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GEO
Die Welt mit anderen Augen sehen
Gruner + Jahr AG & Co KG, Druck- und Verlagshaus,
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Narzissmus

Die Liebe zum Ich

Übersteigerte Selbstliebe, Narzissmus, ist eine gewaltige psychische Kraft – und nach Ansicht vieler Wissenschaftler im Vormarsch begriffen. Ein Antrieb: Erfolgs- und Leistungsdruck, in den Familien beginnend. Benannt nach einem sich selbst bespiegelnden Jüngling in der griechischen Sage, wird sein Ich dem Narzissten zur Droge, zu einem Ego-Trip mit Folgen für ganze Gesellschaften

von Hania Luczak

Wurde Ihnen schon einmal gesagt, Sie hätten eine zu hohe Meinung von sich selbst?

Die Worte der jungen Wissenschaftlerin verklingen sanft in dem schmucklosen Besprechungszimmer. Vor dem Fenster eine Grünanlage auf dem Campus der Freien Universität im Berliner Villenviertel Dahlem. Ein Tag, an dem Studenten auf dem Rasen sitzen, die zukünftige Elite des Landes. Aline Vater hebt den Blick von ihrem Fragebogen, auf dem sie ab und zu Notizen macht. Klare Augen, zurückhaltend und trotzdem intensiv, so mustert die Diplom-Psychologin ihren Probanden.

Jan K., 34, dunkelhaarig, schlank, Jurist, zwei Kinder, geschieden. Sitzt zurückgelehnt, breitbeinig auf seinem Stuhl.

Ja, antwortet er, von meiner jetzigen Lebensgefährtin. Wenn er bei einer politischen Sendung im Fernsehen wieder einmal nach ein, zwei Sätzen alles durchschaut und innerlich abgehakt habe, habe sie des Öfteren gesagt: Du glaubst wohl, du bist Krösus. K. lacht, ein Blick wie aus offenem Visier, jede Geste eine Botschaft: Schaut her, ich habe keine Angst.

Denken Sie oft an die Macht, den Ruhm oder die Anerkennung, die Sie eines Tages haben werden?

Oh ja!, sagt K. Es wird noch knallen in meinem Leben! Definitiv! Ich werde ein Zeichen setzen, Richter beim Bundesverfassungsgericht etwa, das könnte ich mir vorstellen. Auf jeden Fall wird es etwas Besonderes sein.

So hat er auch reagiert, grandios und unbesiegbar, als er die Diagnose bekam, er sei ein ausgeprägter Narzisst, er stünde weit oben auf der Skala, die von Persönlichkeitsstil bis zur Persönlichkeitsstörung reicht. Ja und?, sagt er und schaut dabei aus festen Augen, das bin ich gern.

Narzissmus – Psychologen haben sich den Begriff aus der Antike entliehen. Dort kommt jener Jüngling vor, Narziss, der in unstillbarer Selbstliebe seinem Spiegelbild verfällt. In der modernen Auffassung ist es ein Typ Mensch, der nur sich im Blick hat. Ein Bollwerk des Selbstvertrauens, schwungvoll, eloquent, charmant, durchsetzungsfähig, überlegen, entwaffnend ehrlich, aber auf eigentümliche Weise fern. Eine Gestalt, aus der sich Führungskraft formt.

Glauben Sie, dass es Gründe gibt, weswegen andere Leute Sie besonders zuvorkommend behandeln sollten?

Natürlich, ich gehöre ja nicht zur grauen Masse, sagt K. Abiturnote 1,1. Gute Familie, Jurastudium, noch keinen Prozess verloren. Am Revers seines Jacketts trägt K. die Nadel eines Weltgolfturniers. Lieblingsautomarken Porsche und Saab – die zweite wegen des Understatements. Ein Mann, der sich zu inszenieren weiß. Der Sätze ausspricht wie diesen: Warum sollte ich mit jemandem Mitleid haben? Besser, es trifft andere als mich. Oder: Es zählen im Grunde nur ich – und meine Kinder. Ja sicher, sagt er, das hört sich hart an. Aber ich spreche aus, was andere nur denken.

Narzissmus zieht sich durch die Menschheitsgeschichte von der Antike bis zur Postmoderne; eine scheinbar harmlose Charaktereigenschaft vieler gesunder Menschen, aber auch eine seelische Erkrankung weniger. Wesenszug, Geisteshaltung, Verhaltensmuster einzelner Individuen, aber auch ganzer Gesellschaften.

Er kann wie Egoismus daherkommen, schließt aber weit mehr ein als die selbstzentrierte Eigennützigkeit. In ihm vereinen sich die tiefe Überzeugung der eigenen Großartigkeit mit einem überraschenderweise fragilen Selbstwertgefühl und verkümmertem Einfühlungsvermögen. In ihm durchdringen sich übertriebene Einschätzung eigener Wichtigkeit und unstillbarer Wunsch nach Bewunderung und Anerkennung. Narzissmus reicht tiefer, seine Wirkung weiter, mitunter über Generationen hinweg. Als gewaltige Kraft, als psychischer Motor, der die Menschheit antreibt, aber gleichzeitig entsolidarisiert, vereinzelt und in Krisen treibt. Und manche Forscher sehen ihn gar auf einem Siegeszug um die Welt.