image

LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Franz Kafka

Der Proceß

Von Wilhelm Große

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Franz Kafka: Der Proceß. Stuttgart: Reclam, 1995 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 9676.) Sperrungen in Zitaten wurden durch Kursivschrift ersetzt.

Alle Rechte vorbehalten
© 2006, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Durchgesehene Ausgabe 2011
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene
Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960073-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015371-0

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Die Figuren

4. Werkaufbau, Raum, Zeit, Erzählperspektive

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Checkliste

9. Lektüretipps/Filmempfehlungen

1. Erstinformation zum Werk

Auch nach fast einem Jahrhundert geht noch immer eine ungebrochene Faszination von dem Werk, vielleicht auch von dem Menschen Kafka aus. Diesen Platz konnte sich sein Werk, das er selbst zum größten Teil am liebsten vernichtet gesehen hätte, erobern, weil er wohl zu jenen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts gehört, die eine noch immer vorhandene Bewusstseinslage ins literarische Bild setzten. Das Werk Kafkas wurde zur Signatur der Epoche und vielleicht des Jahrhunderts. Das (Mode-)Wort ›kafkaesk‹, das der Duden mit ›auf rätselvolle Weise unheimlich, bedrohlich‹ erklärt, galt als Verständigungsformel für eine Welt, »deren Zeichen Unbehaustheit, existentialistische Verlorenheit, Bürokratie und Folter, Entmenschlichung und Absurdität zu sein schienen« (Neumann, S. 185).

Welche Wirkung von Literatur ausgehen kann, fasst Kafka einmal in einem Brief an seinen Freund Oskar Pollak in die Worte:

»Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir uns zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns« (Briefe, 1902–1924, hrsg. von Max Brod, Frankfurt a. M. 21975, S. 27 f.).

Vor allem von Kafkas Romanen Der Proceß oder Das Schloß, aber auch von vielen seiner Erzählungen kann gesagt werden, dass sie in reinster Weise den Begriff ›kafkaesk‹ ins poetische Bild umsetzen, denn »der Leser ist verunsichert und reagiert vor diesen Texten mit dem Impuls, ihnen möglichst auszuweichen, aber zugleich auch mit dem Bewußtsein, dass man sich ihrer Provokation nicht entziehen sollte« (Rösch, S. 74).

Kafkas Romane und Erzählungen dürften zu jenen Büchern gehören, die auch heute noch »wie ein Unglück wirken, das uns schmerzt«. Von der Lektüre dieser Texte kann noch immer der erweckende ›Faustschlag auf den Schädel‹ des Lesers ausgehen.

Mit diesen Worten lässt sich durchaus auch heute noch die Wirkung einer Lektüre des Romans Der Proceß umschreiben. Er vermag uneingeschränkt und ungeachtet seiner Entstehung vor fast einem Jahrhundert und trotz – oder gerade wegen – seines fragmentarischen Charakters zutiefst zu verstören, kommt er doch provokativ und schockartig mit dem berühmt gewordenen Einleitungssatz daher: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet« (7).

Man sollte sich davor hüten, die Verstörung, die von dem Roman ausgeht, dadurch zu verflachen, dass man in der Romananalyse einen eindeutigen Sinn dieses Textes herauszupräparieren versucht. So ebnet man nur die provokativen Verunsicherungen, die von dem Text ausgehen, ein. Durch vorschnelle Sinnfixierungen wird die für den Roman typische Auflösung eines festen Sinns rückgängig gemacht und entproblematisiert. Genauso wenig wird man dem Roman allerdings gerecht, wenn man auf jede Deutung verzichtet oder ihn durch einen Deutungspluralismus völlig verharmlost und jeder interpretatorischen Willkür ausgeliefert sein lässt. Vielleicht können zwei Zitate aus dem Proceß helfen, der Interpretation einen Weg zu weisen. Dort heißt es:

»Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehn der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus« (200).

Und:

»Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber« (201).

2. Inhalt

Verhaftung

Am Morgen seines dreißigsten Geburtstages bringt die Köchin der Frau Grubach, bei der Josef K. zur Untermiete wohnt, nicht – wie an allen anderen Tagen – das Frühstück in K.s Zimmer. K., noch im Bett liegend, sieht von dort aus durch das Fenster eine alte Frau in der Wohnung gegenüber, die ihn neugierig beobachtet. Da die Köchin Anna nicht erscheint, läutet K. nach ihr, aber statt der Köchin erscheint ein von K. noch nie gesehener Mann in seinem Zimmer. K. richtet an ihn die Frage, wer er sei, der Mann beantwortet diese aber nicht, sondern fragt K. lediglich, ob er geläutet habe. K. bejaht und fordert, dass die Köchin ihm endlich das Frühstück bringen solle, woraufhin sich der Fremde an einen anderen Mann wendet, der sich im Vorderzimmer aufhält. K. will sein Zimmer verlassen, um nachzusehen, was für Leute sich in dem Nebenraum aufhalten und wie Frau Grubach die morgendliche Störung ihm gegenüber verantworten will. Er begibt sich in das Wohnzimmer der Frau Grubach und sieht dort einen Mann, der beim offenen Fenster mit einem Buch sitzt. Dieser fordert ihn auf, zurück in sein Zimmer zu gehen, und verwehrt ihm zunächst, mit Frau Grubach Kontakt aufzunehmen: »Sie dürfen nicht weggehn, Sie sind ja gefangen.« Mit diesen Worten begründet der Mann sein Verbot, kann aber auf K.’s Nachfrage, warum er gefangen sei, nur antworten: »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehn Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren« (8). Seinen anwesenden Kollegen bezeichnet der Mann, der, wie sich später herausstellt, Willem heißt, als »gegen alle Vorschrift freundlich« (9), und er meint, es sei geradezu ein Glücksfall für K., ihn und seinen Kollegen Franz als Wächter zugeordnet bekommen zu haben. Dann bittet er ihn, doch das Nachthemd, das K. immer noch trägt, gegen ein schlechteres Hemd einzutauschen. Dieses Hemd wie alle übrige Wäsche müssten sie aufbewahren und K. könne die konfiszierten Stücke, »wenn seine Sache günstig ausfallen sollte« (9), aus dem Depot auslösen. Sie weisen K. jedoch schon darauf hin, dass die Prozesse in »letzter Zeit« (ebd.) besonders lange dauerten. Es könne auch sein, dass die Sachen aus dem Depot heraus nach einer bestimmten Zeit verkauft würden. Dann erhalte man aber den Erlös, der jedoch gering ausfallen würde, da sich die ausgezahlte Summe nicht nach der Höhe des Angebots, sondern nach der Bestechungssumme richte. Auf diese Reden achtet K. nicht weiter, weil ihm mehr daran gelegen ist, Klarheit über seine Lage zu bekommen. Da er gewohnt ist, »alles möglichst leicht zu nehmen [und] das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben« (10), redet er sich zunächst ein, dass die Kollegen aus der Bank, bei der er angestellt ist, mit ihm anlässlich seines Geburtstages vielleicht einen großen Spaß trieben. »War es eine Komödie, so wollte er mitspielen« (10). Noch fühlt er sich frei und geht zwischen den Wächtern wieder in sein Zimmer, um dort seine Legitimationspapiere zu holen. Nach einigem Suchen findet er seinen Geburtsschein. Gerade in dem Augenblick, in dem er wieder in das Nebenzimmer zurückkommt, will dort Frau Grubach eintreten, die aber, nachdem sie K. erkannt hat, sofort wieder verschwindet. Die beiden Wächter sitzen bei dem Tischchen am offenen Fenster und verzehren K.’s Frühstück. Auf K.’s Frage hin, warum Frau Grubach nicht den Raum betreten habe, erhält er als Erklärung, er sei doch verhaftet. K.’s Nachfrage, wie er denn verhaftet sein könne und dies auf eine solche Weise, bleibt von den Wächtern unbeantwortet. Auch für die ihnen dargereichten Legitimationspapiere interessieren sich die beiden nicht und können ihrerseits K. den von ihm verlangten »Verhaftbefehl« nicht vorweisen. Die Wächter mahnen ihn aber, sie, die ihm wohl am nächsten stehenden Menschen, nicht »nutzlos zu reizen« (11), außerdem kennten sie sich als niedrige Angestellte mit solchen Papieren überhaupt nicht aus. Sie würden nur dafür bezahlt, Wache zu halten, und könnten über Legitimation und Verhaftbefehl nicht diskutieren. Sie wüssten aber von den höheren Behörden, dass diese, »ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des Verhafteten unterrichten« (11 f.): »Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird wie es im Gesetz heißt von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz« (12). K. behauptet, das Gesetz nicht zu kennen. Es bestehe wohl nur in den Köpfen der Wächter. Franz mokiert sich über K.’s Haltung: »Er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht und behauptet gleichzeitig schuldlos zu sein« (ebd.).

K. ist dieses Geschwätz »der niedrigsten Organe« überdrüssig und verlangt, dem Vorgesetzten vorgeführt zu werden. Die Wächter verweigern ihm dies, fordern ihn vielmehr auf, sich in sein Zimmer zu begeben, dort abzuwarten, was über ihn verfügt werde. All dies geschieht unter den Augen der neugierigen Frau aus dem gegenüberliegenden Haus, die nun auch noch einen viel älteren Greis, den sie fest umschlungen hält, ans Fenster gezerrt hat. Auf das Angebot der Wächter, K. ein Frühstück aus dem Kaffeehaus zu holen, geht dieser gar nicht ein. Er überlegt, ob er nicht einfach die Wohnung verlassen solle, zieht dann aber die »Sicherheit der Lösung« vor, wie sie »der natürliche Verlauf« bringen muss (13), und geht wieder zurück in sein Zimmer, wirft sich dort auf sein Bett, greift einen Apfel vom Nachttisch und verspeist ihn als sein Frühstück. Er überlegt, ob er in der Bank den wahren Grund seiner Verspätung aufdecken solle, Frau Grubach könne ihm als Zeugin dienen, wenn man ihm keinen Glauben schenken wolle. Er überlegt außerdem, warum die beiden Wächter ihn unbewacht ließen, ob sie nicht fürchteten, dass er Selbstmord begehe, aber sie sähen wohl auch die Sinnlosigkeit des Suizids. K. trinkt zwei Gläschen Schnaps als Ersatz für das Frühstück und um sich Mut anzutrinken. Er erschrickt, weil man ihm aus dem Nebenzimmer zuruft, der Aufseher bestelle ihn zu sich. Als er ins Nebenzimmer eilt, verweisen ihn die Wächter aber in sein Zimmer zurück und mahnen ihn, dem Aufseher nicht im Hemd gegenüberzutreten, sondern sich angemessen zu kleiden. K. wählt einen schwarzen Rock, in der Hoffnung, dadurch die Sache zu beschleunigen (15).

Der Aufseher empfängt K. in einem Zimmer, das Fräulein Bürstner, eine Schreibmaschinistin, bewohnt. Neben dem Aufseher, der an einem Nachttischchen sitzt, das als Verhandlungstisch mitten ins Zimmer gerückt worden ist, befinden sich noch weitere drei Personen in dem Raum, die sich Photographien Fräulein Bürstners anschauen. Bei den dreien handelt es sich um Angestellte derselben Bank, in der auch K. tätig ist. Er erkennt sie aber zunächst nicht als seine Kollegen Kullich, Kaminer und Rabensteiner. Der Aufseher fragt K., ob er nicht durch die Vorgänge am Morgen »sehr überrascht« (ebd.) sei. K. entgegnet ihm, dass er zwar überrascht, aber nicht sehr überrascht sei. Er glaubt sich mit dreißig Jahren gegen solche Überraschungen abgehärtet, wolle es aber auch nicht als Spaß auffassen. Sich an alle Personen im Zimmer wendend, fügt er dem noch hinzu: »Andererseits aber kann die Sache auch nicht viel Wichtigkeit haben. Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt bin, aber nicht die geringste Schuld auffinden kann wegen deren man mich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich, die Hauptfrage ist: von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? Sind Sie Beamte? […] In diesen Fragen verlange ich Klarheit« (16). Die erwünschte Klarheit erhält er allerdings nicht, denn der Aufseher antwortet ihm lediglich: »Sie befinden sich in einem großen Irrtum […]. Diese Herren hier und ich sind für Ihre Angelegenheit vollständig nebensächlich. […] Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen, daß Sie angeklagt sind oder vielmehr ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht. […] Und machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld, es stört den nicht gerade schlechten Eindruck, den Sie im übrigen machen« (17).

Aufgeregt durch das Auftreten des Aufsehers und durch dessen schulmäßige Belehrung, will K. mit dem ihm befreundeten Staatsanwalt Hasterer telefonieren. Der Aufseher würde es ihm gewähren, wenn es sich um eine private Angelegenheit handele, ansonsten frage er sich, welchen Sinn ein solches Telefonat haben könne. K. will daraufhin nicht mehr telefonieren und wendet sich mit einem schroffen ›Weg von dort‹ an die Zuschauer der Szene, die sich noch immer an dem gegenüberliegenden Fenster befinden. Weil die zwei Wächter sich inzwischen tatenlos auf einen Koffer gesetzt haben und auch die drei jungen Leute, die Hände in die Hüften gelegt, nur noch ziellos herumschauen, meint K., seine »Angelegenheit [dürfte] beendet sein« (18), und er bietet ihnen einen Händedruck zum Abschied an. Der Aufseher erhebt sich, verweigert aber den Einschlag in K.s zum Abschied ausgestreckte Hand und entfernt sich mit den Worten: »Wir sollten der Sache einen versöhnlichen Abschluß geben, meinten Sie? Nein, nein, das geht wirklich nicht. Womit ich andererseits durchaus nicht sagen will, daß Sie verzweifeln sollen. Nein, warum denn? Sie sind nur verhaftet, nichts weiter. Das hatte ich Ihnen mitzuteilen, habe es getan und habe auch gesehn, wie Sie es aufgenommen haben« (19).