Swiss Paradise

Ein autobiographischer Bericht

Rolf Lyssy

eBook-Version 1.0

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012 by rüffer&rub Sachbuchverlag, Zürich

Erstellt auf der Grundlage:

Zweite Auflage Hardcover Frühling 2001

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2001 by rüffer&rub Sachbuchverlag, Zürich

ISBN 978-3-907625-58-3

Für Elia, Michael, Dominique

und meine Freundinnen und Freunde

Vorwort

Rolf Lyssy hat ein berührendes und mutiges Buch geschrieben, das ich allen Leserinnen und Lesern ans Herz legen möchte. Er erzählt uns die Geschichte einer Depression, seiner Depression, und beschreibt ebenso genau wie unsentimental einen ihn überrumpelnden Bruch in der eigenen, eben noch so erfolgreichen und auch glücklichen Geschichte. Swiss Paradise ist der Bericht einer Reise ins Herz der eigenen Finsternis. Rolf Lyssy stürzte jäh in ein schwarzes, schier bodenloses Loch und entkam ihm ein halbes Jahr nicht mehr.

Die Depression ist eine alle Lebenskräfte so sehr lähmende Erkrankung, eine Art Tod bei lebendigem Leibe, daß sie in der Regel keine klare Beschreibung durch den Kranken erfahren kann. Hier ist das Seltene gelungen. Rolf Lyssy gesundet, hat die Kraft und den Mut, sich den vergangenen Horror nochmals zu vergegenwärtigen. Er beschreibt, mit beteiligter Nüchternheit, seine Symptome und die Versuche der Ärzte, ihn von diesen zu befreien. Es gelingt ihm, neugierig und wohl immer noch erschrocken, von einer Zeit zu sprechen, die nicht weit zurückliegt und in der er weder zu Schrecken noch Neugier fähig war.

Allein dies würde das Buch wertvoll und lesenswert machen. Es ist aber mehr als eine Kranken- und Gesundungsgeschichte, weit mehr. Vor allem enthält (und kommentiert) es einen autobiographischen Bericht der Mutter Rolf Lyssys, den dieser in ihrem Nachlaß fand. Wir lesen die vitale Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin mit russischen Wurzeln, die es in jungen Jahren in die Schweiz verschlug. Durch ihren Bericht gewinnt das Buch ein gewaltiges Stück Welthaltigkeit hinzu. Seine eigene Geschichte wird unversehens ein Teil der Zeitgeschichte und natürlich, in erster Linie, ein Teil der Geschichte der Juden in diesem für sie besonders unseligen vergangenen Jahrhundert. Die Geschichte der Mutter, voller Lebenskraft und mit Witz geschrieben, ruft ein weiteres Mal und dennoch in neuer Beleuchtung die Leiden der Juden in Deutschland (und anderswo) in Erinnerung. Der (affektive, nicht materielle) Reichtum ihrer weitverzweigten Familie wird wunderbar deutlich, auch deren Macken und Defizite. Ihr Sohn, sagt die Mutter, habe ihr das Leben gerettet: Ohne ihre Schwangerschaft und die Heirat mit Lyssys Vater im Jahre 1936 wäre sie nach Deutschland ausgewiesen worden und hätte wohl das Schicksal ihrer Familie erlitten, das in diesem Fall Minsk hieß und genauso den Tod bedeutete wie für andere Auschwitz oder Birkenau. Und so wird Rolf Lyssy für uns, während wir sein Buch lesen, mehr und mehr auch ein jüdischer Künstler, und wir erinnern uns mit aller Deutlichkeit, daß ihn immer wieder jüdische Themen bewegt haben: 1974 ein erstes Mal deutlich, als er in Konfrontation die Geschichte David Frankfurters erzählte, jene Rabbinersohns aus Kroatien, der 1936 den Landesgruppenleiter der NSDAP in Davos, Wilhelm Gustloff, erschossen hatte und dafür von einem Gericht in Chur zu achtzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Oder dann, vor wenigen Jahren erst, als er das einfühlsame Porträt seines Bruders drehte (Ein Trommler in der Wüste, 1991) und es unversehens zur Studie eines Lebens in Israel werden ließ.

Ja, Rolf Lyssy ist ein Filmemacher (sein bekanntester Film, ein regelrechter Knüller, ist Die Schweizermacher, 1978; Leo Sonnyboy, 1989, und vor allem Teddy Bär, 1983, mein Lieblingsfilm unter Lyssys Filmen, stehen diesem in nichts nach), und darum ist sein Buch auch eines über das Filmemachen. Das Filmemachen in der Schweiz. Der Auslöser seines Sturzes in den Abgrund war ja, Hand in Hand mit der Trennung von seiner Frau, das Scheitern eines Films. »Swiss Paradise« hätte er heißen sollen; nun hat das Buch seinen Titel geerbt. Daß, wie und warum »Swiss Paradise« scheiterte, ist eine spannende Ebene dieses Buchs. Hier, beim Thema Film, wird Rolf Lyssy durchaus polemisch und aggressiv, gottseidank. Auch wenn er – beinahe hätte ich gesagt: in gut protestantisch- zürcherischer Tradition – die Schuld auch bei sich sucht, so zeigt er doch, daß diese Schuld mindestens sosehr im Zustand der helvetischen Filmförderung liegt. Es ist in der Tat schwer nachzuvollziehen, wie es möglich war, daß die zuständigen Gremien immer erneut die Drehbücher zurückwiesen, die Lyssy ihnen vorlegte; auch wenn sie dann zusehen konnten, wie diese, dennoch realisiert, erfolgreich wurden. (Auch das Drehbuch der Schweizermacher war abgelehnt worden.) Ein Filmemacher in der Schweiz muß offenkundig sehr robust sein, und er muß Kränkungen noch besser aushalten können als andere Künstler in diesem Land, in dem viele auch in den Künsten das Pädagogische und den Konsens suchen. Rolf Lyssy ist ja denn auch nicht der einzige Filmemacher, der in und an der Schweiz schier verzweifelt. Kurt Gloor ist nur der, meines Wissens, letzte in einer langen Reihe von Filmkünstlern, die sich umbrachten oder sonstwie elend untergingen.

Es ist ein Jammer, daß »Swiss Paradise« nicht gedreht worden ist und wohl, weil inzwischen zu vieles geschehen ist, tatsächlich nicht mehr gedreht werden wird. »Swiss Paradise« hätte eine Art Schweizermacher zwanzig Jahre danach werden können, mit den gleichen Helden an einem anderen Ort, in einer veränderten Zeit. Rolf Lyssys Filme haben mir immer besonders gut gefallen, weil sie sehr genau ihren Ort und ihre Zeit definieren. Rolf Lyssy hat stets Ungenauigkeiten abgelehnt, nur weil dann ein größeres Publikum erreicht werden könnte. So sprechen die Menschen eben, wenn ein Film in der Schweiz spielt, ihren Dialekt, kein allgemein verbindliches Bühnendeutsch. »Swiss Paradise«, der zu einem guten Teil in den USA hätte spielen sollen, wäre also ein schweizerdeutsch- englischer Film geworden, in dem die Indianer – ein von Indianern betriebenes Spielkasino spielt eine Rolle – gewiß auch hie und da ihr eigenes Idiom gesprochen hätten. Rolf Lyssy hat nie nach dem größtmöglichen Vielfachen geschielt, und genau deshalb sind ihm einige Filme gelungen, die die große Menge sehr wohl erreicht haben.

C.G. Jung hat die Depression »eine Dame in Schwarz« genannt, die man nicht wegweisen solle. »Nein, die Depression ist keine Dame in Schwarz«, sagt dagegen Rolf Lyssy mit guten Gründen. »Sie ist vielmehr ein Krake, der plötzlich aus den Tiefen hervorsteigt, die Seele von Körper und Geist abkoppelt, alle Gefühlszugänge blockiert, sich mit seinen Fangarmen festsaugt, einen umschlingt und zu ersticken droht. Man schnappt hilflos nach Luft, zappelt, will reden, aber es geht nicht. Gelingt es einem, sich irgendwo festzuhalten, bevor man von diesem Monster in die Tiefe gezogen wird, dann besteht Hoffnung auf Rettung. Mir war es in der Tat gelungen, mich festzuhalten, obwohl ich nicht sagen könnte, wie und wo. Vielleicht hatte ich einfach nur unfaßbares, unbeschreibliches Glück gehabt.«

Urs Widmer

1

Ich hätte mich ohrfeigen können. Freiwillig war ich in die Klinik eingetreten, auf Anraten meines Psychiaters Dr. K. Zuvor hatten wir es drei Monate lang mit ambulanter Gesprächstherapie und Psychopharmaka versucht. Vergeblich.

Am Donnerstag hatte sich mein Zustand massiv verschlechtert: Die Angst und das zwanghafte Grübeln waren kaum mehr zu ertragen. Ich tigerte in der Wohnung herum, schlug zwischendurch immer wieder verzweifelt den Kopf an einen Türrahmen, um das wahnsinnige Rotieren der wirren, unkontrollierten Gedanken zu stoppen. Ich machte das täglich, schon seit Wochen. Ein Wunder, daß mein Schädel noch keinen Schaden genommen hatte. Mir graute vor den bevorstehenden Pfingstfeiertagen: leere Tage, Alleinseinstage.

In einem Anflug von Klarheit beschloß ich, mich selbst einzuliefern, in die Klinik, die ich zwei Wochen vorher schon einmal vorsorglich begutachtet hatte. Wenn schon Klinik, dann wollte ich zuerst sehen, was mich erwarten würde. Die wohlgemeinten Ratschläge meiner Freunde hatten mich zusätzlich verunsichert. Die einen plädierten für einen sofortigen Klinikaufenthalt, andere sprachen sich mit Vehemenz dagegen aus. Einmal der Klinikpsychiatrie ausgeliefert, würde ich für immer stigmatisiert sein, sagten die einen. Und die anderen gaben mir zu bedenken, daß nur geschultes Fachpersonal mir helfen konnte. Ich fühlte mich nach wie vor nicht krank. Ich hatte ein Arbeitsproblem, aber ich war nicht krank. Oder doch? Seit beinahe drei Monaten quälte ich mich durch die Tage. Ich konnte die Klinikfrage nicht länger hinausschieben und ich wußte, niemand würde mir einen Entscheid abnehmen, auch wenn ich mir das noch so wünschte. Ich fühlte mich wie das Kind in Brechts Kaukasischem Kreidekreis, das von den zwei Müttern beinahe auseinandergerissen wird. Was mir aber, so absurd es klingen mag, am meisten zu schaffen machte, waren tonnenschwere Schuldgefühle gegenüber meinen Freunden. Mich für oder gegen einen Klinikaufenthalt zu entscheiden, empfand ich den einen oder den anderen gegenüber als unloyal. Dies alleine zeigte schon, wie sich mein Gefühlshaushalt völlig jenseits eines normalen Empfindens bewegte. Aber wie immer ich mich entscheiden würde, ohne mir selber ein Bild von der Situation in der Klinik gemacht zu haben, glaubte ich nicht fähig zu sein, überhaupt zu einem Schluß zu kommen. Und so hatte mich Oberarzt Dr. B., von Dr. K. über meinen Zustand informiert, durch die Station geführt, mir die Zimmer und Aufenthaltsräume gezeigt und mit ernster Miene zu verstehen gegeben, daß ich unter einer sehr schweren Depression litt. Er empfehle mir, so rasch als möglich in die Klinik einzutreten. Ich wunderte mich. Wie konnte er wissen, daß ich eine schwere Depression hatte? Ich wußte, daß ihn mein Arzt über meinen Zustand aufgeklärt hatte, aber er hatte doch kaum mit mir gesprochen. Sah man mir das an? Sah er in mich hinein? War er wirklich der kompetente Seelenarzt, den man mir empfohlen hatte? Vielleicht würde er mir helfen können. Seinem Mienenspiel war deutlich anzusehen, wie ungern er mich wieder gehen ließ. Doch prompt machten sich erneut Widerstände in mir bemerkbar. Was würde er mit mir alles anstellen? Ich war ja schon lange nicht mehr in der Lage zu argumentieren. Ich wußte, ich konnte seinem Willen und seiner Erfahrung nichts entgegensetzen. Ich würde ihm ausgeliefert sein, und meine Widerstände verwandelten sich in Angst. Ich verabschiedete mich von Dr. B. und versprach ihm, daß ich mit Dr. K. über einen möglichen Klinikaufenthalt nochmals reden würde. In meinem Innern aber dachte ich, daß es unter keinen Umständen in Frage kam. Jetzt nicht und auch später nicht. Nie. Nicht für mich.