KARL MAY’s

GESAMMELTE WERKE

BAND 75

 

 

SKLAVEN DER

SCHANDE

Abgeschlossene Episode aus

Der verlorene Sohn

 

 

ROMAN

VON

KARL MAY

 

 

 

Herausgegeben von Lothar Schmid

© 1993 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1575-8

 

 

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

 

Inhalt

 

Geleitwort

Vorwort zur zweiten Auflage

1. Eine Ballettkönigin

2. Die Amerikanerin

3. Medea und Psyche

4. Doktor Holm

5. „Papa Werner“

6. Minen und Gegenminen

7. Eine Tau-ma

8. In der Falle

9. Spurensuche

10. Der Jongleur Zwiebel

11. Ein Rendezvous

12. Überlistet

13. Befreit!

Nachwort


 

Der vorliegende Roman spielt in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts und ist ein in sich abgeschlossener Teil des von Karl May in den Jahren 1884/1885 geschriebenen dritten Münchmeyer-Romans „Der verlorene Sohn“ (Bde. 64, 65, 74, 75 und 76 der Ges. Werke). Über die Entstehungsgeschichte, den Werdegang und die Geschicke der fünf Münchmeyer-Romane findet man Näheres in Bd. 34 der Ges. Werke „ICH“ und in den Sonderbänden „Karl-May-Bibliografie 1913-1945“ und „Der geschliffene Diamant“.

Geleitwort

 

Ein Wagnis? Der Karl-May-Verlag bringt zum ersten Mal in seinem 80-jährigen Bestehen einen jener berüchtigten Münchmeyer-Texte ausnahmsweise in nicht neu bearbeiteter Form heraus, die bisher in den Gesammelten Werken unveröffentlicht geblieben sind. May selbst hatte sich über die von fremder Hand stammenden, mitunter pikanten Änderungen empört, war aber nicht in der Lage, detaillierte Nachweise zu erbringen, weil die Originalmanuskripte verloren gegangen waren. Er obsiegte vor Gericht, ohne letzte Zweifel ganz ausräumen zu können. Übrig sind nur Mutmaßungen geblieben, wo Münchmeyer und seine Helfer eingegriffen haben mochten. Ein Fall für die Wissenschaft.

Heute ist die Optik des Lesers eine ganz andere als um die Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert. Karl May, damals fälschlich als Schmutz- und Schundliterat verteufelt, ist längst rehabilitiert und mit gutem Grund meistgelesener Autor deutscher Sprache geworden. Das Lesevergnügen hat in vielen Bänden durch sorgfältige Bearbeitung eine Steigerung erfahren; aber Münchmeyers Machwerke amüsieren zum Teil noch immer, ohne dass Mays Ansehen dadurch zu leiden hätte.

Wer sich einige Tage Spannung und Entspannung durch Mays Erzählkünste gönnen möchte, dem sei nicht nur der Besitz, sondern auch die Lektüre des Bandes 75 Sklaven der Schande empfohlen, eines in sich abgeschlossenen Teiles aus dem Riesenroman Der verlorene Sohn. Die Weitschweifigkeit der Kolportage, die Zeilenschinderei, gestelzte Dialoge und Widersprüche in der Handlungsführung tauchen hier weit weniger auf oder sind erträglicher als in jenen Passagen anderer Titel, deren Autorschaft Karl May mit Nachdruck bestritten hat und die er aus dem Buchhandel entfernt wissen wollte. In diesem Zusammenhang sei auf das Geleitwort zu Band 74 verwiesen.

In den Fußnoten und am Schluss gewähren Erläuterungen von Prof. Dr. Christoph F. Lorenz, tatkräftig unterstützt von Ekkehard Bartsch und Walther Ilmer, wieder tiefen Einblick in die biografischen und historischen Zusammenhänge, die mit dem Werk verknüpft sind.

 

Lothar Schmid

 

 

 

Vorwort zur zweiten Auflage

 

Es hat sich gezeigt, dass die im Geleitwort zur ersten Auflage gestellte Frage, ob es gewagt sei, einen Münchmeyer-Text unbearbeitet herauszugeben, durchaus begründet war. Der Band hat Erfolg, fand jedoch geteilte Aufnahme; neben Zustimmung wurde auch harsche Kritik laut. Das vielstimmige Für und Wider, das uns aus den Kreisen der Karl-May-Leser und der Presse erreichte, ist ein Indiz dafür, dass sich das Wagnis gelohnt hat. Einerseits gab es Lob für das Unterfangen, einen solchen Roman einmal in der Form seines ersten Erscheinens zu bringen. Eingeschworene Liebhaber betonten, dass in der von May selbst verstoßenen Altfassung detaillierte Milieuschilderungen und das Zeitkolorit des wilhelminischen Deutschland besonders wirkungsvoll zu Tage träten. Aber auch entgegengesetzte Töne wurden angeschlagen: Der Leser von heute könne an derartiger Kolportage des 19. Jahrhunderts unmöglich Gefallen finden. Einige verurteilten die fragliche Textgestalt – wie vor 100 Jahren – sogar als „Schund“. Betonten manche die literarhistorische Bedeutung des Bandes, so sprachen ihm andere eine solche rundheraus ab. Eben durch die widersprüchliche Resonanz wird der Wert des Versuchs deutlich. An diesem Beispiel lassen sich nun die Unterschiede zwischen Rohfassung und Feinschliff studieren und der Sinn vorsichtiger und einfühlsamer Bearbeitung erkennen, von der bei den Sklaven der Schande ausnahmsweise abgesehen wurde.

 

Lothar Schmid

 

 

 

1. Eine Ballettkönigin

 

Der Chefredakteur des Residenzblattes saß an seinem Tisch. Er schien nicht sehr beschäftigt zu sein, denn er schnitt gedankenvoll oder vielmehr gedankenlos Splitter aus seinem neuen Lineal. Da trat der Redaktionsdiener ein.

„Was schon wieder?“, fuhr sein Herr auf.

„Etwas Feines!“, erwiderte das kleine, bewegliche Männchen.

„Wirklich?“

„Piekfein sogar!“

„Wer?“

„Mademoiselle Leda.“

Bei dem Klang dieses Namens sprang der Redakteur von seinem Stuhl auf.

„Mademoiselle Leda! Die Tänzerin? Sapperment! Sehen Sie mich einmal an! Ist meine Toilette in Ordnung?“

Der Kleine beliebäugelte seinen hohen Gebieter vom Kopf bis zu den Füßen herab und antwortete:

„Unübertrefflich, Herr Doktor.“

„So lass die Dame eintreten!“

Er stellte sich in Positur und erwartete die Tänzerin, welche im nächsten Augenblick eintrat und sich mit fast unnachahmlicher Grazie vor ihm verbeugte.

Sein Kennerauge musterte ihre Gestalt, was sie ruhig mit lächelndem Mund aushielt.

Dann ertönte eine gedämpfte, einschmeichelnde Stimme:

„Nun, gefalle ich Ihnen, Herr Doktor?“

Er war fast frappiert über diese Frage einer Dame, welche er zum ersten Mal erblickte, antwortete aber sehr schnell:

„Sie sind kostbar, Mademoiselle!“

Sie hatte draußen den Pelz abgelegt und stand vor ihm in tief ausgeschnittener Seide, welche auch den ganzen vollen, üppigen Arm sehen ließ.

„Das freut mich, weil wir doch Freunde werden müssen!“, gestand sie.

Er lächelte ihr schalkhaft überlegen zu und fragte:

„Ist das so gewiss, dass wir Freunde sein werden?“

„Ja, denn ich werde mir alle mögliche Mühe geben, Sie für mich zu gewinnen.“

„Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen!“

„Also wünschen Sie mir Erfolg?“

„So viel Sie wollen. Kommen Sie, setzen Sie sich!“

Er wünschte auch sich Erfolg. Darum zog er sie neben sich auf das Sofa nieder und ergriff ihre Hand. Er sagte sich, diese Tänzerin sei zwar noch recht schön, aber nicht mehr ganz jung. Sie neigte bereits zu einer Korpulenz, welche ihrer Kunst nicht vorteilhaft sein konnte.

Sie ließ, als er ihre Hand an seine Lippen zog, einen tiefen Seufzer hören; dann sagte sie:

„Herr Doktor, wissen Sie, was es heißt, fremd im fremden Land zu sein?“

„Oh, sehr, sehr gut!“

„So geht es mir. Ich soll hier gastieren, ich soll mit einer Rivalin auftreten; eine von uns beiden soll dann die hiesige Vakanz ausfüllen. Ich bin in meiner Kunst zu Hause; aber hier bin ich fremd. Ich bedarf der Stütze, der Führung – und – Sie sind natürlich der Erste, dem ich mich vorstelle.“

Sie spielte ein meisterhaftes Erröten und senkte den Blick verschämt zur Erde.

„Mademoiselle, Sie bedürfen der Führung und kommen zu mir. Das heißt – nun, was heißt das?“

„Dass ich mich Ihnen anvertrauen möchte. Sie sind die bedeutendste literarische und journalistische Kraft des Landes; wen Sie halten, der steht, und wen Sie fallen lassen, der erhebt sich nicht wieder. Ich möchte Ihre Freundin werden!“

Er fühlte sich hingerissen, wenigstens für den Moment. Er antwortete nicht sogleich, darum fügte sie nach einer Pause, die Augen schmachtend aufschlagend hinzu:

„Könnten Sie mich fallen lassen?“

„Wünschen Sie denn, dass ich Sie halte?“

Seine Augen begannen begierig zu funkeln.

„Von ganzem Herzen!“

„Nur in meinen Rezensionen oder auch so?“

Er legte ihr den Arm um die Taille.

„Auch so, auf alle mögliche Art und Weise.“

„Dann werde ich Sie allerdings nicht fallen lassen, denn Sie sind ein Engel!“

Er drückte sie fest an sich und wagte es, seinen Mund auf ihre Lippen zu legen, und sie duldete es lange, lange Zeit. Es begann ein leises, leises Kosen und Flüstern. Dann erhob sie sich.

„Also ich darf mich auf Sie verlassen?“

„Vollständig!“

„Und die andere?“

„Wird durchfallen.“

„Denken Sie, übermorgen bereits! Aber ich werde siegen, denn ich bin Ihrer Hilfe gewiss. Werden Sie mich oft besuchen, wenn ich mich hier eingerichtet habe?“

„Zweifeln Sie, süße Leda?“

„Nein, dies ist mein Trost, da ich Sie jetzt so bald verlassen muss. Adieu, Herr Doktor!“

„Adieu!“

Er umarmte und küsste sie nochmals; dann ging sie. Er nickte leise vor sich hin.

„Eine überreife Erscheinung, welche im ersten Augenblick blendet und erhitzt, dann aber mehr und mehr erkältet. Hm! Bin doch neugierig, was für ein Wesen ihre Rivalin ist. Sie wird sich mir jedenfalls vorstellen.“

Um Redaktionsschluss verließ er sein Büro. Indem er durch das Parterre des Gebäudes schritt, in welchem sich die Expeditionen[1] für Annahme der Annoncen befanden, bemerkte er eine Dame, welche im Begriff stand, wegen einer solchen mit dem Expedienten zu verhandeln. Sein Auge blieb an der herrlichen Gestalt haften, welche in ein einfaches Gewand gekleidet war. Er hörte den tiefen, sonoren Klang ihrer Stimme und den reizenden Akzent ihres fremden Dialektes[2]. Sie war schön, doch nicht zu voll gebaut und besaß ein Füßchen und ein Händchen von bewundernswerter Niedlichkeit.

Jetzt drehte sie sich um. Er erblickte ein Gesicht von meisterhaftem Schnitt und eine Büste, die eine Lais[3] beschämt haben würde.

Es brannte in seinem Innern. Wer war dieses herrliche, göttliche Wesen?

Er war an eine der ausgehängten Beilagen getreten, scheinbar, um diese zu lesen, in Wirklichkeit aber, um das entzückende Bild unbeobachteter in sich aufnehmen zu können. Da ging sie. Schon war sie unter der Tür. Da mochte ihr noch etwas einfallen. Sie wollte zu dem Expedienten zurück, aber da erblickte sie ihn und blieb vor ihm stehen, um ihn mit ihrer Glockenstimme zu fragen:

„Verzeihung, mein Herr! Gehören Sie vielleicht zum Personal dieser Zeitung?“

„Ja, mein Fräulein.“

„Wo befindet sich die Redaktion?“

„Eine Treppe hoch.“

„Zu welchen Zeiten ist der Herr Chefredakteur zu sprechen?“

„Für Sie zu jeder Zeit!“

Sie wollte zornig erröten, doch brachte sie es nur zu einem verächtlichen Achselzucken. Dann sagte sie:

„Ich meine, ob dieser Herr jetzt zu sprechen sei?“

„Ja, sogleich!“

„Danke!“

Sie schritt zur Treppe, stieg dieselbe empor und erblickte das Schild an der betreffenden Tür. Nach leichtem Anklopfen trat sie in das kleine Vorzimmer. Dort war der kleine Redaktionsdiener noch anwesend.

„Der Herr Chefredakteur?“, fragte sie.

„Ist bereits fort“, antwortete er, sie mit seinen kleinen, lüsternen Augen fast verschlingend.

„Man sagte mir ganz bestimmt, dass er noch zu sprechen sei.“

„Wer sagte das?“

„Ein Herr mit goldener Brille, grauem Anzug und breitem, schwarzem Filzhut.“

Der Diener erkannte seinen Herrn. Er kannte ihn auch als enthusiastischen Bewunderer weiblicher Schönheit und ahnte, was geschehen sei.

„Wirklich?“, fragte er. „So werde ich den Herrn Doktor sofort benachrichtigen. Bitte, treten Sie indessen hier ein, gnädiges Fräulein!“

„Geben Sie ihm diese Karte!“

Sie trat in das Redaktionszimmer und der Diener suchte, mit der Karte in der Hand, seinen Herrn. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn dieser trat ihm schon unter der Tür entgegen.

„Donnerwetter, Herr Doktor, ist die aber fein! So habe ich noch keine gesehen!“

„Halte das Maul! Die Karte!“

Auf derselben stand der Name Ellen Starton.

„Alle Teufel!“, jubelte der Chef halblaut. „Die andere Tänzerin! Diese ist die Sonne, jene aber der Irrwisch. Diese die Rose und jene die Fackeldistel! Schnell hinein zu ihr!“

Er nahm den Hut ab, trat ein und verbeugte sich. Sie stand vom Sessel auf, auf welchem sie Platz genommen hatte, und sagte, ohne seinen Gruß zu erwidern:

„Ich fragte nach dem Herrn Redakteur.“

„Ich bin es selbst, Miss Ellen!“

Jetzt trat die vorhin zurückgehaltene Röte ihres Gesichtes zornig hervor.

„Mein Herr“, sagte sie, „man pflegt fremde Damen nur dann beim Vornamen zu nennen, wenn diese Damen noch in die Schule gehen!“

Er erbleichte. Er war zu weit gegangen, aber so etwas war ihm auch noch nicht gesagt worden.

„Mein Fräulein!“, brauste er auf.

„Mein Herr“, antwortete sie unter einer tiefen, glanzvollen, ironischen Verbeugung, „wir kennen uns nun. Ich kann gehen!“

Und ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen, verließ sie das Zimmer.

Am anderen Morgen war im redaktionellen Teil seines Blatts unter der Rubrik „Theater“ Folgendes zu lesen:

„Nachdem die unvergleichbare Diva unseres Balletcorps durch ihre Vermählung mit einem fürstlichen Prinzen ihren Bewunderern entzogen wurde, hat die Intendanz zur Ausfüllung der schmerzlich empfundenen Vakanz zwei Damen in Konkurrenz genommen, welche man gewohnt war, zu den ersten Sternen zu zählen. Diese Schätzung ist, was Mademoiselle Leda anbetrifft, in jeder Beziehung richtig. Ein einziges Wort über ihre für alle Zeit unerreichbaren Leistungen zu sagen, wäre ein Verbrechen an der Kunst. Die andere Tänzerin jedoch – einem on dit zu Folge soll sie Ellen Starton heißen oder so ähnlich – wird wohl selbst kaum wissen, wie sie zu der für sie geradezu unfassbaren Ehre kommt, für unsere Bühne, und zwar gegen Mademoiselle Leda in Wahl zu treten.

Man weiß nicht, was man sagen soll. Diese sogenannte Starton ist nirgends aufgetreten als auf einigen obskuren Wanderbühnen des nordamerikanischen Hinterwaldes, wo sie von Indianern ausgepfiffen wurde. Einmal will man sie in Missouri und vielleicht zweimal in Ohio gesehen haben.

Bei diesen Gelegenheiten soll sie einige Bewegungen ausgeführt haben, welche sie Tanz genannt hat, die aber leider denjenigen Evolutionen[4], welche eine Bauernmagd beim Butterfass macht, sehr genau geglichen haben sollen.

Es scheint also, dass Mademoiselle Leda diese Rivalin nicht sehr zu fürchten haben wird.

Im Interesse des Rufes unserer Bühne aber ließe sich jedenfalls wünschen, für die Stelle einer Diva nicht Personen aufzustellen, welche, selbst wenn man die Höflichkeit auf die Spitze treiben will, doch nur Dilettantinnen genannt werden können. Hier aber scheint nicht einmal von einem Dilettantismus die Rede sein zu dürfen. –“

Zur frühesten Zeit, in welcher der Chefredakteur überhaupt zu sprechen war, wurde ihm Mademoiselle Leda gemeldet. Sofort nach ihrem Eintritt flog sie auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und sagte im Ton der Begeisterung:

„Vortrefflich! Sogar unübertrefflich! Das haben Sie ganz unvergleichbar zu Stande gebracht. Dafür muss ich Sie augenblicklich belohnen, mein lieber, mein liebster, mein allerliebster Herr Doktor!“

Sie ließ seine Hände den ihrigen entgleiten, legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. Er ließ sich diese Liebkosung gefallen, machte ein etwas überraschtes Gesicht, schüttelte den Kopf und fragte:

„Vortrefflich soll ich es gemacht haben? Sogar unübertrefflich? Was denn?“

„Nun, Ihre Kritik über die Starton.“

„Ach so! Nun, ich habe da jedenfalls die Wahrheit gesagt. Geistreich braucht man da nicht zu sein. Jedenfalls ist aber nicht das mindeste Verdienst meinerseits dabei.“

„Die Wahrheit?“, sagte sie, ihn verständnisinnig anlächelnd. „Sollten Sie wirklich falsch unterrichtet sein?“

„Wieso?“

„Kommen Sie auf das Sofa!“

Sie zog ihn neben sich auf den weichen Sitz. Er legte den Arm um ihre üppige Gestalt und fragte:

„Also warum denken Sie, dass ich falsch unterrichtet bin?“

„Die Starton ist eine ausgezeichnete Tänzerin.“

„Ich bin stets gut informiert!“

„Aber dann müssten Sie doch auch wissen, dass sie –“

„Dass sie ausgezeichnet tanzt? Ja, das weiß ich allerdings.“

„Man sagt, sie tanze weniger des Erwerbes wegen, als weil sie geradezu von ihrem Genie zu dieser Kunst getrieben wird.“

„Ich hörte davon.“

„Sie soll sehr reich sein, sodass sie also dieser Kunst eigentlich gar nicht bedarf.“

„Auch das weiß ich.“

„Aber, Herr Doktor –!“

„Was denn? Sie machen ja ein ganz verwundertes Gesicht!“

„Nun, wie können Sie, da Sie das alles wissen, heute diesen Artikel in Ihrem Blatt bringen?“

„Das erraten Sie nicht?“

„Nein.“

„Ich brachte ihn Ihnen zuliebe.“

„Wirklich? Wirklich?“

„Ganz gewiss!“

„Dann bin ich Ihnen allerdings den größten Dank schuldig, den es nur geben kann!“

„Darf ich mir diesen Dank nehmen?“

„Ich wüsste nicht, woher?“

„Oh, von Ihren schönen, süßen Lippen. Kommen Sie!“

Er zog sie an sich und küsste sie wiederholt auf den Mund. Sie gab sich dieser Zärtlichkeit für einige Augenblicke hin; dann entwand sie sich ihm, drohte ihm mit dem Finger und sagte:

„Herr Doktor, Sie bringen mich in Verlegenheit!“

„Das bezweifle ich!“

„O gewiss!“

„Den Grund möchte ich wissen.“

„Sie sind – verheiratet!“

„Ich? Ah, Sie haben nach mir gefragt?“

„Nein.“

„Wie können Sie da behaupten, dass ich verheiratet bin?“

„Ich vermute es.“

„Ach so! Wäre das ein Unglück?“

„Ein Unglück nun wohl nicht. Aber ich muss mich vor Ihnen in Acht nehmen!“

„Warum?“

„Sie werden mir gefährlich.“

Bei diesen Worten rückte sie von ihm ab.

„O weh!“, lachte er. „Ich Ihnen gefährlich! Ich bin kein Jüngling, und ein Adonis war ich auch niemals, selbst während meiner Jugendzeit nicht.“

„Dann wissen Sie wohl nicht, dass der Geist einer gebildeten Dame mehr imponiert als die Gestalt?“

„Das soll wohl heißen, Sie halten mich für geistreich?“

„Natürlich!“

„Sie kleine, liebe Lügnerin! Kommen Sie her. Das muss unbedingt mit einem Kuss bestraft werden!“

Er streckte die Hände nach ihr aus. Sie aber wehrte ihn ab und sagte zurückhaltend:

„Nein, nicht mehr küssen! Sie dürfen Ihre Pflichten Ihrer Frau gegenüber nicht verletzen!“

„Bah! Ich dachte nicht, dass Sie so penibel sind.“

„Oh, auch eine Tänzerin hat ein Gewissen!“

„Aber ein sehr nachsichtiges!“

„Sie irren. Ist Ihre Frau jung?“

„Nein.“

„Schön?“

„Noch weniger.“

„Aber liebenswürdig?“

„Das am allerwenigsten!“

„Dann bedaure ich Sie und entschuldige Sie zu gleicher Zeit.“

„Herzlichen Dank! Wenn Sie mich entschuldigen, darf ich wohl hoffen, dass Sie mir ein liebebedürftiges Herz zutrauen?“

„Warum nicht?“

„Nun, Liebe will Erhörung finden. Soll ich mich umsonst nach einem Kuss von Ihnen sehnen?“

„Nein. Hier ist meine Hand!“

„Ein Handkuss? Hm! Mit dem nimmt nur ein Kutscher fürlieb, der froh ist, wenn er zum Neujahr seiner Gnädigen den Handschuh küssen darf.“

„Nun gut. Also hier!“

„Die Wange? Sie sind eine allerliebste Schelmin. Ich muss Sie wirklich für diese Ironie bestrafen.“

Er zog sie an sich; sie ließ es geschehen. Sie wechselten Kuss um Kuss, bis sie es doch für genug hielt.

„Also Sie haben mir zuliebe den heutigen Artikel verfasst“, begann sie von Neuem. „Sie schwören also auf meine Fahne?“

„Mit Leib und Seele!“

„Werden Sie derselben auch treu bleiben?“

„Bis an mein Ende!“

„Nun, so leisten Sie mir jetzt den Fahneneid! Sagen Sie mir also wörtlich nach: Ich schwöre –“

„Ich schwöre –“

„Bei meiner Ehre –“

„Bei meiner Ehre –“

„Dass ich dich für meine Gottheit erkläre und –“

„Dass ich dich für einen kleinen Satan erkläre, dem ich mich aber doch verschreibe mit Haut und Haar.“

„Falsch! Aber, lassen wir es auch in dieser Façon gelten! Wir sind also treue Verbündete und können Kriegsrat halten.“

„Kriegsrat? Worüber?“

„Nun, Sie ahnen doch, dass wir uns bereits in nächster Zeit auf dem Kriegspfad befinden werden!“

„Nein. Ich gestehe, dass ich keine Ahnung habe!“

„Wirklich nicht? Und doch lässt es sich so sehr leicht denken, dass diese Amerikanerin Ellen Starton das Kriegsbeil und das Bowiemesser ausgraben wird, um sich für Ihre heutige Veröffentlichung zu rächen.“

„Na, sie wird mich nicht sogleich skalpieren!“

„Das nicht, aber sie wird eine öffentliche Entgegnung loslassen. Das ist sicher.“

„Da wäre sie dumm. Wir Journalisten sind es, welche die öffentliche Meinung fabrizieren. Wer sich mit uns verfeindet, der ist abgetan.“

„Ja, Sie sind die Herren der geistigen Welt! Aber, im Vertrauen, mein lieber Doktor – hat die Amerikanerin sich Ihnen vorgestellt?“

„Nein.“

„Wirklich nicht? Wirklich?“

„Nein, sage ich Ihnen!“

„Hm! Ich dachte –“

„Was dachten Sie?“

„Ich will Ihnen aufrichtig gestehen, dass ich Sie in einem gewissen Verdacht hatte.“

„Darf ich mich nach der Natur und nach dem Grund dieses Verdachts erkundigen, meine schöne Misstrauische?“

„Gewiss! Man sagt, die Ellen Starton sei außerordentlich tugendhaft.“

„Wohl nur zum Schein!“

„O nein. Diese Tugendstrenge soll ihre eigentliche Natur sein.“

„Ich glaube nicht daran. Prüderie ist noch nicht Tugend.“

Das mag sein. Ferner soll diese Amerikanerin von einer wahrhaft bezaubernden, hinreißenden Schönheit sein.“

„Geht mich nichts an!“

„Wirklich? Ich dachte, sie hätte sich Ihnen vorgestellt; Sie wären von ihrer Schönheit hingerissen, von ihr aber –“

„Was?“

„Von ihr aber abgeblitzt worden.“

„Sapperment, haben Sie Fantasie!“

„Nun, ich dachte es mir so und daraus erklärte ich mir die Schärfe Ihres heutigen Artikels.“

„Freilich eine sehr unbegründete Vermutung!“

„Wirklich?“

„Ich kann es beschwören.“

„Dass sie nicht bei Ihnen gewesen ist?“

„Ja.“

„Dann begreife ich dieses unvorsichtige Frauenzimmer nicht. Sie mussten doch der Erste sein, dem gegenüber sie sich aufmerksam zeigte.“

„Bah, was liegt mir an ihr! Aber wissen Sie, dass Sie mich mit Ihrem Verdacht beleidigt haben?“

„Das tut mir leid. Verzeihung also!“

„Ich verzeihe nur nach vorhergegangener Sühne.“

„Welche Sühne verlangen Sie?“

„Zehn Küsse!“

„Hier sind sie!“

Sie umarmten sich. Gerade als sie ihre Küsse am innigsten austauschten, wurde die Tür geöffnet und der kleine Redaktionsdiener trat herein.

„Wetter noch einmal! Entschuldigung!“, sagte er erschrocken, indem er sich eiligst zurückziehen wollte.

Aber seinem listigen und jetzt befriedigten Gesichtsausdruck nach, war sehr leicht zu vermuten, dass dieser Überfall mit vollem Vorbedacht unternommen worden sei.

Der Chefredakteur war ganz schnell, aber doch zu spät aufgesprungen. Sein Gesicht glühte vor Zorn.

„Was willst du?“, fragte er.

Der Diener hatte bereits die Tür zum Gehen wieder geöffnet. Jetzt wendete er sich um und meldete:

„Herr Holm bat, angemeldet zu werden.“

„Sapperment! Ist das so eilig?“

„Ich weiß es nicht.“

„Mag warten!“

Der Diener entfernte sich. Der Redakteur befand sich in einer sichtlichen Verlegenheit.

„Ich werde den Kerl fortjagen“, sagte er.

„Warum denn?“, fragte sie verwundert.

Ihrer Miene nach schien es ihr sogar lieb zu sein, in diesem Tête-à-tête überrascht worden zu sein.

„Was hat er hereinzukommen!“

„Seine Pflicht, mein lieber Doktor!“

„Unsinn! Neugierig ist der Mensch.“

„Schwerlich! Wenn Sie auf meine Fürbitte etwas geben, so denken Sie nicht weiter daran. Diese Büromenschen sind die reinen Automaten. Sie denken nichts und sehen nichts. Und haben sie ausnahmsweise ja einmal etwas bemerkt, so ist es in fünf Minuten bereits vergessen. Nun aber werde ich mich empfehlen müssen. Sechs Küsse hatten Sie bereits. Was tun wir mit den übrigen vier?“

Er musste doch lachen.

„Heben wir sie auf für das nächste Mal!“

„Gut; sie werden dann desto delikater sein. Soll ich draußen sagen, dass dieser Herr Holm eintreten darf?“

„Ja, ich bitte!“

Sie ging. Draußen im Vorzimmer stand beim Diener ein junger Mann von hoher, angenehmer Figur. Seine Züge waren intelligent, aber leidend, und sein schwarzer Anzug hatte die Werkstatt des Schneiders jedenfalls bereits vor langer Zeit verlassen.

„Sie sollen kommen!“, sagte sie.

Er verbeugte sich dankend und gehorchte. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, zog die Tänzerin ein Geldstück aus der Tasche, drückte es dem Diener in die Hand und fragte halblaut:

„Wie lange bedienen Sie den Doktor schon?“

„Seit beinahe zehn Jahren.“

„Natürlich sind Sie ihm treu?“

„Außerordentlich!“

„Und verschwiegen sind Sie ebenso?“

„Ganz und gar. Ich bin überhaupt leider sehr kurzsichtig.“

„Das freut mich. Kennen Sie die Ellen Starton?“

„Ja.“

„Also Sie haben diese Dame gesehen?“

„Gewiss.“

„War sie hier?“

„Gestern.“

„Vor mir oder nach mir?“

„Nach Ihnen. Der Doktor befand sich bereits im Gehen, kehrte aber ihretwegen noch einmal um.“

„War sie lange bei ihm?“

„Keine Minute.“

„Lügen Sie nicht?“

„Es ist die Wahrheit!“, beteuerte er, indem er die Hand auf das Herz legte.

„Das ist doch kaum zu glauben!“

„Warum?“

„Sie soll sehr schön sein!“

„Ungeheuer! Es ist sogar mir aufgefallen, trotz meiner Kurzsichtigkeit“, kicherte er.

„Und Ihr Herr ist ein Bewunderer der Schönheit!“

„Ja, aber nur dann, wenn ihn diese Bewunderung nichts kostet. Er knausert fürchterlich.“

„Also kann ich nicht glauben, dass bei ihrer Schönheit und seiner Bewunderung die gestrige Unterredung nur eine einzige Minute gewährt haben soll.“

„Nicht einmal eine ganze Minute.“

„Unerklärlich!“

Da trat er näher an sie heran und flüsterte:

„Es muss etwas vorgekommen sein.“

„Wieso?“

„Sie rauschte ab, und wie!“

„Wie denn?“

„So ungefähr wie auf dem Theater, wenn die erste Liebhaberin einen Mann nicht haben mag und mit einem verachtungsvollen Hohnlächeln abgeht.“

„Ach so! Und der Doktor?“

„War ganz wütend.“

„Wirklich?“

„Er war bleich vor Zorn. Wie gesagt, es muss irgendetwas gegeben haben.“

„Hm! Ich möchte wohl wissen, was es gewesen ist!“

„Na, das lässt sich denken.“

„Meinen Sie?“

„Gewiss.“

„Nun, was denn?“

Da blinzelte der Kleine mit seinen Augen, hielt seine Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund und raunte ihr zu:

„Sie hat das Küssen nicht so gern wie Sie!“

„Verräter!“, sagte sie, indem sie ihm einen leisen, liebenswürdigen Klaps versetzte.

„Aber die beiden da drinnen werden ja recht laut. Wer war der andere Mann?“

„Herr Holm ist Reporter.“

„Ach so! Wenn es so weiter klingt, wird er jedenfalls herausgeworfen. Ich werde also gehen. Aber pst!“

Sie legte dabei warnend den Finger auf den Mund.

„Pst!“, machte auch er, indem er die gleiche Pantomime machte und ihr verständnisinnig zunickte.

„Kein Wort! Er darf nicht erfahren, dass ich mit Ihnen gesprochen habe!“

„Keine Silbe! Ich bin nicht nur kurzsichtig, sondern auch stumm!“

Und als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fuhr er fort:

„Eine eigentümliche Geschichte, diese Küsse. Der da drin bekommt sie zu Dutzenden und unsereiner soll nicht einmal zusehen. Die Güter dieser Welt sind doch gar zu verschieden verteilt!“

Und sie dachte, als sie die Treppe hinabstieg:

„Also er hat mich doch belogen. Meine Vermutung war ganz richtig. Sie ist dagewesen. Er ist von ihr abgeblitzt worden. Mir kommt diese Dummheit sehr zustatten. Jedenfalls ist sie bei den anderen ebenso zurückhaltend gewesen. Dann hat sie verloren!“

Sie hatte vorhin ganz richtig gehört. In dem Redaktionszimmer ging es mehr als lebhaft zu.

Der Chefredakteur war sehr zornig, von seinem Diener überrascht worden zu sein. Er befand sich also beim Eintritt des Reporters bei schlechter Laune.

„Was wollen Sie?“, herrschte er ihn an.

Der junge Mann war von ihm niemals sehr höflich oder gar sympathisch behandelt worden; aber diesen Ton hatte er denn doch noch nicht gehört, darum fuhr er mit dem Kopf empor und zeigte ein verwundertes Gesicht.

„Was Sie wollen, habe ich gefragt!“

Über das Gesicht des Reporters glitt ein stilles Lächeln, doch antwortete er in höflichem Ton:

„Zunächst grüßen wollte ich, Herr Doktor. Guten Morgen!“

Dies schien nicht das rechte Mittel zu sein, die üble Laune des Redakteurs zu zerstreuen.

„Was soll das?“, sagte er. „Ich frage nun zum dritten Mal, was Sie wollen!“

„Eine Erkundigung möchte ich mir gestatten.“

„Erkundigung? Ich denke, Sie bringen eine Neuigkeit?“

„Das für jetzt noch nicht.“

„Nun, einer Erkundigung wegen brauchen Sie mich nicht am Vormittag zu inkommodieren.“

„Verzeihung! Ich bin mir nicht bewusst, einen Grund zu dieser Erzürnung gegeben zu haben. Und, streng genommen, ist es allerdings eine Neuigkeit, welche mich veranlasst hat, Sie aufzusuchen.“

„Also, heraus damit!“

„Ich meine nämlich den Artikel betreffs der amerikanischen Tänzerin.“

„Ah! Was soll’s mit diesem?“

„Er ist von Ihnen selbst verfasst?“

„Ja.“

„Auf welche Information hin?“

„Was geht das Sie an? Hier bin überhaupt ich es, der zu fragen hat. Was wollen Sie also betreffs dieses Artikels?“

„Er enthält die Unwahrheit.“

„Da dürften Sie sich wohl ganz gewaltig irren!“

„O nein. Die Quelle, aus welcher Sie da geschöpft haben, ist eine sehr unklare.“

„Ich denke doch nicht, dass Sie mich schulmeistern wollen!“

„Das kann mir nicht einfallen. Aber ich möchte Ihnen die Daten zu einer Berichtigung, welche morgen zu erscheinen hätte, an die Hand geben.“

Die Brauen des Redakteurs zogen sich drohend zusammen.

„Ah!“, stieß er hervor. „Eine Berichtigung?“

„Ja.“

„Welche morgen zu erscheinen hätte?“

„Ja.“

„Das ist hübsch, sehr hübsch! Mir scheint, Sie halten sich für denjenigen, der hier zu disponieren hat!“

„Durchaus nicht. Aber die Ehre unseres Blattes erfordert diese Berichtigung.“

„Davon haben Sie gar nicht zu sprechen. Ich bin es, der diese Ehre zu wahren hat. Was verstehen Sie überhaupt von der Ehre eines Journals! Sie sind Reporter und erhalten für jede brauchbare Neuigkeit fünfzig Kreuzer ausgezahlt. Zwischen Redakteur und Reporter, zwischen mir und Ihnen ist ein himmelweiter Unterschied, dessen Sie sich aber gar nicht bewusst zu sein scheinen.“

„O bitte! Es kann niemand so sehr wie ich einsehen, welcher moralische Unterschied zwischen uns beiden besteht. Ob auch einer in Beziehung auf die beiderseitige Intelligenz vorhanden ist, das wäre erst noch zu untersuchen.“

Der Redakteur trat einen Schritt zurück, stemmte die Hand auf den Schreibtisch und sagte funkelnden Auges:

„Alle Wetter! Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, dass ich als Reporter unter Ihnen stehe, als Mensch aber jedenfalls nicht. Vielleicht weiß ich besser als Sie, was es mit der Ehre eines Blattes für eine Bewandtnis hat.“

„Das – das – – das bieten Sie mir!“, brauste der Redakteur auf.

„Allerdings.“

„Mir, dem Chefredakteur, dem Doktor der Philosophie!“

„Beides vermag nicht, mir zu imponieren! Ich bin ebenso wie Sie Doktor dieser Fakultät.“

„Sie? Sie?“, fragte der Redakteur, indem er vor Erstaunen den Mund offenstehen ließ.

„Ja, ich.“

„Sie, Doktor der Philosophie! Hahaha!“

„Es steht Ihnen frei, zu lachen oder zu weinen, ganz wie es Ihnen beliebt!“

„Doktor Holm! Herr Reporter Doktor Holm! Das ist allerdings klassisch! Aber welchen Zweck hat denn diese Komödie eigentlich?“

„Es ist keine Komödie. Sie empfingen mich in einer Art und Weise, welche mich umso mehr befremden muss, je weniger ich mir bewusst bin, Ihnen eine Veranlassung gegeben zu haben. Sie stützten sich auf Ihren Titel und so teile ich Ihnen mit, dass ich mir denselben ebenfalls erworben habe, um Ihnen zu beweisen, dass ich Ihnen geistig wenigstens ebenbürtig bin.“

„Ich muss Sie für krank halten und daher will ich Sie mit der ruhigen, kalten Objektivität eines Arztes behandeln, Herr Doktor Holm.“

Dabei legte er auf das Wort Doktor einen doppelten Druck. Holm ignorierte diese Ironie und antwortete:

„Diese Objektivität ist mir sehr willkommen. Vorhin sind Sie mir höchst subjektiv vorgekommen.“

„Herr Holm! Soll dieses Wort vielleicht einen Beigeschmack für mich haben?“

„Nein. Dazu habe ich nicht genug Mangel an Umgangsform.“

„Das wollte ich Ihnen auch nicht raten. Also, wie kommt es, dass Sie heute in einer ganz anderen Weise sprechen als sonst?“

„Zunächst, weil Sie mich gleich bei meinem Eintritt zornig anfuhren, und sodann, weil ich mich über diesen heutigen Artikel ergrimmte.“

„Zu diesem Grimm haben Sie keine Veranlassung. Was ich schreibe, das darf ich schreiben, es ist die Wahrheit.“

„Es ist nicht die Wahrheit. Miss Starton ist auf eine Weise lächerlich gemacht worden, welche die Indignation aller Gebildeten herausfordert.“

„So zählen Sie mich also nicht zu den Gebildeten?“

„Um diese Frage beantworten zu können, müsste ich vorher wissen, ob Sie überhaupt aus einer Quelle geschöpft haben oder ob diese Lügen aus Ihrer eigenen Fantasie entsprungen sind. Das Talent Miss Startons ist über jeden Zweifel erhaben. Sie ist niemals anders als die Königin des Balletts genannt worden.“

„Natürlich nur ironisch!“

„Nein. Sie müssen als Redakteur ja auch mit den Vorkommnissen jenseits des Ozeans vertraut sein. Sie müssen gelesen haben, welchen Enthusiasmus jedes Auftreten dieser Dame hervorgebracht hat. Sie wurde ja geradezu ein Meteor genannt.“

„Kein Wort weiß ich davon!“

„Das ist sehr zum Verwundern. Ich bitte Sie um die Erlaubnis, Ihnen die Quellen, aus denen Sie sich eines Besseren unterrichten können, an die Hand zu geben.“

Er griff in die Tasche und zog ein Päckchen hervor, welches er dem Redakteur entgegenstreckte. Dieser jedoch wehrte mit beiden Händen ab und sagte:

„Danke, danke! Mein Urteil über diese Tänzerin ist gefällt. Ich habe nur die Wahrheit gesagt und dabei muss es bleiben!“

„Aber ich kann es Ihnen beweisen, dass man Sie gänzlich falsch unterrichtet hat!“

„Das ist nicht wahr. Sprechen Sie kein Wort mehr über diese Angelegenheit, welche ich für abgetan halte!“

Er wendete sich ab und machte die Bewegung der Entlassung. Holm aber blieb dennoch und bemerkte:

„Sie ist noch nicht abgetan, Herr Doktor. Wenn Sie dem heutigen lügenhaften Artikel keine Berichtigung folgen lassen wollen, werde ich diese Berichtigung fordern.“

„Fordern!“, rief der andere zornig.

„Ja.“

„Sie wären der Kerl danach!“

„Ja, ich bin der Kerl danach!“

„Gewiss! Doktor Holm! Hahaha!“

„Höhnen Sie jetzt! Aber ich warne Sie!“

„Sie mich? Schön! Ganz wie Sie wollen. Sie sind natürlich aus unserm Verhältnis entlassen. Einen solchen Reporter kann ich nicht gebrauchen. Suchen Sie Ihr Brot an anderer Stelle!“

„Ich werde es finden.“

„Oho! Wer bezahlt Sie so gut wie wir? Anderwärts erhalten Sie dreißig Kreuzer für die Neuigkeit. Jedenfalls werden Sie sich noch mehr auf die Geige legen müssen.“

Holm erbleichte.

„Auf die Geige?“, wiederholte er unwillkürlich.

„Ja“, höhnte der Redakteur. „Oder denken Sie etwa, dass ich nicht wisse, dass Sie auf dem obskursten Tanzsaal der Residenz der Hefe des Volkes aufspielen. Pfui Teufel!“

Das vorher so bleiche Gesicht Holms rötete sich wieder.

„Herr Doktor!“, rief er drohend.

„Oho! Kommen Sie mir nicht in diesem Ton. Ein Reporter, welcher nebenbei ein ganz gewöhnlicher Bierfiedler ist, erdreistet sich, den Doktortitel für sich in Anspruch zu nehmen. Das ist mehr als lächerlich, das ist verrückt!“

Er war in einen wahren Grimm geraten. Holm hatte seine Ruhe bewahrt. Er sagte unter einem selbstbewussten, überlegenen Lächeln:

„Ihre Ausbrüche strotzen von Beleidigungen gegen mich. Wie nun, wenn ich Sie fordere[5]?“

„Sie? Mich? Die reine Tollheit! Sie bilden sich doch nicht etwa ein, satisfaktionsfähig zu sein!“

„Bah! Ich werde Ihnen mein Diplom vor Augen führen!“

„Bringen Sie mir tausend Diplome und ich werfe den Sekundanten, welchen Sie mir schicken, doch zur Tür hinaus! Das merken Sie sich ja!“

„Schön, ich will mich Ihnen accomodieren[6].“

„Was soll das heißen?“

„Wenn Sie sich fürchten, einen Gang mit blanker Waffe zu machen, werde ich eine Waffe wählen, welche Ihren so außerordentlich wichtigen und wertvollen Leib nicht zu schädigen vermag: die Feder.“

„Die Feder? Mensch! Ah, es ist lächerlich, dass ich mich ärgere. Die Sache ist doch eigentlich nur lustig oder vielmehr tragikomisch. Sie dauern mich. Gehen Sie, mein Bester. Legen Sie sich ins Bett und schlafen Sie sich aus. Vielleicht legt sich dann der Blutandrang nach dem Kopf. Vor allen Dingen aber lassen Sie es sich nicht wieder einfallen, sich bei mir sehen zu lassen. In diesem Falle bliebe mir nichts anderes übrig, als Sie hinauswerfen zu lassen!“

„Schön. Ich füge mich diesem Ratschluss aus dem Mund eines Gottes. Adieu, Herr Doktor!“

„Adieu, Herr Bierfiedler!“

Der Reporter nickte dem Diener freundlich zu, als er durch das Vorzimmer ging. Drunten vor der Haustür blieb er überlegend stehen.

„Böse, böse Geschichte!“, murmelte er vor sich hin. „Ich büße einen Teil der mir so notwendigen Einnahme ein. Wie soll ich diesen Ausfall decken? Aber was frage ich nach dem Hunger und der Entbehrung, wenn es gilt, die Göttliche in Schutz zu nehmen! Sie muss bereits angekommen sein. Wo sie nur abgestiegen sein mag? Ich werde mich erkundigen!“

 

 

 

2. Die Amerikanerin

 

Als Miss Ellen Starton gestern von dem Chefredakteur fortgegangen war, hatte sie eine Droschke genommen, um sich nach der Wohnung des Intendanten fahren zu lassen.

Dieser saß bei Kaviar und Wein in seinem fast wie ein Damenboudoir ausgestatteten Schreibzimmer. Parfums und Odeurs[7] dufteten und auch der alte Herr sah aus, als ob er sich zu Tode duften wolle.

Seine dünne, hagere Gestalt steckte in einem weichen, seidenen Schlafrock. Er griff die Kaviarsemmel mit dem feinsten Handschuh an. Das Gesicht war höchst glatt rasiert; die Zähne, welche sich beim Kauen zeigten, waren zu schön, als dass sie hätten echt sein sollen, und das Haar zeigte jene eigentümliche Façon, welche schließen lässt, dass es um guten Preis vom Friseur gekauft worden ist.

Ein Diener in Livree ging ab und zu. Draußen hörte man die leise Silberstimme einer Glocke.

„Jean, schon wieder jemand!“, sagte der Herr. „Ich bin nicht zu Hause. Auf keinen Fall zu Hause!“

Jean ging. Es dauerte eine kleine Weile, bis er zurückkehrte. Er machte ein höchst pfiffiges Gesicht.

„Fortgewiesen natürlich?“, fragte der Intendant.

„Nein, gnädiger Herr.“

„Nicht? Aber ich bin ja nicht zu Hause!“

„Der gnädige Herr werden sehr gern zu Hause sein.“

Jean sagte dies in einer Art und Weise, welche verraten ließ, dass er seiner Sache sicher sei und seinen Herrn sehr genau kenne.

„Sehr gern?“, fragte dieser. „Du weißt, dass ich mich zur jetzigen Zeit nie stören lasse.“

„Oh, eine solche charmante, höchst charmante Störung!“

„Wieso?“

„Eine Dame, gnädiger Herr!“

Da legte der Intendant das Messer zur Seite. Auch er kannte seinen Jean. Dieser hätte es sicher nicht gewagt, ihn mit einem uninteressanten Besucher zu belästigen.

„Ach so, eine Dame!“, sagte er. „Wer ist sie?“

„Eine gewisse Miss Ellen Starton.“

Da fuhr der Intendant von seinem Sessel empor und zupfte unwillkürlich an dem weißseidenen Halstuch, um zu fühlen, ob es tadellos sitze.

„Die Starton?“, fragte er. „Die Tänzerin?“

„Ja.“

„Alle Himmel! Komm her, Jean, komm!“

Der Diener trat bis an den Tisch heran. Sein Herr raunte ihm zu:

„Du hast sie betrachtet?“

„Sehr genau.“

„Mit ihr gesprochen?“

„Einige Höflichkeiten gewechselt.“

Die beiden alten Männer machten ganz den Eindruck, als ob zwei lüsterne Faune im Begriffe ständen, irgendeinen verliebten Streich auszuführen.

„Entspricht sie ihrem Ruf?“, fragte der Herr.

„Mehr als das.“

„Das sagst du? Der Kenner? Das macht mich mehr als neugierig. Wie ist die Figur?“

„Etwas über mittel.“

„Schmächtig?“

„Prächtig rund, ohne voll zu sein. Ein Meisterstück.“

„Hat sie Büste?“

„Zum Meißeln!“

„Hände, Füße?“

„Wie ein Kind.“

„Das Haar?“

„Dunkel, voll, herrlich! Griechischer Knoten.“

„Also klassisch. Die Augen?“

„Schwarze Karfunkel.“

„Mund?“

„Zum Totküssen.“

„Stimme?“

„Wie eine Glocke.“

„Herein mit ihr! Aber, Jean, ich – ich warne dich!“

„Bitte, bitte! Ich verstehe nicht, gnädiger Herr.“

„Du störst uns nicht!“

„Nein, nein!“

„Du trittst auf keinen Fall eher ein, als bis ich dir das Zeichen dazu mit der Glocke gegeben habe!“

„Sehr wohl!“

„Schön! Hole sie! Doch vorher noch eins! Wie ist der Eindruck, den sie macht, he? Wird sie zartfühlend, weichherzig, gefügig sein?“

Der alte, erfahrene Diener zuckte die Achseln, zog die dünnen Brauen empor und antwortete:

„Glaube es kaum.“

„Also nicht?“

„Scheint mir kalt und spröde zu sein.“

„Will es nicht hoffen!“

„Vielleicht nicht nur kalt, sondern sogar streng.“

„Werde sie dennoch besiegen.“

„Das wird nicht leicht sein.“

„Bah! Bestrickende Liebenswürdigkeit!“

Jean ließ einen schnellen Blick über seinen Herrn, dessen Äußeres einer neu angestrichenen Ruine glich, laufen, zuckte abermals die Achseln und sagte:

„Wird wohl kaum wirken.“

„Dann gibt es den anderen Weg: Präsente! Ich bin reich.“

„Das lasse ich eher gelten.“

„Na, werden sehen. Lass sie also ein!“

„Aber Sie tragen Schlafrock.“

„Bah! Eine Tänzerin nimmt das nicht so diffizil[8].“

Der Diener huschte über den spiegelblanken Parkettboden nach der Tür, riss die beiden Flügel derselben auf und meldete unter einer sehr devoten Verbeugung:

„Miss Starton ist willkommen!“

Die Tänzerin folgte dieser Aufforderung in ruhiger und selbstbewusster Haltung. Sie verneigte sich leicht und erwartete dann die Anrede.

Der Intendant ließ seinen Blick über die prachtvolle Erscheinung gleiten und sagte sich im Stillen, dass Jean noch viel, viel zu wenig gesagt habe.

„Willkommen, Miss“, grüßte er, jedoch ohne sich zu erheben. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“

Er zeigte dabei auf den Sitz neben sich. Sie verbeugte sich abermals, trat näher und nahm auf einem Sessel Platz, welcher den Tisch zwischen ihr und dem alten Herrn ließ.

„Warum so fern?“, fragte dieser. „Ich habe noch nie gehört, dass Amerikanerinnen schüchtern sind.“

„Ich ebenso wenig!“, antwortete sie.

Diese Antwort frappierte ihn, doch fuhr er fort:

„Also Sie sind beherzt? Nun, das ist mir lieb. Es freut mich, Sie bei mir zu sehen, ehe Ihre Rivalin, Mademoiselle Leda, sich vorgestellt hat. Was halten Sie von dieser Dame?“

„Ich kenne sie nicht.“

„Aber Sie haben von ihr gelesen?“

„Einiges.“

„So müssen Sie doch ein Urteil haben!“

„Der Tanz will gesehen sein. Ein Gemälde zu taxieren, ohne es vor Augen zu haben, ist unmöglich. Ich pflege nur aus eigener Anschauung zu urteilen.“

„Selbst sehen? Ja, Sie haben Recht! Auch die glühendste Schilderung kann noch so wenig sagen, wie ich in diesem Augenblick deutlich fühle.“

Er hielt inne, um zu beobachten, welchen Eindruck diese genügend deutlichen Worte hervorbringen würden.

Leider bemerkte er nicht die mindeste Wirkung. Die Tänzerin musterte mit ruhigem Blick die Tapeten des Zimmers, ohne seine Worte einer Antwort zu würdigen. Dann richtete sie ihr Auge ebenso kalt forschend auf ihn und bemerkte dann:

„Sie erwähnten soeben eine Kollegin von mir, Herr Intendant. Wie kommt es, dass Sie sich zu dem befremdlichen Arrangement entschlossen haben, zwei Rivalinnen an einem Abend und in derselben Produktion auftreten zu lassen?“

„Die Gründe sind gewichtig, teure Miss, doch kann ich sie Ihnen erst später mitteilen, wenn wir uns besser kennen. Ich hoffe, dass dies in nicht sehr langer Zeit der Fall sein wird!“

Sie sagte nichts, sie verbeugte sich nur. Dann fuhr er fort:

„Ich gehöre nämlich nicht zu denjenigen Bühnenleitern, welche zu ihren Untergebenen wie vom hohen Olymp herab sprechen. Ich trete gern in näheren Verkehr mit ihnen; ich zeige ihnen, dass ich Mensch bin, dass ich menschlich denke und menschlich fühle – –!“

Der Blick, welchen er jetzt auf sie warf, zeigte, dass er jetzt eine Antwort erwarte, aus der er ersehen könne, ob er in Beziehung auf sein „menschliches Fühlen“ verstanden worden sei. Sie nickte ihm langsam zu und sagte unter einem Lächeln, von welchem er nicht unterscheiden konnte, ob es schalkhaft oder ironisch sei:

„Ja, Herr Intendant, ein Gott sind Sie allerdings nicht.“

„Ah! Wieso?“

„Sie sind in diesem Augenblick sogar höchst menschlich. Kaviar ist kein Ambrosia.“

„Wie? Sie machen auch Witze? Sie schießen Calembourgs[9]? Das liebe ich. Sie haben Recht. Ich bin Mensch, aber nicht allein wegen des Kaviars. Ich wünsche auch in Beziehung auf Sie Mensch sein zu dürfen!“

„Dieser Wunsch ist bereits erfüllt.“

Er gab diesen Worten eine sanguinische Bedeutung.

„Danke, danke! Wollen wir also beide in diesem Augenblick einmal recht menschlich sein?“

„Gewiss, Herr Intendant.“

„So bitte, setzen Sie sich hier neben mich.“

„Meinen Sie, dass ich hier weniger menschlich sei?“

„Ja. Aus so weiter Entfernung kommen Sie mir wie ein übermenschliches, überirdisches Wesen vor. Sie bezaubern, Sie betören wie eine Fee, welche verschwindet, sobald man einen Wunsch ausspricht. Ich liebe solche Entfernungen nicht. Ich will mich überzeugen, ob diese Feen nicht Gebilde der Fantasie sind. Ich will fühlen, ob ich Menschen vor mir habe.“

„Das Sehen ist auch ein Fühlen. Ich glaube, Sie sind überzeugt, dass eine Amerikanerin zu den sterblichen Bewohnern der Erde gehört.“

„Ja. Aber dennoch stehen die Ladies uns Bewohnern des Kontinents so fern, dass man beim Anblick einer solchen Dame eine unbesiegbare Wissbegierde empfindet, ob sie auch Fleisch und Blut ist. Wollen Sie mich das untersuchen lassen?“

Er hatte sich erhoben und zwei Schritte hinter dem Tisch hervor getan. Seine Augen waren mit sichtlicher Gier auf sie gerichtet. Ihr Blick hielt dem seinigen kalt und ruhig stand.

„Das bedarf jedenfalls nicht erst einer Untersuchung, da es bereits genugsam konstatiert ist.“

„O nein. Eine Schönheit wie die Ihrige kann unmöglich eine irdische sein. Nur die Überzeugung kann zum Glauben führen. Gestatten Sie, Miss, mich zu überzeugen, dass Sie nicht die aus Walhalla herabgestiegene Göttin der Liebe sind, sondern eine wirkliche Tochter staubgeborener Eltern.“

Er streckte den Arm nach ihr aus, griff aber in die Luft. Sie hatte sich gedankenschnell erhoben und war um einige Schritte zurückgewichen.

„Herr Intendant!“

In dem Ton dieser Worte lag eine Zurechtweisung, welche förmlich drohend klang. Sie stand aber in so stolzer Schönheit vor ihm, dass er sich kaum zu beherrschen vermochte. Er antwortete:

„Nicht diesen Ton, nicht diesen! Ihr Händchen müssen Sie mich ergreifen lassen. Wir wollen nebeneinander sitzen und beraten, auf welche Weise wir Ihre hiesige Stellung am schönsten und vorteilhaftesten zu gestalten vermögen. Kommen Sie, Miss!“

„Ich danke! Habe ich erst die Stellung, so weiß ich sie schon selbst nach meinem Geschmack zu gestalten!“

„Aber Sie haben sie noch nicht!“

„Das muss ich freilich zugeben!“

„Und wissen Sie, wessen Einfluss da am maßgebendsten ist, Miss Starton?“

„Jedenfalls der Ihrige.“

„Allerdings! Ich denke, dass es Ihnen nicht unlieb sein würde, diesen Einfluss für sich zu gewinnen.“

„Es würde mich freuen, ihn zu besitzen.“

„Nun, so suchen Sie ihn zu verdienen.“

„Das ist meine Absicht.“

„Jedenfalls haben Sie Lebenserfahrung genug, um zu wissen, in welcher Weise eine liebenswürdige Dame sich eine solche Protektion erwirbt.“

„Gewiss!“

„Nun?“