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Linda Seger

VON DER FIGUR ZUM CHARAKTER

Überzeugende Filmcharaktere erschaffen

Aus dem Amerikanischen von

Christine Schreyer

Alexander Verlag Berlin

Die vorliegende Übersetzung folgt der 11. Auflage von CREATING UNFORGETTABLE

CHARACTERS, erschienen 1990 als Owl Book bei Henry Holt and Company, New York.

© 1990 by Linda Seger

© für die deutsche Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 1999

© für die E-Book-Ausgabe 2011

Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, 14050 Berlin

www.alexander-verlag.com

info@alexander-verlag.com

Alle Rechte, auch der auszugsweisen Vervielfältigung – gleich welcher Form –, vorbehalten.

Satz Marc Berger

Made in Germany (December) 2011

ISBN 978-389581-240-8

 

 

Von Linda Seger liegt Alexander Verlag Berlin ebenfalls vor:

DAS GEHEIMNIS GUTER DREHBÜCHER

(Making a Good Script Great)

DANKSAGUNG

Mein herzlicher Dank geht

an meine Herausgeberin Cynthia Vartan,

die mit mir an meinen beiden Büchern gearbeitet hat und deren Wissen

und Ermutigung eine Atmosphäre schaffen, in der die Kreativität sich

entfalten kann;

an meine Agentin Martha Casselman

für ihre Ausdauer und ihre Klarheit;

an meine Freundin und Kollegin Dara Marks,

die mir mit ihren guten Ratschlägen, ihrer klaren, unbestechlichen

Auffassung und durch emotionale Unterstützung bei diesem Projekt

eine große Hilfe war;

an Lenny Felder

für den Titel, seine Professionalität und seine guten Ideen;

an Cathleen Koeser und David Oates,

die mit mir ein Brainstorming durchführten und mir dadurch halfen,

Kapitel 4 und 8 zu Ende zu bringen;

an die Leser (und Drehbuchautoren) Lee Batchler und Janet Scott

Batchler, Ralph Phillips, Lindsay Smith und Lynn Rosenberg

dafür, daß sie mein Buch gelesen haben, mir halfen, das Konzept zu

überprüfen und zu analysieren, und dafür, daß sie viele Stunden ihrer

Zeit geopfert haben, um dem Manuskript den letzten Schliff zu geben;

an Dr. Alan Koehn

vom C. G. Jung Institute dafür, daß er Kapitel 4 gelesen hat;

an die Bühnenautoren Paul Carter Harrison und Dianne Piastro

vom Media Access Office dafür, daß sie Kapitel 10 gelesen haben;

an Susan Raborn

für die Recherche, für stundenlanges Transkribieren von Bändern und

dafür, daß sie immer zur Verfügung stand, wenn ich sie brauchte;

an die Leute im Friendly Computer Store in Santa Monica

für die technische Unterstützung;

und an meinen Ehemann Peter Hazen Le Var,

der mir zuhörte, wenn ich laut nachdachte, mir beim Brainstorming

half und mich immer liebevoll unterstützte.

INHALT

Vorwort

1. Figuren recherchieren

2. Die Figur definieren: Beständiges und Widersprüchliches

3. Die Backstory

4. Die Psychologie der Figur

5. Beziehungen zwischen den Figuren

6. Hinzufügen von Nebenfiguren und kleinen Rollen

7. Dialoge

8. Nichtrealistische Figuren

9. Jenseits von Stereotypen

10. Das Lösen von Figurenproblemen

Epilog

Frauen im Film – Die Kriterien des Luminas Award

Anmerkungen

VORWORT

Vor einigen Jahren wurde ich von einer Fernsehproduzentin um Rat gebeten, die in einem Drehbuch Probleme mit einer Figur hatte. Die Rolle war bereits mit einem bekannten und beliebten Schauspieler besetzt, bewegte sich aber in einem sehr eng gesteckten Rahmen. Während des Beratungsgesprächs forschten wir gemeinsam nach einem erweiterten Gefühlsspektrum, nach Möglichkeiten, die Figur vielschichtiger zu gestalten, nach denkbaren Weiterentwicklungen. Später wurde der Schauspieler für seine Darstellung für den Emmy nominiert.

Einige Monate später wurde ich gebeten, die Produzenten einer Serie zu beraten, die in Schwierigkeiten steckte. Die Einschaltquoten waren niedrig, und der Sender drohte, die Serie abzusetzen. Obwohl die Darstellung ausgezeichnet und die Figuren im großen und ganzen gut gezeichnet waren, entwickelten sie sich kaum weiter. In einem Abendseminar durchforsteten wir mögliche Konfliktsituationen: Themen, die das Spektrum der Figuren erweitern würden, wechselseitige Beziehungen, die bereits Teil der Serien waren, über die aber keine eingehende Untersuchung angestellt worden war, sowie die Gründe, warum ein Publikum Interesse daran haben sollte, Woche für Woche am Schicksal dieser Figuren Anteil zu nehmen. Die Produzenten waren begeistert und machten sich daran, die Serie umzukrempeln. Es war zu spät. Der Sender hatte bereits beschlossen, sie abzusetzen. Seitdem hat der vielseitig begabte und beliebte Schauspieler trotz einer Reihe von Erfolgen in der Vergangenheit kein neues Serienangebot gefunden.

In beiden Situationen waren die Figuren der Schlüssel zu einer funktionierenden Geschichte. Großartige Figuren sind ausschlaggebend für eine großartige Erzählung. Wenn die Figuren nicht geglückt sind, reichen Inhalt und Handlung nicht aus, um das Interesse von Zuschauern oder Lesern wachzuhalten. Erinnern wir uns an die einprägsamen Figuren in den Romanen VOM WINDE VERWEHT (GONE WITH THE WIND), WER DIE NACHTIGALL STÖRT (TO KILL A MOCKINGBIRD), JANE EYRE und TOM JONES. Oder in den Theaterstücken AMADEUS, GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN (LES LIAISONS DANGEREUSES) und DIE GLASMENAGERIE (THE GLASS MENAGERIE); in den Filmen CASABLANCA, DER STADTNEUROTIKER (ANNIE HALL) und CITIZEN KANE. Oder in den Fernsehserien I LOVE LUCY, ALL IN THE FAMILY und THE HONEYMOONERS. Selbst Action-/Abenteuerfilme wie NUR 48 STUNDEN (48 HOURS), ZWEI STAHLHARTE PROFIS (LETHAL WEAPON) und STIRB LANGSAM (DIE HARD) und Horrorfilme wie NIGHTMARE ON ELM STREET verdanken ihren Erfolg starken, gut gezeichneten Figuren.

Unvergeßliche Figuren zu schaffen beruht auf einem bestimmten Verfahren. Obwohl manche Schriftsteller behaupten, daß man dieses Verfahren niemandem beibringen kann, habe ich als Drehbuchberaterin die Erfahrung gemacht, daß es Strategien und Techniken gibt, um die Figuren zu verbessern. Durch Gespräche mit vielen von der Kritik gepriesenen Schriftstellern lernte ich die Techniken und Methoden kennen, die große Schriftsteller verwenden, um großartige Figuren zu schaffen.

Ich weiß auch, daß die Probleme, mit denen Schriftsteller konfrontiert sind, die gleichen sind, denen Produzenten, Regisseure, Assistenten und Schauspieler gegenüberstehen. Das sind die Leute, die die Probleme mit der Figur definieren, die richtigen Fragen stellen und den Weg zu einer machbaren Lösung aufzeigen müssen.

Die Techniken in diesem Buch lassen sich auf die Entwicklung aller Prosafiguren anwenden und basieren auf den Prinzipien, die ich als Professorin für Schauspielkunst, als Theaterregisseurin und, in den letzten zehn Jahren, als Drehbuchberaterin entdeckt habe. Ich habe für dieses Buch über dreißig Schriftsteller interviewt, die diese Techniken formuliert und bestätigt haben; darunter Romanschriftsteller und Autoren für Film, Fernsehen, Bühnenstücke und Werbung. Da sich meine Tätigkeit auf Drehbücher konzentriert, stammen die meisten Beispiele aus Film und Fernsehen. Die meisten der literarischen Beispiele sind Romanen und Theaterstücken entnommen, die verfilmt wurden, da wahrscheinlich den Lesern entweder der Film oder der Roman bekannt ist. Romanschriftsteller bestätigten bei unseren Gesprächen, daß alle Konzepte für Figuren, die ich im Hinblick auf Film und Fernsehen besprochen habe, auch auf Romane anwendbar sind.

Da mein letztes Buch – DAS GEHEIMNIS GUTER DREHBÜCHER (MAKING A GOOD SCRIPT GREAT) – davon handelt, wie die Figuren in Beziehung zur Story und zur Struktur stehen, möchte ich diese Fakten nicht noch einmal wiederholen. Statt dessen werde ich mich auf die Technik konzentrieren, mit der man vielschichtige Einzelfiguren sowie ihre Beziehungen zueinander entwickelt. Wenn Sie als Schriftsteller noch unerfahren sind, können Ihnen diese Techniken weiterhelfen in Zeiten, da die Inspiration zu versiegen scheint. Auch als erfahrener Schriftsteller haben Sie bestimmt schon erlebt, daß eine Ihrer Figuren einfach nicht stimmt. Die hier dargestellten Techniken zu studieren hilft Ihnen, das, was Sie instinktiv tun, zu verstehen.

Figuren entstehen durch eine Mischung aus Wissen und Phantasie. Dieses Buch soll Ihre schöpferische Entwicklung anregen und Sie durch einen Entwicklungsprozeß begleiten, der in starken, vielschichtigen und unvergeßlichen Figuren gipfelt.

1. FIGUREN RECHERCHIEREN

Vor einiger Zeit kam eine meiner schreibenden Klientinnen mit einem wunderbaren Entwurf für ein Drehbuch zu mir. Seit mehr als einem Jahr hatte sie es immer wieder überarbeitet. Ihre Agentin wartete gespannt auf die neue Geschichte.

Obwohl sie füher schon öfter dafür kritisiert worden war, daß manche ihrer Drehbücher für den kommerziellen amerikanischen Markt nicht stark genug seien, war dieses hier spannend und kraftvoll. Es war jene Art von Geschichte, die viele Produzenten als »erstklassigen Entwurf« bezeichnen – mit einem starken Aufhänger und einer originellen Herangehensweise an die Geschichte, mit einem eindeutigen Konflikt und klar umrissenen Figuren.

Ihr erster Film war gerade fertiggestellt worden, und sie rechnete damit, mit diesem Drehbuch Neuland zu erschließen. Sie mußte schnell fertig werden – doch die Figuren funktionierten nicht. Sie war vollkommen ratlos.

Als ich das Drehbuch analysierte, erkannte ich, daß sie nicht genug über das Milieu wußte – über die Welt der Figuren. Einige Szenen spielten in einer Obdachlosenunterkunft. Sie hatte zwar einige Zeit in der Unterkunft Suppe ausgegeben und mit den Obdachlosen gesprochen, doch sie hatte nie die Erfahrung gemacht, was es heißt, dort zu übernachten oder auf der Straße zu leben. Aus diesem Grund mangelte es an Detailarbeit und Gefühlen. Es gab nur eine Möglichkeit, die Probleme mit ihren Figuren zu überwinden – sie mußte die Recherche wiederaufnehmen.

Der erste Schritt bei der Erschaffung jeder Figur ist die Recherche. Da Schreiben zumeist das persönliche Vordringen in unerforschtes Terrain ist, sind Recherchen notwendig, um sicherzugehen, daß die Figur und ihr Kontext plausibel und wahrheitsgetreu klingen.

Viele Schriftsteller lieben das Recherchieren. Sie schildern es als Abenteuer, als Entdeckungsreise, als Gelegenheit, etwas über andere Welten und andere Menschen zu lernen. Sie lieben es, wie ihre Figuren lebendig werden, nachdem sie viele Tage damit verbracht haben, mehr über deren Welt zu erfahren. Wird durch ihre Recherche etwas bestätigt, was sie intuitiv wußten, sind sie überglücklich. Jede neugewonnene Einsicht gibt ihnen das Gefühl, daß sie bei der Erschaffung einer spannenden Figur einen Riesenschritt vorangekommen sind.

Andere schüchtert der Gedanke an Recherche ein, und sie betrachten sie als den schwierigsten Teil der Arbeit. Viele Schriftsteller lehnen das Recherchieren ab und sträuben sich dagegen, stundenlang Telephongespräche zu führen oder in Bibliotheken nach Informationen zu stöbern. Recherchen können frustrierend und zeitaufwendig sein. Sie können in zahlreichen Sackgassen landen, bevor Sie irgend etwas erreichen, und womöglich haben Sie keine Ahnung, wie Sie es anfangen sollen, einen bestimmten Aspekt der Figur zu recherchieren: Die Recherche ist jedoch der erste Schritt in dem Prozeß, eine Figur zu formen.

Man hat die Tiefe einer Figur mit einem Eisberg verglichen. Der Zuschauer oder Leser sieht nur die Spitze der Arbeit eines Schriftstellers – vielleicht nur zehn Prozent von allem, was der Autor über die Figur weiß. Der Schriftsteller muß darauf vertrauen, daß seine gesamte Arbeit der Figur Tiefe verleiht, auch wenn viele Informationen nie direkt im Drehbuch erscheinen.

Wann muß man recherchieren? Stellen Sie sich einen Moment lang vor, Sie schreiben einen Roman. Jeder, der ihn liest, findet, daß Ihr Held, ein siebenunddreißigjähriger Weißer, eine faszinierende Persönlichkeit ist, manche seiner Motivationen sind jedoch nicht nachvollziehbar. Sie kommen zu dem Schluß, daß Sie mehr über das Innenleben Ihrer Figur herausfinden müssen. Ein Freund schlägt Ihnen vor, SEASONS OF A MANS LIFE von Daniel Levinson über die Midlife-crisis des Mannes zu lesen, und Sie machen eine Analyse in einer Männergruppe mit. Durch diese Recherchen hoffen Sie zu erfahren, was mit Männern in der Midlife-crisis geschieht und wie sie ihr Verhalten beeinflußt.

Oder Sie haben die Arbeit an Ihrem Drehbuch gerade beendet und stellen fest, daß die tragende Figur, der schwarze Rechtsanwalt, weniger Substanz zu haben scheint als die anderen. Sie fragen bei der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) nach, ob dort ein schwarzer Anwalt bekannt ist, der bereit wäre, mit Ihnen zu reden. Sie müssen in Erfahrung bringen, wie sich der ethnische Hintergrund auf diese spezielle Figur mit diesem speziellen Beruf auswirkt.

Oder Sie wurden damit beauftragt, einen Film über die amerikanischen Entdeckungsreisenden Meriwether Lewis und William Clark (zu Beginn des 19. Jahrhunderts) zu schreiben. Sie sind klug – Sie bitten das Studio um Geld für Recherchen, Reisespesen und acht Monate Zeit. Sie müssen die Erfahrungen einer solchen Reise nachvollziehen und Verständnis dafür entwickeln, welchen Einfluß die historische Periode auf Figuren und Dialog hat.

Allgemeine und gezielte Recherche

Wo fängt man an? Gehen Sie zunächst davon aus, daß Sie nie ganz von vorne anfangen. Sie haben bereits ihr ganzes Leben lang Recherchen betrieben, es gibt eine Menge Material, auf das Sie zurückgreifen können.

Das, was man allgemeine Recherche nennt, betreiben Sie die ganze Zeit. Es sind die Beobachtungen – die Wahrnehmungen –, die die Grundlage für eine Figur bilden. Vielleicht sind Sie ein geborener Beobachter. Sie studieren, wie Menschen gehen, was sie tun, wie sie gekleidet sind, den Rhythmus ihrer Sprache, sogar ihre Denkmuster.

Wenn Sie neben dem Schreiben einen anderen Beruf ausüben – vielleicht als Arzt, Immobilienmakler oder Geschichtslehrer –, können Sie das Material, das Sie durch die Arbeit in sich aufgesogen haben, für das Drehbuch einer Arztserie, eine Geschichte über den Immobilienhandel oder für einen Roman oder ein Drehbuch über das mittelalterliche England verwenden.

Sie betreiben auch allgemeine Recherchen, wenn Sie Kurse in Psychologie oder einem künstlerischen oder naturwissenschaftlichen Fach belegen. Später wird Ihnen das, was Sie gelernt haben, die Details liefern, die Sie für Ihre nächste Geschichte brauchen.

Viele Schreiblehrer sagen: »Schreiben Sie über das, was Sie kennen« – aus gutem Grund. Sie haben erkannt, daß dieses permanente, lebenslange Beobachten und allgemeine Recherchieren viele Details abwirft, die zu ermitteln Monate oder Jahre verlangen würde, schriebe man über ein Gebiet außerhalb seines Erfahrungsbereiches.

Carl Sautter, Schriftsteller, früher Redakteur bei »Moonlighting« und Autor von HOW TO SELL YOUR SCREENPLAY, erzählt die Geschichte eines Autors, der ihm eine Fort-Lauderdale-Story anbot. »Er wollte einen Film über vier Mädchen machen, die in den Osterferien nach Fort Lauderdale fahren. Die Idee ist nicht schlecht, doch ich stellte fest, daß er noch nie während der Osterferien in Fort Lauderdale war. Wir unterhielten uns weiter, und ich erfuhr, daß er auf einer kleinen Farm in Kansas aufgewachsen war. Und dann sagte er: ›Es ist ein Jammer, daß ich diese Woche nicht dort sein kann; es ist die Pancake-Woche.‹ Diese kleine Stadt feierte ihr jährliches Pancake-Festival. Und er begann zu erzählen, was die Leute dort alles mit Pancakes anstellen, und erklärte die Einzelheiten des Festes. Und ich sagte: ›Da haben wir Ihre Geschichte. Das ist ein herrlicher Ausgangspunkt für einen Film. Warum wollen Sie eine Geschichte über etwas erzählen, was Sie nie erlebt haben und über das zweitausend Leute besser schreiben können als Sie? Schreiben Sie über etwas, was Sie kennen.‹«

Die Schaffung einer Figur beginnt mit dem, was Sie bereits wissen. Doch die allgemeine Recherche liefert unter Umständen nicht genügend Informationen. Sie müssen auch gezielte Recherche betreiben, um solche Details der Figur zu ergänzen, die nicht Teil Ihrer eigenen Beobachtungen und Erfahrungen sind.

Der Romanschriftsteller Robin Cook (COMA [COMA], DAS LABOR DES GRAUENS – THE FREAKMAKERS [ MUTATION], LAUTLOSE KILLER[OUTBREAK] und so weiter) ist Doktor der Medizin, aber dennoch muß er für seine medizinischen Romane gezielte Recherche anstellen. »Lesen macht den größten Teil des Recherchierens aus«, sagt er, »doch ich spreche auch mit Ärzten, die auf das Fachgebiet meines Romans spezialisiert sind. Normalerweise arbeite ich sogar einige Wochen in diesem Spezialgebiet. Als ich das Buch BRAIN schrieb, das von einem Neuroradiologen handelt, verbrachte ich zwei oder drei Wochen an der Seite eines Neuroradiologen. Zu LAUTLOSE KILLER, wo es um eine moderne Form der Pest geht, sprach ich mit den Leuten am Zentrum für Seuchenbekämpfung in Atlanta und beschäftigte mich mit der Erforschung von Viren. Zu DAS LABOR DES GRAUENS – THE FREAKMAKERS recherchierte ich über die Gentechnik. Die Weiterentwicklung auf diesem Gebiet erfolgt in einem dermaßen rasanten Tempo, daß fast alles, was ich im Studium gelernt habe, keine Gültigkeit mehr hat. Ich schreibe ein Buch pro Jahr. Gewöhnlich verbringe ich sechs Monate mit Recherchieren, zwei Monate, um ein Konzept anzufertigen, zwei Monate, um das Buch zu schreiben, und zwei Monate verbringe ich mit anderen Dingen wie Publicity und arbeite in einem Krankenhaus.«

Das Milieu

Figuren existieren nicht in einem Vakuum. Sie sind ein Produkt ihrer Umgebung. Eine Figur aus dem Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts ist anders als eine Figur aus dem Texas von 1980. Eine Figur, die in einer Kleinstadt in Illinois als praktischer Arzt arbeitet, ist anders als jemand, der als Pathologe am Boston General Hospital arbeitet. Jemand, der in Armut auf einer Farm in Iowa aufwächst, ist anders als jemand, der in reichen Verhältnissen in Charleston, South-Carolina, aufwächst. Ein schwarzer, ein hispanischer oder irischer Amerikaner ist anders als ein Schwede aus St. Paul. Das Verständnis für eine Figur beginnt mit dem Verständnis für das Milieu, das sie umgibt.

Was ist Milieu? Syd Field gibt in seinem Buch SCREENPLAY eine ausgezeichnete Definition. Er vergleicht das Milieu mit einer leeren Kaffeetasse. Die Tasse stellt das Milieu dar. Sie ist der Raum, der die Figur umgibt, der dann mit den Besonderheiten der Geschichte und der Figuren gefüllt wird.1 Kontexte, die eine Figur am stärksten definieren, sind: Kultur, historische Epoche, der Ort und der Beruf.

Kulturelle Einflüsse

Jede Figur hat einen ethnischen Hintergrund. Bei einem Amerikaner der dritten Generation von schwedisch-deutscher Abstammung (wie bei mir) mag der Einfluß der Herkunft minimal sein. Bei einem schwarzen Jamaikaner der ersten Generation dagegen kann der ethnische Hintergrund Verhalten, Überzeugungen, emotionale Ausdrucksfähigkeit und Lebensphilosophie bestimmen.

Jede Figur hat einen gesellschaftlichen Hintergrund. Es macht einen Unterschied, ob jemand aus einer mittelständischen Farmerfamilie in Iowa oder aus einer Oberschichtfamilie in San Francisco kommt.

Jede Figur hat einen religiösen Hintergrund. Ist sie katholisch, jüdisch-orthodox, Anhänger der New-Age-Philosophien oder Agnostiker?

Jede Figur hat eine bestimmte Bildung. Die Anzahl der Schuljahre, das Studienfach und so weiter prägen das Wesen der Figur.

All diese kulturellen Aspekte haben einen weitgehenden Einfluß auf die Figur und bestimmen ihre Art, zu denken und zu sprechen, ihre Wertvorstellungen, ihre Interessen und ihr Gefühlsleben.

John Patrick Shanley (MONDSÜCHTIG [MOONSTRUCK]) stammt aus einem irisch-amerikanischen Elternhaus, doch er hatte seine italienischen Nachbarn von gegenüber studiert: »Ich sah, daß sie besseres Essen hatten. Sie waren in ihrem Körper mehr zu Hause. Wenn sie sprachen, sprachen sie mit ihrem ganzen Ich. Es gab auch Dinge an den Iren, die mir gefielen. Sie konnten zum Beispiel die Italiener in Grund und Boden reden. Und sie hatten eine andere Art von Charme. Also übernahm ich von beiden das Beste ... für mein Schreiben und für mein Leben.«2

William Kelley recherchierte etwa sieben Jahre lang für DER EINZIGE ZEUGE (WITNESS), studierte die Lebensweise der Amish und suchte nach Möglichkeiten, weitere Informationen über Menschen zu bekommen, die kein Interesse daran hatten, an die Öffentlichkeit zu gehen. »Die Amish waren Hollywood gegenüber sehr mißtrauisch, so daß es furchtbar schwer war, etwas zu erreichen, bis ich Bishop Miller traf – einen Hersteller von Pferdefuhrwerken. Zufällig erwähnte ich, daß wir für die Dreharbeiten etwa fünfzehn dieser Fuhrwerke benötigen würden. Miller baute Fuhrwerke, und da er ein guter Geschäftsmann war, sagte er sofort ›Hm-jaa‹, und plötzlich hatte ich Zugang zum Leben der Amish.«

Bishop Miller wurde das Vorbild für Eli in DER EINZIGE ZEUGE (WITNESS). Durch diese Beziehung erfuhr Kelley, daß die Amish große Pferdekenner waren, daß sie sehr humorvoll waren und daß die Frauen sehr kokett sein konnten.

Die Kultur bestimmt Sprechrhythmen, Grammatik und Vokabular. Lesen Sie die untenstehenden Sätze laut und hören Sie auf den Tonfall der Figuren.

In SARAH UND SAM (CROSSING DELANCEY) von Susan Sandler kontrastiert die Sprache der Upper West Side mit der Sprache der Lower East Side. In diesem Falle leben alle Figuren (außer dem Dichter) in einem jüdischen Milieu und kommen aus einer ganz bestimmten Gegend New Yorks. Diese beiden Umstände beeinflussen ihre Sprache.

Izzy von der Upper West Side beschreibt ihre Situation: »Ich habe jemanden kennengelernt. Es war ein arrangiertes Treffen mit einem Heiratsvermittler. Großmutter hatte es vereinbart.«

Bubba, die Großmutter, in einem anderen Rhythmus: »Wer den Affen fangen will, muß auf den Baum klettern. Ein Hund sollte allein leben, ein Mensch nicht.«

Sam, der Mann mit den sauren Gurken von der Lower East Side, hat einen anderen Sprachstil: »Ich bin ein fröhlicher Bursche. Ich steh’ gern früh auf und hör’ die Vögel zwitschern. Ich zieh’ mir ein sauberes Hemd an, geh zur ›Schul‹ und sag’ mein Morgengebet. Um neun mach’ ich den Laden auf.«

Und der Dichter: »Es ist eine köstliche Ruhe um dich, Izzy.«

Hören Sie auf den Rhythmus in dem irischen Stück REITER ZUM MEER von John Millington Synge: »Sie sind alle zusammen, dieses Mal, und das Ende ist gekommen. Möge der Allmächtige Gott Gnade haben über Bartleys Seele, – und über Michaels Seele, und über die Seele von Sheamus und Patch und Stephen und Shawn; und möge Er Gnade haben über meine Seele, Nora, und über die Seele von jedem, der noch lebt auf der Welt.«3

Achten Sie auf den sprachlichen Unterschied zwischen Eli, dem Amish, und John Book, dem Polizisten aus Philadelphia. Diese Sprechrhythmen sind sehr subtil, aber wenn Sie den Dialog laut lesen, hören Sie den Unterschied zwischen dem Singsang in Elis Sprache und Johns Direktheit:

ELI

Passen Sie auf sich auf da draußen bei den Engländern.

JOHN BOOK

Samuel, ich bin Polizeibeamter. Meine Aufgabe ist es, diesen Mord zu untersuchen.

Oft werden in Ihren Geschichten Figuren aus mehreren verschiedenen Kulturen auftreten. Für die, die aus Ihrer eigenen Kultur stammen, können Sie auf eigene Kenntnisse zurückgreifen, um Sprechrhythmen und Überzeugungen zu finden. Bei Figuren aus anderen Kulturen müssen Sie unter Umständen zusätzliche Recherchen anstellen, um zu gewährleisten, daß diese Kulturen authentisch wirken, und damit Sie die Gewißheit haben, daß Sie individuelle Figuren geschaffen haben – nicht einfach Figuren mit unterschiedlichen Namen, die sich alle gleich verhalten und sich alle gleich anhören.

Die historische Periode

Es ist besonders schwierig, eine Geschichte in einer anderen Zeit anzusiedeln. Die Recherchen sind hier im allgemeinen indirekt. Trägt sich die Geschichte im London des sechzehnten Jahrhunderts zu, kann sich ein Schriftsteller auf den Straßen des zwanzigsten Jahrhunderts keine Informationen aus erster Hand beschaffen. Einem Engländer von heute zuzuhören sagt uns wenig darüber, wie vor vierhundert Jahren in England gesprochen wurde. Das Vokabular ist heute anders, die Sprechrhythmen sind andere, und selbst die Wörter sind andere, da viele der Wörter und Bedeutungen veraltet sind.

Der Romanschriftsteller Leonard Tourney, Geschichtsprofessor an der University of California in Santa Barbara, hat mehrere Bücher über das England des sechzehnten Jahrhunderts geschrieben, zum Beispiel OLD SAXON BLOOD und THE PLAYERS’ BOY IS DEAD. Seine Berufserfahrung liefert ihm das Wissen über diese Epoche, dennoch muß er bestimmte Einzelheiten beim Schreiben seiner Bücher recherchieren.

Tourney sagt: »Ich brauche zum Beispiel Informationen über die Innung der Rechtsanwälte, ihre Geschichte und ihre Methoden während des späten sechzehnten oder frühen siebzehnten Jahrhunderts. In einem meiner Romane ging es um einen Hexenprozeß. Ich mußte herausfinden, ob es im frühen siebzehnten Jahrhundert üblich war, daß eine Angeklagte durch einen Rechtsbeistand vertreten wurde. Die Antwort war nein – wodurch der Prozeß seltsam wirkt. Ich mußte herausfinden, wie viele Richter beteiligt waren, ob es üblicherweise eine Jury gab und wenn ja, wie viele Geschworene ihr angehörten. Ich erfuhr, daß jegliches verdächtige Benehmen zu diesem Zeitpunkt als hinreichender Beweis galt, um die Angeklagte der Hexerei für schuldig zu erklären – eine Tatsache, die meiner Phantasie breiten Spielraum ließ. Ich mußte herausfinden, welches Strafmaß Hexen zugemessen wurde.«

Kürzlich arbeitete ich als Beraterin bei einem Projekt über den Mormonentreck nach Westen, nach Salt Lake City, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Kieth Merrill, Schriftsteller und Regisseur, lieferte die aus Recherchen gewonnenen Informationen über historische Reden und Einzelheiten der Reise. Die Schriftstellerin Victoria Westermark, die mehrere im neunzehnten Jahrhundert angesiedelte Drehbücher geschrieben hat, überarbeitete den Text und gab ihm den letzten Schliff. Sie erklärt, daß sie bei der Bestimmung der Sprache jener Epoche und ihren Besonderheiten für das Drehbuch zu LEGACY auf früheren Erfahrungen aufbauen konnte.

»Gewöhnlich brüte ich über – soweit vorhanden – Tagebüchern, Originalbriefen oder Reden, die die Person vielleicht gehalten hat. Obwohl sich das geschriebene Wort vom gesprochenen unterscheidet, offenbaren sich Menschen in Tagebüchern. Briefe dagegen können sehr steif sein. Daneben lese ich die Lokalzeitung aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Dort finde ich den Rhythmus der breiten Öffentlichkeit, ihre eingefleischten Vorlieben und Abneigungen und sogar die Flüche.

Ich habe auch an der Huntington-Bücherei in Pasadena recherchiert. Dort fand ich Originaltagebücher. Ich führe, nach Jahrzehnten geordnet, Listen von interessanten Wörtern und Redewendungen, die zwar nicht mehr im allgemeinen Gebrauch sind, aber die Sprache bereichern, und auch nicht so veraltet sind, daß sie die Zuschauer verwirren zu können.«

Selbst nach umfangreichen Recherchen werden Sie sich oft zusätzliche Details, die Sie nirgends finden können, ausdenken müssen. Nutzen Sie alles, was Sie herausgefunden haben, damit die Wiedergabe der Periode authentisch erscheint.

Schauplätze

Viele Schriftsteller siedeln ihre Geschichten an einem ihnen vertrauten Ort an. Wenn Sie in New York aufgewachsen sind, ist es wahrscheinlich, daß viele Ihrer Geschichten in dieser Stadt spielen. In Hollywood gibt es Tausende von Manuskripten über Leute, die nach Hollywood kommen, um dort ihr Glück zu machen. Oder aber Schriftsteller wählen einen Ort, den sie besucht haben oder wo sie für kurze Zeit gelebt haben. Je besser man sich an einem Schauplatz auskennt, desto weniger Recherche ist notwendig. Dennoch haben auch Schriftsteller, die eine Gegend kennen, schon die Erfahrung gemacht, daß sie zu gezielten Recherchen noch einmal hinfahren müssen.

William Kelley hatte im Gebiet des Lancaster County in Pennsylvania gelebt. Er verfügte somit über gute Voraussetzungen für seine Recherchen zum Schauplatz von DER EINZIGE ZEUGE. Dennoch kehrte er in diese Gegend zurück, um nach Vorbildern für seine Figuren zu suchen und für sein Vorhaben seine Kenntnisse über die Amish zu vertiefen.

James Dearden, Verfasser von EINE VERHÄNGNISVOLLE AFFÄRE (FATAL ATTRACTION), ist Brite, aber er verbrachte viel Zeit in New York City – dem Schauplatz seines Films.

Zwei von Ian Flemings James-Bond-Romanen, DR. NO (DR. NO) und LEBEN UND STERBEN LASSEN (LIVE AND LET DIE), spielten in Jamaica, wo Fleming ein Grundstück besaß, das Goldeneye. Bevor er MAN LEBT NUR ZWEIMAL (YOU ONLY LIVE TWICE) schrieb, besuchte er Tokio, und LIEBESGRÜSSE AUS MOSKAU (FROM RUSSIA WITH LOVE) schrieb er erst nach einer Reise im Orientexpreß.

Der Schauplatz beeinflußt die unterschiedlichsten Aspekte einer Figur. In DER EINZIGE ZEUGE unterscheidet sich der hektische Lebensrhythmus in Philadelphia von dem gemächlicheren Tempo auf der Amish-Farm. Der Rhythmus des Westens in DER ELEKTRISCHE REITER (ELECTRIC HORSEMAN) unterscheidet sich von den Rhythmen New Yorks in DIE WAFFEN DER FRAUEN (WORKING GIRL) – und das beeinflußt die Figuren.

Wenn Sie die Geschichte RAIN von Somerset Maugham schreiben würden (aus der später zwei Filme gemacht wurden) oder DIE NACHT DES LEGUAN von Tennessee Williams oder DIE KRAFT UND DIE HERRLICHKEIT von Graham Greene, würden Sie bei Ihren Personenschilderungen das Gefühl der Beklemmung, das durch die Hitze und die Feuchtigkeit entsteht, oder das klaustrophobische Empfinden, das der permanente Regen in den Tropen hervorruft, einfangen wollen.

Wenn Sie ein Buch schreiben würden wie IN GOD WE TRUST von Jean Shepherd oder das Drehbuch für WENN DIE WÖLFE HEULEN (NEVER CRY WOLF) von Curtis Hanson, Sam Hamm und Richard Kletter, müßten Sie wissen, wie Temperaturen unter dem Gefrierpunkt Lebensweise und Verhalten beeinflussen.

Dale Wasserman, der das Theaterstück zu Ken Keseys Roman EINER FLOG ÜBER DAS KUCKUCKSNEST (ONE FLEW OVER THE CUCKOOS NEST) geschrieben hat, mußte, um seine Figuren zu verstehen, Recherchen vor Ort betreiben. »Es gehörte zu meinen Recherchen, verschiedene Anstalten aufzusuchen. Ich besuchte erstklassige und grauenerregende Anstalten. Danach vereinbarte ich mit dem Psychiater einer sehr großen Institution, mich selbst für einige Zeit als Patient einweisen zu lassen. Ursprünglich wollte ich drei Wochen bleiben; am Ende blieb ich nur zehn Tage. Nicht, weil es angsteinflößend war oder unbehaglich, sondern das genaue Gegenteil: Es war ausgesprochen gemütlich. Ich begriff ein paar Dinge, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Erstens: Wenn man seinen Willen und seine Entscheidungskraft einer Institution anvertraut, wird das Leben sehr unkompliziert, und die Versuchung, einfach drinzubleiben und dort zu leben, ist sehr stark. Ich lernte die verschiedensten Patienten kennen, ihre Ausdruckskraft, ihre verschiedenen Fähigkeiten.«

Als Kurt Luedtke das Drehbuch für JENSEITS VON AFRIKA (OUT OF AFRICA) schrieb, mußte er alles über Karen Blixens Welt im Afrika der zwanziger und dreißiger Jahre herausfinden.

»Als Junge habe ich mich für Afrika interessiert, deshalb bin ich mir sicher, wenn ich heute in meinen Bücherregalen nachsehe, finde ich mindestens fünfzig Bücher über Ostafrika. Aufgrund meiner Recherchen wußte ich, daß die westliche Zivilisation im Jahr 1892 Afrika noch nicht erreicht hatte und daß die Menschen dort am Rande der damals bekannten Welt lebten.«

Die Bücher aus seinem Regal halfen ihm zwar bei seinen allgemeinen Recherchen, dennoch mußte Kurt Luedtke auch eine Menge gezielter Recherchen durchführen, um die Fragen zu beantworten, die während der Arbeit am Drehbuch auftauchten.

»Ich mußte herausfinden, wie Kaffee wächst, wie er blüht und wie eine Plantage funktioniert. Das erfuhr ich, indem ich einen Kaffeepflanzer befragte.

Ich mußte die Beziehung zwischen den Weißen, vorwiegend Briten, und den kenianischen Schwarzen verstehen lernen. Ich mußte die afrikanischen Stämme kennen, denn Blixen setzte wahrscheinlich keine Kikuyo als Diener im Haus ein, sondern Somali.

Ich mußte bedenken, daß viele Weiße zu dieser Zeit ihren Lebensunterhalt mit der Elfenbeinjagd verdienten.

Ich mußte über den Status der Regierung Bescheid wissen: War es eine Kolonie oder ein Protektorat; wer hatte welche Machtbefugnisse; wie war die Beziehung zwischen der Regierung und den Siedlern?

Ich mußte die Geschichte des Ersten Weltkrieges in Ostafrika kennen. Man denkt normalerweise nicht, daß der Erste Weltkrieg irgendwelche Konsequenzen für Afrika hatte, die hatte er aber durchaus.«

Jedes dieser vielen Details – der ruhige Lebensrhythmus, wo lange Erzählungen zur abendlichen Unterhaltung gehören, das Verhalten zwischen den Kolonisten und den Eingeborenen, die frei umherstreifenden wilden Tiere, die wirtschaftliche Unsicherheit des Lebens auf einer Kaffeeplantage – zeigt, wie die intensiven Recherchen vor Ort zum Funktionieren der Figuren beitrugen.

Der Einfluß der beruflichen Tätigkeit

Manchmal bestimmt der Beruf der Figur das Milieu.

Jemand in der Wall Street hat einen anderen Lebensrhythmus und eine andere Lebensweise als ein Farmer in Iowa. Ein Computerfachmann verfügt über andere Fähigkeiten als ein Olympiaschnellläufer. Ein Gärtner und ein Fußpfleger haben aufgrund ihrer Arbeit unterschiedliche Ansichten, andere Wertvorstellungen und andere Sorgen.

James Brooks reizte die Idee von NACHRICHTENFIEBER – BROADCAST NEWS(BROADCAST NEWS), weil er ein wirklicher Nachrichtenfan war. Er hatte auch einige Zeit bei einem Nachrichtensender gearbeitet, doch selbst mit diesem Hintergrund mußte er noch eineinhalb Jahre auf die Recherche für das Drehbuch verwenden. Ein Teil dieser Nachforschungen bestand darin, sich ausgiebig mit Nachrichtensprechern zu unterhalten und sich in Funkhäusern genau umzusehen.

»Dieses Thema lag mir am Herzen«, gesteht er. »Ich muß zugeben, die ersten Monate der Recherche brauchte ich dazu, diese Anteilnahme loszuwerden und das, was ich zu wissen glaubte, wieder zu verlernen, damit ich so objektiv wie möglich sein konnte.

Ich begann meine Nachforschungen, indem ich mit einer Menge Frauen sprach – am Anfang besonders mit zweien, einer Wall-Street-Frau und einer Reporterin. Ich interessierte mich für Frauen, die sich einen Namen gemacht hatten, sehr schnell, direkt nach dem College, die sehr gebildet waren, die erstklassige Schulen besucht und beruflich sofort etwas erreicht hatten.

Auf eine Art unterschieden sich die Fragen, die ich stellte, nicht von den Fragen, die man in bestimmten Phasen einer Beziehung stellen würde, nur daß es sehr viel geschäftsmäßiger zuging.«

Neben den Gesprächen, die James Brooks führte, las er sich in das Thema ein: »Ich las die lange Biographie über Murrow, ich las Essays über Nachrichten und Sendeanstalten, und wenn ich irgend etwas Interessantes hörte, versuchte ich, mehr darüber herauszufinden.

Ich verbrachte viel Zeit in der City und hielt mich bei Leuten an ihrem Arbeitsplatz auf. Und wenn man genug Zeit in die Recherche investiert, erhöhen sich die Chancen, daß man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.«

Einfach durch »Herumhängen« beobachtete James Brooks viele Details, die in den Film aufgenommen wurden. »Ich sah jemanden rennen – richtig rennen –, als mit einem Tondband etwas schiefging.«

Ich fragte Kurt Luedtke, wie er die Recherchen über eine bestimmte Figur, beispielsweise einen Tresorknacker, in Angriff nehmen würde. Da Luedtke früher Journalist war, weiß er sehr genau, wie man beim Recherchieren vorgehen muß. Er erklärte die Methode, die er anwenden würde, um Informationen über Figur wie Geschichte zu erhalten.

»Würde ich eine Geschichte über einen Tresorknacker schreiben, dann gälte mein erster Besuch den Hütern des Gesetzes. Ich würde vielleicht fragen: ›Ihr habt nicht zufällig kürzlich jemanden eingesperrt, der lesen und schreiben kann, der halbwegs intelligent ist und bereit wäre, mit mir zu reden?‹ In einem von fünf oder sechs Fällen gibt mir vielleicht jemand einen Tip: ›Ja, da ist ein Typ, der bereit wäre, mit dir zu reden, wahrscheinlich will er Geld dafür haben, aber wenn du ihm drei, vier Scheine gibst, dann wäre er wohl bereit dazu.‹

Ich suche weniger nach Informationen über Figuren als über den Beruf und die Szene. Ganz sicher werde ich ihn nach den fünf mißglückten Einbrüchen fragen, wie das geschehen konnte, ganz einfach wegen der komischen Sachen, die dabei passieren können. Eigentlich suche ich alles andere als Informationen darüber, was eine solche Figur im einzelnen ausmacht, denn der Kerl im Gefängnis wird mir dabei wahrscheinlich nicht helfen können. Er ist sicherlich ein echter Verbrecher, wobei ich aus kommerziellen Gründen vermutlich über einen weniger echten Verbrecher schreibe, um meine Figur sympathischer zu gestalten.«

Hier sind einige Fragen, die Luedtke stellen würde:

»Wie wählt er seinen ›Arbeitsplatz‹ aus? Für wen arbeitet er? Wenn er allein arbeitet, warum? Wo liegen die Probleme? Warum hat er sich fürs Tresorknacken entschieden statt für irgendeine andere Möglichkeit, zu Geld zu kommen? Wo hat er gelernt, einen Geldschrank zu knacken? Was hat er als Jugendlicher gemacht?«

Indem er diese »Wer, Was, Wo, Wann, Warum«-Fragen stellt, kann Luedtke erste Schlußfolgerungen darüber ziehen, welche Art Mensch zum Tresorknacker wird und wodurch er sich von anderen Kriminellen unterscheidet. »Ich nehme an, daß in der Natur des Tresorknackers eine gewisse Abneigung gegen Gewalt liegt, eine eher vorsichtige Einstellung dem Verbrechen gegenüber, im Gegensatz zu Mord oder Raub, bei dem man jemandem eine Schußwaffe vorhalten und damit rechnen muß, daß der andere auch eine Pistole hat. Tresorknacken ist irgendwie ein angenehmer, ruhiger Job. Niemand kommt ihm in die Quere, und das Ziel ist vorwiegend wirtschaftlicher Natur. Du bist kein echter Soziopath, sondern eben jemand, der außerhalb der Regeln lebt. Du willst lediglich das Geld.«

Luedtke achtet auch immer auf Besonderheiten des Vokabulars. Welche Ausdrücke werden derzeit von Tresorknackern verwendet? Die findet man nicht in der Bibliothek. »In einem Buch über Tresorknacker von 1970 stehen vielleicht ein paar Begriffe, aber höchstwahrscheinlich ist dieses Vokabular veraltet.«

Aus diesen Informationen würde Luedtke weitere Schlüsse ziehen. »Wenn er vorsichtig ist, ist er wahrscheinlich kein Angeber; er will nicht, daß man sich an ihn erinnert, er zieht sich nicht auffällig an. Er begeht keine Einbrüche ausgerechnet in der Stadt, in der er lebt, sondern fliegt sonst wohin, um seinen Job zu erledigen, und danach macht er sich aus dem Staub ...«

Luedtke geht alle seine Informationen noch einmal durch und überlegt, welcher Charakter zu dieser Figur passen könnte. »Weil ich weiß, daß er ein vorsichtiger Mensch ist, wird er wahrscheinlich nur wenigen Leuten trauen. Ich weiß aber, daß er in der Geschichte einen Fehler machen wird: Trotz der Warnung, sich nicht zu sehr mit Leuten einzulassen, läßt er sich vermutlich doch mit jemandem ein, was ihm dann allen möglichen Ärger einbringt.«

Durch diese Art von Interview erhält der Schriftsteller grundlegende Informationen, die den Kontext abrunden und die Figur realistischer machen. Dies wiederum kann den kreativen Prozeß beleben und dazu beitragen, daß die Geschichte sich natürlich und glaubwürdig entwickelt.

ÜBUNG: Wenn Sie den Tresorknacker interviewen würden, welche zusätzlichen Fragen würden Sie stellen? Über die Familie? Lebensstil? Psychologie? Motive? Ziele? Wertvorstellungen?

Von der allgemeinen zur gezielten Recherche

Manchmal bringt die allgemeine Recherche einen Autor dazu, eine Figur einem Menschen nachzubilden, dem er während dieser Zeit begegnet.

Bei der Recherche zu DER EINZIGE ZEUGE begegnete William Kelley den Vorbildern für Eli und für Rachel: »Bishop Miller selbst wurde zu einer Figur; er wurde Eli (obwohl ich ihm das nie erzählen würde). Um etwas über eine Figur herauszubekommen, studiere ich zunächst aufmerksam das Gesicht – das Gesicht ist der Spiegel der Seele –, achte dabei sorgfältig auf Tonfall und Akzent und ob derjenige seinen Spaß mit mir treibt und mich beobachtet, ob ich’s merke oder nicht. Ich durfte kein Photo von Bishop Miller machen, deshalb hielt ich alles im Gedächtnis fest.

Als Vorbild für Rachel diente Bishop Millers Schwiegertochter, die eines Tages aus dem Haus kam. Sie wirkte irgendwie kokett. Den Kopf auf ganz besondere Weise geneigt, warf sie mir einen schelmischen Blick zu und meinte: ›Sie drehen also einen Film. Werde ich in Ihrem Film auftreten?‹ Ich sagte: ›Ja, wenn Sie weiterhin mit mir plaudern, kann ich Ihnen das jetzt schon fast garantieren.‹ Sie war sehr hübsch, sah aus wie Ali McGraw, und es fiel ihr leicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; sie war ungefähr siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt.«

Für NACHRICHTENFIEBER – BROADCAST NEWS setzte James Brooks die Figur der Jane nach dem Vorbild von vier oder fünf Frauen zusammen. Die Figur Toms basierte auf einem Nachrichtenkorrespondenten, von dem er gehört hatte. »Jemand erzählte mir, was passierte, als dieser Mann gebeten wurde, für einen Auftrag in den Libanon zu gehen. Er sagte: ›Auf gar keinen Fall; eher würde ich kündigen. Ich bin verheiratet und habe ein Kind. Da werde ich nicht im Libanon meinen Hals riskieren.‹« Brooks erkannte, daß er hier einen interessanten Menschen vor sich hatte, denn er verstieß gegen das gängige Klischee. Bei Nachrichtensendern würden die meisten Leute alles aufs Spiel setzen, um in den Libanon zu kommen, doch dieser Mann stellte Frau und Kind an erste Stelle.

Wenn Sie bei Ihren Recherchen ein Vorbild für Ihre Figuren finden, ist das von Vorteil. Doch die eigentliche Figur muß nicht unbedingt ein Produkt der Recherche sein. Sie kann Ihrer Phantasie entspringen, vorausgesetzt, Sie haben zunächst das Milieu der Figur verstanden.

Tips für die gezielte Recherche

In allen diesen Beispielen wird eine bestimmte Heransgehensweise deutlich: Jeder dieser Autoren wußte, wo er suchen und was er fragen mußte.

Die richtigen Fragen zu stellen ist eine Kunst, die man lernen kann. Gayle Stone, Autorin von Technikthrillern (A COMMON ENEMY, RADIO MAN) ist auch Schreiblehrerin. Sie sagt: »Es gibt Menschen, die durchs Leben gehen und neunzig Prozent von dem verpassen, was um sie herum vorgeht. Dabei hat jeder die Fähigkeit zu beobachten. Manchen Menschen fällt es leichter, genau hinzusehen, vielleicht weil sie von ihren Eltern dazu ermutigt wurden. Diese Menschen haben mehr Informationen in ihrem Gedächtnis gespeichert. Wenn es jemandem gelingt, Ihnen klarzumachen, daß Sie zu denen gehören, die eigentlich nie etwas genau mitkriegen, ist Ihre Chance gekommen – es gibt keinen Grund, nicht jetzt damit anzufangen. Sie haben unbegrenzt Zeit, das Leben zu beobachten. Solange Sie leben und atmen, können Sie sich damit befassen, und Sie werden überrascht sein, wieviel Sie tatsächlich schon wissen, wieviel Ihr Unterbewußtsein die ganze Zeit über gespeichert hat.«

Viele Leute sind gerne bereit, fühlen sich sogar geschmeichelt, sich über ihre Arbeit befragen zu lassen. Ob man einen FBI-Agenten interviewt oder mit einem Psychologen spricht, der sich auf Patienten mit Zwangsvorstellungen spezialisiert hat, oder einen Zimmermann bittet, die Bezeichnungen und den Gebrauch der einzelnen Werkzeuge zu erklären – »Wer, Was, Wo, Wann, Warum«-Fragen werden in den meisten Fällen die notwendigen Informationen liefern.

»Schließen Sie Bekanntschaft mit Ihrem Bibliothekar« ist ebenfalls ein wertvoller Tip für jeden Schriftsteller, der einen raschen Zugang zu Informationen braucht. Bibliothekare kennen entweder die Antwort auf Ihre Frage oder wissen, wo sie zu finden ist.

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