Juden in Deutschland –

Deutschland in den Juden

Juden in Deutschland –

Deutschland in den Juden

Neue Perspektiven

Herausgegeben von

Y. Michal Bodemann

und Micha Brumlik

WALLSTEIN VERLAG

Inhalt

Y. MICHAL BODEMANN und MICHA BRUMLIK

Vorwort

KINDHEITEN

ESTHER DISCHEREIT

Was haben die Überlebensprobleme jüdischer Leute mit Thilo Sarrazin, dem Islam oder dem Nationalgefühl einer deutschen Autorin zu tun?

DALIA WISSGOTT-MONETA

Le Grand Hotel Motke

HANS JAKOB GINSBURG

Identität

DENK’ ICH AN DEUTSCHLAND …

RALPH GIORDANO

Mein Deutschland

Eine kritische Würdigung zum 60

CILLY KUGELMANN

Frankfurter Nachkriegskarrieren

NATAN SZNAIDER

Diaspora-Nationalismus

Y. MICHAL BODEMANN

Muslime, russische Juden, Israel und Deutschland

Jüdische Diaspora neu begreifen

IRIS HEFETS

Der Zentralrat und die deutschen Medien

PHILIPP GESSLER

Die kurze Blüte des Judentums in Deutschland

MATTHIAS DROBINSKI

Minderheit auf schwankendem Boden

SERGEY LAGODINSKY

Jüdischer Alltag in Deutschland

RELIGIÖSER PLURALISMUS

MICHAEL BRENNER

Einheit der Gemeinde oder Reinheit des Glaubens?

GESA S. EDERBERG

Eine Momentaufnahme zur Situation

MICHA BRUMLIK

Der christliche Gedanke

Chabad Lubawitsch: Hilfe, Bedrohung oder beides?

YOHANA HIRSCHFELD

Sagt dem Nathan leise Servus

IRENE RUNGE

»Think Positive!«

770, Eastern Parkway ist überall

WALTER HOMOLKA

Untergang und Erneuerung

Liberales Judentum in Deutschland: Wir sind da!

ELISA KLAPHECK

Religiös-säkulares Judentum

TOBY AXELROD

Vereinnahmung statt Dialog

Die Frontlinie im Kampf um die jüdische Seele liegt in Berlin-Lichterfelde

JÜDISCHE IMMIGRATION

DMITRIJ BELKIN

Wir – Gedanken über eine Emigration

DORON KIESEL

Neuanfänge. Zur Integration jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland

LENA GORELIK

Russen statt Einsteins

Wie die Zuwanderung der osteuropäischen Juden das jüdische Leben in Deutschland veränderte

LEONID MELAMUD

Arche Noah mit Mitreisezwang? Wenn es jüdischen Gemeinden an religiöser Praxis fehlt

ISRAEL UND DEUTSCHLAND

MICHA BRUMLIK

Universalismus, Selbsthass oder jüdischer

Antisemitismus. Der Streit um die richtige Solidarität mit Israel

Y. MICHAL BODEMANN

Widerspruch!

TOM SEGEV

Macht der Selbstkritik

Über Zionismus und Antisemitismus

IDENTITÄTEN

HAZEL ROSENSTRAUCH

Erinnern und erinnert werden

MORITZ REININGHAUS

Kaum Raum für Öffentlichkeit

MAXIM BILLER

Geschichte schreiben

MOSHE ZUCKERMANN

Juden in Deutschland – Deutschland in den Juden

MICHAEL WOLFFSOHN

Identität, Identifizierung, Integration

Auflösung,»Endlösung«, Auferstehung

MICHAEL WULIGER

Wir Wendriners

DER ZUKUNFT ZUGEWANDT

JULIUS H. SCHOEPS

Das (nicht-)angenommene Erbe. Zur Debatte um die deutsch-jüdische Erinnerungskultur

SALOMON KORN

Das Dilemma der jüdischen Kultur in Deutschland

MERON MENDEL

Jungsein – Judesein – Dasein? Perspektiven für jüdische Jugendarbeit in einer heterogenen Gemeinschaft

SOPHIE MAHLO

Limmud, eine Chance

EPILOG

OLGA MANNHEIMER

Machen wir es nicht zu kompliziert

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Y. MICHAL BODEMANN UND MICHA BRUMLIK

Wenn man in der deutschen öffentlichen Sphäre jüdische Stimmen hört, so sind es meist die des Zentralrats der Juden oder von Repräsentanten einzelner jüdischer Gemeinden. Sie äußern sich zu eng umrissenen Tagesfragen: vor allem zu den Themen Antisemitismus und Israel, oder sie zeigen sich in Erinnerungsritualen zur Schoah. Daneben postieren sich einige jüdische »Prominente«, Journalisten und Akademiker zumeist, zu bestimmten jüdischen Tagesfragen. Die stereotypisierten Rollen in diesem Theater sind hierbei klar umrissen: einerseits als Charaktere aggressiv-kalter Intelligenz, andererseits noble, kultivierte Autoritäten im christlich-jüdischen Gespräch, die – obwohl sie in Deutschland leben – doch oft Israel als ihre wahre Heimat betrachten; schließlich die jüdischen Clowns, die aussprechen dürfen, was man selbst gern gesagt hätte, oder nicht so scharf zu sagen wagt, weil es »politically incorrect« sein könnte: etwa zum Gedenken an die Schoah, zur Folter oder zum Islam.

Dieser jüdisch-deutschen Gemengelage versuchen wir hier etwas anderes entgegenzusetzen: Eine große Breite vorwiegend jüdischer, meist nach innen gerichteter Stimmen, die, wenngleich nicht im empirischen Sinne repräsentativ, so doch breit von links nach rechts reichen, Jüngere und Ältere, auch Personen, die in diese Schemata nicht ganz passen wollen, sowie einige Perspektiven von außen sollen zu Wort kommen; aber auch nichtjüdische Beobachter, sowie nichtdeutsche Stimmen sind in den Band aufgenommen. Es dürfte sichtbar werden, was in der Öffentlichkeit kaum wahrge-nommen wird: Die jüdische Gemeinschaft ist keineswegs so monolithisch wie sie sich noch in den 1980er Jahren präsentierte. Sie ist weder politisch, kulturell noch religiös homogen, sondern es dominieren heute Streit und heftige Debatten, die wiederum nur bezeugen, was sich in den letzten dreißig Jahren entwickelt hat: Mit der zweiten jüdischen Nachkriegsgeneration und der russischsprachigen Einwanderung sind wir zwar immer noch weit entfernt von dem zuweilen beschworenen »Wiederaufblühen jüdischer Kultur« in Deutschland, gleichwohl hat sich eine reiche Palette jüdischer Lebensstile entwickelt, in denen insbesondere die jüdischen Frauen sichtbar geworden sind, Lebensstile, die jedoch ohne die jüdische Einwanderung aus Osteuro pa – einer an sich schon höchst heterogenen Gruppe – nicht denkbar wären.

Vieles hat sich seit den frühen Selbstbeschreibungen (und gelegentlich Selbstbezichtigungen) der späten 1970er und frühe n 1980er Jahre verändert: Damalige Lagebeschreibungen wie »Dies ist nicht mein Land« oder »Fremd im eigenen Land«, wären heute kaum denkbar, zumindest nicht von den unter 45-Jährigen. Zwar kann auch bei diesen die Schoah nicht weggedacht werden; zu tief sind die Narben, die das Morden in die eigenen Familien geschlagen hat – und doch hat sich diese Erinnerung weitgehend privatisiert, ist vom öffentlichen in den privaten Bereich zurückgetreten. Es zeigt sich auch, dass eine Gemeinschaft sich nicht über Katastrophen definieren kann oder aus Katastrophen heraus lebt, son dern letztlich nur über ihr religiöses und kulturelles Erbe. Ähnliches gilt auch in Bezug auf Israel: Israelische Politik, die immer wieder versucht, die Diaspora für ihre eigenen Ziele zu nutzen, zeigt nicht den erwarteten Erfolg. Zwar zieht die Diaspora in Deutschland und andernorts kulturelle Anregungen und beträchtliche Kräfte aus der israelischen Gesellschaft, aber gerade jüngere Juden deuten diese für ihre eigenen Zwecke um, und größtenteils außerhalb der politischen Sphäre Israels.

Von einem veritablen »Aufblühen« jüdischer Kultur in Deutschland sind wir nach der Euphorie der frühen 1990er Jahre noch immer weit entfernt; aber dass die Geschichte des deutschen Nachkriegsjudentums seit Ignatz Bubis eine aufregende neue Entwicklung genommen hat, kann heute kaum bezweifelt werden, und die hier versammelten Beiträge werden dies gewiss bezeugen.

Berlin, im Dezember 2009

Was haben die Überlebensprobleme jüdischer Leute mit Thilo Sarrazin, dem Islam oder dem Nationalgefühl einer deutschen Autorin zu tun?

ESTHER DISCHEREIT

Wir treffen uns – die Familie trifft sich. Das ist nicht so, wie sich Familien treffen, also nicht der Rede wert und mindestens immer an Feiertagen. Nein, wir treffen uns fast nie; auch jetzt sind wir nicht vollständig, das geht natürlich nicht; aber nicht, weil wir zerstritten wären oder so viele. Meine Großeltern mütterlicherseits waren Vollwaisen, und – sie waren Juden, jüdische Deutsche. Sie lebten mit ihren beiden Töchtern in Berlin, in der Schönhauser Allee; eine Tochter – die später meine Mutter werden sollte – war schon verheiratet, sie hatte einen jüdischen Mann; die beiden hatten ein Kind zusammen, als die Nationalsozialisten in Deutschland bereits an der Macht waren. Meiner Mutter gelang es, dafür zu sorgen, dass ihre Eltern, sie selbst und das Kind – auch ihr Mann – untertauchten, den Deportationsbescheiden nicht Folge leisteten, und schließlich überlebten sie. Die Schwester, die Senta hieß und sich später Jessie nannte, schloss sich ihrem damaligen Freund an und beide bestiegen ein Schiff nach Shanghai.

Wahrscheinlich betrieben die Großeltern eine kleine Schneiderstube in der eigenen Wohnung. Jedenfalls ist das der Auflistung ihres Hausstands in den Arisierungsakten der Oberfinanzdirektion Berlin-Brandenburg zu entnehmen, in der u. a. eine Modellpuppe verzeichnet ist.

»Die Heiligkeit unseres Friedens wird kommen / den rauhe Gewalt uns fortgenommen / Das Gute, es bricht sich Bahn / und zerschellen muß teuflischer Wahn / Solange wie Menschen auf Erden / Wird uns Gerechtigkeit werden / Und so wissen wir um den Sieg / Und rechtzeitiges Ende dem Teufelskrieg.«1

Ich zitiere aus einem nachgelassenen Gedicht von Hella Zacharias , geborene Freundlich, meiner Mutter. Es dauerte lange bis zu jener Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit begegnete den »illegal« Untergetauchten in einem Ort mit Namen Herleshausen in Deutschland. Die Gerechtigkeit kam über ein Feld, nachdem die Ketten der Panzerfahrzeuge zur Ruhe gekommen waren und amerikanische Soldaten abstiegen. Mutter und Tochter gingen der Gerechtigkeit entgegen und waren befreit, hinter ihnen im Bunker warteten andere Mütter und Töchter und manchmal auch Väter und Brüder, die waren jetzt besiegt.

Für die Familie hatten diese Jahre eine Beschädigung an Leib und Leben mit sich gebracht, das ist die Rubrik im Beantragungsbogen für die damals sogenannte Wieder-gutmachungsleistung. Hinter den Worten Leib und Leben liegen die Worte Zwangsarbeit und IG Farben, Ausbildungsverbot, Cortisontropfen, Gallenversagen, Gelderpressung, sexuelle Erpressung, aufgescheuerte Kinderfüße, Schulbuch im Versteck, fehlende Lebensmittelmarken, Winterhilfswerk, bei Nacht durch den Tiergarten gerannt, Bett für zwei Tage und weiter – und – Rainer Maria Rilke. Hier als Synonym gebraucht für das Wort: Sehnsucht. Die Ehe ging nach 1945 auseinander, nachdem alle überlebt hatten. Das Über-leben überhaupt war unwahrscheinlich und blieb wundersam.

Meine Mutter heiratete erneut, bekam zwei Kinder, meine Schwester und mich, wurde geschieden und hätte vielleicht in hohem Alter hier unter uns sitzen können, wenn sie nicht früh an einem Autounfall gestorben wäre. Dieses Kind, das sie mit ihrem ersten jüdischen Mann hatte, ist meine Schwester, der Mensch davor und wir, meine andere Schwester und ich, wir sind die danach: die Kinder aus zweiter Ehe, mit dem nichtjüdischen Mann – wo hätten jüdische auch sein sollen? Bestimmt waren sie in den DP-Lagern. Aber die waren nicht für Deutsche …

Mein Vater war weder Widerstandskämpfer noch Jude, sondern aus Ostpreußen. Und studierte in Wien Medi zin. Als Direktor einer psychiatrischen Anstalt war er dafür verantwortlich , dass die Akten über Täter und Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie« verschwanden. Das muss in den Siebzigerjahren gewesen sein. Außerdem trat er nach der Scheidung seiner Ehe in die sozialdemokratische Partei ein und wurde Kommunalpolitiker, weswegen meine Mutter in dieser Partei eine kriminelle Vereinigung vermutete …

Es ist schwer geworden, im Erinnerungsbusiness zwischen Inszenierung und Inszenierung zu unterscheiden. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin auch drin. Das erinnert mich an Georg Elser, der am 8. November 1939 ein Attentat auf Hitler verübte, das leider scheiterte und von dem mit besonderem Nachdruck gesagt wird, er habe nun wahrlich nicht mit den Engländern zusammengearbeitet.

Ich lese in den hinterlassenen Briefen meiner Mutter. »Ich hatte einen Traum: Er war wie ein Tedeum! Ich sah den Hitler aufgehängt im Britischen Museum. Den Kopf voll Stroh, die Augen leer. Es war ja nur ein Traum …! Ach, wenn’s doch Wahrheit wär.«2 Da sind sie wieder die Briten. Und Mama mangelte es offenbar an deutschem Nationalstolz.

Dieser Exkurs zum Nationalgefühl muss etwas mit den Gefühlen zu tun haben, die sich auch dann einstellen, wenn sich der Geschichtsunterricht so intensiv um die Nachzeichnung des Kriegsverlaufs bemüht. Meine beiden Töchter erzielten, als die Ära Nationalsozialismus geprüft wurde, die mit Abstand schlechteste Note. Sie hatten bei den Fragen, die zum Kriegsverlauf gestellt wurden, über die Judenvernichtung berichtet, wonach nicht gefragt worden war. Das Thema war verfehlt.

Zwischen der Tante aus Shanghai und Mama scheint es einen unausgetragenen Überlebenszwist gegeben zu haben. Während die eine der anderen die bessere Schulbildung nachtrug, schien jene damit beschäftigt, dass ihrem Schicksal während der Verfolgung keine oder nicht genügend Anteilnahme zuteil wurde. »Überlebende« nannte sich keine der beiden Schwestern und auch nicht die Großeltern. Diese Bezeichnung hielten sie ausschließlich für solche ihrer Leidensgenossinnen und -genossen zurück, die in Konzentra-tionslagern gewesen waren. Mit dem Schiff nach Shanghai? Zusammen mit dem jungen Mann, in den sie sich verliebt hatte. Die hatte es gut gehabt!? Erst mit Ulrike Oettingers »Exil Shanghai« (1997) begriff ich und es tat mir leid.

Meine Schwester und ich beneideten die anderen um ihre Tanten und Onkel, auch um die Querelen, die sie miteinander hatten, um ihre Samstagnachmittags-Kaffees und Kuchen -Veranstaltungen, weil schon wieder jemand Geburtstag hatte. Wir hatten das nicht. Wir hörten von jemandem aus Argentinien, mag sein, dass es auch einmal einen Brief von noch woanders gegeben haben mag. Die Schwester meiner Mutter hatte nach Kriegsende in die USA emigrieren können. Sie schmückte ihre Kartengrüße mit Abziehbildern unbekannter Puppenfiguren. Das Vorgedruckte half. Sie schrieb wenig, um Liebevolles bemüht. Immer stärker trat das Englische hervor, bis schließlich gar keine deutschen Satzfetzen mehr übrig blieben. Die Großeltern überstanden die Nazizeit als Untergetauchte und traten krank geworden schließlich die Emigration zu ihr an. Die Tante schrieb mir, der erwachsenen Nichte, noch immer diese Kinderkarten. Wir haben uns nicht gesehen. Die Großeltern sandten »kisses«.

Während ich in einer deutschen kleinen oder mittelgroßen Stadt einerseits im ideellen Welten-Wissen lebte, schrumpfte der Kosmos des täglich Realen auf wenige Quadratmeter mit Stockbetten – ich entwickelte ein Heimatgefühl von der Größe einer Briefmarke, für die mit Spannung erwarteten Briefe, deren Zustellung manchmal länger als eine Woche dauerte.

Meine Geschwister haben sich viele Jahre in Ausländern aufgehalten, die Älteste hat ihre Kinder in Italien geboren – einen Mann geheiratet, der American, Choktaw und überdies ein wundervoller Sänger ist –, die andere hat es ihr nachgetan. In ihren Familien herrschen nicht nur babylonische Sprach-, sondern auch verwirrende Passverhältnisse. Den Kindern werden in den ersten Lebensjahren Bücher in der unbekannten Sprache vorgelesen und sie werden mit fremd schmeckenden Speisen erschreckt. Die abwesenden Kultur- und Sprachfragmente werden vergessen und gelegentlich gesucht. Manchmal regelrecht beschworen. Andere mögen hier eine viel längere Tradition in diesen Dingen haben: beispielsweise gewinnbringend in der österreichischen Fu sionsküche . Was wir und andere aber nicht meistern können , sind die juristischen Barrieren. Kinder, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, sollen sich für die eine oder andere Staatsbürgerschaft entscheiden und der eine in der Familie wird dem anderen ein Visumsproblem. Dieser Optionszwang gehört abgeschafft. Er ist nicht nur für Familien überholt, die aus Verfolgungsgründen mehrstaatlich sind, sondern auch für Menschen, die aus vielerlei anderen Gründen zwischen den Welten hin- und hergehen. Ganz anders stellt sich die Situation für jene 80.000 Menschen dar, die überhaupt nicht hin- und hergehen dürfen, die in der Bundes republik seit Jahren in Lagern und nicht in Freiheit leben, verdorbene Esspakete empfangen und sich nicht ausbilden oder eine Arbeit annehmen dürfen. Dieser Lagerzwang gehört abgeschafft, damit die 19-jährige Nissrin Ali und Felleke Bahiru Kum, um den Betroffenen wenigstens zwei Namen zu geben, menschenwürdig b l e i b e n können und nicht wie Stücke, die irgendwohin verbracht werden.

Ich durfte als Deutsche einem österreichischen Verband beitreten, was ich bemerkenswert finde, dem Verband der Dramatischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller Österreichs. Aus deutsch-deutschen Vereinigungsgründen wurde dieser mir der einzige Ort, dem ich zugehöre – ebenso wie Amnesty International, was wieder eine andere Sache ist und damit zu tun hat, dass ich dazu neigte, einer Minderheit anzugehören, die eine Mehrheit verlässt –, wobei die Mehr-heiten dazu neigen, zu bleiben. Amnesty International begreife ich als Anwältin von Minderheiten, von jener oder jenem, den einzelnen, die für Menschenrechte unterwegs sind. […]

Schreiben, wo andere Gewehre haben? Ich zeige meine leeren Hände. Ich habe ein Wort und ein anderes Wort und sonst nichts, und ich weiß, dass das nicht viel ist. Nicht viel angesichts des fortschreitenden Baus weiterer Siedlungen in den von Israel besetzten Gebieten. Nicht viel angesichts der palästinensischen Katastrophe, die so genannt gehört. Aber da taugt mein Stift nicht mehr oder weniger als der eines jeden anderen Citoyen. Das Politische kann ja im Gegenteil auch eine Unfreiheit sein, die das Schreiben verschnürt oder umwidmet wie eine fortdauernde Grabsteininschrift. Niemand wusste das besser als Mahmud Darwisch, der große Dichter aus Ramallah, der die Stimme des Anderen hörte, der Paul Celan aufnahm und verstand, in der eigenen Arbeit auch diesem Anderen Atem gab, während er ihm selbst schwer wurde.3 Ich erinnere an Erich Fried, der bemerkte, dass ein Gedicht, das nur politisch sein will, Gefahr läuft, zu verarmen.4

Mein Schreiben hat wenig von Kampf und Politik, auch wenn es gelegentlich deutliche politische Worte gibt; eher handelt es sich um Übungen zur Wahrnehmung von Stimmen und Gerüchen. Wie zum Beispiel und mit welchen Worten trete ich am kommenden Dienstag in die Gözleme-Bäckerei in Moabit in Berlin ein. Mein Gözleme kostet 1,90 Euro, dazu bestelle ich einen Tee für 1,20 Euro, den mir der Hausherr hin und wieder ganz und gar grundlos auf die Hälfte berechnet. Es wäre an diesem Vorgang nichts weiter mitteilenswert, wenn nicht die Frau des Gözleme-Bäckers, die eigentlich Zuständige für das Backen, immerfort ein Kopftuch trüge. In Deutschland hat unlängst ein ehemals politische Verantwortung tragender Sozialdemokrat, Herr Sarrazin, bevor auch er ins Finanzgeschäft überwechselte, sich abfällig gegen die Welt der – wie er sagte – Kopftuchmädchen geäußert, die zu wenig mehr imstande seien als zu Gemüseständen und Döner-Bistros. Ich hingegen bzw. meine Figur ist eine aufgeklärte, nicht religiöse Person, trug niemals eine Kippa, auch nicht aus feministischen Gründen – meine Erzählfigur macht sich gemein mit jenen sozial Depravierten, die offensichtlich noch von Handarbeit leben. Sie sitzt mitten im Sprachfremden und isst – hinter dem Herd die Schriftzeichen eines anderen Propheten. Wahrscheinlich hat die essende Figur einen hochqualifizierten Bildungsabschluss. Falls diese Familie einen Sohn oder noch ein »Kopftuchmädchen« hätte, müsste sie vermuten, dass diese weniger gut Deutsch sprächen als sie selbst. Alle diese Indizien sprechen dafür, dass hier eine Anfälligkeit gegenüber Kriminalität, politischem oder religiös motiviertem Terrorismus und eine eklatante Disposition zur Grundgesetzentwertung vermutet werden könnte. Ist es nicht so? Dieses Problem stellt sich bei einer Currywurst im Berliner Bezirk Schöneweide schon deshalb nicht, weil meine Hauptfigur lieber Döner isst. Wenn ich nun das Grundgesetz und die Verfassung der EU betrachte, muss ich feststellen, hier herrscht ein Diskriminierungsverbot auf säkularer Basis, einschließlich des Gebots der Freiheit zur Religionsausübung, weswegen meine Hauptperson, nachdem sie die Frage, ob Gözleme mit Butter serviert werden soll, bejaht hat, zu dem Schluss kommt: Der Islam gehört nicht nur zum Grundgesetz, sondern auch zu Europa. Vor Jahrhunderten war ein Aufruf an die Juden ergangen, das »Mauscheln«, gemeint war die eigene Sprache, einzustellen, sich in Kleidung, Haarund Barttracht anzupassen und zu konvertieren. Wie aber kann aus Haltungen Literatur werden? »Gutmenschen« und »Multi-Kulti-Gestrige« stehen als Synonyme für blöd, alt und naiv bereits in der Arena der Wortkämpfer. Literaten und Journalisten sind dem Populisten sofort an die Seite gesprungen, wie überaus mutig der gewesen sei. Dabei unterscheidet den Akteur diesmal von Haider oder Berlusconi eben nur die sozialdemokratische Parteizugehörigkeit. Übrigens hatte sich der Zentralrat der Juden in Deutschland sofort mit der Gemeinschaft der Muslime solidarisiert, was ich für einen bemerkenswerten und sehr richtigen Schritt halte.

Persönlich habe ich nichts gegen gute Menschen, ich habe sogar gelegentlich selbst versucht, gut zu sein. Eine Textilfirma stellt bereits »Mono-Kult«-Träger her, die man sich am Hosenbund befestigen kann – das Beste, seitdem es das Schlüsselband »Kein Sex mit Nazis« gegeben hat. Allerdings ist die Zielgruppe jetzt eine andere. Die Hauptfigur nimmt sich vor, einmal mit den Leuten zu sprechen, damit sie ihre Kinder ordentlich erziehen. Immer öfter geht sie Gözleme essen – es ist klar, die Figur bildet ein Helfersyndrom aus. »Postkolonial« ist für die Poesie so verloren wie »diskriminierungssensibel«, wie »afro-deutsch« oder »jüdische Herkunft«, »Identität« – ist gar nicht auszudenken. Wie dieses Problem gelöst werden kann, bitte ich in dem Aufsatz »Ein Tag. Oder ein Tag«5 nachzulesen, der eine längere Passage über jüdische Fragen, Eisbein und Hackepeter enthält. Im vorigen Frühjahr bin ich in einer österreichischen Gaststätte beim Lesen des Angebots von billigem Zigeuner-Mops oder Zigeuner-Rollis darüber ins Grübeln gekommen, ob hier auch Judenbrot angeboten und ob das dann würzig oder fad sein würde.

Jetzt ist es natürlich nicht so, dass mir vor lauter Nachdenken über das politisch korrekte Sprechen eben nur noch wenige Worte oder Texte einfallen, aber es ist doch eine Herausforderung, nachzuschauen, ob das, was ich für gewöhnlich rede, möglicherweise anstrengend weiß oder welten-ignorant ist, um nicht zu sagen, rassistisch. Es ist auch deshalb sehr bildend, an den Poesie-Festivals an anderen Enden der Welt teilnehmen zu dürfen – da, wo ich selbst als Weiße und Europäerin Minderheit bin. Ich gehöre also zu den Leuten, die durchaus möchten, dass statt von Mohrenkopf von Schokokuss geredet wird und die nicht der Meinung sind, dass alles seine Richtigkeit habe, weil wir es im Herzen doch anders meinten. Diese Empfindlichkeit hat mit der von Geburt an geübten Übung des Nachhörens zu tun – wie war das, klang das, als jemand »Jude« sagte, bloß »Jude« – das reicht, um nachzuhören – Gefahr zu hören – Beleidigung zu hören – und weil ich das nicht wissen kann, was gesagt ist, wenn das Wort »Jude« gesagt ist, höre ich »nach« – einmal, zweimal, mehrmals, oft, immer … manchmal verselbständigt sich das Wort, es fliegt durch den Raum wie ein Geschoss … und je weiter ich mich entfernte von jenem Datum 1945, desto häufiger schien ich mich zu irren und ich bekämpfte diese Manie des Nachhörens. Und höre nach.

Anmerkungen:

1  Esther Dischereit. Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte. Frankfurt am Main 1988. Erstauflage, S. 32.

2  Ebenda.

3  Siehe Angelika Neuwirth. Vexierbilder. Mahmud Darwish zwischen hebräischem und arabischem Literaturkanon, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, hg. von Michael Krüger, Heft 5, Oktober 2009, München, S. 411 ff.

4  Vgl. Erich Fried. Alles Liebe und Schöne, Freiheit und Glück. Briefe von und an Erich Fried. Berlin 2009, S. 80.

5  Esther Dischereit. Ein Tag. Oder ein Tag, in: Mit Eichmann an der Börse. Berlin 2001, S. 7-13.

Le Grand Hotel Motke

DALIA WISSGOTT-MONETA

Vor 20 Jahren wurde im belgischen Seebad Knokke »Le Grand Hotel« geschlossen.

Aber kein Mensch sagte »Le Grand Hotel«. Man sagte »Chez Motke«. Man wohnte bei Motke. Man, das waren Juden aus Antwerpen und Brüssel, aus Paris, aus London und auch aus Frankfurt am Main und in späteren Jahren Juden aus den USA, die heimwehkrank nach ihrer alten Heimat waren. Motke, das ist mein Onkel Mordechai Weinberger, der Mann meiner inzwischen verstorbenen Tante Thea, die »Madame Motke« genannt wurde, aber in Wirklichkeit Thea Taube Weinberger hieß, geborene Langermann, und die Schwester meiner Mutter war und mit ihr die einzige Überlebende der großen Familie Langermann. Monsieur und Madame Motke haben das Grand Hotel 1952 eröffnet. Seitdem war es jahrelang Saison für Saison voll bis unters Dach und die Saison ging von Pessach bis Simcha-Thora.

Das »Motke« war ein koscheres Hotel und stand unter der Oberaufsicht des Rabbiners von Antwerpen. Es befand sich direkt am Zeedijk, dort wo die Avenue Lippens endet und dann links. Die Avenue Lippens, flämisch Lippenslaan, ist so etwas wie die Champs-Élysées von Knokke. Und wo die Lippenslaan mit ihren Geschäften aufhört, fängt das Meer an. Meine Mutter sagte, Knokke, das sei so viel Natur, wie Juden ertragen können. Und wäre der Strand nicht gewesen mit dem Wind, der einem immer den Sand ins Gesicht blies und das Meer mit seinen Wellen, dann hätten wir Kinder aus dem Grand Hotel Motke geglaubt, Knokke bestünde nur aus diesen wunderbaren belgischen Waffeln mit Schlagsahne und aus Fritten und dem Luna-Park an der Ecke. Im Luna-Park konnte man Plastikbären in einem Glaskasten schießen oder flippern und Plastikkugeln gewinnen mit Kaugummi drin.

Das Hotel war voller Mütter mit ihren Kindern und meine Cousins und ihre Freunde waren dort. Damals wusste ich noch nicht, dass meine großen Cousins, die schon zwölf und neun waren, als ich erst eben laufen und sprechen konnte, dass sie und die anderen großen Jungen und Mädchen zweimal geboren worden waren. Ich hörte die Worte »versteckt überlebt«, während wir Kinder durch die Hotelhalle tobten und die Erwachsenen völlig vergeblich »psst« oder »schscht« sagten, hörte Worte wie »deportiert«, »umgekommen«, »Waisenhaus« und bei unseren Spaziergängen mit unseren Müttern, wenn wir unsere Kleider und Hosen zerrissen auf dem Deich, den wir als Rutschbahn von der Promenade zum Strand benutzten, hörten wir, dass Kinder ihre Eltern und Eltern ihre Kinder wiedergefunden oder verloren hatten.

Andere Kinder wurden von ihren Eltern verhauen, wenn sie sich die Hosen auf dem Deich zerrissen. Wir Kinder aus dem Motke nicht. Unsere Mütter bekamen es mit den Nerven, wenn wir zu nah am Meer spielten oder auf den schwarzen Wellenbrechern herumkletterten oder uns gegenseitig im Sand vergruben. Dafür wurde uns von den Erwachsenen im Hotel, wenn wir durch die Hotelhalle rannten und quer durch den Bridgesalon, in die Backen gekniffen vor lauter Liebe, bis wir blaue Flecken hatten. Das wurde »Kneip in Bäckerlach« genannt und ich war mit meinen Pausbäckchen ein gerne und oft gekniffenes Kind. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich nicht lieber auf die Nervenkrisen und Kneip in Bäckerlach verzichtet hätte zugunsten einer »fessée«, einem versohlten Hintern.

Außer den Dingen, die unsere Mütter zu Nervenkrisen brachten, konnte man in Knokke als Kind einiges tun. Man konnte auf Pedalos zu viert auf der Promenade herumfahren, am Strand Löcher graben und Burgen bauen und nach einer bestimmten Sorte Muscheln suchen, den langgezogenen mit zackigen Rändern, »couteaux«, Messer genannt, gegen die man Papierblumen eintauschen konnte, die man dann auf kleine Sandwälle steckte und wieder gegen couteaux eintauschte. Vergeblich versuchten wir unsere Mütter dazu zu überreden, wie die anderen Mütter aus farbigem Krepp-Papier und Draht Papierblumen zu basteln, damit wir denselben Vorteil hätten wie die anderen Kinder. Da war wenig zu machen. Die Mütter aus dem Motke gehörten nicht zu der bastelnden Sorte und so blieb uns nur das Sammeln der couteaux, um unsere von anderen Müttern gebastelten Schätze zu vermehren.

Aber ich hatte Maria aus der Küche, die verrückte Maria, Maria la folle, die polnische Maria, die der alte Monsieur Hoffman, der an der Rezeption saß, aus einem Ort mitgenommen hatte, dessen Name immer so ausgesprochen wurde, dass wir ganz starr und stumm wurden und den wir selbst nur ganz leise nannten, ohne zu wissen, was es war, dieses Auschwitz. Maria war von Monsieur Hoffman aus diesem Ort mitgebracht worden, weil sie ihre Eltern verloren hatte und sie war damals noch ein Kind. Ich wusste nicht, dass das erst zehn oder elf Jahre her war, und dachte, es sei ungefähr vor hundert Jahren gewesen, weil Maria uralt aussah und Monsieur Hoffman sah noch viel älter aus.

Maria bastelte auf dem langen Tresen des tea rooms, singend und vor sich hin brabbelnd, die schönsten Blumen für mich, sie zauberte sie aus ihren Händen und zwischendurch servierte sie, wild gestikulierend, den Gästen im tea room den Honigkuchen und den Käsekuchen, für den das »Motke« genauso berühmt war wie für seinen Tscholent und seinen gefilten Fisch. Denn mein Onkel Motke war gelernter Bäcker und Konditor und buk in der Backstube unten im Keller alles selbst und seine duftende Challe und sein deftiges Kümmelbrot sind unvergessen. Die Gäste fühlten sich von Marias Verrücktheit nicht gestört und so hatte ich auch keine Angst vor ihrer Heftigkeit und ihren Ausbrüchen in einer unverständlichen Sprache. Ich dachte, sie sei verrückt, weil sie nicht richtig sprechen konnte wie alle anderen, französisch, deutsch oder jiddisch oder wenigstens flämisch. Meine Mutter erklärte mir, dass Maria polnisch spricht und verrückt sei, weil sie noch ein kleines Kind war, als sie ihre Eltern verloren hatte.

Manches Mal durfte ich in die Küche und meiner Tante Thea, die dort das Regiment führte, zuschauen, wie sie die Suppe kochte. Da lagen die vielen geschlachteten und ausgebluteten Hühner zum Rupfen bereit, es wurde noch alles mit der Hand gemacht, sie wurden ausgenommen und ich sah ihre Leber, ihre Mägen, die groß waren und voll von goldfarbenem Getreide, das meine Tante mit den Küchenarbeiterinnen herausholte, ich sah ihre Herzen und die ungelegten Eier in ihrem Inneren. Sie wurden überbrüht und mitsamt ihren gelben Füßen in die großen Bottiche geworfen, in denen sie gekocht wurden. Wenn das Eiweiß abgeschöpft war und das Gemüse dazu kam, roch die gesamte fleischige Küche nach der Hühnersuppe, die ich liebte und die mich wärmte, wenn mir im Bauch kalt war. »Mir ist so fremd« sagte ich dann und stellte mir vor, wie das sei, wenn man sich verläuft und die Mutter verliert und nicht wiederfindet. Und dann gab es Hühnersuppe, die meine Tante »golden Joich« nannte und die sie bei allen körperlichen und seelischen Schmerzen als Medizin empfahl. Danach durfte ich stundenlang keine Milchschokolade essen. Das war verboten.

Im Grand Hotel meiner Tante und meines Onkels erfuhr ich von diesen wunderbaren Verboten, die ich nicht kannte und die mir wie Beschwörungen aus Märchen vorkamen. Ich durfte Fleischiges mit Milchigem nicht zusammen essen und keine Schalentiere, die ich so gerne aß, am Schabbes durfte ich nicht mit dem Aufzug fahren und keinen Lichtschalter berühren, auch kein Radio hören, nichts kaufen, noch nicht mal Geld anfassen, kein »Mensch ärgere Dich nicht« mit meinem Herzensfreund Mucki spielen und nicht malen, aber lesen durfte ich und brav auf dem Zeedijk spazieren gehen, wie die anderen Kinder mit ihren Müttern, hinauf zum Albert Plage, wo das Kasino ist und wieder herunter und zurück zum Hotel. Und dann saßen wir Kinder wie die feinen Damen und Herren in hübschen Kleidern und versuchten sehr erwachsen zu sein. Es gab einen Feiertag, den höchsten Feiertag, da durften die Erwachsenen und die großen Jungens und Mädchen nicht essen und nicht rauchen und wir durften alle kein Leder tragen, also bekam ich hübsche bestickte Leinenschuhe, die ich sowieso viel lieber trug, weil sie nicht drückten. Sobald ich von kundigen Kindern erfahren hatte, dass diese Verbote von Gott kamen, war ich wild entschlossen, alle ganz genau zu befolgen, dann werde sicher alles gut werden auf dieser Welt, denn dass dies dringend notwendig war, hatte ich begriffen.

So war ich in den Ferien in Knokke ein sehr frommes Kind und achtete darauf, dass meine unwillige Mutter, die nicht mehr an die Einhaltung von Geboten und Verboten zur Verbesserung der Welt glaubte, mich nicht kompromittierte, indem sie womöglich meine Passion für Moules oder Croquettes aux Crevettes verriet, und ich passte genau darauf auf, dass sie am Schabbes nicht rauchte und wie alle anständigen Mütter im Hotel den Lift ab dem ersten Stockwerk nahm, und nicht von der Hotelhalle aus. Dies tat sie, solange sie gesund war, ohnehin freiwillig schon ihrer Schwester zuliebe.

Zu meiner Verwunderung wusste meine Mutter genau, was man wann durfte und was nicht. Ihre Ablehnung gegenüber dieser Welt, die mich mit ihrer goldenen Suppe, ihren Verboten und ihren Kümmelbrot- und Honigkuchengerüchen so warm einschloss, tat mir weh. Ich durfte in diese Welt hineintauchen, aber sie begleitete mich nicht auf meinen Entdeckungsreisen, sondern entfernte sich. Alleine und ohne sie entdeckte ich die kleine Hotelsynagoge, ich entdeckte den Schabbesgottesdienst mit seinen Liedern, und dass die Männer, wenn sie sich schaukeln und dabei murmeln, gerade beim Beten sind, und dass das Dawenen heißt. Ich wollte alles wissen, auch warum Herr Hoffman immer weinte, wenn er mir über den Kopf streichelte, und was die Nummer auf seinem Arm bedeutete. Ich hörte von meiner Mutter das Wort »umgekommen«, wenn sie mit ihrer Schwester sprach und stellte mir dabei dunkel gekleidete Menschen in langen Reihen auf einem Bahnsteig vor und ich bekam ein ganz komisches Gefühl im Bauch und mir wurde kalt. Aber wenn die beiden Schwestern, die eine hell mit ihrem Puppengesicht und die andere dunkel und apart, sich vor Lachen in den Armen lagen, fühlte ich mich sicher und froh.

Meine Mutter liebte ihre Schwester so sehr, wie sie ihr auf die Nerven ging. Madame Motke, meine Tante Thea, war eine mehr als runde, saftige, blonde Frau mit porzellanblauen Augen, ausrasierten, nachgemalten Brauen und einem rot übermalten Herzmund, mit dem sie mich küsste und dann mit Spucke ihre Lippenstiftspuren von meiner Wange rieb. Ihre Haut war makellos weiß, und ich liebte ihren Pudergeruch und ihr Haarnetz mit den goldenen Fäden und Perlen. Sie hatte einen warmen Mutterwitz und ich war meistens wütend auf sie wegen der Spucke und weil sie so oft alleine mit meiner Mutter einkaufen ging oder zum Frisör und ich bei dem alten Monsieur Hoffman in der Rezeption wartete, weil ich Angst hatte, dass ich meine Mutter verlieren würde wie die verrückte Maria. Wenn meine Mutter und ihre Schwester glücklich und hungrig und lachend zurückkamen, gab es von Tante Thea zum Trost ein Geschenk für mich. Einmal schenkte sie mir ein Schmuckkästchen, verziert mit bunten, perlmuttfarbenen Muscheln, das Frère Jacques spielte, wenn man es öffnete, das ich mir so lange gewünscht und das meine Mutter als Kitsch verworfen hatte. Und dann gingen wir ins Hinterzimmer zum Essen.

Wie liebte ich dieses Essen. Es tröstete mich über das endlose Warten beim alten Monsieur Hofman an der Rezeption hinweg. Ich schwelgte in goldener Hühnersuppe, in gehackter Leber und gehackten Eiern, am späten Mittag oder Abend, im Hinterzimmer, wenn die Gäste im Speisesaal schon gegessen hatten und satt und zufrieden waren, zusammen mit meiner Mutter, Onkel, Tante und den Kellnern, Zimmermädchen, Köchinnen und Köchen vom Personal, die ihre Patrons Maman und Papa nannten. Am Wochenende zum Schabbes kamen meine großen Cousins, die ich so sehr bewunderte, und manchmal kam mein Vater. Dann war ich das glücklichste Kind auf der Welt, saß auf seinem Schoß und es wurde auf Jiddisch politisch diskutiert, besonders wenn mein stalinistischer Onkel Jacques (Yankele mit den Ohren) am Schabbes mit Tante Montsi kam. Mein Vater stritt sich mit meinem stalinistischen Onkel Jacqu es, weil er als Trotzkist sich eben mit ihm streiten musste.

Damals hörte ich zum ersten Mal die Worte »le maquis« und »les camps« und irgendwann ahnte ich, dass die, die in »les camps« gewesen waren, solche Nummern auf dem Arm hatten wie Onkel Jacques und Tante Montsi. Mein Onkel Motke und meine Tante Thea hatten keine Nummer am Arm, denn sie waren im Maquis gewesen, den ich mir immer wie eine Art Urwald vorstellte, und meine Eltern hatten auch keine Nummer am Arm, die waren in Palästina gewesen, von dem ich wusste, dass es nach Orangen roch, und seitdem riechen für mich alle Orangen nach dem Traum vom Palästina meiner Eltern. Ich kuschelte mich an meinen Vater, während er Trotzki hochlobte und Stalin einen Verbrecher nannte. Der segelohrige Onkel Jacques wurde wütend und nach langen Debatten schlug er auf den Tisch: »Wer hat uns denn befreit aus dem Lager? Hat Dein Trotzki uns etwa befreit? Stalin hat uns befreit und seine siegreiche rote Armee!« Dann seufzte mein Vater geduldig, verzichtete auf historische Hinweise und gab auf. Damit war die Diskussion beendet, wir aßen unsere Suppe mit Lokschen und mit Krepplach und mein Vater hörte auf, ein Trotzkist zu sein, rückte sein Käppchen zurecht und freute sich auf den gefilten Fisch und den Tscholent. Am Schabbesausgang streckte ich zusammen mit meinem stalinistischen Onkel und meinem trotzkistischen Vater und den Hotelgästen begeistert meine Hände zum Licht und schnupperte glücklich an der Gewürzdose, bevor ich endlich Radio hören und mit Mucki und den anderen Kindern Quartett spielen durfte. Dann rannten wir Kinder wieder durch die endlosen Stockwerke des riesigen Hotels, das im englischen Kolonialstil gebaut und während des Krieges Hauptquartier der Gestapo gewesen war.

Das Hotel hatte ein Vorderhaus für die Gäste, mit großen Zimmern zum Meer hin und das Hinterhaus für das Personal. In das Hinterhaus durfte von allen Kindern nur ich und natürlich meine Cousins. Im Personalhaus hatten Monsieur und Madame Motke eine kleine Suite mit Bade- und Schlafzimmer. Dort durfte ich Mittagsschlaf halten, wenn meine Mutter mit meiner Tante ausging, und dort duftete es nach rosa Puder und Tante Theas gewaltigen Miedern, nach hundert Wässerchen, Cremes und Ölen, es glitzerten Haarnetze neben Goldkämmchen und Haarspangen und wunderbar bunte Perlmuttdosen mit rosa und hellblauen, silbernen und goldenen kleinen Muscheln darauf, in denen Haarklammern, Ringelchen und Kettchen waren. Aus den Schränken quollen Seidenstrümpfe und Hüfthalter, in Plastiktütchen eingepackter Modeschmuck, Halstüchlein, Gürtel und Täschchen und Pumps. Dort gab es Zeitschriften mit Fotoromanen, die voller Liebe und Tragik waren und schönen Männern und blonden Frauen. Dort hing das Foto von meiner Mutter, als sie noch klein war, mit ihrem großen Bruder und ihrem schönen Vater, die »verschwunden« und »umgekommen« sind, und mit der Tante Thea, die damals schon so wunderschöne große Puppenaugen hatte. Auf dem Foto sehen alle ganz traurig aus, weil mein Großvater gerade verwitwet war und meine Mutter und ihre Geschwister hatten ihre Mutter verloren. Aus dem Nachbarzimmer konnte man hören, wie der Kellner André sich mit dem Zimmermädchen Jeanette stritt, und auch, wie sie sich versöhnten. Aber ich war in Antoine verliebt, dem die Kellnerjacke so gut stand, und ich stellte mir vor, er würde mich heiraten, wir würden niemals streiten und hätten drei Kinder.

Es gab auch besondere Ereignisse in Knokke. Zum Beispiel als meine Mutter und ich aus dem Mittagsschlaf gerissen wurden, weil es einen großen Knall und eine Erschütterung gab und aus dem Meer eine pilzförmige Wassersäule emporstieg. Da war ein U-Boot mit Munition aus dem Krieg gesprengt worden. Und als meine Tante ihren Führerschein bekam. Es gab nichts, wovor sie keine Angst hatte, meine Tante. Vor dem bösen Blick, vor Flugreisen, obwohl sie ständig flog, vor fremdländischer Küche (ausgenommen der chinesischen), vor sowjetischen Spionen und vor dem eisernen Vorhang. Aber sie hatte keine Angst davor, sich mit all ihrer wunderbaren Fülle in ein winziges Auto zu setzen und alle Angestellten vor dem Hotel zu versammeln, damit sie ihre Fahrkünste bewundern konnten. Das Auto fuhr stotternd los und an der ersten unübersichtlichen Kreuzung stieg sie aus, schaute nach links und nach rechts, ob die Straße frei war, stieg in aller Ruhe wieder ein und fuhr über die Kreuzung unter lautem Hupen der inzwischen aufgetauchten Autos. Auf der Avenue Lippens in der Hauptverkehrszeit entdeckte sie eine Parklücke, stellte wahrheitsgemäß fest, dass sie noch sehr große Schwierigkeiten mit dem Einparken habe und wartete, eine lange, hupende Schlange von Autos hinter sich, bis ein Bekannter käme, der ihr das Auto einparkte. Da meine Tante in Knokke so bekannt war wie Baudouin, der König von Belgien, war der nächste Passant dazu bereit, ihren Wagen in die Parklücke zu bringen.

Wir kamen jedes Jahr nach Knokke, meine Mutter und ich, zu meiner Tante Thea und meinem Onkel Motke und meinen Cousins, die nicht die Kinder meiner Tante waren, denn ihre Mutter wurde deportiert, als der eine fünf Jahre alt war und der andere ein Baby.

Dies war die einzige Familie, die meiner Mutter geblieben war. Wir kamen zu Pessach, wenn gemeinsam der Seder gefeiert wurde und ich, weil ich in unserer Familie sehr lange die Kleinste war, den Afikoman suchen durfte. Wir kamen in den langen französischen Sommerferien, wenn die Mütter mit ihren Kindern aus den stickigen Städten flohen und in Knokke im Hotel warteten, bis ihre Männer Urlaub nahmen oder am Freitagnachmittag zum Schabbes kamen.

Ich liebte Knokke und seinen immerwährenden Wind, den Strand, die Wellen und das Meer, das man sofort riechen konnte, wenn man am Bahnhof ankam, die Waffel- und Pommes-Frites-Buden und das Hotel mit den Plastik palmen im Foyer, den Teesalons und dem Hinterzimmer, wo meine Familie aß, und dem Bridgesalon, in dem wir nie herumtoben durften und leise sein mussten, denn Bridge ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit. Ich liebte die kleine Betstube, in der wir laut waren und herumliefen und uns kaum jemand »psst« sagte, und den kleinen Salon mit den weichen Lehnsesseln, in die ich mich einkuschelte und ganz alleine in der Dämmerung zuschaute, wie die Sonne hinter Ostende im Meer unterging. Ich liebte die Kinder im Hotel und wir hatten längst alle Schleichwege ausgekundschaftet, die uns vor den Erwachsenen und ihrem Backenkneifen schützten. Und die goldene Hühnersuppe liebte ich und das Kümmelbrot und den Honigkuchen, die mein Onkel mit seinen warmen Bäckerhänden buk.

Die Jahre taten das, was sie immer und immer schneller tun: Sie vergingen. Plötzlich hatten die Jungs, mit denen ich Quartett und Mensch ärgere Dich nicht gespielt, und die Mädchen, mit denen ich Sandburgen mit Muscheln und Papierblumen geschmückt hatte, Pickel bekommen und benahmen sich ganz komisch und die Mädchen redeten über Kleider und schauten die Jungs komisch an und kicherten und die Jungs redeten gar nicht mehr mit uns und schauten die hübschen Zimmermädchen komisch an und wurden puterrot. Ich kam immer öfter alleine nach Knokke, weil meine Mutter krank wurde. Und ich bemerkte, dass meine Tante sehr darauf achtete, dass ich nicht zu lange mit dem Liftboy sprach, der mir sein dickes, silbernes Namensarmband geschenkt hatte. Und eines Tages, am Strand vor dem Hotel, tauchte mein Vater plötzlich auf, nahm mich in den Arm und sagte: Mami ist gestorben und da hatte ich tatsächlich meine Mutter verloren und Knokke war nie mehr wie vorher.

Später erst wurde mir bewusst, dass meine Kinderjahre die Jahre nach einem Krieg gewesen waren, in dem die Juden ermordet worden waren, und dass ich einen Onkel und einen Großvater hätte haben können und noch viel mehr Cousins und Cousinen und eine Familie, die in Köln und Duisburg und Antwerpen leben würde und nicht in Amerika und in Israel. Dass meine Mutter, als sie aus dem Land mit dem Orangenduft kam, in dem sie ihre Jugend und ihre besten Jahre verbracht hatte, keinen Vater mehr hatte und keinen Bruder und ihre Großmutter war mit 84 Jahren noch deportiert worden. Und dass sie vielleicht deswegen der Welt ihrer Kindheit mit ihren Geboten und Verboten und Gerüchen und Liedern nicht mehr zu nah sein wollte, weil das so weh tat.

Und dass meine saftige, immer ängstliche Tante Thea, die überlebt hatte, weil sie so blond war und aussah wie eine flämische Puppe und weil sie falsche Papiere hatte, und dass mein Onkel, der nie leise sprechen konnte, weil er immer durch das große Hotel schreien musste, dass dieser Onkel und diese Tante wirkliche Helden der Résistance gewesen waren und Hunderte von Menschen über die Grenze und in sichere Verstecke gebracht und ihnen das Leben gerettet haben. Sie haben jahrelang in der Illegalität gelebt, immer in Angst um ihr Leben und das ihrer Familie. Das Leben ihres eigenen Bruders Jakob, ihrer Halbschwester Hanna, die ihr so ähnlich sah, und das Leben ihres Vaters, des schönen David mit den blauen Augen und ihrer 84-jährigen Großmutter Rachel konnte meine Tante nicht retten. Sie konnte sie nicht davon überzeugen, dass die Deutschen die Juden wegbrachten, um sie zu vergasen. Mein Großvater David und seine Familie waren fest davon überzeugt, dass die Deutschen ein Kulturvolk sind und so etwas nicht machen. Sie waren davon überzeugt, bis sie ihre Sachen zusammenpackten und gemäß dem Befehl der Gestapo im Januar 1943 in Antwerpen in den Zug stiegen und nie mehr wiederkamen.

Mir wurde erst viel später klar, dass die wunderschönen Mütter und die eleganten Väter meiner Spielgefährten mit den Nummern auf dem Arm gezeichnet waren für ihr Leben, dass fast alle meine Spielkameraden aus dem Hotel wie ich ohne Großeltern aufgewachsen waren. Erst viel später wusste ich, dass meine Cousins nur leben, weil sie als kleine Kinder bei christlichen Familien versteckt waren, und dass europäische jüdische Kinder aus diesen Jahrgängen viel, viel seltener sind als die seltensten Edelsteine.

Erst viel später erfuhr ich, dass mein Onkel Motke, der Patron und Namensgeber des bekannten koscheren Hotel Motke in Knokke, ein Sozialist war. Er, der mit 13 Jahren Ende der zwanziger Jahre mit seiner großen Familie aus der Tschechoslowakei nach Belgien gekommen war, gehörte in seiner Jugend dem Jask an, dem Jüdischen Arbeiter Sportklub, in dem die jungen jüdischen Arbeiter organisiert waren. Klein von Wuchs und in seiner Jugend kräftig, boxte er als Leichtgewicht und war mit seinen lustigen Augen und seinem schmalen, schönen Mund ein wahrer Charmeur. Er ist ein einfacher, auf seine Art bescheidener, unglaublich guter und großzügiger Mann und in meiner Kindheit hatte ich ein wenig Angst vor ihm, weil er immer so laut sprach, als müsste ihn noch der Bäckerlehrling in der Backstube im Keller hören und ich glaubte immer, dass er schimpfte, sogar wenn er lieb war. Als er schon jahrzehntelang Patron des glatt koscheren Grand Hotels in Knokke war, in dem die Bar-Mizwot und die Hochzeiten und Geburtstage der wohlhabendsten Juden Europas gefeiert wurden, sogar noch als er mit seiner Frau nach Frankfurt eingeflogen wurde, um dort das Essen für die Simches in der koscheren Küche im Hotel Intercontinental zu organisieren, las er noch täglich seine flämische, sozialistische Zeitung, rauchte seine billigen schwarzen Zigaretten, trank sein Bier wie ein Arbeiter und wählte die Sozialisten. Er sagte oft, dass er immer noch ein Arbeiter sei. Und er und meine Tante schufteten oft 16 Stunden am Tag, Tag für Tag in der Saison, in dem Hotel, das nie schlief und in dem die Gäste eine Heimat fanden mit der Küche aus der Welt ihrer Kindheit, die vernichtet und ihnen für immer genommen war.