISBN: 978-3-86391-053-2

www.voland-quist.de

 

INHALT

 

Matthias Klaß image Sieben Sommersprossen

Anne Hahn image Freundesland

Frank Willmann image Her mit den kleinen Tunesierinnen!

Spider image Weiße Nächte mit zollfreiem Stoff

Falko Hennig image China gibt es doch

Gabriele Damtew image Für eine Handvoll Dollar

Jakob Hein image Auf dem Weg nach irgendwo

Marion „Rigoletti“ Pfaus image Was will ich in Spanien, wenn ich kein Wort Spanisch spreche

Jan Off image Dynamo Opfergang

Ahne image Gefüllte Rauchfleischrolle

Jan Drees image All Inclusive

Jochen Schmidt image Salz auf unseren Hoden

Konrad Endler image Bad Grund (Oberharz)

Volker Strübing image Unerwünschter Einblick

Uli Hannemann image Malle und abwinken

Yaneq image Dogmaurlaub

Friederike von Koenigswald image Sandhügel im Atlantik

Mattias Klaß image Türkye Mectubu

Ice image Mightmare on the Niemandsroad

Willi Wucher image Sylt – die Reichen, die Schönen und Willi Wucher

Andreas Gläser image Malteser Hafenrundfahrt

Ian Beer image Wenn Könige reisen

Robert Weber image Vom Vergessen der Welt

Ahne image Flausen

 

SIEBEN SOMMERSPROSSEN

 

MATTHIAS KLAβ

 

         Als Schulkind kamen meinem Reisewahn die Kinderferienlager der DDR entgegen, die zu Hunderten im Arbeiter- und Bauernstaat existierten. Mit sieben Jahren durfte ich das erste Mal fahren, mit dreizehn das letzte Mal. Üblicherweise dauerte ein Aufenthalt zwei Wochen, was mir viel zu wenig war. Also fuhr ich, gerade zu Hause angekommen, meist noch einmal in ein anderes Lager. Von den acht Wochen Sommerferien, mit denen die DDR ihre Schüler beschenkte, war ich sechs Wochen unterwegs; zwei Wochen mit meinen Eltern auf der Insel Poel oder in Arendsee, und vier Wochen im Ferienlager. Ich wäre auch in den restlichen zwei Wochen verreist, doch meine Eltern waren dagegen, weil ich sie noch länger mit dem gnadenlosen Nachäffen irgendwelcher Fremddialekte neuer Kameraden genervt hätte. Meine Ferienlagerpremiere hatte ich in Ruhla. Es folgten Freiberg, Wilhelmstal, Kamsdorf, der Kyffhäuser, Saalfeld, Rheinsberg und Prebelow. Letzteres war mein Abschiedsferienlagerurlaub. Ich fühlte mich das erste Mal im Leben zu alt, ich wurde vierzehn. Das letzte Intermezzo sollte das schönste werden. Prebelow war wie alle anderen Lager auch. Um zehn vor sieben dröhnten blechern die Pionierlieder aus den Lautsprechern, welche heute höchstens noch Depeche Mode als Staffage für ihre Videos nutzen könnten. Dann ging es zu den Waschräumen, der Frühsport schloss sich an, gefolgt vom Morgenappell. Nach dieser allmorgendlichen Prozedur durfte zum Frühstück eingerückt werden. Natürlich nicht ohne vorher die Betten gemacht zu haben und die Stuben zu kehren. Prebelow war zweigeteilt, in ein Pionier- und ein Betriebsferienlager, wie sie jeder größere VEB der DDR unterhielt. Die Betriebe tauschten untereinander Lagerplätze, damit die Kinder der Arbeiterklasse nicht immer in denselben Baracken Ferien zu machen brauchten. Die Pionierferienlager hingegen waren Elitecamps, in die nur jene Rausgucker reisen durften, die durch hervorragende Leistungen bestochen hatten. Sie würden später den Arbeiter und Bauernstaat in eine goldene Zukunft führen, so dachten damals fast alle. Normalerweise hätten wir uns über solch eine Klassifizierung in der klassenlosen Gesellschaft beschweren sollen. Doch wir hatten nichts dagegen, zur Unterklasse stigmatisiert zu werden, zumal wir den ganzen Tag in Nickis und Niethosen, oder in Sporetta-Trainingsanzügen rumschlurfen durften, wohingegen den Strebern nur Pionierhemden und Halstücher gestattet wurden.

Aber noch etwas war anders in diesem Sommer. Das menschliche Wunder der Pubertät hatte begonnen unsere Kindheit zu beenden. Wir warfen nicht mehr mit Steinen nach den Mädchen, sondern kritzelten verstohlen kleine Liebesbriefchen, die wir heimlich durch die angekippten Fenster der Mädchenbaracken warfen. Dass wilde Gekicher der Insassen bestätigte unsere Vermutung: Wir waren Männer geworden! Echte Kerle! Stolz prahlten wir in den Waschräumen mit den ersten Anzeichen unserer Schambehaarung. Im Lagerwellblechdachkino lief unser Spielfilm: „Sieben Sommersprossen“, ein DEFA-Porno, jedenfalls nannten wir den Film so, weil in einer Szene eine nackte Jugendliche gezeigt wurde. Er handelte von zwei jungen Menschen, die zum letzten Mal in ein Ferienlager reisten, um sich dort das erste Mal zu verlieben. Kurz: Dieser Film handelte von uns! Nicht wenigen ging besonders die Nacktszene so nahe, dass sich der ein oder andere sogar nachts damit beschäftigte, wovon am nächsten Morgen zahlreiche eingetrocknete Flecken in der Bettwäsche und auf der Schlafanzughose stumm zu berichten wussten. Wir gingen nicht mehr mit Teddybären ins Bett, sondern mit schmutzigen Phantasien. Omas Warnungen bezüglich der Selbstberührung verhallten ungehört im Schlachtenlärm ungezügelter Hormonrevolution.

Eines Appellmorgens musste mein Doppelstockbettnachbar vor versammelter Mannschaft zum Lagerleiter vor, um sich eine Standpauke halten zu lassen. Zu unserer Überraschung ging es aber nicht um seine nächtlichen Genitalringkämpfe, sondern um den pechschwarzen Rand an seinem Bettlaken. Ohne nennenswerte Zurückhaltung denunzierte mich dieser Schleuderbaron: „Dass ist die Schuld von Matthias Klaß, der tritt immer mit seinen Füßen auf mein Bettlaken, wenn er in seine Koje steigt.“ Der Boss funkelte mich an: „Wieso wäschst du dir nicht die Füße?! Schon vergessen: Wir Thälmannpioniere halten unseren Körper sauber und gesund.“ Ich wollte ihn erst belehren, dass die Füße zu meinen Gliedmaßen und nicht zu meinem Körper gehören, doch sein drohender Blick riet mir ab. „Tut mir ja leid“, suchte ich mein Heil in einer Ausrede. „Aber ich hab meine Seife verloren und mein Taschengeld ist alle.“ Er zitierte eine andere Regel: „Wir Thälmannpioniere sind stets hilfsbereit und helfen einander! Du kannst dir sicher von deinem Kameraden die Seife borgen. Dann hast du saubere Füße und er ein sauberes Bett.“

„Von wegen!“, dachte ich spöttisch. „Wenn heute Nacht die Federn unter seiner Matratze knarren, sieht’s wieder aus wie Sau.“

In einem Bungalow in der Nähe des Essenraumes waren Schulkinder aus Kassel untergebracht. Es waren die Kinder von DKP-Genossen, einer vom Verfassungsschutz verfolgten kommunistischen Partei, der Folgepartei der verbotenen KPD von Ernst Thälmann. Sie kamen uns in ihren bunten Nickis mit den Werbezügen von verschiedenen Zigarettenfirmen wie die Kinder von Außerirdischen vor. Wenn sie uns erzählt hätten, dass ihre Mütter einst von Marsmenschen entführt worden seien, die jetzt ihre Väter waren – wir hätten ihnen vermutlich geglaubt. Obwohl heranwachsende Kommunisten, zeigten die Kinder aus der menschenfeindlichen BRD keinerlei Disziplin oder Klassenbewusstsein. Im Gegenteil, sie sollten dafür sorgen, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben mit Rowdytum konfrontiert wurde. Und das kam so: In unserem Lagerkino wurde einmal mehr „Sieben Sommersprossen“ gezeigt. Die Kasseler waren gerade eine Woche da und sollten schon am nächsten Tag abreisen. Sie hatten jenen Film, von dem das ganze Lager sprach, noch nicht gesehen und wollten heute Abend dieses Versäumnis nachholen. Doch unangemeldet traf am Vormittag eine Busdelegation Leninpioniere ein, also Jungs der sowjetischen Ausgabe unserer Organisation. Sie wurden mit allen Ehren empfangen und für den Abend ins Kino eingeladen. Natürlich konnte man den sowjetischen Bruderkindern nicht den Anblick ausgebeuteter Kapitalistenkinder zumuten. Ergo wurden die Kasseler wieder ausgeladen. Diese reagierten nun, wie sie es zu Hause von ihren großen Brüdern der 68er-Bewegung gelernt hatten. Sie warfen in Ermangelung von Molotowcocktails Steine und Knüppel auf das Wellblechdach des Kinos, so dass die Volkspolizei gerufen werden musste. „Das sind die Symptome des faulenden sterbenden Kapitalismus“, zitierte unser Lagerleiter beim nächsten Morgenappell den großen Vater der sozialistischen Oktoberrevolution, „sie haben in unserer Mitte weder Platz noch Zukunft“. Nur drei Tage später endete mein Lagerleben für alle Ewigkeit.

Als ich ausgelernt hatte, zog es mich in die Weiten der Welt. Ich heuerte am „Zentralen Jugendobjekt Erdgastrasse“ an, welches der DDR-Regierung diente, um Weltkriegsreparationen an das Freundesland UdSSR zu leisten. In Beresowka, im Uralgebirge, an der europäischen Westgrenze, tat ich meine Pflicht: Zu Gast bei Freunden. Mein Opa hatte in seiner Jugend ebenfalls die UdSSR besucht, war aber nur halb so weit gekommen – bis Stalingrad. Allerdings war er auf Befehl marschiert und nicht, wie ich, freiwillig hier. Letztlich standen sein und mein Sold nicht in gerechtfertigter Relation zueinander. Opa staunte: „4000 Kilometer!“ Ich antwortete: „Tja, mit Höflichkeit kommt man eben weiter.“

Heutzutage habe ich nur ein Andenken aus der Zeit der Ferienlager, obwohl ich seit zehn Jahren mit meiner Freundin glücklich bin das Video „Sieben Sommersprossen“. image

 

FREUNDESLAND

 

ANNE HAHN

 

         Der Zug schneidet endlose Nebelfelder entzwei. Dass Polen so groß ist. Ich drücke die Stirn an die Scheibe des Schlafwagenabteils. Ben ist im Sitzen eingeschlafen und hält meine Hand. Max grinst mich im Spiegelbild an. „Noch nen Jägermeister?“ „Rück rüber“, ich mache vorsichtig den rechten Arm frei. Aus dem belegten oberen Bett schießt ein böser Blick auf uns herab. „Nastarowje“ sage ich auf das blasse Gesicht zu, das schnell verschwindet.

Die Stunden verfliegen. Irgendwann nicke ich ein, halb sitzend, den Kopf in die Jacke vergraben. Verschlafe den Gleiswechsel in Brest. Das Rattern und Schunkeln wird zur Musik. Es dämmert, als ich aus einem Traum hochschrecke, in dem Ben mir einen Armstumpf entgegenreckt, während seine abgetrennte Hand auf den Eisenbahnschienen liegen bleibt.

Aus sanften Nebelschleiern steigt ein orangeroter Lichtkreis auf. Küsst die Baumwipfel am Horizont, die unbeweglich stehen. Dicht vor meinen Augen schießen braune und grüne Feldfetzen am Zugfenster vorbei. Der Himmel über uns ist noch schwarzgrau, an den Rändern franst die Farbe aus, weicht minütlich dem Licht. Der Tag erwacht.

Ich reiße das Fenster auf, ein Stoß frischer, kalter Luft wirbelt herein. Es riecht nach Erde, Gras und Dung. Ich atme tief ein. Dörfer fliegen vorbei, ein Traktor tuckert über eine Scholle.

Ankunft in Minsk. Eine kleine Delegation empfängt uns, ein Komsomolze, ein Fahrer und die extra für uns abgestellte Dozentin der Technischen Hochschule. Der Bus fährt uns zum Studentenwohnheim. Wir sehen eine riesige Stadt im Sonnenlicht liegen. Breite Straßen, die vom Bahnhof weg führen, wie zu Hause in Magdeburg. Nein, noch breiter, die Häuser im Zuckerbäckerstil sind höher, das Menschengewirr auf den unermesslich großen Plätzen babylonisch. Der Bus hält an einer Ampel. Ich schaue blinzelnd auf Hunderte von Passanten, die wie Ameisen unsichtbare Pfade ablaufen, in Klumpen an den Kreuzungen verharren, um gleich darauf wieder weiterzuhasten. Männer mit weißen Käppis und dicken Bäuchen, Schulkinder in Uniformen, Mädchen mit großen Schleifen in den Zöpfen, füllige Frauen mit Einkaufstaschen, Soldaten, Kriegsveteranen mit blitzenden Orden, es geht viel zu schnell.

Wir bekommen grün. Staub wirbelt auf und ich höre wieder die Stimme unserer Reisebegleiterin. Sie erklärt uns gleichmütig in singendem Tonfall, welches der Regierungspalast sei, wo das Denkmal des Sieges der Russischen Armee stehe, was ich alles vor Staubwolken nicht wahrnehmen kann, und dass heute kein Trinkwasser „arbeite“.

Leider arbeitet auch der Fahrstuhl nicht. Als der Bus die Universitätswohnheime am Stadtrand erreicht hat, legt sich der Staub. Langsam krabbeln wir ins Licht hinaus. Die Hitze nimmt uns fast den Atem. Wir schleppen das Gepäck in die Eingangshalle und stehen direkt vor der geöffneten Tür des Fahrstuhls.

Die Zimmer liegen im 12. Stockwerk. Ganz oben. Ich will nicht einsehen, dass die Koffer und Rucksäcke in den Fahrstuhl gestapelt werden. „Was soll denn das, entweder funktioniert ein Fahrstuhl, dann fahren wir damit – oder er funktioniert nicht!“ „Ne rabotajet“ ist die eintönige Antwort der Frau mit der geblümten Kittelschürze. Nelken auf dem Kittel, Rosen auf dem Kopftuch. Max lehnt an der Wand der Eingangshalle und sieht amüsiert zu, wie ich mich ereifere, Ben um ein Dreibettzimmer streitet, die ersten Mädchen zur Treppe gehen.

„Also“, ich komme entnervt zu ihm, „der Fahrstuhl darf nur angestellt werden, um Gepäck zu transportieren. Weil heute Sonntag ist, für Personen ‚arbeitet’ er nicht.“ Ich tippe mir an die Stirn. Die spinnen doch, die Russen!

Im zwölften Stock angelangt, stehen unsere Koffer und Rucksäcke vor dem wieder stillgelegten Fahrstuhl.

„Und da sagen wir zur DDR Deutsche Surrealistische Republik“ schnaufe ich.

Kerstin, unsere FDJ-Sekretärin, wirft pflichtschuldig einen mahnenden Blick über ihre verschwitzte Schulter. Vera lacht. „Es kommt noch besser“, ruft sie uns zu, „ich hab grad erfahren, dass die Duschen im Keller sind. Hier oben gibt’s kein fließendes Wasser!“

Das kann ja was werden. Fünf Tage Minsk im Hochsommer.

Die Tage vergehen schnell mit den Fabrikbesichtigungen und geselligen Gruppenabenden. Der Sommer beherrscht die Stadt. Erst gegen Abend lässt die Hitze etwas nach. Im Hof hinter den Blöcken der Studentenwohnheime stehen dichtbelaubte niedrige Bäume. Darunter sind Holzbänke im Viereck gruppiert, so haben alle Schatten.

Alte Männer in schäbigen Jacketts spielen Schach. Hin und wieder steht ein Kind neben einem Brett und beobachtet für eine Weile das Spiel. Es ist ruhig hier. Von der Straße dringt nur gedämpftes Baggern und Schlagbohren herüber.

Ich gehe durch den schmalen Durchgang auf die noch grelle, brütend heiße Straße. Frauen in langen Hosen, mit Hemden und dunklen Kopftüchern bekleidet, bringen Teer zum Sieden und kippen ihn aus großen Kübeln auf die Straße. Es stinkt und qualmt. Ich beschleunige den Schritt.

Ein Kwas-Auto biegt um die Ecke. Es verbreitet säuerlichen Geruch, der sich mit dem beißenden Teerqualm vermischt. Ich fliehe in einen kleinen Laden. Hier werden an einer großen Glastheke Fleischbouletten mit Kartoffeln verkauft, daneben stehen Dutzende Gläser Kefir. In dem kleinen Raum bilden etwa zehn, zwölf Frauen eine Schlange. Geduldig warten sie. Einige haben stille Kinder an der Hand. Es riecht nach Schweiß, Kot und saurer Milch. Allmählich ergreift der Geruch Macht über mich. Speiübel wird mir, es ist nicht zu ertragen. Ich nehme die Hand vor den Mund und renne aus dem Laden. Halte erst im Foyer des Wohnheims inne.

Langsam zuckelt der Fahrstuhl in mein Stockwerk. Oben empfängt mich die beginnende Dämmerung. Max und Ben liegen auf ihren Betten und lesen. Vor dem Zimmer befindet sich eine Balkongalerie, ein steiler Absatz führt zu der kaum einen Meter hohen Brüstung. Dann stürzt das Haus zwölf Stockwerke hinab.

Die Straßenbaustelle sieht winzig aus von hier oben. Mein Bauch kribbelt, ich schließe die Augen. Ich halte mich am Geländer fest und schnuppere in den Abend. Jetzt riecht es nach Obst und Zigaretten. Zwei oder drei Stockwerke unter mir fangen afrikanische Studenten an leise zu trommeln. Einer singt.

Ben tritt zu mir, umfasst meine Hüften und schaukelt mich leicht gegen den Abgrund.

Mir wird sofort wieder schlecht, Schauer jagen bis in die Fingerspitzen. Meine Knie knicken ein.

„Ben, willst du mich loswerden?“

Er lacht hysterisch auf. Ich mache mich wütend frei, springe ins Zimmer.

„Gehen wir noch mal raus?“

Max springt erleichtert auf, nimmt seine Lederjacke und sieht zu Ben.

„Nee, lasst mal, ich geh schlafen.“

In der Metro ist es kühl. Die großen Mosaike an den Tunnelwänden der Stationen schimmern golden und silbern. Übergroße russische Heldenfiguren recken Sicheln und Hacken in die Schächte. Endlos lange gleiten die Rolltreppen aus glitzernden Tiefen dem Abendlicht entgegen.

Wir schlendern über die breiten Straßen der Innenstadt. Die Ampeln auf der anderen Straßenseite sind nur zu erkennen, weil die farbigen Gläser fast doppelt so groß sind wie zu Hause. Im Zentrum der Stadt versammeln sich die Jugendlichen an einem großem Springbrunnen, dessen Wasserfontänen zyklisch auf- und abschwellen. Kleine Spritzer kühlen weiträumig die Luft. Kichern und Pfeifen begleitet die Passanten. Porträtmaler klappen Hocker und Staffeleien zusammen, die Nacht beginnt. Es gibt keine Bars, keine Kneipen.

Vor einem Hotel werden wir brummig abgewiesen, keine Chance, in die Hotelbar zu kommen. Wir haben keine Devisen. Wir laufen wieder in Richtung Stadtrand. Durstig. Max grinst mich an. Ich bin froh, dass er seine gute Laune nicht verliert, mit dem knurrigen Ben allein hätte ich die Reise nicht ertragen. Die Mädels sind zu langweilig, meist beten sie mit Kerstin im Chor völkerfreundliche Sprüche runter und trinken brav den „Wodka Gorbatschow“ (Wasser mit Eiswürfeln und einem Spritzer Zitrone), der uns bei Empfängen serviert wird. Na toll. Ich hab mir Studenten ein bisschen anders vorgestellt, vor allem, wenn sie Semesterferien haben. Max und mich beobachten sie die ganze Zeit. Schon dass wir keine Ökonomiestudenten sind, beunruhigt sie. Als wollten wir Spionage betreiben in den Fabriken, die wir jeden Tag besichtigen. Dass ich die zwei einzigen Männer der Reisegruppe in Beschlag nehme, finden sie wohl auch nicht so gut. Und dass wir abends um die Häuser ziehen, auf der Suche nach Menschen, Kneipen und Alkohol …

Die Straßen leeren sich. Neubaublöcke wachsen in die auslaufenden Magistralen. Die Peripherie rückt das Raster enger. In einer Nebenstraße vertrauter Lärm, Gläsergeklirr.

„Da, eine Kneipe!“ Keine Reklame weist auf die Schankwirtschaft hin. Nur die vertraute Klangkulisse aus anstoßenden Gläsern, dem heiseren Ruf einer Säuferkehle und aufreizendem Frauenlachen zeigt uns den Weg. Es ist ein normales Wohnhaus mit kleiner Pforte neben der Eingangstür. Wir betreten eine verrauchte, räudige Pinte. Der Raum ist nicht größer als ein Zugabteil. Eine Kellnerin mit großen Kannen zwängt sich an den zwei eng besetzten Tischen vorbei. Jeder Gast hat ein Halbliter-Glas Bier vor sich und bekommt darin nachgeschenkt. Max nickt den Männern lächelnd zu. Wir werden kaum beachtet und quetschen uns an den äußeren Rand eines Tisches, dessen zwei Holzplatten in der Mitte auseinandergebogen sind. Vom Aufstützen der schweren Arme. Ich mustere verstohlen die robusten Körper der Tischnachbarn. Bier schwappt über Gläser, Hosen, Tische. In der breiten Ritze der Tischmitte sammeln sich Gräten, Fleisch- und Fischreste. Bald haben wir einen Humpen vor uns und trinken so schnell, wie nachgefüllt wird. Sehr schnell.

Der Busfahrer flucht. Eine Frau mit schwarzem Kopftuch und weiten Gewändern zerrt eine Ziege in den Bus. „Muss das sein?“ stöhne ich. Ich sitze bereits zu dritt mit Ben und Max auf eine Bank gequetscht, unter einer Pobacke ein hartes Brett haltend. Es ist quer über den Gang gelegt und dient als Sitzgelegenheit für weitere zwei Menschen, ein Paar, das auf jedem Schoß große Hühnerkäfige balanciert.

Es stinkt. Es gackert und meckert.

Max lacht, „So habe ich mir den Studentenausflug ans Asowsche Meer vorgestellt!“

Ben hebt beschwichtigend die Hände, „Leute, Leute, heute Abend liegen wir am Meer, jetzt reißt euch mal zusammen!“

Selbst Kerstin ist empört und diskutiert mit dem Busfahrer. Der antwortet nur immer wieder, „Alles Familie, alles Familie“.

Endlich geht es los. Durch die offenen Fenster dringt ein winziger erfrischender Luftzug in den überhitzten Bus. Als die Staubwolken sich verziehen, liegt die Stadt bereits hinter uns. Die Wasserflaschen sind jetzt schon alle. Ich umklammere meinen Stoffbeutel mit frischem Obst und versuche Körperkontakt mit dem Mann neben mir zu vermeiden. Sitzen ist wahrscheinlich eine übertriebene Bezeichnung für sein akrobatisches Unterfangen. Aber er ist gut gelaunt und zeigt mir ab und an einen riesigen Goldzahn, den er beim Grinsen entblößt. Dabei schießt er eine geballte Knoblauchwolke in meine Richtung ab. Ich halte die Luft an und sehe lieber aus dem Fenster.

Weite Weizenfelder ziehen an uns vorüber. Alle paar Kilometer stehen riesige Papptafeln an der löchrigen Piste. Ich klammere mich an die Lehne des Vordersitzes, doch der Bus schaukelt enorm. Auf den Tafeln entziffere ich mit einiger Anstrengung die Mahnung „Achtet unser Brot!“. Seltsam, wo sich doch das Korn bis zum Horizont wiegt.

In wenigen Tagen ist meine jahrelang antrainierte Hochachtung vor dem Volk der Sowjetunion auf Erbsengröße geschrumpft. Zum Beispiel hat uns im Russischunterricht keiner erzählt, dass eine Frau in kurzen Hosen auf der Straße angespuckt werden kann. Männer verächtlich gucken. Dass es im Hochsommer tagelang kein Wasser gibt. Ich brumme meine Empörung in mich hinein. Meine Güte, wie romantisch hatte man uns das Bild des großen Bruders ausgemalt. Nette, freundliche Menschen, die auf der Erde alles im Griff haben. Große moderne Städte bauen, die ganze Welt mit ihrer Mission beglücken und selbst im All die Nase vorn haben.

In der Siedlung der Technischen Hochschule Donezk am Asowschen Meer spuckt uns der Bus nach einigen Stunden aus. Einen Appell zu Ehren der ausländischen Gäste müssen wir noch überstehen, dann geht es zu den Holzbungalows unter Kiefern. Kerstin empfängt den Lagerplan und die Liste für die tägliche Reinigung. Am Ende des Aufenthalts winkt eine Torte als Preis für den „saubersten Bungalow“.

Die Warnung der Lagerleitung, nicht auf eigene Faust das Lagergelände zu verlassen, weht hinter unserer Gruppe her. Denkt dran: andere Länder, andere Sitten!

Kerstin teilt die Bungalows auf. Wir haben Glück und beziehen zu dritt ein sauberes Holzhäuschen. Ohne Diskussionen. Die Streitlust unter den Teilnehmern der Reisegruppe ist merklich abgeflaut. Wir verteilen uns im Kieferwäldchen.

Ich huste. „Ich hab noch den Staub von der Kühlschrankfabrik in den Lungen“, fluche ich. „Und ich Baumwollflusen“, antwortet Max.

Der Anblick der Maschinenhalle in der Handtuchfabrik hätte wahrscheinlich eine sehr schöne Filmszene abgegeben. Ich sehe die langen Reihen mit den Webmaschinen und den offenen Kübeln voller Baumwollbällchen wieder vor mir. Ein Tanzen und Schweben von weißen Flöckchen, als ob es schneite. Die Arbeiterinnen saßen unter dem Märchenregen, spannen, webten und nähten. Lachten und sangen.

Diesmal schließt sich Ben an, „Ich rieche noch den Gummisod von der Puppenfabrik“, wir lachen alle drei. „Mann, was für mittelalterliche Verhältnisse. Von Arbeitsschutz haben die doch hier noch nie was gehört!“, sagt Ben und schmeißt seinen Rucksack auf eine Liege im Bungalow. „Die armen Leute“, sage ich, „in der Schmiede im Bergwerk, habt ihr die Rußschwaden gesehen? Und nirgends eine Lüftung oder Atemschutzmasken …“

„Ich beginne wirklich daran zu zweifeln, dass wir von den Russen was lernen sollten.“

Ben stützt den Kopf in die Hände, auf der flachen Liege sitzend. Er sieht plötzlich geschafft aus. Klar, auch sein Weltbild muss angeknackst sein.

„He, he, Herr Ökonom, was sind denn das für Allüren?“, fragt Max und boxt Ben leicht an die Schulter, „Komm Alter, wir gehen an den Strand.“

Wir steigen, nur mit Bikini und Badehosen bekleidet, über den Zaun des Lagers, von dicken Kiefern vor den Blicken der Lagerbewohner geschützt. „Habt ihr die Klos schon gesehen?“, frage ich halblaut. Kopfschütteln. „Chlorgestank, Saloonschwingtüren, Loch im gekachelten Boden, da geh ich nie und nimmer drauf!“ „Wir werden sehen“, murmelt Ben.

Da öffnet sich das Wäldchen zum Meer hin. Es sind nur wenige Badegäste am langen, goldgelben Strand. Einige Frauen, die sich mit schwarzem Ton eingerieben haben, liegen unter Sonnenschirmchen, die sie in den Sand gerammt haben. Sie bilden schwarze Skulpturen, deren bröckelnde Fassade weiße Haut freigibt.

Das Meer rollt gurgelnd im Sand aus. Endlose Weite, hellblau, weiß, gichtig, schäumend.

Ich kreische begeistert auf und stürme ins Wasser. Max und Ben sehen sich an, laufen mir nach. image

 

HER MIT DEN KLEINEN TUNESIERINNEN

 

FRANK WILLMANN

 

         Der hochgeschätzte Ausreise-Gott hatte es gut mit mir gemeint. Die Straflager der Ostzone lagen glücklich hinter mir. Seit zwei Wochen schwelgte ich im Schlaraffenland. Endlich Büchsenbier, Bücher und viehische Punkkonzerte bis zum Anschlag. Es galt einiges aufzuholen.

1984 wohnte halb Thüringen in der Kreuzberger Falckensteinstraße. Eine Westberliner Wohnungsbaugesellschaft hatte ein halbes Sanierungsgebiet für die geknechteten Zonis bereitgestellt. Zentralheizung, Stuckdecken, alles frisch renoviert. Verwöhnaroma vom Feinsten. In jenen sorglosen Westberliner Jahren wehten uns unterprivilegierten Ossis allerlei edle Gaben in den Arsch.

Hatte man den Ostberliner Tränenpalast hinter sich gelassen, ging’s sofort zum Meisendoktor im Westberliner Europacenter. Ein Warteraum vollgepfropft mit gestörten Thüringern. Stumm hockten wir unter Salvador Dalis Albtraumlandschaften, welche die Wände dekorierten. Ein Jeder vermied den Blick auf den Nachbarn. Konnte ja ein Späher der Allgemein Ortskrankenkasse sein, der uns rechtschaffen psychisch Ungesunde vom Erhalt des Krankengeldes abhalten wollte.

Die Empfangszone des mildtätigen Dotores wurde beherrscht von zwei langmähnigen und dickbrüstigen Lieblichkeiten. Da war er endlich, der goldene Westen, sonnenklar. Der gute Doc kam in Sachen Krankschreibung kaum hinterher. Es ging das Gerücht, er hätte mehrere Jahre in einem knietief mit fauligem Wasser gefüllten Folterkeller der Stasi zugebracht. Als er freikam, gab er den Schwur ab, nunmehr für das Glück aller Ostflüchtlinge zu wirken. Täglich spülte die Flüsterpropaganda frische Horden in seine Praxis.

Bitte treten sie ein, Herr Willmann.

Schüchtern stolperte ich ins Elysium. Der Doc saß hinterm Schreibtisch und starrte ins Nichts. Man musste nicht viel reden, das übernahm er.

Ja, was haben wir denn? Posttraumatische Seelenstörungen, frühkindliche Demütigungen durch Stasi und Pionierrat?

Ich nickte stumm. Er stand auf, klopfte mir auf die Schulter. Kapitalistische Irrenärzte kannte ich aus dem Film Einer flog über das Kuckucksnest aber anders.

Wird schon, ich schreibe sie weitere vierzehn Tage krank.

Das bedeutete fünfhundert Deutsche Mark. Schnell war ich wieder draußen. Die Empfangsmiezen offerierten mir meinen Schein, ich preschte jauchzend auf die Strasse. Ab zur AOK-Auszahlkasse und hoch die Tassen.

Jeder einigermaßen fidele Ex-Zoni war durchschnittlich drei Monate beim Doc im Rennen. Dann gab’s die Vorladung zum bösen AOK-Onkel, der uns gesund schrieb und zum Arbeitsamt beorderte. Manch geschickte Tunichtgute zogen ihre Krankschreibung indes deutlich länger durch.

Rotkäppchen schaffte insgesamt ein Jahr. Ruhm und Ehre diesem begnadeten Arbeitsscheuen! Ich traf Rotkäppchen im guten alten Kreuzberg. West-Frischling wie ich, kam er jedoch aus Schwedt, dem verschrienen Kittchen der NVA. Er hatte erfolgreich mit Waren der Volksarmee gehandelt und setzte seine Händlerkarriere auch hinter Gittern fort. Kaum im Westen angekommen, roch er sofort das nächste Geschäft. Er zog in ein besetztes Haus und eröffnete eine illegale Kneipe. Selbstverständlich stand er nicht hinterm Tresen. Das erledigten seine Mitbesetzer. Der Gewinn flutete in Rotkäppchens Tasche, manchmal auch nach Nicaragua. Wir wurden schnell Freunde, es gab einiges zu lernen.

Im achten Monat seiner Krankschreibung bekam Rotkäppchen eine Erholungsreise für zwei Personen geschenkt. Sein beträchtliches Stasiknasttrauma bedurfte einer aufwändigen Therapie. Da er mit keiner Frau der Welt wochenlang ein Hotelzimmer teilen konnte, kam ich ins Spiel. Im Reisebüro ließen wir uns Tunesien andrehen. Drei Wochen auf der Insel Djerba. Hotel Amethyst, Halbpension zum halben Preis. Saugünstig. Wir fragten nicht nach Sonnenstunden und anderweitigen lokalen Tatsachen. So ein Angebot konnte man als geschulter Bückwarenknecht nicht ausschlagen. Weihnachten und Neujahr auf der Liege in Afrika. Im linken Arm eine rassige Gespielin, in der rechten Faust Gin-Tonic satt! Rotkäppchen gab mir die hohe Fünf. Ich ließ es klatschen und sagte:

Jeden Tag schicken wir ein Kärtchen an die Kreisstelle der Staatsicherheit und eins an die verbliebenen Kumpane in der Zone.

Horrido Genossen, wir pflegen unsere Ärsche an der Mittelmeersonne im Hotel Glitzerstein, vielen Dank, Euer Frank.

Des einen Neid, des anderen Freud!, kreischte Rotkäppchen.

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