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Professor PETER PAUL KASPAR, 1942 in Wien geboren, Musik- und Theologiestudien in Wien und Innsbruck, zuerst Jugend- und Studentenseelsorger in Wien, dann Akademiker- und Künstlerseelsorger in Linz, Lehrtätigkeit am Gymnasium und an der Anton Bruckner Universität in Linz, Konzerte als Organist und Cembalist im In- und Ausland, über dreißig Bücher mit Themen aus Religion, Musik und Kulturgeschichte, Autor zahlreicher Beiträge für den Rundfunk, für Zeitungen, Magazine, Fachzeitschriften und Sammelwerke, Mitglied des Österreichischen PEN, des Landeskulturbeirates und Träger der Kulturmedaille des Landes Oberösterreich.

Zum Buch

Die wichtigsten Musiker im Porträt

Ihre Musik ist ewig und hat sie, ihre Schöpfer, unsterblich gemacht. Im vorliegenden Werk werden die 100 wichtigsten Komponisten der Abendländischen Musik aus den letzten 500 Jahren dargestellt: in ihrer Bedeutung – in ihrem Lebenslauf – und in den wichtigsten Kompositionen.

Ein einleitender Essay behandelt die verschiedenen Gattungen aus ungewohnter Sicht: im solistischen und gemeinsamen Spiel – vokal und instrumental – weltlich und geistlich.
Ein abschließender Essay gibt einen Überblick über die großen Epochen und deren innere Entwicklung: Renaissance – Barock – Klassik – Romantik – Moderne.

Peter Paul Kaspar

Die wichtigsten Musiker im Porträt

Peter Paul Kaspar

Die wichtigsten
Musiker im Porträt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8438-0214-7

www.marixverlag.de

INHALT

I MUSIK DER GATTUNGEN

(Von der Sonate bis zum Oratorium)

1 Sonata quasi una fantasia

Sinfonie, Sonate, Konzert

2 Toccate di durezze e ligature

Musik für Tasteninstrumente

3 Favola per musica

Musiktheater und Oratorium

4 Andante cantabile

Gesang und Stimme

5 Cantio sacra

Musik und Religion

II MUSIK IN 100 PORTRÄTS

  (Von Palestrina bis Ligeti)

1 Giovanni Pierluigi da Palestrina (um 1525–1594)

2 Orlando di Lasso (um 1532–1594)

3 William Byrd (1543–1623)

4 Giovanni Gabrieli (um 1555–1612)

5 Carlo Gesualdo da Venosa (um 1560–1613)

6 Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621)

7 John Dowland (1563–1626)

8 Claudio Monteverdi (1567–1643)

9 Girolamo Frescobaldi (1583–1643)

10 Heinrich Schütz (1585–1672)

11 Jean-Baptiste Lully (1632–1687)

12 Marc-Antoine Charpentier (um 1643–1704)

13 Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704)

14 Arcangelo Corelli (1653–1713)

15 Henry Purcell (1659–1695)

16 François Couperin (1668–1733)

17 Antonio Vivaldi (1678–1741)

18 Georg Philipp Telemann (1681–1767)

19 Jean-Philippe Rameau (1683–1764)

20 Georg Friedrich Händel (1685–1759)

21 Johann Sebastian Bach (1685–1750)

22 Domenico Scarlatti (1685–1757)

23 Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736)

24 Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788)

25 Christoph Willibald Gluck (1714–1787)

26 Joseph Haydn (1732–1809)

27 Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791)

28 Luigi Cherubini (1760–1842)

29 Ludwig van Beethoven (1770–1827)

30 Niccolò Paganini (1782–1840)

31 Carl Maria von Weber (1786–1826)

32 Giacomo Meyerbeer (1791–1864)

33 Gioacchino Rossini (1792–1868)

34 Franz Schubert (1797–1828)

35 Gaetano Donizetti (1797–1848)

36 Albert Lortzing (1801–1851)

37 Vincenzo Bellini (1801–1835)

38 Hector Berlioz (1803–1869)

39 Michail Glinka (1804–1857)

40 Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847)

41 Frédéric Chopin (1810–1849)

42 Robert Schumann (1810–1856)

43 Franz Liszt (1811–1886)

44 Richard Wagner (1813–1883)

45 Giuseppe Verdi (1813–1901)

46 Charles Gounod (1818–1893)

47 Jacques Offenbach (1819–1880)

48 César Franck (1822–1896)

49 Friedrich Smetana (1824–1884)

50 Anton Bruckner (1824–1896)

51 Johann Strauß, Sohn (1825–1899)

52 Johannes Brahms (1833–1897)

53 Alexander Borodin (1833–1887)

54 Camille Saint-Saëns (1835–1921)

55 Georges Bizet (1838–1875)

56 Modest Mussorgskij (1839–1881)

57 Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893)

58 Antonín Dvořák (1841–1904)

59 Jules Massenet (1842–1912)

60 Edvard Grieg (1843–1907)

61 Nikolaj Rimskij-Korsakow (1844–1908)

62 Gabriel Fauré (1845–1924)

63 Leoš Janáček (1854–1928)

64 Ruggiero Leoncavallo (1857–1919)

65 Edward Elgar (1857–1934)

66 Giacomo Puccini (1858–1924)

67 Hugo Wolf (1860–1903)

68 Gustav Mahler (1860–1911)

69 Claude Debussy (1862–1918)

70 Pietro Mascagni (1863–1945)

71 Richard Strauss (1864–1949)

72 Jean Sibelius (1865–1957)

73 Erik Satie (1866–1925)

74 Alexander Skrjabin (1872–1915)

75 Max Reger (1873–1916)

76 Sergej Rachmaninow (1873–1943)

77 Arnold Schönberg (1874–1951)

78 Charles Ives (1874–1954)

79 Maurice Ravel (1875–1937)

80 Manuel de Falla (1876–1946)

81 Ottorini Respighi (1879–1936)

82 Béla Bartók (1881–1945)

83 Igor Strawinsky (1882–1971)

84 Zoltán Kodály (1882–1967)

85 Anton von Webern (1883–1945)

86 Alban Berg (1885–1935)

87 Frank Martin (1890–1974)

88 Sergej Prokofjew (1891–1953)

89 Arthur Honegger (1892–1955)

90 Karl Orff (1895–1982)

91 Paul Hindemith (1895–1963)

92 George Gershwin (1898–1937)

93 Francis Poulenc (1899–1963)

94 Kurt Weill (1900–1950)

95 Ernst Krenek (1900–1991)

96 Dimitrij Schostakowitsch (1906–1975)

97 Olivier Messiaen (1908–1992)

98 Benjamin Britten (1913–1976)

99 Leonard Bernstein (1918–1990)

100 György Ligeti (1923–2006)

III MUSIK DER EPOCHEN

    (Von der Renaissance bis zur Moderne)

1 Ein Gesang in vielen Stimmen

Die Musik der Renaissance

2 Die Welt als Bühne

Die Musik des Barock

3 Höhepunkt und Übergang

Die Musik der Klassik

4 Die Geburt des Genies

Die Musik der Romantik

5 Viele Wege ins »Wohinauchimmer«

Die Musik der Moderne

NACHWORT

DER AUTOR

I
MUSIK DER GATTUNGEN

VON DER SONATE BIS ZUM ORATORIUM

 

Am Anfang der Musik steht das musikalische Staunen. Man stelle sich eine Welt ohne jeglichen Schmuck vor – vielleicht eine Szene aus der Urzeit des Menschen. Man ist auf die Sicherung der lebensnotwendigen Dinge beschränkt: Nahrung, Schutz vor Kälte, Nässe und äußeren Gefahren. Und da – inmitten des täglichen Überlebenskampfs – tritt etwas völlig Unnötiges und dennoch Erfreuliches auf: ein unerwarteter Klang – vielleicht der Gesang der Vögel in der Morgendämmerung, vielleicht nur der Klang einer Tonschale, an die ein Löffel schlug, oder ein spielendes Kind, das vor sich hin summte oder sang. Man horchte, hob den Kopf – vielleicht ein kurzes Lächeln, weil das Schöne in eine nüchterne und auf das Notwendige beschränkte Welt hineindrang. So – oder so ähnlich – kann man sich die Anfänge der Musik vorstellen.

Das Staunen in der Musik zeigt die Überraschung, dass es abseits des Nützlichen und Notwendigen eine Welt äußerer und innerer Erfahrung gibt, die das Leben erhellen und bereichern kann: die Erfahrung des Schönen und des Sinnvollen, etwas das unser Leben erhellen und in schweren Zeiten Trost schenken kann. Ähnlich wie in der Welt der Klänge gibt es auch in der Welt der Bilder dieses Staunen – etwa den »Trost der Bäume« (Günter Eich), den »erhebenden« Blick zum Himmel, die malerische Welt der Blumen und Blüten. Die Geschichte der Künste, die Dichtungen der Völker, die Mythen der Religionen – sie bezeugen, dass es jenseits des Zweckhaften und Nützlichen auch die andere Welt des Sinnvollen gibt. Nicht zuletzt in der Liebe.

Wahrscheinlich sind solche rückblickenden Fantasien in unserer Zeit gar nicht so leicht nachzuvollziehen. Denn wir haben Kunst und Kunstfertiges in jeder Menge und häufig sogar bis zum Überdruss um uns. In der Bilderflut, dem Wortschwall und der Musikberieselung der Gegenwart kann man sich das Staunen eher als Reaktion auf eine plötzliche Stille vorstellen. Auf jeden Fall verliert Musik – wie jede Kunst – ihren Zauber, wenn sie kein Staunen mehr erweckt. Vom Verlust dieses Staunens sind vor allem zwei Menschengruppen besonders bedroht: jene Menschen, die einer Dauerbeschallung – freiwillig oder unfreiwillig – ausgesetzt sind, und die Berufsmusiker. Sowohl der unbewusste als auch der bewusste Überfluss kann uns beschädigen.

Hinter uns liegt eine lange Geschichte der Klänge: von den frühesten Klangerfahrungen der Urzeit, die wir bestenfalls erahnen können, über die nur in Umrissen bekannte Musik der Antike, über die wenigstens bruchstückhaft in unsere Gegenwart herübergerettete Musik des Mittelalters – bis zu dem Schatz der neuzeitlichen Musik, der uns in Aufführungen und auf Tonträgern allgemein zugänglich ist. Jede Wiedergabe von Musik – außer der Uraufführung und der Improvisation – ist ein Rekonstruktionsversuch. Das gilt vor allem für die Musik des Mittelalters, auch für den gregorianischen Choral, aber umso weniger, je mehr wir uns der Gegenwart nähern. Die sogenannte Originalklangbewegung setzte etwa um 1600 ein und hat uns viele Erkenntnisse gebracht, wie und unter welchen Umständen Musik ursprünglich erklang.

Die primäre Art der Musik ist jedoch nicht die Reproduktion, sondern die Produktion – also entweder überhaupt die unwiederholbare Improvisation oder die durch stete Wiederholung eingeschliffene und nur wenig variierte ungeschriebene Komposition. Sie ist häufig auch eine kollektive Komposition – wie heute noch in manchen Bereichen der Volksmusik und im Jazz. Um es überdeutlich zu sagen: Gute Musik ist immer spontan – entweder weil sie gerade entsteht oder weil sie in der Wiederholung so kommt, als wäre sie gerade eben erst entstanden. Wie ja auch auf der Bühne ein Text so klingen soll, als wäre er dem Sprecher eben erst eingefallen. Das ist natürlich umso schwieriger, je weiter wir – zeitlich, örtlich und kulturell – von der Entstehung entfernt sind. Um die Überbrückung dieser Kluft geht es bei allem Bemühen um gute Musik – so auch in diesem Buch.

Das alles sollte dem Leser bewusst sein, wenn über die Geschichte der Musik und ihre Spiel- und Singweisen – die Gattungen – geschrieben wird. Das meiste jemals Musizierte ist für immer verklungen. Notiert wurde »erst« vor etwa 1000 Jahren – ungenau und nicht immer eindeutig. Auf Tonträger aufgezeichnet wird erst seit etwa 100 Jahren. Um Musik in ihrer Entwicklung zu verstehen, genügt es jedoch nicht, sie zu hören. Man sollte sich auch der Umstände bewusst sein, unter denen sie entstanden und erklungen ist: die Menschen, ihre Lebensumstände, ihre sozialen und kulturellen Verflechtungen, ihre Lebenswelten, ihre weltanschaulichen und religiösen Bindungen. Deshalb ist Musikgeschichte immer auch Sozial- und Kulturgeschichte. Zu welcher Musik man getanzt oder getrauert, geheiratet oder begraben hat, welche Lieder man am Feierabend, zum Tanz oder im Krieg sang, wie man zum Marsch, zum Triumph oder zum Tod geblasen hat – all das ist ebenso wichtig wie Instrumente, Partituren, Tempo- und Gattungsbezeichnungen.

Viele Musikgattungen haben ihre Bezeichnung nahe am Geschehen. Am deutlichsten ist es bei der Sonate (lateinisch: sonare/erklingen) und der Kantate (cantare/singen). Die Sonate ist ein Klangstück, die Kantate ein Singstück, gemeint ist Instrumentaloder Vokalmusik. Die Sinfonie steht für den Zusammenklang (verschiedener Instrumente), das Konzert für den Wettstreit (zwischen Instrumenten und/oder Solisten), das Oratorium verbindet Musik mit geistlichem Inhalt (orare/beten). Manche Bezeichnung muss man ausführlich herleiten (Ordinarium, die ordentlichen/gleichbleibenden Teile der Messe) oder sprachlich erklären (Toccata, italienisch: toccare/schlagen, bei Tasteninstrumenten). Bedeutungen haben sich verändert – von der einsätzigen Sonate der Frühzeit zur mehrsätzigen Sonate der Klassik.

Das griechische Wort für das gemeinsame Erklingen verschiedener Töne findet sich in der Sinfonie. Die frühe Sinfonia war daher ein Stück für ein Instrumentalensemble. Es diente oft als Einleitung für eine Oper oder ein Oratorium, wie eine Ouvertüre. In der Spätromantik war die Sinfonie ein mächtiges Orchesterwerk, das manchmal sogar mehr als eine Stunde dauerte. Einige Bezeichnungen irritieren beim ersten Hören: Canzone, Chaconne, Cantiones. Ist das ähnlich, gleichbedeutend oder total verschieden? Manches kommt aus fremden Sprachen – Anthem (Motette, Kantate), Voluntary (Präludium), anderes von alten Tänzen – Sarabande, Gavotte, Menuett.

Im Folgenden wird nicht versucht, all diese Gattungen sprachlich, inhaltlich oder historisch zu erklären, sondern sie werden von den Grundfunktionen der Musik abgeleitet. Denn einerseits ergeben sich aus der Erzeugung der Klänge (Spielen und Singen) und andererseits aus ihrer Anwendung (einzeln und gemeinsam, weltlich und geistlich) grundlegende Muster für das musikalische Geschehen:

1 Das Zusammenspiel und Gegenspiel der Instrumente

2 Das Spiel auf mechanischen, also Tasteninstrumenten

3 Das dramatische Zusammenspiel von Gesang und Instrumenten

4 Die Kunst des solistischen und chorischen Singens

5 Die spirituelle und religiöse Musik

1 SONATA QUASI UNA FANTASIA

SINFONIE, SONATE, KONZERT

Die allererste und ursprüngliche Form des »gemeinsamen Klingens« – so könnte man die griechische Wortbildung »Sinfonie« übersetzen – ist nicht, wie man vielleicht erwarten würde, die Mehrstimmigkeit, sondern das gleichzeitige Erklingen von Melodie und Rhythmus: Einer singt und ein anderer klatscht dazu in die Hände. In diesem Zusammenklang wurzelt bereits alles, was später in der Musikgeschichte kommen würde. Der Grund dafür ist einfach und einleuchtend: Die Musik ist ein flüchtiges Geschehen. Wenn der letzte Ton verklungen ist, ist alles vorbei. Die Dimension der Zeit hält die Töne in einem Ablauf fest, der unweigerlich zu einem Pulsieren führt – vergleichbar dem Atem, mit dem der Gesang verbunden ist. In der Vergänglichkeit der Musik wurzelt das Pulsieren, begründen sich Takt und Periode, in denen Musik erklingt. Diese Metren können auch unregelmäßig oder weit ausgedehnt sein – aber die zeitliche Dimension bleibt der Musik nicht erspart. Ganz anders ist es bei einem Bild oder einer Skulptur.

Der einsame Flötenbläser – etwa ein Hirte inmitten seiner Schafe – bleibt allein. Erst der Zusammenklang macht ihn zum »Sinfoniker«. Und zum Zusammenklang braucht es keine »zweite Stimme« – dazu genügt der Schlag des Takts – den vielleicht nur der Fuß besorgt. Töne, die sich zu einer Melodie verbinden, und Zeiträume, die sich zu einem Metrum verbinden, sind also die beiden Urelemente jeglicher Musik. In der Geschichte des Zusammenspielens, des gemeinsamen Musizierens, gibt es zuerst die Einstimmigkeit, mit der etwa viele Mönche die einstimmige Gregorianik aufführten. Die Mehrstimmigkeit entwickelte sich jedoch nicht – wie wir vielleicht erwarten würden – in Begleit-, sondern in kontrastierenden Stimmen. Zwar begann man in parallelen Quarten und Quinten zu singen. Doch das allein wäre auf die Dauer zu monoton gewesen.

Musik ist aber geradezu das Gegenteil von monotonem (wörtlich: einstimmigem) Tun. Denn die extreme Monotonie wäre ein einziger, lang angehaltener Ton. Erst die Bewegung der Töne – vor allem die Gegenbewegung – machte die Musik lebendig. Daher war die erste musikalische Erweiterung nicht die Harmonie, sondern die Gegenbewegung – der Kontrapunkt. Nach den ersten Versuchen zur Mehrstimmigkeit – liegende, tiefe Töne (Bordun), Parallelbewegung (in Oktaven, Quinten und Quarten) – wagte eine zweite Melodie, sich der ersten gegenüberzustellen: nicht als Begleit-, sondern als Gegenstimme. Das so entstehende kunstvolle Stimmengeflecht der frühen Mehrstimmigkeit – etwa bei Palestrina – ist daher, wörtlich verstanden, die frühe »Sinfonik« der neuzeitlichen Musik.

Wir wissen heute, dass damals die klangliche Gestaltung – ob vokal oder instrumental, ob durch einen Musiker am Tasteninstrument oder durch viele Sänger und Instrumentalisten – nebensächlich war. Partituren mit genauen Bezeichnungen der Sing- und Instrumentalstimmen waren noch nicht üblich. Man sang oder spielte aus Stimmbüchern, die nur den jeweils eigenen Stimmfluss enthielten. Für den Spieler aller Stimmen (auf Laute, Orgel, Clavicord oder Cembalo) entstanden Tabulaturen – eine Buchstaben- und Ziffernnotation. Die Besetzung der einzelnen Stimmlinien – also etwa Sopran, Alt, Tenor und Bass – war weitgehend frei: ein oder mehrere Sänger, ein oder mehrere Instrumentalisten, gemischt oder getrennt, je nach vorhandenen Kräften und akustischen Notwendigkeiten: etwa zu dritt und zu viert in der Kammer – oder viele Sänger und Spieler in der Kathedrale.

Den gleichen Tonsatz sang oder spielte man nach Lust oder Bedarf daheim im kleinen Kreis oder allein am mehrstimmigen Instrument, aber auch im großen Ensemble bei repräsentativen Anlässen. Die »Sinfonik« – das Zusammenklingen der einzelnen Stimmen – stand am Beginn der neuzeitlichen Musikkultur, allerdings noch ohne eine strenge Differenzierung in solistische oder gemeinsame, vokale oder instrumentale Ausführung. Erst als es im frühen Barock üblich wurde, Partituren mit der Angabe von Instrumenten und Singstimmen zu schreiben, wurde der Klang festgelegt. Dennoch spielten noch lange Zeit die Lautenisten und die Spieler der Tasteninstrumente Musikstücke, die ursprünglich für den Gesang gedacht waren. In der frühen Cembalo- und Orgelmusik verfließen die Grenzen: sowohl zwischen den Instrumenten als auch zwischen Vokal- und Instrumentalwerken überhaupt.

Um es drastisch zu sagen: Die »Sinfonia« entstand nicht dadurch, dass ein paar Musiker sagten, spielen wir doch einmal gemeinsam – jeder für sich allein ist ja so langweilig. Sondern das gemeinsame Spielen und Singen war die primäre Praxis – und Vokal- und Instrumentalmusik waren ursprünglich nicht getrennt. Das später in der Romantik so sehr gepflegte unbegleitete »A-cappella-Singen« war eine seltene Ausnahme, etwa an der Sixtinischen Kapelle in Rom. Unbegleitet sang man noch am ehesten im kleinen Kreis und in solistischer Besetzung – im Vokalquartett, wie wir das heute nennen würden. Der frühe Buchdruck bewirkte, dass ab dem 16. Jahrhundert Stimmbücher und Tabulaturen verbreitet waren und dadurch sowohl das öffentliche als auch das private Musizieren gefördert wurde. Es waren jedoch häufig die gleichen Tonsätze, die in den großen Kirchen mit geistlichem Text gesungen oder daheim am Instrument textlos gespielt wurden.

Nach dieser Vorgeschichte wird man verstehen, dass sich erst im Verlauf des Barocks jene Gattungen herausbildeten, die wir heute so selbstverständlich in der Instrumentalmusik kennen. Es waren die ursprünglich einsätzige, später mehrsätzige Sonate (die weltliche Sonata da camera und die geistliche Sonata da chiesa) und die Suite mit Tanzformen für den eher weltlichen Bereich: Allemande – Courante – Sarabande – Gigue, angereichert mit Menuett, Gavotte und anderen Tänzen oder einem einleitenden Prélude. Hier entwickelte sich auch eine Klangsymbolik, die heute oft übersehen wird: Das kirchliche Instrument für die Akkorde (des Generalbasses) war die Orgel, das weltliche das Cembalo – beide wurden fallweise ersetzt oder angereichert mit Laute, Gitarre und Theorbe (Basslaute). Dasselbe Werk wirkte auf diese Weise bei gleichbleibender musikalischer Substanz durch den Klang jeweils »geistlich« oder »weltlich«.

Die Sonate wurde in der Klassik zu einer Hauptform der Kammermusik – Klavier allein oder mit einem zweiten Instrument, während die Sinfonie die analoge Form der Orchestermusik wurde. Die ursprünglich meist dreisätzige Form (schnell – langsam – schnell) wurde dann erweitert: ein Menuett, ein Scherzo, vielleicht ein Intermezzo vor dem letzten Satz. In dieser Form schienen die Sonate und die Sinfonie Haydns, Mozarts, Beethovens und Schuberts den Romantikern kaum überbietbar. Deshalb wandten sich manche (Liszt, Smetana, Dvořák) der sinfonischen Dichtung zu, die nicht mehr an den Bauplan der klassischen Sinfonie gebunden war und häufig ein literarisches Motto im Titel führte (Orpheus, Hamlet, Faust) oder als Orchesterfantasie, Sinfonische Fantasie, Fantasieouvertüre (Tschaikowsky) und als Fantastische Sinfonie (Hector Berlioz) ein literarisches Programm besaß. Ähnlich erging es der Klaviersonate. Einige davon bringen das Dilemma im Titel auf den Punkt: Sonata quasi una fantasia (so auch Beethovens Mondscheinsonate).

Der erste Satz einer großen Sonate oder Sinfonie hatte in der Klassik einen Bauplan, der auf zwei gegensätzlichen Themen und deren konsequenter regelgerechter Verarbeitung beruht: die sogenannte »Sonatenhauptsatzform« mit Exposition, Durchführung und Reprise. Kurz gesagt, die Themen werden vorgestellt, verarbeitet und in Erinnerung an den Beginn zu einem Ende geführt. So wenig als theoretisches Stenogramm. Diese Form erreichte mit Beethovens Sonaten und Sinfonien einen Höhepunkt, der sich nur schwer überbieten ließ, weshalb manche Komponisten des 19. Jahrhunderts zögerten, überhaupt noch Sonaten und Sinfonien zu schreiben. Soweit sie es dennoch taten, reicherten sie die bisherige Struktur mit Neuem an: entweder mit einem dritten Thema (Bruckner) – oder mit einem literarischen Programm. In dieser – damals durchaus umstrittenen – »Programmmusik« wurden Themen, Charaktere, Stimmungen und Ereignisse poetisch oder dramatisch dargestellt.

Neben der »Sinfonia« als Zusammenklang gab es seit der Barockzeit eine zweite, durchaus ähnliche Gattung: das »Concerto«. Die Übersetzung offenbart auch tatsächlich einen Gegensatz. Denn das »Konzertieren« bedeutet eigentlich »streiten« (lateinisch concertare). Dadurch offenbart das Gattungspaar »Sinfonie und Konzert« eine grundlegende Philosophie des Musizierens: Gemeinsames geht nicht ohne Konflikt. Während in der Sinfonie zwei Themen in einen musikalischen Wettstreit treten, sind es im Konzert zwei oder mehrere Klangkörper. Im Concerto grosso ist es eine Gruppe von Soloinstrumenten, die gegen das Tutti des gesamten Ensembles antreten. Im Solokonzert ist es ein einziger Solist, der den Konflikt wagt. »Konflikt« kann natürlich nicht nur Streit bedeuten, sondern auch Dialog – kann also zwischen (tödlichem) Kampf und (liebender) Vereinigung die gesamte Palette der Kommunikation ausagieren.

Konsequenterweise gab es auch Doppel- und Tripelkonzerte. Den ungleichen Kampf konnte man auf mehrere Weise gewinnen: Entweder spielte das Orchester während der Solostellen nur leise, in kleinen Formation oder gar nicht – oder das Instrument konnte sich durch Tonhöhe (Violine, Flöte) oder Lautstärke (Klavier, Trompete, Orgel) durchsetzen. Weshalb es ausgesprochen wenig Solokonzerte für Kontrabass oder Gitarre gibt. Das Feld, auf dem sich das Soloinstrument auf jeden Fall durchsetzen musste, war die Virtuosität. Ähnlich wie in der Sinfonie wurde in den vielfältigen Spielarten des Konzerts die ganze Bandbreite musikalischer Möglichkeiten ausgenutzt: von der Melancholie bis zum Jubel, vom Kampf bis zum Triumph, von der Aggression bis zur Liebesvereinigung, von der lebensfrohen Heiterkeit bis zur tödlichen Depression.

Im Generalbasszeitalter galt das Zusammenspiel eines Melodieinstruments (Violine, Flöte, Oboe …) mit einem Harmonie-instrument (Cembalo, Laute, Orgel …) als ideale Kombination. Da allerdings die Bassstimme bei dieser Duobesetzung kaum zu hören war, wurde sie gern mit einem tiefen Instrument (Viola da Gamba, Fagott, Violoncello …) verstärkt. So entstand – sozusagen nebenbei – aus einem Duo ein Trio. Sobald sich aber die Bassstimme verselbstständigt hatte, war das klassische Trio geboren. In der Besetzung Violine, Violoncello und Klavier wurde es seit Haydn und vor allem im 19. Jahrhundert neben dem Streichquartett zu einer Königsgattung der Kammermusik. Das Streichquartett war in gewisser Weise die Kammerversion des Streichorchesters. So entstand im Lauf der Epochen ein reiches Repertoire für Kammermusik: Solosonate, Trio, Quartett – mit weiteren Anreicherungen (Quintett, Sextett, Septett, Oktett, Nonett) bis zu einem guten Dutzend von Instrumenten unterschiedlicher Art.

Was hier so selbstverständlich als Kammermusik beschrieben wurde, entstand in der feudalen Welt des Barocks und der Klassik, um sich dann in der Welt des Bürgertums fortzusetzen. Man bedenke, dass inzwischen das allgemeine Schulwesen entstanden war und das zunehmend gebildete und sozial aufstrebende Bürgertum mit höherer Bildung auch kulturelle und künstlerische Ambitionen pflegen konnte. Der Gesangs- und Instrumentalunterricht gehörte bald zum Pflichtprogramm des gehobenen Bürgertums, da auch die Fabrikation von Klavieren einen ungeheuren Aufschwung nahm. Gesangsvereine, Kirchenchöre und Konservatorien wurden gegründet – die Musik hatte eine neue Heim- und Pflegestätte im Bürgertum gefunden. Was sich heute als Musik für die Kammer ein wenig armselig anhört, war tatsächlich die Musik für den bürgerlichen Salon. Nur die abwertende Bedeutung der »Salonmusik« hat verhindert, dass man sie heute tatsächlich so benennen könnte.

Seit Schubert wurden die Lieder, die Klavier- und Kammermusik vorwiegend für den bürgerlichen Salon geschrieben. Die heutige Konzertpraxis lässt diese – häufig intime und subtile – Musik aus ökonomischen Gründen allzu oft in großen und unpersönlichen Konzertsälen aufführen. Die Musikgeschichte hat als Urbild dieser Kammer- und Hausmusik die berühmten »Schubertiaden« überliefert: Sie waren eine Mischung aus Landpartie, Freundeskreis, Schmausen, Tanzen und Salonmusik. Dort spielte Schubert seine Walzer, Menuette, Ecossaisen und Ländler – ursprünglich improvisierend – zum Tanz. Dort erklangen die später als massive Männerchöre aufgeführten Vokalsätze und Lieder im Quartettgesang. Dort kam es zur informellen Uraufführung vieler – auch der ernsten und todtraurigen – Schubertlieder. Dort wurde eher musiziert als konzertiert – eine besonders authentische Form der Musikausübung.

Natürlich hat es das auch schon vorher gegeben. Allerdings in privilegierten Kreisen – und die Musiker waren bezahlte Höflinge. Erst in der bürgerlichen Musikkultur komponierten und spielten die Künstler für ihresgleichen – als Freunde und Freundinnen unter Gleichgestellten und Gleichgesinnten. Deshalb blieb Schubert sein kurzes Leben lang – obzwar nicht ohne Erfolg und Anerkennung – ohne geregeltes Einkommen und ohne eigene Wohnung. Der bürgerliche Musikbetrieb hatte noch nicht seine sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen gefunden. Es gab noch kein Urheberrecht. Wohl aber hat die Musik einen eigenen Ton gefunden: nicht mehr zur effektvollen und häufig eitlen Repräsentation gehobener Dienst- und Geldgeber, sondern aus dem Erleben und Empfinden einfacher Frauen und Männer aus dem Volk.

Das Zusammenklingen der Instrumente hatte im 19. Jahrhundert seine gültigen Formen erreicht, an denen sich nicht mehr viel ändern sollte. Es gab die große Musik für den Konzertsaal und die Kammermusik für den Salon. Zu den Instrumenten kamen die Singstimmen – solistisch und chorisch – nach Maßgabe der Bildungsfortschritts: Nun waren es nicht mehr einzelne Kapellsänger und Sängerknaben also professionelle Musiker, sondern Amateure, Liebhaber, Dilettanten. Alle drei Begriffe enthalten das Wort »Liebe«, keines das Wort »Geld«. Es ging also um die Liebe zur Musik. Um es – zugegebenermaßen ein wenig zugespitzt – zu sagen: Die Musik hatte die einfachen Leute erreicht. Genauer gesagt: Die Volksmusik war schon immer bei ihnen. Nun kam zu ihnen auch noch die gehobene, die artifizielle, die »Kunstmusik«. (Um das schreckliche Wort auch einmal gesagt zu haben.)

Und folgerichtig bahnte sich mit dieser Vereinigung die nächste Trennung an: E-Musik und U-Musik. Aber das ist eine andere Geschichte.

2 TOCCATE DI DUREZZE E LIGATURE

MUSIK FÜR TASTENINSTRUMENTE

Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte mussten Töne aus eigener Kraft und mit eigener Geschicklichkeit erzeugt werden: durch Schlagen und Streichen, durch Blasen und Trommeln, durch Singen und Brüllen. Was man nicht mit der Kraft seiner Arme oder seiner Lungen zum Klingen brachte, gab es nicht. Das galt nur bis zu dem Zeitpunkt, als der Mensch Geräte, Apparaturen und Maschinen erfand, die seine mangelnde Geschicklichkeit oder Kraft ausgleichen konnten. Man kann durchaus sagen, dass hier die Musik zum ersten Mal ihre Unschuld verlor. Ein zweites Mal, als im 20. Jahrhundert elektromechanische und elektronische Musikinstrumente auf den Markt kamen – und zum dritten Mal, als die digitale Ton- und Musikerzeugung und die technische Musikwiedergabe den Griff zum Instrument durch den Griff zum Schaltknopf ersetzten.

Zwei dieser Maschinen haben schon früh eine kräftige Spur durch die Musikgeschichte gezogen: die erste, indem sie Blasinstrumente mechanisch anblasen ließ, die zweite, indem sie Saiten durch eine Apparatur zum Schwingen brachte. Die erste Musikmaschine überhaupt ist die Orgel, bei der Blasebälge – von kräftigen Kalkanten getreten – über ein System von Hebeln und Windkanälen Pfeifen mit jenem Wind versorgt, der weit mehr und lautere Töne erzeugen kann, als es ein einzelner Mensch aus eigener Kraft je vermocht hätte. Die zweite und jüngere Apparatur verband eine Reihe von Tasten mit einer Mechanik, mit der verschieden lange Saiten angerissen (Cembalo) und später angeschlagen (Klavier) werden konnten. Das frühe Cembalo war zwar nicht lauter als eine menschliche Stimme, ließ aber mehr Töne gleichzeitig erklingen, als man mit einer Harfe oder einer Laute hätte anreißen können. Während das Cembalo in gleichbleibender – eher geringer – Lautstärke erklang, konnte das Klavier auch viele Schattierungen zwischen laut und leise hervorrufen.

Die Orgel war durch die Zahl ihrer Pfeifen schon von Anfang an ein großes und sperriges Gerät. Abgesehen von ganz kleinen Instrumenten (Portativ und Positiv) kann die Orgel nicht transportiert werden und wird in ihrer Klanglichkeit grundsätzlich auf den Raum eingerichtet (intoniert), in dem sie erklingen soll. Der Spieler nimmt sich gegenüber dem Instrument immer klein aus, auch weil die Klänge mächtig und manchmal geradezu übermenschlich erscheinen mögen. Die frühen Orgeln unserer Musikkultur – im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit – waren übrigens nicht dafür gedacht, den Gesang zu begleiten. Sie konnten oft auch gar nicht leise spielen, weil sie als Blockwerk, in dem gleich mehrere Register gleichzeitig erklangen, konzipiert waren. Dieser früheste Gebrauch der Orgel war sozusagen ein billiger Ersatz für eine größere Bläsergruppe, weil nur ein Musiker notwendig und zu bezahlen war, was die Errichtung der Musikmaschine mit der Zeit amortisierte.

Wenn man sich heute über technikbeflissene Geistliche lustig macht, die den Organisten mit eingespielten Musikkonserven ersetzen, dann möge man nicht vergessen, dass die Orgel in gerade dieser Funktion – und natürlich auch durch den strahlenden Klang – vor Jahrhunderten ihren Einzug in die Kirchen schaffte. Die Orgel hatte also ursprünglich die festliche, aber auch teure Bläsermusik zu ersetzen – sie war ja auch selbst ein mechanisch gesteuertes großes Blasinstrument, ein üppig orgelnder Musikautomat. Ihre Bedienung besorgte zwar ein Musiker, doch das Ergebnis ersetzte ein ganzes Ensemble. Und sie spielte abwechselnd mit den unbegleitet gesungenen Strophen des Volksgesanges. Der Einsatz der Orgel zur Begleitung des Gemeindegesanges und in der mehrstimmigen Musik mit Sängern und Instrumenten kam erst viel später. Die Orgel war durchaus umstritten und wurde vor allem in calvinistischen Gemeinden immer wieder verboten.

Die Anfänge der Orgelmusik sind deshalb so wichtig, weil sie weithin von derselben Musik lebte wie die Vokalmusik. Die Organisten spielten nach Tabulaturen, erfanden Varianten und Verzierungen und pflegten die Improvisation. Viele der frühesten Orgelwerke sind intabulierte Vokalmusik. Außerdem waren die Grenzen zwischen Cembalo- und Orgelmusik noch lange Zeit fließend. Man spielte oft dieselben Werke daheim am Clavicord oder am Cembalo und in der Kirche an der Orgel. Es gab sogar Cembali, die genauso wie die Orgel ein mit Füßen zu spielendes Tastenpedal hatten. Das drückt sich auch im alten Ausdruck »Clavier« aus: ein mit Tasten, einer Klaviatur, zu bedienendes Instrument. Bach schrieb noch eine (vierteilige) »Clavierübung«, die sowohl Orgel- als auch Klavierwerke enthält. Ähnliches tat sein Schüler Johann Ludwig Krebs. Und das berühmte »Wohltemperierte Klavier« von Johann Sebastian Bach war sowohl auf dem Clavicord als auch auf dem Cembalo und der Orgel spielbar.

All das verwundert manche Musikfreunde, die das Cembalo als Vorgänger des Klaviers sehen und deshalb meinen, hier bestünde die stärkere Verwandtschaft. Tatsächlich jedoch sind viele Organisten zugleich Cembalisten, jedoch nur selten Pianisten. Obwohl sie natürlich Klavier spielen können. Der Grund liegt in einer fundamentalen Verwandtschaft zwischen Orgel und Cembalo – trotz der so verschiedenen Tonerzeugung: Bei beiden Instrumenten erklingt der Ton genauso lange, wie die Taste gedrückt bleibt. Beim Klavier kann man jedoch durch das den Dämpfer hebende Pedal den Ton länger klingen lassen, als die Taste gedrückt ist. Und dieser Unterschied ergibt – neben anderem – die sehr ähnliche Spieltechnik auf Orgel und Cembalo.

Hinzu kommt, dass unser heutiges Klavier, das Hammerklavier, bei dem die Saiten nicht gezupft, sondern geschlagen werden, erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Venedig erfunden, um 1750 in unseren Breiten populär wurde und in seiner modernen Form als Konzertflügel ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist. Denn erst die komplizierte Mechanik, der schwere Eisenrahmen und die große Dimension des modernen Flügels machten das Virtuosentum (um Liszt) und die üppige Klanglichkeit des romantischen Virtuosenkonzerts (Chopin, Brahms, Liszt, Tschaikowsky und Rachmaninow) möglich. Zur gleichen Zeit geriet das barocke Instrumentarium – darunter auch das Cembalo – in Vergessenheit. Die Orgel vollzog einen klanglichen Wandel, verlor ihren silbrigen und durchsichtigen Klang und wurde durch Register, die Orchesterinstrumente nachahmen wollten, eine Art von eher dunkel und dick klingendem Orchesterersatz, mit immer mehr technischen Spielhilfen und üppigem Spielapparat. Erst die Orgelbewegung des 20. Jahrhunderts entdeckte die einzigartigen Qualitäten der Barockorgel wieder.

Man erkennt nach diesem Kurzausflug in die Geschichte des Instrumentenbaus, dass die ursprüngliche Einheit der Familie von Tasteninstrumenten in eine zunehmende Spezialisierung führen musste, die sich auch innerhalb der drei Familien (Orgel, Cembalo, Klavier) fortsetzte. So kann man verstehen, dass aus einem Tasteninstrument, das ursprünglich mehrstimmige Vokal- und Instrumentalwerke »im Einmannbetrieb« wiedergeben konnte, eine hochspezialisierte Instrumentenfamilie wurde, deren Repertoire im 19. Jahrhundert für die jeweils anderen Instrumente nicht mehr kompatibel war. Es wäre heute undenkbar, Chopin auf dem Cembalo, Tschaikowsky auf der Orgel spielen zu sehen. Am ehesten universal kompatibel: der moderne Flügel, auf dem man gern auch Scarlatti oder Bach hören mag.

Eine der frühesten Formen der Musik für Orgel oder Cembalo hat eine lakonische Bezeichnung: Toccata – ein Schlagstück, wenn man es wörtlich übersetzt. Man könnte sich dabei einen Musiker vorstellen, der ein neues Instrument ausprobiert – zwischen Läufen und ruhigen Akkorden, zwischen klaren Dreiklängen und ineinanderfließenden Dissonanzen – »die Orgel schlägt«. Ein Beispiel findet sich bei Frescobaldi: Toccate di durezze e ligature. Dass aus der Toccata später ein motorisches Virtuosenstück wurde, war eigentlich ein Missverständnis – manchmal ein charmantes. Doch wird gerade an dieser Art von formal wenig gebundenem Musizieren eine Herkunft dieser Gattung deutlich – die Improvisation. Wörtlich: das unvorhergesehene musikalische Ereignis, also eine Stegreifkomposition, eine Art des Musizierens, die im klassischen Musikbetrieb fast verschwunden ist, bei manchen Organisten noch gepflegt wird – und ansonsten eine Domäne des Jazz geworden ist.

Eine ähnliche Gattung mit einer unscheinbaren Herkunft ist die Etüde – eigentlich ein Studien- oder Schulstück, wie der Name verrät. Was als Schreckensmusik für übungsunwillige Klavierschüler, als »Schule der Geläufigkeit« (Czerny) oder als technisches Fingertraining für angehende Virtuosen begann, wurde vor allem durch die zweimal 24 Etüden Chopins, aber auch durch das breitangelegten Etüdenwerk Liszts und Rachmaninows zu einer Freude für Freunde des Klavierklanges. Natürlich gibt es Etüden für sämtliche Instrumente – aber nirgends hat sich eine derart musikalisch hochwertige Etüdenkultur entwickelt wie unter den Pianisten. Der Grund dafür ist letztlich einfach: Das Klavier ist die wichtigste Musikmaschine der abendländischen Kultur. Wenngleich vielleicht der königlichen Orgel an Klangmöglichkeiten unterlegen – so ist sie doch ihr weltliches, alltägliches, billigeres und beinahe universell einsetzbares Gegenstück.

Da die Orgel ihren wichtigsten Ort in der Kirche und ihren wichtigsten Anlass im Gottesdienst hat, versteht man die Bedeutung der Improvisation. Noch heute kann ein Organist sich um keine wichtige Stelle in der Kirchenmusik bewerben, wenn er nicht professionell und gewandt improvisieren kann. Das geschah vor allem über kirchliche Themen und Lieder, über gregorianische Melodien, zu bestimmten Anlässen von der Hochzeit bis zum Begräbnis. Ein guter Teil der historischen Musik für Orgel ist aus solchen Anlässen entstanden: das Choralvorspiel (zu einem Kirchenlied), die Choralvariationen (auch Partita über …), Versetten und Fugen zum abwechselnden Spiel mit Sängern (der früher gern gepflegten Alternatimspraxis) und dann die großen Formen, die zum feierlichen Ein- und Auszug und zu ähnlichen Anlässen, aber auch im Konzert zu spielen waren: Präludium, Toccata, Fantasie und Fuge: Canzona, Chaconne, Passacaglia …

Die Fuge als Königsgattung der Barockmusik spielt für das Cembalo und für die Orgel eine ähnlich wichtige Rolle. Sie ist die strengste und zugleich die kunstreichste Gattung, in der ein Thema durch seine Wiederkehr in den verschiedenen Stimmen und in verschiedenen Formen nach einem kontrapunktischen Regelkanon eine regelrechte Verfolgungsjagd veranstalten kann (lateinisch fuga/Flucht). Auch eine Fuge im langsamen Tempo kann spannungs- und geistreich gelingen. Bachs »Wohltemperiertes Klavier« mit zweimal 24 Präludien und Fugen durch sämtliche Tonarten ist ein ähnliches Jahrhundertwerk wie die berühmte und unvollendete »Kunst der Fuge« – deren Instrumentarium von Bach nicht festgelegt wurde. Daneben waren die Sonate und die Suite, aber auch die Variation, die Chaconne und die Passacaglia wichtige Gattungen der barocken Cembalomusik. In den beiden letzten Formen wird ein gleichbleibendes Bassthema fantasievoll variierend beibehalten.

Die Claviermusik, die sich – mit dem »Aussterben« des Cembalos – in die Klavier- und die Orgelmusik teilte, bekam in der Wiener Klassik ihr pianistisches Gepräge. Haydns frühe Sonaten lassen sich am besten am Cembalo darstellen, manche sogar auf der Orgel – die späten sind eindeutige und unverwechselbare Klaviersonaten. Jetzt ereilte die Sonate das Schicksal der Sinfonie: Sie erreichte in der Klassik, bei Haydn, Mozart, Beethoven – und zuletzt bei Schubert eine Höhe, dass die Nachkommen nur mit großem Respekt Sonaten wagten. Haydn schrieb beispielsweise etwa 60 Klaviersonaten (Mozart 20, Beethoven 32, Schubert 15) – Schumann, Chopin und Brahms je drei Sonaten. Neben diesen gewichtigen Sonaten wurde gern die kleinere Form gepflegt – einzeln, aber auch in Zyklen, virtuos für den Konzertgebrauch und weniger schwierig für die Hausmusik.

Das 19. Jahrhundert war eine Epoche der Klaviermusik. Die bürgerliche Bildung stellte das Klavier in die Mitte der Hausmusik – für reine Klaviermusik, für das Klavierlied und für die kleine Kammermusik. Die Musikverleger verlangten von den Komponisten Werke aller drei Bereiche, möglichst mit einem mittleren Schwierigkeitsgrad, nicht in Ges-Dur, wie das berühmte Impromptu von Schubert, das man deshalb gleich nach G-Dur transponierte. Musikkritiker klagten über die epidemischen Ausmaße des häuslichen Musizierens in den aufstrebenden Bürgerfamilien. Wovor sie sich fürchteten, wird nicht recht klar. Das Klavier im Salon, das mehrbändige Konversationslexikon und ab der Jahrhundertmitte die Zeitschrift »Die Gartenlaube« wurden zu den Symbolen bürgerlicher Bildungsemanzipation. Hinzu kamen Mendelssohns Lieder ohne Worte, Schumanns Wald- und Kinderszenen und Klavierlieder von Schubert, Schumann und Mendelssohn.

Doch in den Konzertsälen regierte das Virtuosentum. Die doppelte Klaviertechnik – im Instrumentenbau und im Virtuosentum – brachte zwar viele Sensationslüsterne in die Konzerte, in denen gerne Opernparaphrasen und artistisches Virtuosentum präsentiert wurden. Außerdem kamen viele Musikfreunde, die selten oder nie ein Orchester oder eine Oper hören konnten, auf diese Weise in den Genuss von Klaviertranskriptionen. Liszt fertigte solche für alle neun Sinfonien Beethovens an – tongetreu, ohne Virtuosengeflunker, und doch von hohem pianistischen Anspruch. Die vielen Bearbeitungen großer Werke für Klavier und für Kammermusik hatten im 19. Jahrhundert eine ähnliche Funktion wie heute die Tonträger: Sie brachten wichtige Werke der Kunst an ein Publikum, das sie sonst nie kennengelernt hätte.