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Planetenroman

 

Band 19

 

Das Aralon-Komplott

 

Auf der Welt der Galaktischen Mediziner – das Geheimkommando wird aktiv

 

Peter Terrid

 

 

 

Am Ende des fünften Jahrtausends tobt in der Milchstraße ein kalter Krieg zwischen den galaktischen Großmächten. Allerdings nutzen die Geheimdienste ganz andere Mittel als heute, um Erfolg zu haben – ihr Schlachtfeld ist das Bewusstsein der Menschen, die Kraft des menschlichen Geistes selbst.

Auf dem Planeten Aralon arbeiten seit Jahrtausenden die angesehensten Kapazitäten der galaktischen Medizin. Es heißt, sie könnten jede Krankheit besiegen – doch mit den Problemen der Arkonidin Gherada Iphrasyn werden auch sie nicht fertig.

Die junge Frau, eine wichtige Geheimnisträgerin, leidet an einem psychischen Trauma, hinter dem sich mehr verbergen muss, als »nur« eine Krankheit, mehr als nur eine Persönlichkeitsstörung: Ein Geheimkommando kämpft mit allen Mitteln um mehr Einfluss auf dem Planeten der Mediziner ...

Prolog

 

Nach dem Chaos der Toten Zonen –

der Kampf der Geheimdienste

 

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung versinken wichtige Teile der Milchstraße im Chaos: Aus anfangs unerfindlichen Gründen versagt jede Art von Hypertechnik. Dies bringt die Orte, an denen dies geschieht, an den Rand des Abgrunds.

Die erste dieser sogenannten Toten Zonen entsteht zehn Tage nach dem Beginn des Jahrtausends ausgerechnet in einer Kugel von 10.000 Lichtjahren Durchmesser, in der sich auch das Solsystem befindet. Große Teile des Kerngebietes der Liga Freier Terraner sind damit ebenfalls lahmgelegt. Erst am 15. Mai verflüchtigt sich der Effekt wieder. Der entstandene Schaden ist kaum zu beziffern.

Nur wenig später, am 3. August, entsteht erneut eine Tote Zone an einem Brennpunkt des galaktischen Geschehens: im Kugelsternhaufen M 13. Im Einflussbereich der diesmal etwa 5000 Lichtjahre durchmessenden Kugel liegen mit Arkon eines der wichtigsten militärischen und wirtschaftlichen Zentren der Galaxis sowie mit Aralon eines ihrer wichtigsten Medozentren. Es soll fast genau ein Jahr dauern, bis sich die Erscheinung in M 13 auflöst.

Im Bereich des Arkon-Systems erscheinen sonderbare Projektionen, insbesondere von immateriellen Kristallen, über deren Herkunft es zwar Vermutungen gibt, deren Ursprung aber nie genau bestimmt werden kann.

Erst kurz vor dem Erlöschen der zweiten Toten Zone wird bekannt, welche Ursachen dem Phänomen zugrunde liegen. Diese Entwicklung, die letztlich der Menschheit einen weiteren großen Schritt in das Universum ermöglicht, ist aber an anderer Stelle ausreichend dokumentiert.

Kaum dokumentiert hingegen sind die Ereignisse, die sich in diesen anderthalb Jahren ereignet haben, sowie ihre Folgen – Folgen auf einer »kleinen« Ebene, nicht auf der kosmischen. Folgen, die sich einzig auf die Mächte der Milchstraße auswirken.

So besteht zu Beginn des 13. Jahrhunderts immer noch ein Konflikt zwischen den galaktischen Mächten Arkon und Akon, eine Art kalter Krieg, der nicht mit Waffen, sondern mit wirtschaftlichen Mitteln geführt wird – und durch den Einsatz von Agenten.

In diese Zeit fällt ein Spezialprojekt des akonischen Geheimdienstes, der Blauen Legion. Es ist bahnbrechend in seiner Art und zeigt, über welche Mittel und Kräfte der menschliche Geist verfügt. Es zeigt aber auch, was geschehen kann, wenn besagter Geist und übergeordnete kosmische Kraft kollidieren – eine in der Geschichte der Menschheit immer wieder zu beobachtende Entwicklung.

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 13. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 0.1.8, Präliminarien und Menetekel)

Kapitel 1

 

»Schneller, Mann, schneller!«, drängte Frado Daravol. »Sag der Bodenstation, dass dieser Anflug die allerhöchste Priorität hat!«

Der Pilot der Space-Jet nickte kurz und zwang das Raumschiff in steilem Kurs auf die Oberfläche des Planeten zu. Er hatte ohnehin den Anflug so knapp wie möglich gewählt: Dreitausend Kilometer oberhalb der Stratosphäre Aralons war er in den Normalraum zurückgekehrt und hatte danach die Fahrt mit höchsten Verzögerungswerten verringert. Nun jagte der Diskus durch die oberen Luftschichten Aralons, sie warteten auf die Landefreigabe.

Frado Daravol wandte den Kopf und blickte hinüber zu der Schwebetrage, auf der Gherada Ipharsyn lag, von energetischen Fesselfeldern gehalten. Die Frau war totenbleich, ihr Kopf rollte haltlos hin und her, die blutleeren Lippen zuckten unaufhörlich. Ihr Zustand war kritisch.

Mehr als dieses eine Wort zur Beschreibung ihrer körperlichen und seelischen Verfassung stand in diesem Augenblick nicht zur Verfügung. Was mit Gherada Ipharsyn geschehen war und noch geschah, entzog sich weitgehend dem Begriffsvermögen all jener Mediziner, die sich mit ihr beschäftigt hatten.

Gheradas Blutdruck war extrem niedrig und ließ sich auch durch Medikamente nicht steigern. Ihr Herzschlag hatte sich auf einen Wert von vierzig Schlägen pro Minute eingestellt, die Atmung setzte immer wieder aus. Und sie sprach auf kein handelsübliches Medikament an. Die Messung ihrer Herztätigkeit lieferte Werte, mit denen die Syntrons nichts anfangen konnten – auf solche Kurvenverläufe waren sie nicht eingestellt. Das Gleiche galt für die Hirnstromkurven – auch hier wurden Werte aufgezeichnet, die in kein bekanntes Krankheitsbild passten.

»Wir haben Landeerlaubnis«, sagte der Pilot. »Auf dem Flughafen von Phragreen. Die Priorität wurde soeben bestätigt.«

Frado Daravol stieß einen tiefen Seufzer aus.

Erst vor achtundvierzig Stunden war die Tote Zone verschwunden, die jeden Raumschiffs- und Transmitterverkehr im Kugelsternhaufen M 13 unmöglich gemacht hatte; die Rückkehr zu normalen Verhältnissen stellte die Raumfahrer und das Personal der Bodenstationen offenbar vor ähnlich große Probleme wie das Auftauchen der Toten Zone – Chaos allenthalben war die wohl treffendste Umschreibung für die gegenwärtigen Zustände.

Das galt ganz besonders für das System der Sonne Kesnar, 38 Lichtjahre von Arkon entfernt. Sieben Planeten hatte die kleine gelbe Sonne aufzuweisen, der prominenteste darunter war Aralon, die Heimat der Galaktischen Mediziner.

Längst hatten die Aras von Aralon den legendären Ruf vergangener Zeiten verloren, der Nimbus der Unfehlbarkeit hatte sich verflüchtigt, die beinahe monopolartige Stellung der medizinischen Forschung auf Aralon war schon vor Jahrhunderten gebrochen worden. Jetzt galten vor allem die modernen Einrichtungen der Terraner als unerreicht gut, allen voran die Forschungsstationen und Kliniken auf Mimas und Tahun.

Aber das Solsystem war weit, die Zeiten wirr und gefährlich. Das Auftauchen der Toten Zone hatte die galaktische Raumfahrt in ein Chaos gestürzt, und niemand konnte abschätzen, wie lange der Normalzustand anhalten würde – vielleicht schon morgen konnte sich die Tote Zone wieder stabilisieren und die Raumfahrt erneut zum Erliegen bringen.

Unter diesen Umständen – so hatte Atlan persönlich entschieden – war im Fall Gherada Ipharsyn Aralon der Planet der Wahl.

Die gleiche Entscheidung hatten offenkundig auch einige tausend andere Ärzte und Patienten getroffen: Im Raum um Aralon wimmelte es von größeren und kleineren Schiffen, die alle auf die Erlaubnis warteten, zu landen und ihre »Fracht« den Künsten der Galaktischen Mediziner anzuvertrauen.

»In zehn Minuten werden wir landen. Ein Transport der Kranken ist bereits vorbereitet!«

Frado stand auf, ging zu der Trage und strich der Frau sacht über die Stirn. Schweiß abzuwischen, wie man es oft in Trivid-Filmen sah, gab es nicht; ein Gebläse sorgte dafür, dass die Haut der Patientin trocken und warm blieb. Es war eine mehr symbolische Geste, und Frado Daravol war sich klar darüber, dass sie mehr der eigenen Beruhigung galt als dem Trost der Arkonidin, die in einem Zustand halber Bewusstlosigkeit lag, seit vielen Wochen schon.

»Du wirst es schaffen, Gherada«, sagte er leise und eindringlich, obwohl er ziemlich sicher war, dass Gherada keines seiner Worte verstehen konnte. »Auf Aralon wird man dir helfen!«

Er sprach flüsternd weiter, während der Pilot die Space-Jet landete. Als das kleine Raumschiff auf dem Landefeld von Phragreen aufsetzte, stand das Empfangskommando schon bereit: ein Ara-Mediziner und eine kleine Schar spezialisierter Roboter. Dutzende anderer Raumschiffe wurden gleichzeitig bedient, überall waren Roboter zu sehen, Gleiter und Transporter jagten mit hoher Fahrt über den Boden. Es sah chaotisch aus, aber Frado wusste, dass eine nahezu perfekt eingespielte Organisation dahintersteckte.

Wenig später betrat der Mediziner die Zentrale der Space-Jet.

Selbst für einen Ara war er hochgewachsen, fast zwei Meter und fünfzig Zentimeter lang, äußerst schlank und mit dem für die Galaktischen Mediziner typischen, spitz zulaufenden Schädel. Ursprünglich stammte das Volk der Aras von den Springern ab, hatte aber auf Aralon seine eigene Entwicklung genommen – eine seltsame Verbindung medizinischer Kunst mit einem Geschäftssinn, der dem der Mehandor-Verwandten in nichts nachstand. Der eigentümliche Wuchs der Aras war – so hieß es zumindest in ihrem Mythenschatz – die Folge gezielter Eingriffe in das Erbgut, angeblich aus praktischen Gründen. Die für ihre Respektlosigkeit im Umgang mit Ehrwürdigem bekannten Terraner hatten des Öfteren gespottet, dabei handele es sich lediglich um ein Ergebnis gezielten Marketings – der Spitzschädel war gewissermaßen das eingetragene Warenzeichen der Aras. In jedem Fall war ein Ara-Mediziner auf den ersten Blick als solcher zu erkennen.

Geblieben aus der legendären Zeit des Arkon-Imperiums war vielen Aras eine Ausstrahlung von Hochmut und Herablassung. In diesem Fall machte sie sich kaum bemerkbar.

»Das ist die Patientin?«, fragte der Mediziner.

Frado nickte knapp.

Wie auch Gherada Ipharsyn war er sofort als Arkonide zu erkennen; aber die Zeiten, in denen Menschen überall im Kugelsternhaufen Haltung annahmen, wenn ein Arkonide auftrat, gehörten ebenfalls einer weit zurückliegenden Vergangenheit an.

»Höchste Prioritätsstufe, habe ich gehört?«

»Die Patientin ist Sicherheitsbeauftragte in Atlans unmittelbarer Umgebung«, antwortete Frado.

Der Ara reagierte nicht auf die Bemerkung, stattdessen unterzog er Gherada einer schnellen Untersuchung. Sein Diagnosesyntron glitt langsam über den Körper der Bewusstlosen, auf einem kleinen Bildschirm erschien die Auswertung der gemessenen Daten – schriftlich, damit es dem Belieben des Arztes überlassen blieb, welche Informationen er über den Gesundheitszustand des Patienten mitzuteilen beliebte. Geheimniskrämerei gehörte in diesem Gewerbe offenbar überall zum Handwerk.

Auch der Laut, den der Ara als Nächstes hören ließ, war in zahllosen Spielarten in der gesamten bekannten Milchstraße wohlvertraut: »Hmmm!«

Unklar und geheimnisvoll klang es, mit einem Unterton von Besorgnis.

Der Ara wandte den Blick und betrachtete Frado. »Zu welchem Ergebnis sind die Kollegen auf Arkon gekommen?«

Frado gab eine ehrliche Antwort.

»Zu gar keinem«, sagte er. »Deswegen sind wir ja hier. Atlan setzt sein ganzes Vertrauen in eure Kunst.«

»Er tut gut daran«, erwiderte der Mediziner knapp. Dann gab er seinen Robotern ein Zeichen. »Sektion Ghoran, strenge Isolation.«

Die Roboter machten sich an die Arbeit und schafften Gherada Ipharsyn aus der Space-Jet.

»Ich habe Anweisung, bei der Kranken zu bleiben«, bemerkte Frado Daravol schnell. »Atlan möchte über alles genau informiert werden, ohne Verzug.« Frado versuchte ein freundliches Lächeln aufzusetzen. »Anteilnahme, kein Misstrauen. Du verstehst?«

Der Ara dachte kurz nach. »Einverstanden«, sagte er dann. »Die Rechnung geht an die Privatschatulle Atlans?«

»So ist es«, antwortete Frado schnell. Atlan hatte ihm zwar keineswegs den klaren Befehl gegeben, bei Gherada zu bleiben, aber welche Gründe Frado wirklich dazu bewogen, ging den Ara nichts an. »Ihr könnt wirklich etwas für die Frau tun?«

Das schmale, arrogante Lächeln des Galaktischen Mediziners knüpfte an den Ruhm vergangener Tage an. »Wenn nicht wir, wer sonst?«

Er entfernte sich hoheitsvoll und überließ es Frado, seinen Weg zu Gherada zu finden.

»Und ich?«, erkundigte sich der Pilot. »Fliege ich zurück? Oder soll ich bleiben?«

Frado überlegte kurz. »Flieg zurück«, entschied er dann. »Wenn es nötig ist – Arkon ist ja nur einen Hüpfer entfernt.«

Der Pilot grinste schwach. »Manchmal fällt sogar das Hüpfen schwer, wie wir gesehen haben. Ich werde bis morgen früh warten. Wenn der Hyperraum dann noch da ist, fliege ich zurück. Wenn nicht, bleibe ich hier.«

Frado verabschiedete sich und verließ die Space-Jet. Auf dem Landefeld ging es nach wie vor hektisch zu. Zehntausende von Patienten und Angehörigen hatten lange Zeit auf den Flug nach Aralon warten müssen; in der gleichen Zeit hatten sich ebenso viele Patienten auf Aralon gedulden müssen. Nach dem Zusammenbruch der Toten Zone war jedermann in Eile, entweder zu landen oder endlich abzufliegen. Auf zahllosen Welten in der Galaxis sah es jetzt wahrscheinlich ähnlich aus, vielen Menschen saß die Angst in den Knochen.

Es war ein heller Tag auf dieser Seite des Planeten; die Sonne Kesnar schien warm und angenehm, die Klimasteuerung sorgte für eine milde Brise und wehte aromatische Düfte über das Gelände.

Alles auf Aralon war auf den ganz besonderen Aufgabenbereich des Planeten abgestimmt, das galt sowohl für die Oberflächengestaltung als auch für die Wetterkontrolle. Weite Teile der Oberfläche waren zu riesigen Parks umgestaltet worden, in denen sich die Patienten erholen und erfreuen sollten; gleichzeitig war die Kruste des Planeten bis in Kilometertiefe ausgehöhlt worden, um Platz zu finden für Labors und Krankenzimmer, Forschungseinrichtungen, Operationssäle und was sonst noch zum Betrieb einer planetengroßen Klinik gebraucht wurde. Man hatte sich große Mühe gegeben, den Eindruck einer gigantischen Medizinfabrik zu vermeiden, mit Kranken gewissermaßen als Rohstoff, die gleichsam verarbeitet wurden und Aralon entweder gesund oder tot wieder verließen.

Vielleicht lag es auch an den Folgeerscheinungen der Toten Zone, dass Phragreen nicht so perfekt funktionierte, wie Frado Daravol es insgeheim befürchtet hatte. Er hatte jedenfalls einige Mühe, die Spur von Gherada Ipharsyn wiederzufinden und bis zu ihrem Zimmer vorzudringen.

Am Ziel angelangt, konnte er zufrieden sein. Gherada war in eine regelrechte Suite eingewiesen worden; vier wohnlich, geradezu luxuriös ausgestattete Zimmer standen der Arkonidin zur Verfügung, sobald sie aus ihrem unheimlichen Dämmerschlaf erwachte. Für Frado hatte man zwei Zimmer in ihrer Nähe frei gemacht; als er ankam, waren Roboter gerade damit beschäftigt, das Mobiliar aufzustellen und anzuschließen. Ganz offensichtlich hatten die Aras vor, Atlans Großzügigkeit gründlich anzuzapfen, es wurde nicht an Aufwand gespart.

Ein Team von sechs Aras hatte sich an Gheradas Bett versammelt und diskutierte leise die Messwerte des Diagnosesyntrons. Frado trat ein wenig näher.

»Rolwar Kapras«, stellte sich der leitende Arzt vor und winkte Frado heran. »Kennst du die Vorgeschichte des Falles?«

Frado nickte. Jetzt wurde es kitzlig.

Selbstverständlich kannte Frado die Vorgeschichte von Gheradas Erkrankung sehr genau; Atlan selbst hatte sie ihm, gestützt auf sein fotografisches Gedächtnis, detailliert erzählt. Das Problem war nur, dass ein großer Teil der wahrscheinlich für die Aras wichtigen Daten strenger Geheimhaltung unterlag.

»Dann berichte uns. Seit wann leidet die Kranke unter diesen Symptomen?«

Frado Daravol hatte mit Atlan abgesprochen, wie viel er den Aras verraten durfte; dennoch musste er seine Worte sehr sorgfältig wählen.

»Diese Frau gehört zu Atlans Sicherheitsabteilung«, erläuterte er. »Vor dem Ereignis war sie vollkommen gesund, die entsprechenden Daten können jederzeit eingesehen werden.«

Rolwar Kapras hatte aufmerksam zugehört. »Und das Ereignis? Worum handelt es sich?«

»Ich kann nicht alles sagen«, erwiderte Frado Daravol. »Der Vorfall unterliegt der Geheimhaltung und ist wissenschaftlich auch noch nicht restlos aufgeklärt. Es scheint aber festzustehen, dass Gherada Ipharsyn mit einem Gebilde konfrontiert worden ist, das möglicherweise einer anderen Dimension zugehörig ist.«

»Das ist viel zu vage, um daraus etwas abzuleiten«, bemerkte Kapras; er war – für einen Ara – erstaunlich untersetzt und kräftig, seine rötlichen Albinoaugen blickten Frado eindringlich an.

»Es hat etwas mit Spiegelung zu tun«, setzte Frado seine Erklärungsversuche fort.

»Eine optische Spiegelung?«

»Möglicherweise. Es könnte aber auch eine Spiegelung an einer Dimensionsachse sein.« Trotz der gleichbleibenden, angenehmen Temperatur im Raum begann Frado ein wenig zu schwitzen, und er wusste, dass der scharfäugige Ara dies ganz bestimmt bemerkte. »Augenzeugen berichten, dass sie während des fraglichen Ereignisses Abbilder ihrer selbst gesehen hätten.« Er kam sich vor wie ein Stammler, und sein Unbehagen wuchs, während er nach Worten suchte, um über etwas zu berichten, von dem er eigentlich nichts berichten durfte.

»Was für Abbilder?«, fragte Kapras sofort nach.

»Es kann sein, dass es sich dabei um Projektionen der betreffenden Personen gehandelt hat, Projektionen, die möglicherweise auch alternative Entwicklungen des Dargestellten wiedergaben.«

Rolwar Kapras dachte angestrengt nach. Dann deutete er auf Gherada Ipharsyn. »Sie hat sich also in diesen Spiegelungen selbst gesehen, aber in veränderter Form?«

»So ist es!«

»Und um was für Veränderungen handelte es sich dabei?«

Wie hatte sich Atlan ausgedrückt?

Ich sah mich selbst, gespiegelt in einer Fläche des Kristalls ...

Es war fast unmöglich, diese Bilder deutlich zu empfangen und zu interpretieren, selbst mit meinen gesteigerten geistigen Mitteln nicht. Diese Bilder verschwammen, bewegten und überlagerten sich. Ob sie der Wirklichkeit entstammten oder nicht, aus Vergangenheit oder Gegenwart, es ließ sich nicht sagen. So wenig, wie sich darüber sagen ließ, ob diese Gesichter wahre Darstellungen waren oder nur wüste Projektionen, die Vergangenes und Kommendes, Geschehenes und Zukünftiges, Wahres und Mögliches in wildem Kaleidoskop durcheinanderwirbelten.

Als würde mein Abbild in einer Parforcejagd der Möglichkeiten durch alle Dimensionen und Zeiten gejagt, so überschlugen sich die Eindrücke ...

»Es könnte sich beispielsweise um alternative Entwicklungsmöglichkeiten der Person gehandelt haben«, antwortete Frado vorsichtig. »Entwicklungsmöglichkeiten von sehr unangenehmer Art.«

Der Ara nickte langsam. »Es handelt sich also um einen eher psychischen Schock«, überlegte er halblaut.

»Man könnte fast sagen, um so etwas wie einen seelischen Kurzschluss«, versuchte Frado klarzustellen.

»Ist die Kranke mit einer Psychosonde untersucht worden?«

»Selbstverständlich nicht«, antwortete Frado sofort. Die Anwendung von Psychosonden war strikt verboten. Bei dieser Art von Eingriff in das Seelenleben eines Menschen waren Folgeschäden nahezu unvermeidlich; der wichtigste Grund für das Verbot war allerdings die Unantastbarkeit der persönlichen Intimsphäre und Integrität. Allein die Tatsache, dass der Ara danach fragte, stimmte Frado sehr misstrauisch.

»Wir werden sehen, was wir machen können«, sagte Rolwar Kapras. »Zunächst einmal muss aber der psychosomatische Schockzustand der Kranken behoben werden. Wenn wir sie nicht in einen bewussten Zustand zurückführen können, haben alle seelenärztlichen Bemühungen keinen Sinn.«

Frado senkte den Blick. »Es ist versucht worden«, sagte er. »Aber sie reagiert auf keines der bekannten Medikamente. So schlecht ihr Zustand auch ist – er ist außerordentlich stabil, bislang.«

Der Ara setzte ein sanft überlegenes Lächeln auf, als er antwortete: »Wir werden auch mit diesem Problem fertig werden ... Du kannst jetzt gehen!«

Frado Daravol warf einen letzten Blick auf Gherada Ipharsyn, bevor er das Zimmer verließ. Ihr Anblick schmerzte ihn. Und was vielleicht das Schlimmste war – er hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, Gherada klarzumachen, warum ihm ihre Verfassung so sehr zu Herzen ging.

Kapitel 2

 

Lothea Vilgor hob nur knapp den Blick, als der Besucher ihr Zimmer betrat. Ihre Miene war freundlich, aber deutlich abweisend. Besucher waren ihr nur selten willkommen, und das galt insbesondere für Gäste, die sie nicht kannte.

»Du wünschst?«, fragte sie kühl.

»Mein Name ist Yuran Krelyn«, stellte sich der junge Akone vor. »Es handelt sich um meinen Bruder, Dolphor Krelyn.«

Lothea Vilgors Miene wurde ein wenig freundlicher. Dieses Lächeln pflegte sie immer aufzusetzen, wenn Unannehmlichkeiten drohten.

»Ja, und?«

Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, was sie über Dolphor Krelyn wusste. Er war einer ihrer Agenten, Einsatzort Arkon, und zudem einer der erfolgreichsten Agenten ihres Spezialkommandos. Seine Informationen, gesammelt in der unmittelbaren Nähe Atlans, waren für Lothea Vilgor immer von unschätzbarem Wert gewesen.

Von der besonderen Mission Dolphor Krelyns wussten nur sehr wenige Akonen, und zu dieser kleinen Schar zählte sein Bruder natürlich nicht. Nicht einmal der Hohe Rat war über Lotheas Kommando informiert, und sie hatte – alles aus Gründen der Geheimhaltung – nicht einmal der Blauen Schlange in allen Einzelheiten erklärt, auf welche Weise Lotheas Agenten an ihre Nachrichten herankamen. Es musste genügen, dass die Agenten ihre Aufgaben hervorragend lösten – wie sie das jeweils anstellten, blieb Lotheas Geheimnis.

»Ich erinnere mich vage«, sagte sie nachdenklich. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer, und das nutzte sie auch in diesem Fall aus; ihr Lächeln wurde eine Spur freundlicher und interessierter. »Dolphor Krelyn, einer unserer Mitarbeiter ...«

Offiziell leitete Lothea Vilgor eine Abteilung des akonischen Nachrichtendienstes, und alles, was sie tat oder anordnete, unterlag strikter Geheimhaltung. Natürlich war diese Tarnung nicht perfekt, das sollte sie auch gar nicht sein – wichtig war nur, dass die Geheimnisebene unterhalb der offiziellen Hierarchie nicht berührt wurde.

In gewisser Weise glich Lotheas Vorgehensweise der eines Schmugglers, der Zollgüter an den Kontrollen vorbeizumogeln versuchte – wurde er erwischt, zahlte er zerknirscht und reumütig die geforderten Abgaben, und damit hatte sich die Angelegenheit erledigt. Welcher Zöllner kam schon auf die absurde Idee, nachdem er einen Übeltäter mit Schmuggelwhisky entdeckt hatte, im Inneren der Flasche auch noch nach darin gelöstem Rauschgift oder versteckten Schwingquarzen zu suchen?

»Dein Bruder ist, soweit ich weiß, vor einigen Monaten schon bei einem Einsatz verletzt worden, nicht wahr?«

Der junge Akone – ein hübscher Bursche, stellte Lothea beiläufig fest – setzte eine trotzige Miene auf.

»Vor fast einem halben Jahr ist das geschehen«, sagte er. »Seit dieser Zeit habe ich nichts mehr von Dolphor gehört oder gesehen. Man sollte glauben, unsere moderne Medizin des dreizehnten Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung wäre in der Lage, einen Verletzten in dieser Zeit vollkommen herzustellen.«

»Unsere Fachleute können keine Wunder vollbringen«, antwortete Lothea Vilgor freundlich. »Nicht einmal die Aras können das.«

»Ich will ihn sehen«, beharrte Yuran Krelyn. »Jetzt, sofort!«

Hübsch, aber ziemlich frech. Einer Lothea Vilgor begegnete man nicht in diesem Tonfall, aber das konnte Yuran Krelyn nicht wissen. Sie hatte inzwischen per Tastatur – altmodisch, aber dafür nicht so verräterisch wie gesprochene Befehle – die Persönlichkeitsdaten des jungen Mannes auf ihrem Syntron abgerufen. Yuran Krelyn war Oberflächenformer; sein Beruf bestand darin, bei Gebrauchsgegenständen aller Art die äußere Hülle so zu gestalten, dass sie beim Betrachten oder Berühren ein Höchstmaß an Vergnügen bereitete. Ein unauffälliger Beruf, der zu den anderen Daten des jungen Mannes passte. Da Lothea Vilgor mit solchen Auftritten gerechnet hatte – eine ihrer besonderen Begabungen war es, Schwierigkeiten aller Art schon vorher zu wittern und frühzeitig durch Gegenmaßnahmen abzufangen –, sah sie keinen Grund, den Wunsch ihres Besuchers nicht zu erfüllen.

»Einverstanden«, sagte sie und stand auf. »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich dich begleite?« Sie blieb neben ihm stehen und gab ihm die Gelegenheit, ihr Parfüm zu schnuppern. »Wegen der Geheimhaltung, das verstehst du sicher.«

»Wenn es nötig ist«, antwortete Yuran Krelyn halblaut; offenbar hatte er mit so viel Entgegenkommen gar nicht gerechnet. Er zwinkerte verwirrt. »Jetzt, sofort?«

»Das hast du doch gewollt, oder?«

Lothea Vilgor ging voran, Yuran Krelyn folgte brav. Als Oberflächengestalter musste er sehr sensitive Hände haben, überlegte sich Lothea Vilgor. Ob er auch mit der Oberfläche einer Frau umzugehen wusste?

Die Programmierung des Transmitters übernahm Lothea Vilgor selbst; der junge Akone brauchte nicht zu wissen, wohin dieser Ausflug ging. Geschadet hätte es allerdings nichts, hätte er diese Information bekommen; auch für diesen Fall hatte sich Lothea abgesichert.

Der Transmitter beförderte die beiden Akonen über eine Strecke, die wenigstens ein paar Lichtjahre ausmachen musste; man konnte es an den Begleiterscheinungen der Rematerialisierung spüren.

»Er ist nicht im System?«, fragte Yuran Krelyn mit Verwunderung in der Stimme.