titel.pdf

Aus dem amerikanischen Englisch von

Kirsten Borchardt und Alan Tepper

Logo_Hannibal_s/w.JPG

www.hannibal-verlag.de

Impressum

Der Autor: Jermaine Jackson

Deutsche Erstausgabe 2012

Englische Originalausgabe mit dem Titel You Are Not Alone: Michael, Through a Brothers Eyes erschienen bei HarperCollins Publishers Ltd.

© Jermaine Jackson 2011

Coverdesign: © Jonathan Sainsbury

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Übersetzung: Kirsten Borchardt (Anfang bis einschließlich Kapitel 13), Alan Tepper (Kapitel 14 bis Ende)

Lektorat: Aulo Verlagsservice

Korrektorat: Otmar Fischer

© 2012 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-381-9

Auch als Hardcover erhältlich: ISBN 978-3-85445-380-2

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Das Copyright © der folgenden Fotos liegt bei den genannten Fotografen / Bildagenturen: Fototeil: S. 1 (unten rechts) UK Press / Press Association Images, S. 5 (oben) und S. 7 (unten) Michael Ochs Archives / Getty Images, S. 6 (oben links) Erik Skipsey, (oben rechts) Olson / Time & Life Pictures / Getty Images, S. 8 (unten) Richard E. Aaron / Getty Images, S. 9 (oben rechts) PA / Press Association Images, S. 14 (oben links) Eric Ryan / Getty Images, (oben rechts) K. Mazur / Wire Image / Getty Images, (Mitte) Retna / Photoshot, (unten rechts) AFP / Getty Images, S. 15 (oben links) Press Association Images, (oben rechts) NPG.com, ohne Nachweis: S. 5 (unten), S. 6 (unten), S. 14 (unten links).

Das Copyright © folgender Fotos liegt bei Harrison Funk: Fototeil: S. 9 (oben links, Mitte links, Mitte rechts, unten), S. 11 (oben und unten), S. 12 (oben rechts, Mitte, unten links, unten rechts), S. 13 (erste Reihe links, erste Reihe rechts, dritte Reihe rechts, vierte Reihe links), S. 15 (Mitte links, unten).

Das Copyright © aller weiteren Aufnahmen liegt bei der Jackson-Familiensammlung.

„Billie Jean“: © 1987 Mijac Music (BMI)

Text und Musik von Michael Joe Jackson. Alle Rechte werden durch Warner/Chappell North America Ltd. vertreten.

„Smooth Criminal“: © 1982 Mijac Music (BMI)

Text und Musik von Michael Joe Jackson. Alle Rechte werden durch Warner/Chappell North America Ltd. vertreten.

„Word To The Badd“: © 1991 Sony / ATV Music Publishing LLC, Ecaf Music, Green Skirt Music Inc., Black Stallion Music, Pebbitone Music, Warner Tamerlane Publishing Corp. Die Rechte von Sony / ATV Music Publishing LLC und Ecaf Music werden von Sony / ATV Music Publishing LLC vertreten.

Alle Rechte vorbehalten. Verwendung nur mit vorheriger Genehmigung.

Inhalt

Zitat

Prolog – 2005

Die frühen Jahre

1. Das ewige Kind

2. Jackson Street 2300

3. Gottes Gabe

4. Ein Kindertraum

Bildstrecke I

5. Schrei nach Freiheit

6. Auf der Motown-Universität

7. Jacksonmania

Die Hayvenhurst-Jahre

8. Lernen fürs Leben

9. Endgültig erwachsen

10. Getrennte Wege

11. Moonwalk

12. König der Tiere

13. Victory – der schwerste Sieg

14. Die Reunion-Party

Die Neverland-Jahre

15. Einmal aufgenommen ...

Bildstrecke II

16. Forever Neverland

17. Lügen

18. Liebe, Schach und Schicksal

19. Unbesiegbar

20. 14 weiße Tauben

21. Der König des Comebacks

22. Der viel zu frühe Tod

Epilog

Danksagung

Das könnte Sie interessieren

Zitat

Ich errichtete ein Monument, dauerhafter als Erz

und höher als die königlichen Pyramiden. …

Vergehen werde ich nie ganz, ein großer Teil von mir

wird nach dem Tode weiterleben.

Wachse ich doch immer weiter durch der Nachwelt Lob.

Horaz, 23 v. Chr.

prolog.pdf

Der Badezimmerspiegel des kleinen Hotels im kalifornischen Santa Maria ist beschlagen, und von meiner morgendlichen Dusche hängt so viel Dunst im Raum, dass mein Spiegelbild nicht zu erkennen ist. Wie ich so vor dem Waschbecken stehe, tropfnass in ein Handtuch gehüllt, mutet die opake Glasoberfläche wie eine Leinwand an, die dazu einlädt, einen Gedanken festzuhalten, den ich in meinem Kopf ständig wiederholt habe.

Mit einem Finger schreibe ich aufs Glas: „MICHAEL JACKSON, ZU 1.000 % UNSCHULDIG.“ Aus dem Punkt am Ende mache ich einen lachenden Smiley. Man muss daran glauben, dass alles ein gutes Ende nehmen wird.

Nun starre ich diese Botschaft an und konzentriere mich auf den möglichen Ausgang: Sieg, Gerechtigkeit und Rehabilitation. Wir schreiben den 10. März 2005, und heute ist der elfte Tag dieses Schauprozesses, in dem sich mein Bruder wegen sexueller Belästigung von Kindern verantworten muss.

„MICHAEL JACKSON, ZU 1.000 % UNSCHULDIG“, lese ich erneut. Immer wieder gleitet mein Blick zur linken oberen Ecke des Spiegels, und ich sehe dem Smiley dabei zu, wie er langsam verläuft. Wie versteinert erinnere ich mich plötzlich an eine ganz ähnliche Szene in Michaels Badezimmer, in Hayvenhurst bei Encino vor den Toren von Los Angeles, wo er vor seinem Umzug nach Neverland wohnte, und ich merke, dass ich jetzt genau das Gleiche tue wie er 1982. Damals nahm er einen schwarzen Edding, damit die Schrift zum schwarzen Marmor passte, und kritzelte in die linke obere Ecke seines Spiegels: „Thriller! 100 Millionen Exemplare verkauft … Stadion-Tournee ausverkauft.“

So geht das: einen Gedanken in Worte fassen, daran glauben, ihn umsetzen. Mit aller Kraft daran arbeiten, dass er wahr wird, so wie unsere Mutter Katherine und unser Vater Joseph uns das beibrachten, als wir noch Kinder waren. „Ihr schafft das … und das hier schafft ihr auch“, pflegte Joseph bei den frühen, noch recht holprigen Proben der Jackson 5 immer zu sagen. „Wir werden es noch einmal und noch einmal probieren, bis ihr alles richtig hinbekommt. Denkt daran, sprecht es aus, stellt euch vor, wie ihr es tut, stellt euch vor, dass es geschieht … und dann geschieht es auch.“ Und unsere Mutter setzte etwas sanfter hinzu: „Fokussiert eure Gedanken und konzentriert euch mit ganzem Herzen darauf.“ All das wurde uns eingetrichtert, schon lange, bevor positives Denken groß in Mode kam. Unsere Köpfe sind so programmiert, dass sie keine Zweifel oder Halbherzigkeiten zulassen.

Michael war sich völlig im Klaren darüber, welche Dimensionen der große Durchbruch, die Innovation und der Erfolg haben sollten, die er als Solokünstler mit seinem Album Thriller anstrebte, und dass er diesen einen Gedanken auf den Spiegel schrieb, war für ihn ein Mittel der Visualisierung. Jahre später, als er schon längst in Neverland wohnte, war der Schriftzug verblasst und eigentlich gar nicht mehr zu sehen, aber dennoch hatte er seine Spuren auf dem Glas hinterlassen, denn jedes Mal, wenn der Spiegel beschlug, tauchte ein Schatten der Worte wieder auf, wie eine Geheimschrift, die man mit einem Zauberstift angebracht hat. Und so werden mich beschlagene Spiegel immer an Michaels visualisierten Ehrgeiz erinnern.

Seit den Achtzigern ließ er sich beim kreativen Prozess nicht mehr in die Karten schauen, und neue Werke wurden erst vorgestellt, wenn die Zeit dafür reif war; er pflegte Ideen und Konzepte jedoch stets irgendwo aufzuschreiben, wo er sie jeden Tag sehen konnte, oder aber er sprach sie in ein Diktiergerät, um sie gelegentlich abzuspielen und sie sich so wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er teilte seine Ideen niemandem mit, weil er keine Einmischung von außen wollte; er verließ sich ganz auf seine eigene mentale Stärke. In der Zeit zwischen November 2003, als er festgenommen und angeklagt wurde, und dem heutigen Tag im März 2005 hat er diese große innere Kraft dann wirklich gebraucht.

Er steht an jedem Verhandlungstag um 4:30 Uhr auf, bereitet sich emotional vor und macht sich innerlich stark, um einen weiteren Tag ritualisierter Erniedrigung zu überstehen.

Gestern, am 9. März, machte Gavin Arvizo, der Fünfzehnjährige, der als „das Opfer“ präsentiert wird, seine fragwürdige Zeugenaussage und ging dabei bis in die kleinsten Einzelheiten. Ich saß, wie schon seit Prozessbeginn, die ganze Zeit über hinter Michael.

Nach außen zeigt mein Bruder eine harte Schale: distanziert, ausdruckslos, beinahe kalt. Innerlich aber knirschen die Eisenklammern, die ihn zusammenhalten, und eine nach der anderen gibt unter dem Druck mit einem Krachen nach.

Frische Luft strömt ins Bad, und ich betrachte mein Spiegelbild, das der Dunst nun langsam wieder freigibt. Meine Gedanken sind fest auf das Eine gerichtet: Michael wird für unschuldig befunden werden. Ich würde es in den Grabstein meiner Großmutter eingravieren, wenn ich es könnte. Einen Gedanken in Worte fassen, daran glauben, ihn wahr werden lassen.

Aber sosehr ich mich auch konzentriere, es gelingt mir nicht, den Schmerz und die Besorgnis auszuschalten, die unsere ganze Familie ergriffen haben. Ständig merke ich, dass ich mich in die Zeit zurückversetze, in der wir noch glaubten, Hollywood sei ein zauberhafter, ein magischer Ort.

In meinem Zimmer sehe ich mir die Lokalnachrichten im Fernsehen an und warte auf den Verhandlungstag Nummer 11. Ich denke an Michael in Neverland. Die Autos fahren jetzt vermutlich vor der Tür vor. Er wird schon seit vier Stunden auf sein, das Frühstück in seinem Zimmer auf einem Silbertablett serviert bekommen haben, allein. Diese wenigen Minuten zwackt er sich für sich selbst ab. Dann geht er nach unten; für die Fahrt zum Gericht ist eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sein Tag ist minutiös durchgeplant, wie der Ablauf einer aufwändigen Show.

Ich muss an all das denken, was er erreicht hat, und an all das, was er nun durchmachen muss.

Wie ist aus einer so wunderschönen Geschichte etwas so Hässliches und Verzerrtes geworden? Lag das am Ruhm? Ist dies der Entscheidungskampf, wie er einem Schwarzen bevorsteht, wenn er am amerikanischen Traum festhält und sich erdreistet, in diesem Ausmaß Erfolg zu haben? Oder ist es das, was passiert, wenn ein Musiker größer wird als seine Plattenfirma? Geht es hier um Verlagsrechte? So nach dem Motto, wir machen den Menschen dahinter fertig, lassen aber die „Cash cow“ unangetastet?

All diese Fragen gehen mir durch den Kopf.

Halten sich seine Hollywood-Freunde und früheren Anwälte, seine Verbündeten und Produzenten jetzt fern von ihm, weil sie glauben, dass er sie gefährdet, und weil Freundschaft für sie eigentlich nur ein anderes Wort für einen Sponsoring-Deal ist? Was ist mit diesen Leuten, die früher so viel Zwietracht säten und gerne darauf hinwiesen, dass man uns, seine Familie, auf Abstand halten sollte, weil uns nicht zu trauen sei? Wieso sind die jetzt nicht an seiner Seite und flüstern ihm aufmunternde Worte der Unterstützung ins Ohr?

Michael erkennt jetzt, wer sein Freund ist und wer nicht, und er merkt, was Familie bedeutet. Aber in diesen Tagen steht seine Freiheit auf dem Spiel, und alles, was er sich je aufgebaut hat, läuft Gefahr, in sich zusammenzustürzen. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen: die Nadel von der Platte heben und wieder mit dem ersten Track der Jackson 5 anfangen, mit einer Zeit der Gemeinschaft, der Einheit und des brüderlichen Zusammenhalts. „Einer für alle, alle für einen“, wie Mutter immer sagte.

Während ich dieses „Was wäre wenn“ immer wieder von Neuem in meinem Kopf durchspiele, kann ich mich der Überlegung nicht verschließen, dass wir die Dinge hätten anders handhaben sollen, ja sogar müssen, vor allem, was Michael betraf. Wir zogen uns viel zu sehr zurück, als er seinen Freiraum verlangte, und das ermöglichte es den Geiern, dieses Vakuum zu besetzen. Wir ließen Außenstehende hinein. Ich hätte mehr tun sollen. Mich mehr durchsetzen müssen, die Tore von Neverland aufbrechen, als mich die Leute um ihn herum nicht hereinlassen wollten. Ich hätte das alles kommen sehen und da sein müssen, um ihn zu beschützen. Jetzt scheint es mir, dass ich das Versprechen des brüderlichen Zusammenhalts nicht eingehalten habe, das früher zwischen uns bestand.

Das Mobiltelefon klingelt. Es ist Mutter, und sie klingt ganz durchein­ander. „Michael ist im Krankenhaus … Wir sind hier bei ihm … Er ist ausgerutscht und gestürzt. Er hat sich am Rücken verletzt.“

„Ich komme“, sage ich und bin schon aus der Tür.

Mein Hotel liegt auf halber Strecke zwischen dem Gerichtsgebäude in Santa Monica und der Neverland-Ranch, und zum Krankenhaus ist es ebenfalls nicht weit. Ein Krankenhausangestellter lässt mich durch einen Seiteneingang hinein, damit es vorn an der Tür keinen Auflauf gibt.

Auf der Station im zweiten Stock bemerke ich eine ungewöhnlich große Zahl von Schwestern und Patienten, die im Flur stehen, und bei meinem Eintreffen verstummt das aufgeregte Gerede sofort. Eine Phalanx von vertrauten Bodyguards in schwarzen Anzügen, die einem Präsidenten zur Ehre gereichen würde, bewacht die geschlossene Tür zu einem Privatzimmer. Die Männer treten beiseite, um mich durchzulassen.

Drinnen sind die Vorhänge zugezogen.

Im Dämmerlicht steht Michael in einer gemusterten blauen Schlafanzughose und schwarzer Jacke da. „Hi, Erms“, sagt er beinahe flüsternd.

„Geht’s dir einigermaßen gut?“, frage ich.

„Ich habe mir nur den Rücken verletzt.“ Er ringt sich ein Lächeln ab.

Wie ich nun erfahre, ist er gestürzt, als er in Neverland aus der Dusche trat, und er hat heftige Schmerzen – es ist wie ein weiterer, letzter Nackenschlag in dieser Zeit, da ohnehin alle auf ihn einprügeln. Aber er ist doch ein Kinderschänder, oder nicht? Er verdient es doch nicht anders? Die Polizei muss doch irgendwelche Beweise gegen ihn haben, sonst stünde er doch nicht vor Gericht? Die Leute haben ja keine Ahnung, wie völlig hanebüchen dieser ganze Prozess ist.

Außer mir sind nur Mutter und Joseph hier, sie sitzen rechts von mir an der Wand; genau wie ich wissen sie nicht, was sie tun können, außer da zu sein und Stärke zu vermitteln. Michael verzieht das Gesicht, weil ihm die Rippen und die untere Wirbelsäule wehtun, aber ich spüre: Der mentale Schmerz setzt ihm viel mehr zu.

Während der letzten Woche habe ich mit angesehen, wie er körperlich geradezu auseinanderfällt. Er ist jetzt 46, aber sein gestählter Tänzerkörper ist gebrechlich geworden und wirkt, als wäre er geschrumpft, sein einst so federnder Gang ist heute nur noch ein schmerzvolles, zaghaftes Humpeln, und sein strahlendes Lächeln ist diesem gezwungenen Gesichtsausdruck gewichen; er sieht ausgemergelt und hager aus.

Es ist schrecklich, was ihm diese ganze Situation antut; ich will, dass es aufhört. Ich möchte den Schrei ausstoßen, den mein Bruder nie in sich gehabt hat.

Michael bleibt stehen und redet über die Zeugenaussage von gestern. „Sie muten mir all das zu, um mich fertigzumachen … um alle gegen mich einzunehmen. Das ist ihr Plan … es ist ein Plan“, sagt er.

Unser Vater ist nie der Typ für tiefe Gefühlsbekundungen gewesen, und während Michael spricht, ist ihm anzumerken, dass er das Gespräch am liebsten schnell wieder auf andere Themen bringen würde, beispielsweise auf einen Auftritt in China.

„Du hast kein gutes Gespür für den richtigen Augenblick, Joe“, tadelt ihn meine Mutter.

„Wann wäre denn ein besserer Zeitpunkt als jetzt?“, fragt Joseph. So ist er. Sehr direkt. Für ihn ist diese Zeit, in der wir einmal nicht bei Gericht sitzen, ein kleines Fenster, in dem auch einmal über etwas anderes gesprochen werden kann als über den Prozess. „Das lenkt ihn doch zumindest ab“, sagt er.

Michael überrascht das nicht, und es lenkt ihn auch nicht ab. Wie wir anderen ist auch er diese Haltung gewöhnt, und er weiß, dass das nun einmal Josephs Art ist. Ich interpretiere es als väterlichen Trick: Es hilft ihm dabei, nicht an die eigenen Ängste denken zu müssen, die ihm eine solche unkontrollierbare Situation zweifelsohne einflößt. Deswegen versucht er, sich auf die Zeit nach dem Prozess zu konzentrieren, wenn Michael wieder frei ist und auftreten kann. Er will daran erinnern, dass es ein Licht am Ende des Tunnels gibt. Aber das wirkt jetzt nicht wie eine willkommene Ablenkung, sondern erscheint einfach nur unpassend. Mein Bruder spricht deshalb auch einfach weiter. „Ich habe doch immer nur Gutes getan! Ich verstehe das nicht …“

Ich weiß, was er denkt: Er hat nichts anderes getan, als Musik zu schaffen, um Menschen zu unterhalten und die Botschaft von Hoffnung, Liebe und Menschlichkeit zu verbreiten, um für ein verständnisvolles Miteinander zu werben, vor allem im Umgang mit Kindern. Und nun wirft man ihm vor, sich an einem Kind vergangen zu haben. Das ist, als wollte man den Weihnachtsmann anklagen, weil er sich über den Kamin unerlaubten Zutritt zu Kinderzimmern verschafft.

Es gibt keinen einzigen stichhaltigen Beweis, der diesen Prozess rechtfertigt. Das FBI weiß das. Die Polizei weiß das. Die Leute bei Sony wissen das. (Diese unwiderlegbare Tatsache wurde 2009 in einer Presseerklärung des FBI bestätigt, in der nach dem Tod meines Bruders klar dargelegt wurde, dass es niemals genug Beweise gab, um auch nur einen der Vorwürfe zu untermauern, die man in sechzehn Jahren gegen ihn vorgebracht hat.) Die Behörden basteln sich 2005 einfach nur ein Konstrukt zusammen, das aus ihrer Sicht passt. Einen Gedanken in Worte fassen, daran glauben, ihn wahr werden lassen. In der Negativversion.

Michael sieht vom Boden auf. Noch nie habe ich ihn so traurig dreinblicken sehen, aber ich merke, dass er jetzt einfach nur reden will. Bis dato hat er seinen Gefühlen in unserer Gegenwart kaum jemals freien Lauf gelassen. Er war sehr beherrscht und gefasst, sprach über seinen Glauben, dass er dem Urteil Gottes vertraue und nicht dem Urteil eines Richters. Aber seine Selbstbeherrschung hat jetzt Risse bekommen, die zweifelsohne durch die gestrige Zeugenaussage entstanden sind, und die Rückenverletzung verstärkt seine Frustration.

Es wird allmählich alles zu viel.

„Nichts von dem, was über mich gesagt wird, ist wahr. Wieso sagen die Leute solche Sachen?“

„Oh, mein Junge“, beginnt Mutter, aber Michael hebt die Hand. Noch spricht er.

„Sie sagen schreckliche Dinge über mich. Ich bin dies. Ich bin das. Ich bleiche mir die Haut. Ich vergehe mich an Kindern. Ich würde nie … es ist nicht wahr, es ist alles nicht wahr“, sagt er mit leiser, brüchiger Stimme.

Seine Hände zupfen an seiner Jacke, er mutet wie ein verzweifeltes Kind an, das sich ein Kostüm abstreifen will, und er tritt von einem Fuß auf den anderen, trotz seiner Rückenschmerzen.

„Michael“, beginnt meine Mutter wieder.

Aber jetzt kommen die Tränen. „Sie können mich anklagen und die Welt dazu bringen, dass sie ihnen Recht gibt, aber sie sind so falsch … sie sind so falsch.“

Joseph lähmt dieser Gefühlsausbruch. Mutter hat die Hände vor den Mund geschlagen. Michael zerrt an den Knöpfen der Jacke und versucht sich aus den Ärmeln herauszuwinden. Das Kleidungsstück rutscht ihm von den Schultern und hängt von den Oberarmen, so dass die nackte Brust zu sehen ist.

Er schluchzt. „Seht mich an! … Seht mich an! Niemand auf der Welt wird so sehr missverstanden wie ich!“ Er bricht zusammen.

Mit gesenktem Kopf steht er vor uns, als ob er sich schämte. Zum ersten Mal sehe ich das Ausmaß seiner Hauterkrankung, und es schockiert mich. Es ist ihm so peinlich gewesen, dass er seinen Körper bisher selbst vor seiner Familie verborgen hat. Sein Oberkörper ist hellbraun, aber über den Rippen und dem Bauch sind große Bereiche richtiggehend weiß, ebenso wie ein weiterer, ausufernder Fleck an der Hüfte, und eine Reihe kleinerer Tupfen zieht sich über eine Schulter und den Oberarm. Insgesamt ist ein größerer Teil seiner Haut jetzt weiß und nicht mehr braun: Er sieht aus wie ein Weißer, der mit Kaffee übergossen wurde. So macht sich die Hautkrankheit Vitiligo bemerkbar, von der die zynische Welt behauptet, dass er sie gar nicht habe, weil sie offenbar lieber glauben will, dass er sich die Haut bleicht.

„Ich habe versucht, andere zu inspirieren … Dinge weiterzugeben …“ Seine Stimme verstummt, als Mutter zu ihm tritt, um ihn zu trösten.

„Gott kennt die Wahrheit. Gott kennt die Wahrheit“, wiederholt sie ein ums andere Mal.

Wir alle stehen um ihn herum, trauen uns nicht, ihn zu umarmen, weil sein Rücken so schmerzt, aber unsere Nähe bedeutet dennoch Trost. Ich ziehe ihm die Jacke wieder hoch. „Sei stark, Michael“, sage ich. „Es wird alles in Ordnung kommen.“

Es dauert nicht lange, dann hat er sich wieder im Griff, und er entschuldigt sich. „Ich bin stark. Es ist alles okay“, sagt er.

Ich lasse ihn mit unseren Eltern allein und verspreche ihm, dass ich den Prozess weiter begleiten werde, sobald ich von einer Reise nach Übersee zurück bin. Wir Brüder übernehmen es abwechselnd, ihn zu unterstützen. In einigen Tagen werde ich wieder da sein.

Nachdem ich gegangen bin, erhalten die Bodyguards eine Nachricht seines Anwalts Tom Mesereau aus dem Gericht. Der Richter ist nicht begeistert, dass Michael sich verspätet, und wenn er nicht binnen einer Stunde im Gerichtssaal eintrifft, wird die Freilassung auf Kaution wieder aufgehoben. Dass er wirklich Schmerzen hat, darauf nimmt man keine Rücksicht, oder man glaubt es ihm nicht.

Im Hotel packe ich meine Sachen und sehe im Fernsehen, wie mein Bruder schließlich bei Gericht erscheint. Er schützt seine Haut mit einem Schirm vor der Sonne, als er zum Eingang schlurft, und er trägt noch dieselbe Kleidung wie vorhin, als ich bei ihm war, die Schlafanzughosen und die schwarze Jacke, ergänzt lediglich um ein weißes Unterhemd. Joseph und ein Leibwächter stützen ihn.

Michael hatte stets viel Wert darauf gelegt, wie aus dem Ei gepellt und mit viel Würde vor Gericht zu erscheinen, und er hat seine Kleidung stets sorgfältig ausgewählt. Dieser Auftritt jetzt im Schlafanzug muss für ihn schwer erträglich sein. Der ganze Zirkus gerät allmählich völlig außer Kontrolle … dabei haben wir erst zehn Tage hinter uns.

Über das Hoteltelefon tätige ich einen Anruf. Am anderen Ende bestätigt man mir, was ich noch einmal hören wollte: Ja, der Privatjet ist noch verfügbar. Ja, er kann vom Flughafen Van Nuys abheben. Ja, wir können abfliegen, wann immer wir wollen. Nur ein Tag Vorlaufzeit ist nötig, dann könnte diese DC-8 mit Michael an Bord gen Osten fliegen, nach Bahrain, wo er ein neues Leben beginnen und ihn die amerikanische Justiz mit ihren falschen Vorwürfen nicht belangen könnte. Nach dieser Scharade wäre ich bereit, meine Staatsbürgerschaft aufzugeben und Michael samt seiner Familie an einen Ort zu bringen, wo man ihm nichts anhaben kann. Es gibt jemanden, der uns unterstützt, einen guten Freund. Wir haben einen Piloten. Alles ist vorbereitet. Auf keinen Fall würde mein Bruder, ein unschuldiger Mann, wegen dieser Sache ins Gefängnis gehen. Das würde er nicht überleben, und ich kann deshalb nicht einfach dasitzen und den Gedanken an diese Möglichkeit ­hinnehmen.

Diesen „Plan B“ haben wir ohne sein Wissen arrangiert, aber da ich ihm sagte, er solle sich keine Sorgen machen, ahnt er wahrscheinlich etwas, will es aber offenbar nicht genauer wissen. Muss er auch nicht. Noch nicht.

Mit mir selbst habe ich abgemacht, dass ich dann, wenn Tom Mesereau andeutet, dass sich die Waagschalen der Justiz zu unseren Ungunsten neigen, alles vorbereite und Michael zum Flughafen im San Fernando Valley vor den Toren von L.A. bringe. Wir werden ihn nachts, unter einer Decke versteckt, aus Neverland herausschmuggeln. Oder etwas in dieser Art unternehmen. In der Zwischenzeit versuche ich, Ruhe zu bewahren, denn bisher hat Tom nichts weiter gesagt als: „Ja, das war ein guter Tag für uns“, auch wenn die Zeugenaussagen allesamt schrecklich klangen. Er kennt sich mit den Nuancen aus, die für die Beweisführung von Bedeutung sind, und er weiß, wann die Staatsanwaltschaft mit den schweren Geschützen danebenschießt. Wir haben schnell gelernt, den Prozess nicht nach der Medienberichterstattung zu beurteilen. Also warte ich ab, aber dieses Vertrauen kostet mich meine ganze Kraft und bringt mich dazu, Botschaften auf Badezimmerspiegel zu schreiben.

Als ich später ins Auto steige und wie mit eingeschaltetem Autopiloten nach Süden fahre, frage ich mich, woher Michael die Kraft und den Glauben nimmt, um all das durchzustehen. Ich spüre, dass enorm viel Stolz in ihm steckt, und das zu einer Zeit, in der man sich aufgrund der unausgewogenen Presseberichte darauf eingeschossen hat, ihn für schuldig zu halten, bis das Gegenteil bewiesen wurde. Man suhlt sich im angenehmen Kitzel des vermuteten Verbrechens, während entlastende Punkte allenfalls in Fußnoten vermerkt werden. Wieder kommt mir in den Sinn, was Michael 2003 einmal zu mir sagte, als der ganze Irrsinn begann: „Lügen sind gute Sprinter, aber die Wahrheit ist ein Marathonläufer … und die Wahrheit wird gewinnen.“ Ein wahres Wort.

Ich versuche mir vorzustellen, dass er als freier Mann aus dem Gericht kommt. Wie eine Szene aus einem Film. Wenn diese ganze Geschichte vorüber ist, dann werde ich alles tun, um seinen guten Namen in der Öffentlichkeit wiederherzustellen. Es wird nichts mehr geben, was man ihm sonst noch vorwerfen kann. Und ich werde ihn verteidigen, weil ich weiß, was ihn antreibt – ich kenne sein Herz, seinen Geist, seine Seele, seinen Ehrgeiz. Ich kenne den Jungen in dem Superstar-Kostüm. Ich kenne den Bruder aus der Jackson Street 2300. Seit unserer Kindheit sind wir eng miteinander verbunden, haben alles gemeinsam erlebt: den Traum, die Jackson 5, den Ruhm, die Trennung, die Streitereien, die Sorgen, die Skandale, den wahnsinnigen Druck. Er hat vor mir geweint. Ich habe ihn angeschrien. Er hat sich geweigert, mich zu sehen. Er hat mich angefleht, bei ihm zu bleiben. Wir wissen um unsere gegenseitige Loyalität und auch um den unbeabsichtigten Verrat. Und wegen all der Dinge, die dahinterstecken, wegen unseres brüderlichen Zusammenhalts, kenne ich seinen Charakter und seinen Verstand so gut, wie man es als Blutsverwandter nur kann.

Eines Tages, sage ich mir, wenn 2005 hinter uns liegt, dann werden ihn die Leute in Ruhe lassen und versuchen, ihn zu verstehen, anstatt über ihn zu richten. Sie werden ihn so sanft und mitfühlend behandeln, wie er selbst anderen gegenüber ist. Sie werden ihre vorgefertigten Meinungen vergessen und ihn nicht nur durch seine Musik wahrnehmen, sondern als Menschen sehen: unperfekt, komplex, fehlbar. Jemand, der ganz anders ist als das Image, das er besitzt.

Eines Tages wird die Wahrheit den Marathon gewinnen.

kapitel.pdf

Michael stand neben mir. Ich war ungefähr acht und er gerade mal vier Jahre alt, und er stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett und das Kinn in die Hände. Wir beide sahen im Dunkeln aus unserem Zimmerfenster ehrfürchtig zu, wie an Heiligabend der Schnee fiel. Die Flocken wirbelten so dicht und heftig zur Erde, als ob über unserem ganzen Viertel eine himmlische Kissenschlacht tobte, und jede herabfallende Feder wurde vom klaren Licht einer Straßenlaterne angestrahlt. Die drei Häuser auf der anderen Straßenseite waren mit bunten Lichterketten geschmückt, während sich die Whites von schräg gegenüber für normale Glühbirnen entschieden hatten; dafür hatten sie im Garten noch dazu einen Weihnachtsmann und Rentiere mit leuchtenden Nasen aufgestellt. Weiße Lichter fassten das Dach ein, beleuchteten die Auffahrt und schimmerten blinkend in den Fenstern, die einen Blick auf den üppigsten Weihnachtsbaum boten, den wir je gesehen hatten.

All das betrachteten wir von einem Haus aus, in dem es keinen Baum, keine Lichter, kein Garnichts gab. Unser kleines Häuschen in der Jackson Street, Ecke 23. Avenue, war das einzige nicht geschmückte weit und breit. Uns kam es so vor, als sei es das einzige in der ganzen Stadt, aber Mutter versicherte uns, nein, es gebe andere Häuser und andere Zeugen Jehovas, die auch nicht Weihnachten feierten, so wie Mrs. Macons Familie zwei Straßen weiter. Aber dieses Wissen half uns nicht dabei, die ganze Sache zu begreifen: Vor unseren Augen fand so etwas Schönes statt, etwas, das uns ein wunderbares Gefühl vermittelte, aber ständig bekamen wir eingebläut, es sei nicht gut für uns. Weihnachten, so hörten wir, war nicht Gottes Wille, es war reiner Kommerz. Wenn es auf den 25. Dezember zuging, dann hatten wir den Eindruck, als ob wir Zeugen eines Festes würden, zu dem wir nicht eingeladen waren, aber dessen verbotener Geist uns trotzdem umfing.

Wir saßen da an unserem Fenster und blickten wie aus einer kalten, grauen Welt auf einen Spielzeugladen, in dem alles lebendig war und in buntesten Farben schimmerte, wo Kinder mit ihren neuen Schätzen auf die Straße hinausliefen, ihre neuen Fahrräder ausprobierten oder neue Schlitten durch den Schnee zogen. Wie sich die Freude anfühlte, die wir auf ihren Gesichtern ablesen konnten, das vermochten wir uns nur vorzustellen. Michael und ich spielten unser eigenes Spiel am Fenster: Wir wählten eine Schneeflocke im Laternenlicht, verfolgten ihren Fall und guckten, welche als erste „auftupfte“. Wir sahen den Flocken zu, wie sie in der Luft einzeln herumwirbelten und sich am Boden dann mit den anderen verbanden, zu einer wurden. An jenem Abend verfolgten wir vermutlich ein paar Dutzend und zählten laut mit, bevor wir irgendwann verstummten.

Michael sah traurig aus. Wenn ich mich heute an diesen Moment erinnere, dann sehe ich mich als großer Bruder mit meinen acht Jahren neben ihm stehen und auf ihn hinunterblicken, während ich die gleiche Traurigkeit empfand. Dann begann er zu singen:

„Jingle bells, jingle bells, jingle all the way

Oh what fun it is to ride,

On a one-horse open sleigh …“

Das war das erste Mal, dass ich seine Stimme mit ihrem engelsgleichen Klang bewusst wahrnahm. Er sang leise, damit Mutter es nicht hörte. Ich fiel ein, und wir sangen zweistimmig, ein paar Strophen von „Silent Night“ und „Little Drummer Boy“. Zwei kleine Jungen, die an der Schwelle ihres ausgegrenzten Daseins Weihnachtslieder sangen, die wir in der Schule aufgeschnappt hatten, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, dass die Musik eines Tages unser Beruf sein würde.

Während wir sangen, lag ein breites Lächeln auf Michaels Gesicht, denn wir hatten uns ein kleines Stück Magie stibitzt. Für einen kurzen Augenblick waren wir glücklich. Aber dann hörten wir auf, weil dieses kurzlebige Gefühl uns umso stärker verdeutlichte, dass wir ja nur so taten, als ob wir an dem Fest teilnähmen. Der nächste Tag würde bei uns so sein wie jeder andere. Ich habe oft gelesen, Michael habe Weihnachten nicht gemocht, weil es in unserer Familie nie gefeiert wurde. Das stimmt nicht. Spätestens seit dem Augenblick nicht, an dem er mit vier Jahren zum Haus der Whites hinübersah und sagte: „Wenn ich mal groß bin, will ich Lichter haben. Jede Menge. Dann ist jeden Tag Weihnachten.“

„Schneller! Schneller!“, kreischte Michael mit seiner glockenhellen Stimme. Er saß vorn in einem Einkaufswagen, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, während Tito, Marlon und ich das Gefährt im vollen Lauf die 23. Avenue hinunterrattern ließen, ich hinter der Stange, meine beiden Brüder links und rechts des Wagens, weil sich die Räder auf dem Straßenbelag wild drehten und sprangen. Wir nahmen noch einmal richtig Fahrt auf und rasten los wie ein Schlittenbob-Team. In unserer Phantasie fuhren wir allerdings einen Zug, den wir uns gern auch mit zwei oder drei aneinandergereihten Einkaufswagen zusammenstellten. Sie stammten aus dem Giants-Supermarkt drei Straßen weiter, auf der anderen Seite des Sportplatzes, der hinten an unser Grundstück grenzte, aber die Wagen wurden oft irgendwo im Viertel stehen gelassen und waren deshalb leicht aufzutreiben. Michael war der „Lokführer“.

Er war ganz verrückt nach den Spielzeugeisenbahnen der Firma Lionel – kleine, solide Dampfmaschinen oder Lokomotiven, die in orangefarbenen Schachteln verpackt waren. Wenn wir mit Mutter zum Geschäft der Heilsarmee gingen, um Kleidung zu kaufen, rannte er immer sofort nach oben in die Spielzeugabteilung und sah nach, ob jemand vielleicht gerade eine gebrauchte Lionel-Bahn abgegeben hatte. In seiner Phantasie wurden unsere Einkaufswagen jedenfalls zu einem Zug mit zwei oder drei Waggons und die 23. Avenue zu einem schönen, geraden Gleis. Der Zug war zu schnell, um weitere Passagiere zusteigen zu lassen, und donnerte die Strecke entlang, während Michael die entsprechenden Geräusche machte. Dort, wo die 23. Avenue in einer Sackgasse endete, etwa fünfzig Meter von unserem Garten entfernt, kam unser Zug dann an einem imaginären Prellbock zum Stehen.

Wenn Michael nicht gerade auf der Straße Eisenbahn spielte, lag er mit seiner geliebten Lionel-Lok auf dem Teppich in unserem gemeinsamen Kinderzimmer. Unsere Eltern hatten ihm kein neues Modell kaufen können, und eine elektrische Eisenbahn mit Gleisen, Bahnhof und Signalen konnten sie sich schon gar nicht leisten. Der Traum von einer Spielzeugeisenbahn war jedenfalls weitaus früher in seinem Kopf verankert als der Traum, eines Tages auf der Bühne zu stehen.

Geschwindigkeit. Alles, was uns Kindern besonders aufregend erschien, hatte irgendwie mit dem Speed-Kick zu tun. Egal, was wir machten, es ging immer darum, schneller zu sein, uns gegenseitig zu überholen. Hätte unser Vater um diesen Hunger nach Tempo gewusst, hätte er es uns sicherlich verboten: Die Gefahr von Verletzungen betrachtete er stets als großes Karriere-Risiko.

Als uns die Einkaufswagen-Zugfahrten irgendwann langweilig wurden, bauten wir uns „Go-Karts“ aus Kisten, Kinderwagenrädern und Brettern, die wir auf einem Schrottplatz in der Nähe besorgten. Tito war der „Ingenieur“ unter uns Brüdern und für die Konstruktion zuständig. Er bastelte auch ständig an Uhren und Radios herum, nahm sie auf dem Küchentisch auseinander und setzte sie wieder zusammen, und er sah Joseph gern dabei zu, wenn der an seinem Buick herumschraubte, der neben dem Haus geparkt war. Dadurch wusste er natürlich auch, wo der Werkzeugkasten unseres Vaters stand. Wir nagelten drei Bretter zusammen, um ein Fahrgestell in I-Form mit Achsen zu bekommen, befestigten darauf eine Holzkiste als offenes Cockpit und zogen ein Stück Wäscheleine als eine Art Zügel vorn um die Räder, um den fahrbaren Untersatz lenken zu können. Angesichts ihrer Bauweise hatten die Karts natürlich ungefähr den Wendekreis eines Öltankers, und so fuhren wir die meiste Zeit geradeaus.

Der breite Weg hinter unserem Haus, der zwischen grasbewachsenen Gärten auf der einen und einem Maschendrahtzaun auf der anderen Seite verlief, war unsere „Rennstrecke“, und nur darum ging es, um das „Rennen“. Oft ließen wir zwei Go-Karts nebeneinander laufen: Tito schob Marlon, und ich schob Michael die fünfzig Meter lange Bahn entlang. Wichtig war der Wettstreit zwischen uns, wer schneller fuhr und wer gewinnen würde.

„Los, los, LOS!“, kreischte Michael und beugte sich vor, damit wir in Führung gingen. Marlon verlor auch nicht gern, und deshalb hatte Michael einen ernstzunehmenden Konkurrenten. Marlon war jemand, der nie verstand, wieso er nicht endlich seinen eigenen Schatten überholen konnte. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er über die Straße rannte und dauernd zur Seite sah, erst voll wilder Entschlossenheit und schließlich ganz frustriert, weil ihm sein Schatten unüberwindlich auf den Fersen blieb.

Wir schoben die Go-Karts über die Piste, bis die Metallkrampen über den Asphalt kratzten und die Räder blockierten oder abfielen, so dass Michael in seinem Gefährt auf die Seite kippte und ich so lachen musste, dass ich kaum noch stehen konnte.

Auf einem Spielplatz nahe der Schule gab es ein kleines Karussell, auf dem wir unsere Lust am Geschwindigkeitsrausch ebenfalls auslebten. Man kauerte sich ziemlich in der Mitte hin, hielt sich an den Eisenstangen fest und brachte seine Brüder dazu, das Ding so schnell zu drehen, wie es irgend ging. „Schneller! Schneller! Schneller!“, rief Michael, die Augen fest geschlossen und vor Begeisterung lachend. Er setzte sich meist rittlings auf die Haltestangen und ließ sich dann herumwirbeln. Die Augen zugekniffen. Den Wind im Gesicht.

Wir alle träumten davon, eines Tages einmal mit einem richtigen Zug zu fahren, ein echtes Go-Kart-Rennen zu bestreiten und bei Disney in einem großen Karussell zu sitzen.

Noch bevor wir je etwas von Roald Dahl und seiner Geschichte von Willy Wonkas Schokoladenfabrik hörten, kannten wir schon dessen afro-amerikanische Version, Mr. Long. Er war wie ein Zauberer, mit weißem Haar, runzligen Gesichtszügen und lederartiger dunkler Haut, der in der nächsten Straße, der 22. Avenue, Süßigkeiten verkaufte. Sein Haus lag auf dem Weg zu unserer Grundschule am anderen Ende der Jackson Street.

Viele Kinder machten sich wie wir regelmäßig auf zu Mr. Longs Haus, weil sein jüngerer Bruder auf unsere Schule ging. Weil wir Timothy kannten, bekamen wir immer einen guten Preis; für zwei oder fünf Cent gab es eine kleine Papiertüte voller Lakritz, Karamellbänder, Zitronendrops oder Kaubonbons mit Bananengeschmack – Mr. Long hatte einfach alles, ordentlich auf einem Bettgestell im Vorderzimmer ausgelegt. Er sagte nicht viel und lächelte auch nicht, aber wir freuten uns trotzdem jedes Mal darauf, ihn morgens vor der Schule zu besuchen; wir zeigten auf das, was wir haben wollten, und er packte es in unsere Tüte. Michael war verrückt nach Süßigkeiten, und dieses morgendliche Ritual ließ den Tag immer gleich viel freundlicher erscheinen. Wie wir an das nötige Kleingeld dafür kamen, ist eine andere Geschichte, die ich später erzählen will.

Wir alle bewachten unsere Papiertüten mit den Süßigkeiten wie einen Goldschatz, und zu Hause, in unserem Zimmer, hatten wir alle unsere eigenen Verstecke, die natürlich die anderen Brüder aufspüren wollten. Ich bunkerte meine Sachen unter dem Bett oder unter der Matratze, und man kam mir immer auf die Schliche, aber Michael war wie ein Eichhörnchen und fand sehr clevere Verstecke, die nie einer von uns entdeckte. Wenn ich ihn später, als wir erwachsen waren, daran erinnerte, grinste er nur. So lachte Michael zeitlebens: eine Mischung aus Kichern, Glucksen und Grinsen, immer ein wenig schüchtern und meist auch ein bisschen verlegen. Michael spielte gern Einkaufsladen: Er bastelte sich einen Ladentisch, indem er ein Brett über ein paar aufgestapelte Bücher legte, darüber breitete er ein Tischtuch, und dann packte er seine Süßigkeiten aus. Der „Laden“ befand sich entweder in der Tür zu unserem Kinderzimmer oder auf dem untersten Etagenbett, und er kniete dann immer dahinter und wartete auf Kundschaft. Wir handelten und tauschten viel miteinander, dazu nahmen wir entweder das Wechselgeld, das wir von Mr. Long bekommen hatten, oder kleine Münzen, die wir auf der Straße gefunden hatten.

Aber Michael war zum Entertainer geboren, nicht zum gewieften Geschäftsmann. So viel wurde klar, als unser Vater ihn eines Tages fragte, wieso er so spät von der Schule nach Hause komme. „Wo warst du?“

„Ich habe Süßigkeiten gekauft“, antwortete Michael.

„Wie viel hast du dafür bezahlt?“

„Fünf Cent.“

„Und für wie viel willst du sie jetzt verkaufen?“

„Für fünf Cent.“

Joseph gab ihm einen harten Klaps auf den Hinterkopf. „Man verlangt doch nicht nur denselben Preis, den man selbst bezahlt hat!“

Das war typisch Michael: Immer viel zu fair, nie gerissen genug. „Wieso kann ich die Sachen nicht für fünf Cent weggeben?“, fragte er später im Kinderzimmer. Die Logik dahinter blieb ihm verschlossen, und der unverdiente Klaps hatte ihn verletzt. Ich ließ ihn auf dem Bett sitzen, wo er vor sich hin murmelte, während er seine Süßigkeiten sortierte und offenbar immer noch im Kopf Einkaufsladen spielte.

Ein paar Tage später erwischte ihn Joseph hinten im Garten, wo er anderen Kindern aus der Straße Süßigkeiten durch den Zaun reichte. Kindern, die es nicht so gut hatten wie wir. Natürlich war er umlagert. „Für wie viel hast du ihnen den Kram verkauft?“, fragte Joseph.

„Ich habe nichts verkauft. Ich habe es ihnen so gegeben.“

Knappe dreitausend Kilometer entfernt vom Ort unserer Kindheit besuchte ich Michael mehr als zwanzig Jahre später auf seiner Ranch, Neverland Valley, bei Santa Ynez in Kalifornien. Er hatte viel Zeit und Geld darauf verwandt, das riesige Grundstück in einen richtigen Freizeitpark zu verwandeln, und die Familie war nun eingeladen, sich die fertige Märchenwelt anzuschauen. Neverland wurde in den Medien stets als verrücktes Produkt einer überbordenden Phantasie beschrieben, das sich stark an Disneyworld orientierte. Teilweise mag das stimmen, aber die Wahrheit liegt wesentlich tiefer, und das erkannte ich sofort, als ich mit eigenen Augen sah, was er hier geschaffen hatte.

Es war eine Reise zurück in meine Kinderzeit: Weiße Weihnachtslichterketten säumten den Bürgersteig und die Pfade, beleuchteten die Bäume, das Dach und die Regenrinnen des im Tudorstil erbauten Hauses. Sie blieben das ganze Jahr über angeschaltet, damit es tatsächlich „jeden Tag Weihnachten“ war. Eine riesige Dampflok mit mehreren Wagen verkehrte zwischen den Läden und dem Kino, und ein ­Miniaturzug umrundete das ganze Anwesen und den Zoo. Wenn man im Haupthaus an der Tür am lebensgroßen Modell eines Butlers vorbeigekommen war, die breite Treppe nach oben nahm und dann einen langen Flur entlangging, kam man ins Spielzimmer. In diesem Raum, dessen Tür von lebensgroßen Superman- und Darth-Vader-Figuren bewacht wurde, befand sich ein enorm großer Tisch, auf dem eine alte Lionel-Eisenbahnlandschaft aufgebaut war. Zwei oder drei Züge drehten voll beleuchtet ihre Runden durch eine Miniaturwelt aus Hügeln, Tälern, Städten und Wasserfällen. Drinnen wie draußen hatte sich Michael die größten Spielzeugeisenbahnen gegönnt, die man sich vorstellen konnte.

Auf dem Außengelände hatte er eine professionelle Go-Kart-Bahn mit allen Schikanen und engen Kurven konstruieren lassen und ein hübsches Karussell mit prachtvoll ausstaffierten Pferdchen aufgestellt, die sich zur Musik drehten. Es gab einen Süßigkeiten-Laden, in dem die Leckereien nichts kosteten, und einen Weihnachtsbaum, der das ganze Jahr über geschmückt blieb. 2003 sagte Michael, er habe sich die Ranch so eingerichtet, um alles zu haben, was er als Kind nie besaß. Aber er baute sich auch die Sachen nach, die ihm kurzzeitig durchaus viel Spaß gemacht hatten, nun jedoch in einer viel größeren, überdimensionierten Version. Er selbst bezeichnete sich als „Phantasie-Fanatiker“, und Neverland war seine ewige Phantasie.

Neverland brachte uns die verlorenen Kindertage zurück, denn so stufte er seine frühen Jahre ein – als Verlust. Er, das ewige innere Kind, das durch seine Vergangenheit streifte und versuchte, sich irgendwie zukünftig mit seiner Vergangenheit zu versöhnen. Es war dabei nicht die Weigerung, erwachsen zu werden, denn wenn man ihn fragte, dann sagte er, dass er sich niemals wie ein kleiner Junge gefühlt habe. Von Michael war stets erwartet worden, dass er sich auch schon als Kind erwachsen verhielt, und daher verwandelte er sich in ein Kind, als er eigentlich ein Erwachsener hätte sein sollen. Er war eher Benjamin Button als Peter Pan, auch wenn er letzteren Vergleich selbst gern heranzog.

Während ich mich durchaus daran erinnere, dass wir in unserer Kindheit viel lachten, empfand er diese Zeit völlig anders, was höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen war, dass ich vier Jahre älter war als er.

Mit einem Freund und einem unserer Neffen nahm ich mir ein Quad, um die Ranch zu erkunden, die uns mit ihren über tausend Hektar Fläche riesig erschien. Grüne Hügel, mit Eichen bestanden, erstreckten sich bis weit in die Ferne. Eine staubige Schotterstraße führte uns abseits der bebauten Fläche auf ein Plateau, den höchsten Punkt des Geländes, der uns einen Rundumblick auf das ganze Anwesen bot. Meine Augen fingen alles ein – das Haus, den Freizeitpark, den See, das Riesenrad, die Züge, die Bepflanzung –, und Stolz und Ehrfurcht überwältigten mich. Sieh dir an, was du geschaffen hast, sagte ich zu meinem Bruder, erst im Geiste und dann, als ich zurück war, auch direkt.

„Einen Ort völligen Glücks“, erwiderte er.

Die verzerrte Darstellung von Neverland zeigt vor allem, dass Michael in den Medien nach dem äußeren Schein seiner Welt beurteilt wurde, und nach Hörensagen. Stets schien man ein grelles, oberflächliches Bild seiner Person und seiner Ranch zu zeichnen, ohne sich je die Mühe zu machen, nach dem komplexeren „Warum?“ zu fragen. Wie jeder andere Mensch war er durch seine Herkunft geprägt. Aber der Ruhm – und vor allem der Ikonenstatus, der meinem Bruder aufgedrückt wurde – errichte eine Barriere des öffentlichen Interesses um ihn und wirkte seinem Bedürfnis, verstanden zu werden, entgegen. Aber um ihn zu verstehen, müssen wir uns in ihn hineinversetzen und das Leben aus seinem Blickwinkel betrachten. Wie sagte Michael 2003 in einer Botschaft an seine Fans, die er von Ed Bradley von CBS übermitteln ließ: „Wenn man wirklich etwas über mich wissen will, dann sollte man sich einen meiner Songs anhören. Er heißt ‚Childhood‘ …“

Michael offenbarte in diesem Text, dass er sich durchaus bewusst war, ein erwachsener Mann mit der Wahrnehmung eines Kindes zu sein: „People say I’m strange that way because I love such elementary things … but have you seen my childhood?“ Damit wollte er sagen: So wurde ich geprägt. So bin ich.

Viele Menschen haben versucht, durch das Fenster unserer Kindheit zu spähen, hinter die Fassade der übermächtigen Pop-Ikone zu schauen und die Berichte verleumderischer Medien kritisch zu überprüfen. Aber ich habe das Gefühl, man muss es wirklich erlebt haben, um es zu begreifen und zu verstehen. Denn unsere Welt, wie wir in unserer großen Familie als Brüder und Schwestern unter einem Dach aufwuchsen, war einzigartig. Wir hatten ein kleines Haus in der Jackson Street – die nach dem Präsidenten Andrew Jackson benannt worden war, nicht nach uns –, und wir teilten Erinnerungen, Musik und einen Traum. Hier ist der Ausgangspunkt unserer Geschichten und seiner Texte, und hier, hoffe ich, kann man dem wahren Michael Jackson zumindest ein wenig auf die Spur kommen.