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Dietrich Stahlbaum

"Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" I. K.

46 Jahre Zeitgeschehen. Buch II der Reihe "mit Buddha, mit I. Kant"


Den Opfern von Gewalt, Krieg, Nationalismus, Herrschsucht, Rachsucht, Intoleranz, Hass, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Xenophobie, Habgier, sozialer Kälte, Verblendung, Strafsucht, Irrsinn, Dummheit, Unwissenheit, Unachtsamkeit, Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Infantilismus, Hörigkeit, Gleichgültigkeit.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorwort

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. "Sapere ande!" "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. (.....) Selbstdenken heißt: den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.

Immanuel Kant 1784

Leserbriefe 1965-69

Anmerkung:

 

Autor aller Beiträge, die nicht namentlich gekennzeichnet sind, ist Dietrich Stahlbaum.
Die Leserbriefe sind, wenige ausgenommen, chronologisch geordnet.





 

 

 

 

Absolvo te!

 

Ein katholisches Geheimnis: Der Papst hat den sogenannten „Index", um Aufsehen zu vermeiden, „in aller Stille" (It. „Ruhrnachrichten") aufgehoben. Bemerkt wurde dies erst Wochen später!

Der Wahrheit dienen heißt eben auch: Das, was es einmal gab und nun nicht mehr gibt, denen zu verschweigen, die nie gewußt haben, daß es so etwas überhaupt einmal gegeben hat (nämlich die katholische Verbotsliste für Literatur).

Übrigens suchen katholische Priester neuerdings protestantische Pfarrer auf, um ihr – Gewissen zu entlasten (dies erfuhr ich aus Kreisen, in denen man von einer „Theologen-neurose" spricht). Bei wem protestantische Gottesbeamte ihr Gewissen entlasten, konnte ich allerdings nicht erfahren. Bei Psychoanalytikern?

 

[pardon, April 1966]

 

 

 

Den kürzeren?

 

Daß „rund 2 000 amerikanische Kriegsgegner", also Menschen, die Menschen zu töten sich weigern, „nachdem ein starkes Polizeiaufgebot die Schlagstöcke zog und mit Gewalt und Tränengas gegen die Demonstranten vorging", laut Ihrer Zeitung vom 19.10.67 (Bildunterschrift auf S. 2) „den kürzeren zogen", soll wohl jeden befriedigen, der in der Schule noch den Rohrstock genossen hat und nun glaubt, man könne das schwierigste Menschheitsproblem mit polizeistaatlichen Methoden lösen. Das wichtigste Gebot heißt: Du sollst nicht töten! Demnach haben wir auch die Pflicht, wenn Polizisten Pazifisten niederknüppeln, sie anzuprangern.

 

[Ruhrnachrichten, 28.10.1967]

 

 

 

 

 

 

* * *

 

 

Intellektuelle Redlichkeit?

 

Leserbrief an die „Ruhrnachrichten" (Redaktion Dortmund), der in dieser Zeitung nicht erschien:

 

Recklinghausen 20. Juni 1968

 

Sehr geehrte Herren,

 

laut Ihrem Bericht vom 19. 6. 68 hielt der katholische Religionspädagoge Prof. Dr. Hubert Halbfas eine Gastvorlesung über „intellektuelle Redlichkeit" und „bezeichnete es als die Aufgabe des Religionsunterrichts, zum kritischen Denken zu erziehen, denn kritisches Denken diene dem Glauben, den wir verstehen als die Weise, in der wir die eine, ganze Wirklichkeit deuten und annehmen".

Hierzu einige kritische Bemerkungen: Über das Wesen der Welt, ihren Ursprung, ihr Ende, über das „wahre Sein", das „Absolute" u. dgl. wissen wir nichts; von einem Gott ist nichts bekannt. Die „eine, ganze Wirklichkeit" ist unfaßbar, wir können sie nicht begreifen; können wir sie dann deuten, ohne in Widersprüchen stecken zu bleiben? Wozu verhilft der Eifer, mit dem Theologen die Gottesidee verteidigen, indem sie Widersprüchlichem eine Bedeutung beimessen, Widersinnigem einen Sinn? Zu intellektueller Redlichkeit?

 

Mit freundlichen Grüßen!

 

Dietrich Stahlbaum, Recklinghausen

 

[Abgedruckt in DIE FREIGEISTIGE AKTION, Nr. 10 Oktober 1969, S. 117]

 




 

 

 

 

 

Der Glaube an einen unbekannten Herrn

Am Wohnzimmertisch sitzt ein Junge und schreibt einen Schulaufsatz. Hinter ihm steht sein Vater, ihm gegenüber seine Tante, und an der Seite des Jungen sitzt dessen Großmutter, eine sehr alte Dame. Sie sagt: Gut, Junge, fein!

DER VATER (lesend): Gott straft die Sünder; oft schon in dieser Welt, ganz gewiß aber im Jenseits.1) — Wer hat dir denn das beigebracht?

DER JUNGE: Das haben wir so gelernt, vom Herrn Leimer.

DIE GROSSMUTTER: Gott straft die Sünder!

VATER: Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Oma?

GROSSMUTTTER: Ich denk immer dran. Aber ihr! Ihr lehnt euch gegen Gott auf. Diese schwere Sünde zerreißt das Band der Liebe zwischen Gott und Mensch und schließt ihn dadurch von dem ewigen Glück aus. Euer Leben wird sinnlos, weil ihr das Ziel dieses Lebens verfehlt, für das euch Gott bestimmt hat. Ihr werdet in der Sünde sterben, wie ihr in der Sünde gelebt habt. Ihr werdet in ewiger Gottferne bleiben, in der Hölle.2) Du wirst unseren Jungen noch ganz verderben.

VATER: Daß du immer daran denkst, weiß ich, Oma. Ich bezweifle nur, daß du jemals darüber nachgedacht hast.

GROSSMUTTER: Ja, du bezweifelst immer.

VATER: Nun hör mal zu, Oma. Ich möchte dir deinen Glauben nicht zerstören. Aber ich möchte auch nicht, daß meinem Jungen so etwas eingeredet wird.

GROSSMUTTER: Eingeredet??!

VATER: Unterlasse bitte diese theologischen Erpressungsversuche.

GROSSMUTTER: Du bist des Teufels!

VATER: Nimm`s mir nicht übel, Oma. Es wäre besser, wenn du dich jetzt zu deinen Kochtöpfen begeben würdest. Da brennt nämlich was an.

GROSSMUTTER: O Gott, mein Braten! (geht)

DIE TANTE (zum Jungen): Mach mal die Tür zu!

DER JUNGE (schließt die Tür und setzt sich wieder an den Tisch).

VATER: Du hast hier geschrieben: „Gott straft die Sünder; oft schon in dieser Welt, ganz gewiß aber im Jenseits". Und Oma meint, wir lehnten uns gegen Gott auf. Diese schwere Sünde zerrisse das Band der Liebe zwischen Gott und Mensch, schlösse ihn dadurch von dem ewigen Glück aus. Unser Leben werde sinnlos, weil wir das Ziel dieses Lebens verfehlten, für das uns Gott bestimmt hat. Wir würden in ewiger Gottferne bleiben, in der Sünde sterben und in der Hölle schmoren, wie Omas Braten, den zu erlösen ich sie hinausgeschickt habe.

JUNGE: So wie Oma daran glaubt, glaubt keiner mehr in meiner Klasse, wahrscheinlich auch nicht Herr Leimer. Er hat uns gesagt: Gott ist das Gewissen.

TANTE: Leimer weiß sich zu helfen, mit Kant.

VATER: Der war schon verkalkt, als er schrieb: „Gott ist nicht ein Wesen außer mir, sondern bloß ein Gedanke in mir", „bloß ein moralisches Verhältnis in mir".3)

TANTE: Eben: das Gewissen, welches die Sünder straft.

VATER: Gott das die Sünder strafende Gewissen?

TANTE: Die Stimme des Gewissens ist Gottes Stimme.

VATER: Und wer sich über das Gewissen hinwegsetzt?

TANTE: Der wird, Oma sagte es, in ewiger Gottferne bleiben. Wer kein Gewissen hört, dem ist Gott fern, der ist gottlos.

VATER: Und wird von ihm bestraft, im Jenseits? Hat jemand mit den Toten gesprochen?

JUNGE: Das kann man nicht einmal glauben.

VATER: Aber man kann es geträumt haben.

TANTE: Wer sein Gewissen unterdrückt, den plagt es im Traum, den straft dieser unbekannte Herr ...

VATER: . . . welchen man lieben soll und fürchten muss?

TANTE: Gott.

VATER: Ein mysteriöser Diktator. Vielleicht kommen wir mit Nietzsche dieser Sache etwas näher. Er schrieb: „Der Inhalt unseres Gewissens ist alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmäßig gefordert wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten . . . Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens: es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen." 4) Auch Sigmund Freud kam zu diesem Schluß. Er diagnostizierte das Gewissen als „soziale Angst".5)

TANTE: Was soll der Junge nun machen? Ich habe noch nie gehört, daß ein Lehrer sich von einem Schüler belehren ließ. Herr Leimer gibt Religion und Deutsch. Wer ihm seine theologischen Thesen widerlegt, ist sicherlich auch in Deutsch bei ihm unten
durch.

VATER: Dann wird sich der Lehrer Leimer von einem Vater belehren lassen müssen.

TANTE: Ich finde, es ist klüger, der Junge paßt sich an, schweigt und denkt sich das Seine.

JUNGE: Das kann ich nicht.

TANTE: Das muß man lernen; sonst kommt man im Leben vor lauter Knüppeln, die einem zwischen die Beine geworfen werden, nicht voran.

VATER: Was, meinst du, sei richtig?

JUNGE: Ich will kein Heuchler sein.

TANTE: Man braucht das nicht immer gleich Heuchelei zu nennen. Sagen wir lieber: Diplomatie.

JUNGE: Ich werde schreiben: Gott straft die Sünder, oft schon in dieser Welt, ganz gewiß aber im Jenseits, . . . glaubt die Oma.
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1) S. KATHOLISCHE GLAUBENSINFORMATION, Lektion 9 S. 5 (45 bis 74.Tausend [!], 1966)
2) Ebenda
3) Kant, OPUS POSTUMUM, Akademie-Ausgabe, Bd.XI S. 145-149
4) Friedrich Nietzsche, MENSCHLICHES ALLZUMENSCHLICHES Bd. II, 2 § 52
5) Freud, u. a. in: DAS UNBEWUSSTE, S. 192 (ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD), S. Fischer, 1963, ferner: TOTEM UND TABU, S. 78 f., FIBÜ Nr. 147, 1956.

[DIE FREIGEISTIGE AKTION, Nr. 11. November 1969