Haupttitel

Lucius Annaeus Seneca

Vom glücklichen Leben

Herausgegeben und übersetzt von Lenelotte Möller
marixverlag
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Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
eBook-Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz
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ISBN: 978-3-8438-0050-1
 
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Inhalt

Über den Autor

Zum Buch

Motto

Vorwort

L. Annaeus Seneca und die stoische Philosophie

Senecas Leben

Seneca und die Stoa

1. Logik (Erkenntnislehre)

2. Physik (Welterklärung)

3. Ethik (Verhaltenslehre)

Aus Senecas Schriften

Vom glücklichen Leben

Einführung

Vom glücklichen Leben

Von der Kürze des Lebens

Einführung

Von der Kürze des Lebens

Trostschrift an Helvia

Einführung

Carmen 236

Carmen 237

Trostschrift an Helvia

Von der freien Zeit

Einführung

Von der freien Zeit

Literatur in Auswahl

Textausgaben und Übersetzungen

Seneca, die Kaiserzeit und die Stoa

Fußnoten

Kontakt zum Verlag

Vorwort

Ratgeberliteratur zur Erlangung eines glücklichen Lebens erfreuen sich größter Beliebtheit. Die seriöseren der darin enthaltenen Empfehlungen berücksichtigen, dass manche äußeren Umstände des menschlichen Lebens nicht beeinflussbar sind, und die Schlussfolgerungen aus dieser Tatsache decken sich nicht selten mit Lehren der stoischen Philosophie, wenn sie nicht gar direkt auf Senecas Ausführungen zurückgehen. Warum also nicht gleich auf das Original zurückgreifen?

Bereits zu seinen Lebzeiten war Seneca durch seinen Stil einer der beliebtesten Autoren Roms. Senecas Dialoge, aus denen hier vier Schriften vorgelegt werden, sind jeweils aus ihrer historischen Situation heraus entstanden. Die darin behandelten Fragen jedoch sind so grundsätzlicher Natur, die zutage tretende Humanität des Verfassers so eindrucksvoll, dass die Schriften auch nach zwei Jahrtausenden nichts an Aktualität eingebüßt haben. Sie zeigen vielmehr, wie nahe uns die Antike ist.

Das Leben an einem nicht selbst gewählten Ort im eigentlichen wie im übertragenen Sinn, der rechte Gebrauch der Zeit, die Frage, was für ein glückliches Leben maßgeblich ist und was nicht, und schließlich der Wert und die sinnvolle Nutzung der freien Zeit betreffen im 21. Jahrhundert die Menschen mehr denn je.

Der Marix Verlag legt nach einer Gesamtausgabe von Senecas Schriften zur Ethik daher diese Textauswahl in einem eigenen Bändchen vor. Besonderer Dank bei der Umsetzung gilt dem Lektor, Herrn Dietmar Urmes.

Der Übersetzung liegt die Textausgabe von Leighton Reynolds (Oxford 1977) zugrunde.


Speyer, im Juli 2009 Lenelotte Möller

L. Annaeus Seneca und die stoische Philosophie

Senecas Leben

Lucius Annaeus Seneca wurde vermutlich im Jahr 1 v. Chr. in Corduba in Hispanien geboren. Sein Vater, zur Unterscheidung von ihm entweder der Ältere oder wegen einer Schrift über die Redekunst auch Seneca Rhetor genannt, stammte aus dem Ritterstand. In seinem Werk über die Rhetorik, das er seinen drei Söhnen widmete, kritisierte der Vater die Künstelei der zeitgenössischen Redner und forderte die Rückkehr zur Reinheit des ciceronianischen Stils. Gemeinsam mit seiner Frau Helvia hatte Seneca der Ältere drei Söhne: außer dem berühmten Schriftsteller noch den Sohn Lucius Annaeus Novatus, der nach seiner Adoption durch eine kinderlose römische Familie Gallio genannt wurde und als Prokonsul der Provinz Achaia (51/52) die Klage der Juden gegen den Apostel Paulus abwies (Apg 18,12–17). Ihm widmete sein Bruder Seneca der Jüngere zwei seiner Schriften: De ira (Vom Zorn), De vita beata (Vom glücklichen Leben). Der jüngere Bruder des Schriftstellers war Marcus Annaeus Mela, der die Verwaltung des väterlichen Gutes in Corduba übernahm und dessen Sohn, Marcus Annaeus Lucanus, mit seinem Bürgerkriegsepos Pharsalia ebenfalls als Schriftsteller in der römischen Literatur hervortrat.

Seneca selbst kam schon als Kind nach Rom, um dort die bestmögliche Erziehung zu erhalten und bald die ersten Erfolge als Anwalt zu haben. Seine Lehrer waren Quintus Sextius, der Pythagoreer Sotion, der Stoiker Attalus, der Philosoph Papirius Fabianus und der Redelehrer Mamercus Scaurus. Wie sich schon an den Lehrern zeigt, war für Senecas Leben die philosophische Ausbildung bedeutsamer als seine politische, was den Vater eher verdross. Als junger Mann neigte er sehr zur Kränklichkeit: Asthma und Bronchitis plagten ihn so sehr, dass er erstmals an Selbstmord dachte. Daher wurde er im Alter von 30 Jahren nach Ägypten geschickt, wo Gaius Galerius, der Schwager seiner Mutter, römischer Statthalter war; die Tante pflegte ihn mit Hilfe des trockenen Klimas gesund. Auf der Rückreise nach Italien im Jahr 31 erlitt Seneca mit Onkel und Tante Schiffbruch, wobei Galerius ums Leben kam. Nach der Ankunft in Rom beförderte die Tante Senecas politische Karriere durch ihre Beziehungen. So wurde Seneca 34 oder 35 Quästor und Senatsmitglied. In dieser Zeit entstanden aber auch die ersten Schriften, darunter die Trostschrift an Marcia, die Tochter des Historikers Cremutius Cordus, die er nach dem Verlust ihres Sohnes Metilius tröstete. Seneca selbst war zweimal verheiratet. Von der ersten Frau hatte er zwei Söhne, von welchen einer kurz vor der Verbannung des Vaters starb. Im Senat gehörte Seneca zu den glänzenden Köpfen der Opposition gegen Caligula. Auch unter dessen Nachfolger verbesserte sich das Verhältnis zum Kaiserhaus nicht. Des Ehebruchs mit Iulia Livilla, der Schwester Caligulas, angeklagt, wurde Seneca daher im Jahre 41 ins Exil nach Korsika verbannt, wo er bis 49 bleiben musste. Dort verfasst er zwei weitere Trostschriften, nämlich an seine Mutter Helvia und an Polybios, einen Freigelassenen und an Claudius’ Hof einflussreichen Beamten, der seinen Bruder verloren hatte. Ebenfalls in den 40er-Jahren entsteht die Schrift De ira in drei Büchern, worin Seneca über die Kontrolle der Affekte handelt.

Im Jahre 49 wurde Seneca nach Rom zurückgerufen, in eine ebenso verantwortungsvolle wie brisante Stellung: Agrippina die Jüngere, die Kaiser Claudius geheiratet und ihrem Sohn die Anwartschaft auf die Nachfolge Claudius’ durch Adoption verschafft hatte, wünschte den Philosophen als Erzieher des künftigen Kaisers Nero. Eine Ablehnung dieser Aufgabe war undenkbar. Im Jahre 50 stieg Seneca zum Prätor auf. Jetzt entstand die Schrift De brevitate vitae (Von der Kürze des Lebens), vielleicht stammen aus dieser Zeit auch die ersten Tragödien. Die Stoffe zu seinen Dramen nahm Seneca aus der griechischen Mythologie nach den Vorbildern Aischylos, Sophokles und Euripides. Senecas Tragödien sind die einzigen, die aus der lateinischen Antike erhalten sind. Wichtiger als die äußere Handlung ist die seelische Entwicklung seiner Figuren – durchaus passend zum Menschenbild der Stoa.

Im Jahre 54 starb Kaiser Claudius. Neros Leichenrede auf den toten Vorgänger verfasste Seneca; während er darin das gebotene Lob des Verstorbenen formulierte, schrieb derselbe Seneca auch die Apocolocyntosis (Verkürbissung des Kaisers Claudius), für die er sich später wegen des Widerspruchs zu seinem eigenen Anspruch auf Gelassenheit schämte. In der Zeit um Neros Herrschaftsantritt entstand auch Senecas Schrift De clementia (Von der Güte), die er an seinen Zögling richtete, ebenso verfasste er die sieben Bücher De beneficiis. Die Regierungszeit Neros gestaltete sich in der ersten Jahren unter dem Einfluss Senecas und des Prätorianerpräfekten Sextus Afranius Burrus’, die beide in großer Einigkeit wirkten, vielversprechend. Damals erhielt Seneca auch enorme Schenkungen von Nero, die den Erzieher und Philosophen zu einem sehr reichen Mann machten. 55 wurde Seneca Suffektkonsul. Im Jahr 58 wurde Publius Suillius Rufus in einem Denunziantenprozess angeklagt, der in seiner Verteidigungsrede Senecas Lebensführung aufs Schärfste angriff. Suillius wurde in die Verbannung geschickt. Seneca ging trotz eines formalen Sieges angeschlagen aus der Sache hervor. Ende der 50er, Anfang der 60er-Jahre entstanden De tranquillitate animi und De otio.

Doch allmählich schwand sein Einfluss auf Nero zugunsten von dessen Ehefrau Poppaea Sabina; äußerlich blieb seine Stellung aber unberührt; als Philosoph rechtfertigte er sein Verbleiben am Hofe mit der Möglichkeit, die Lage noch günstig zu beeinflussen. Der von der Stoa geforderte Abstand zu den Niederungen der Tagespolitik, so Senecas Überzeugung, musste nicht durch Rückzug vom Kaiserhof erreicht werden, viel wichtiger war der innere Abstand zu den Geschehnissen. Dazu diente ihm die Philosophie, die in seinen Werken wenig auf Staatspolitik Bezug nimmt.

Tatsächlich soll Seneca bei Neros Muttermord 59 eine Rolle gespielt haben: Tacitus berichtet (Annalen 14,7), dass Seneca – von Nero nach dem ersten, gescheiterten Mordversuch gegen seine Mutter um Rat gefragt – die endgültige Beseitigung Agrippinas als Erster empfohlen habe. Auch das Schreiben, das die Vorgänge gegenüber dem Senat als Notwehr rechtfertigte, soll Seneca noch verfasst haben.

62, in dem Jahr, in welchem Nero seine Frau Octavia ermorden ließ, in dem auch Burrus starb und von dem Bösewicht Tigellinus beerbt wurde, bat Seneca um seinen Abschied von Neros Hof und die Rücknahme großer Teile der Schenkungen des Kaisers an ihn. Die offizielle Antwort lautete: Nero könne Seneca nicht entbehren und die Schenkungen mit Rücksicht auf seinen kaiserlichen Ruf nicht zurücknehmen. Tatsächlich aber war Senecas Einfluss auf den Kaiser damit erloschen. Es folgte der Rückzug ins Privatleben auf sein Weingut Nomentum nordöstlich von Rom. Dort entstanden zunächst De otio (Von der Muße) und De beneficiis (Von den Wohltaten) mit Kritik an Neros Politik. Außerdem konnte Seneca noch zwei große Vorhaben verwirklichen: die Quaestiones naturales (Naturwissenschaftliche Fragen), die wie bei seinem epikureischen Kollegen Lukrez vor allem dazu dienen sollen, die Menschen von ihren Ängsten vor Naturphänomenen zu befreien, und die 124 Ad Lucilium epistulae morales (Philosophische Briefe an Lucilius), die seine in der Regel aus der Situation entstandenen Schriften zu einem Gesamtwerk abrundeten. Denn es ging ihm trotz seines Schwerpunktes auf der Ethik darum, ein geschlossenes philosophisches System zu formulieren. Neros Frau Octavia wurde in der Seneca zugeschriebenen gleichnamigen Tragödie verewigt, deren Verfasserschaft jedoch unter anderem deswegen angezweifelt wird, da auf Ereignisse nach Senecas Tod angespielt wird.

Lucius Annaeus Seneca starb 65 bei Rom. Seinen Selbstmord hatte Nero wegen des Vorwurfs der Beteiligung an der Pisonischen Verschwörung und einem Mordanschlag auf den Kaiser, der kurz vor Vollendung aufgeflogen war, befohlen. Gaius Calpurnius Piso war zum Anführer derer geworden, die den Kaiser nicht mehr ertragen konnten. In der Literatur wird er ebenso anständig wie sympathisch als hilfsbereiter Genussmensch geschildert. Die Anhänger Pisos waren zahlreich und kamen aus verschiedenen Ständen. Als eine Mitwisserin, die Freigelassene Epicharis, bei dem Versuch, in Misenum einen weiteren Anhänger zu gewinnen, verhaftet wurde, entschlossen sich die Verschwörer, Nero schnellstmöglich, am besten bei den Zirkusspielen, zu töten. Der Plan wurde durch einen Sklaven verraten. Epicharis und Piso nahmen sich das Leben. Ob Seneca zu den Verschwörern gehörte, ist in der historischen Überlieferung umstritten. Jedenfalls war er denunziert worden, nachdem Nero durch Folter und durch eine Kronzeugenregelung die Anzeige möglichst vieler potentieller Verschwörer und Unschuldiger gefördert hatte. Die Hinrichtungswelle spiegelte Neros Maßlosigkeit wider. Ein Testament durfte Seneca nicht verfassen. Selbstmordgedanken hatten den Philosophen jedoch schon früh begleitet und waren auch Gegenstand seiner Schriften, besonders der Briefe an Lucilius.

Der Befehl zum Selbstmord erreichte Seneca beim Abendessen in seinem Landhaus vor Rom. Nach dem Vorbild von Platons Phaidon, der Schilderung von Sokrates’ Tod, stellte Tacitus den freiwilligen und würdigen Tod Senecas im Kreise von Freunden dar (Tac. Ann. 15,60), denen er, da er sie im Testament nicht bedenken durfte, das Einzige und Wertvollste hinterlassen wollte, was er besaß: ein Bild seines Lebens. Senecas zweite Frau Pompeia Paulina hatte die Absicht, mit ihm zusammen zu sterben. Beide ließen sich die Pulsadern aufschneiden, Seneca dann auch noch die Adern an Fersen und Kniekehlen, wobei Paulina in ein anderes Zimmer gebracht und später auf Neros Befehl hin am Sterben gehindert wurde. Senecas Abschiedsrede wurde von seinen Freunden aufgeschrieben und veröffentlicht, ist aber leider nicht erhalten. Da der Tod nicht eintreten wollte, ließ sich Seneca schließlich noch einen Giftbecher verabreichen und stieg in ein heißes Bad, um den Blutkreislauf zu beschleunigen. Am Ende erstickten ihn Neros Soldaten. So sehr Senecas Lebensführung bisweilen von seinen ethischen Forderungen abgewichen war, so sehr stellte doch sein Tod in Tacitus’ Überlieferung eine Bekräftigung seiner eigenen Philosophie dar. Für das Verständnis und den heutigen Wert der Philosophie Senecas ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit allerdings zweitrangig.

Seneca und die Stoa

Senecas philosophische Leistung besteht vor allem in der praktischen Darlegung der stoischen Ethik anhand konkreter Lebensfragen und Lebenslagen. Wegen seiner unprätentiösen Sprache, seiner Konzentration auf den philosophischen Teilbereich Ethik und seiner Praxisnähe wurde ihm der Rang eines Philosophen bisweilen auch abgesprochen. Nach seinem Verständnis jedoch bezieht die Philosophie ihren Wert aus dem Nutzen, den sie den Menschen zu bieten hat (vgl. z.B. Ad Lucilium 16,4), sodass zwischen seinem Interessenschwerpunkt und dem Rang eines Philosophen kein Widerspruch besteht.

Senecas philosophische Schule, die Stoa, entstand um 300 v. Chr. in Athen und existierte neben Platons Akademie, Aristoteles’ Schule Peripatos, den Kynikern und der Schule Epikurs. Ihr Begründer war Zenon von Kition aus Zypern. Benannt ist sie nach der Stoa poikile, einer Wandelhalle in Athen, in welcher der Unterricht stattfand. Sie geht auf drei Wurzeln zurück: Sokrates, Heraklits Logos-Lehre und die Güterlehre der Kyniker. Die Stoiker teilten die Philosophie in drei Teildisziplinen, die bildhaft entweder durch einen Garten ausgedrückt wurden – dabei bildete die Logik (Erkenntnislehre) die Mauer des Gartens, die Physik (Natur- bzw. Welterklärung) entsprach den Bäumen des Gartens und die Ethik (etwa: Verhaltenslehre) den Früchten an den Bäumen – oder durch das Bild eines Tieres, dessen Knochen und Sehnen der Logik entsprachen, das Fleisch der Ethik und die Seele der Physik. Über den inneren Zusammenhang der Teildisziplinen wurde bei den Stoikern diskutiert, doch im Idealfall sollten sich die Thesen der jeweils nächsten Teildisziplin aus denen der vorigen logisch ergeben und die beiden erstgenannten der Ethik dienen.1 Zur Logik gehören Dialektik, Rhetorik, Poetik, Grammatik und vor allem die Erkenntnistheorie. Der Dialektik kam dabei die Aufgabe zu, durch vernünftige Beweisführung Erkenntnisse herbeizuführen und Irrtümer auszuschalten. Eine wichtige Rolle spielt auch die Grammatik, da die Stoiker der Sprache eine enorme Bedeutung beimaßen und eine eigene Aussagelogik entwickelten.

Zeitlich unterscheidet man nach den Schulvorstehern und den prägenden Philosophen die Ältere (um 300 – um 130), die Mittlere (um 130 – um 50 v. Chr.) und die Jüngere Stoa (1. und 2. Jh. n. Chr.).

Im 2. Jh. v. Chr. hielt mit der militärischen Eroberung Griechenlands durch die Römer und der kulturellen Eroberung Roms durch die Griechen die Stoa ihren Einzug in Rom. Dabei wurden einige Schärfen und Extreme der griechischen Version dieser Lehre gemildert. So gab es nun außer den guten und schlechten Faktoren auch noch gleichgültige. Eine besondere Rolle bei der Vermittlung der Stoa nach Rom spielten Panaitios von Rhodos (geb. 185 in Lindos, gest. 109 in Athen) und Poseidonios (geb. um 135 in Apameia, gest. um 51 auf Rhodos). Entsprechend der praktischen Art der Römer interessierten sie sich auch bei der Stoa vor allem für die richtige Lebensweise mit dem Ziel eines glücklichen Lebens, was sich im Schwerpunkt von Senecas Schriften deutlich zeigt, ebenso bei dem anderen römischen Stoiker, Kaiser Marc Aurel. Die Aufnahme der Stoa in der römischen Welt wurde erleichtert durch die Übereinstimmung ihrer ethischen Vorschriften mit vielen altrömischen Tugenden (constantia – Beständigkeit, continentia – Mäßigkeit, dignitas – Würde, pietas – Pflichtbewusstsein, virtus – Tapferkeit), durch die Zustimmung zur vita activa im Staat sowie durch ausgeprägten Ordnungssinn und die naturrechtlichen Vorstellungen.

Die zentralen Einsichten der stoischen Philosophie, die auch Senecas Aussagen in den vorliegenden Texten zugrunde liegen, lassen sich so zusammenfassen:

1. Logik (Erkenntnislehre)

2. Physik (Welterklärung)

3. Ethik (Verhaltenslehre)

Neben der Stoa sind aber bei Seneca auch andere philosophische Einflüsse erkennbar: Gerne zitiert er Epikur, besonders in den ersten Büchern der Lucilius-Briefe. Die Ablehnung von Extremen deutet auf Einflüsse von Aristoteles’ Lehre der goldenen Mitte.

Aus Senecas Schriften

Vom glücklichen Leben

Einführung

Schon zu Lebzeiten Senecas wurde ihm vorgeworfen, wie sehr die von ihm vertretene Philosophie mit ihrer bescheidenen und genügsamen Lebensweise und sein eigener Lebenswandel im Reichtum an Neros Hof im Gegensatz zueinander stünden.

Am nachhaltigsten betonte dies Senecas Widersacher Publius Suillius Rufus. Dieser war mit Ovids Stieftochter verheiratet und stand wohl mit dem Dichter bis zu dessen Tod in Briefkontakt. Jedenfalls bat ihn Ovid im Jahre 15 nach Augustus’ Tod, sich für seine Rückkehrerlaubnis einzusetzen (Epistulae ex Ponto 4,8). Ovid starb allerdings im Exil 17 n. Chr. Im Jahre 24 wurde Suillius überführt, in einem Prozess bestochen worden zu sein, weshalb er von Kaiser Tiberius auf eine Insel verbannt wurde (Tacitus Annales 4,31). Von dort durch den neuen Kaiser Caligula zurückgerufen, wurde er Konsul und in den 50er-Jahren Prokonsul in der Provinz Asia. Unter Kaiser Claudius betätigte sich Suillius vor allem als Denunziant, dem als Erste Iulia, Drusus’ Tochter, und Poppaea Sabina (Tac. Ann. 13,43) aus dem Kaiserhaus zum Opfer fielen. Dann sorgte er für die Bestrafung der Verschwörer, die sich gegen die Entmachtung des Senates durch Kaiser Claudius wehrten, wobei Suillius auch vor ehemaligen Konsuln nicht Halt machte. Auch römische Ritter ließ er anklagen. Als Ankläger eines Ritters namens Samius ließ er sich allerdings mit 400 000 Sesterzen dazu bewegen, die Anklageschrift so zu verfassen, dass keine Verurteilung stattfinden würde. Die Bestechung kam ans Tageslicht und Samius beging Selbstmord. Von Kaiser Claudius in Schutz genommen, entging Suillius einer Bestrafung und musste nur die Bestechungssumme zurückzahlen.

Nach Neros Amtsantritt beleidigte Suillius dessen Erzieher Seneca auf schwerste Weise: Sein Exil unter Claudius sei rechtmäßig gewesen, da er das Kaiserhaus durch Ehebruch – Suillius spricht sogar im Plural – entehrt habe. (Tac. Ann. 13,42) Nach diesen und anderen Anwürfen suchte man in Neros Umgebung nach einem Grund, Suillius anzuklagen und mundtot zu machen. Da der Vorwurf der Ausbeutung der Provinz Asia die Erreichung dieses Ziels nicht versprach, wurden ihm die Denunziationen unter Claudius zur Last gelegt, die von vielen Zeugen bestätigt wurden. Anzeige gegen Geld war seit 204 v. Chr. durch die Lex Cincia––Tac. Ann.