Mami 1809 – Allein gelassen…

Mami –1809–

Allein gelassen…

Roman von Susanne Svanberg

Die Passagiere der Comfort Class verließen vor den anderen Fluggästen die Maschine, die vor wenigen Minuten in Malaga gelandet war. Da Mike Cramer nur mit leichtem Handgepäck reiste, brauchte er am Kofferband nicht zu warten. Als einer der ersten Reisenden des Fluges Frankfurt – Malaga kam er in die Ankunftshalle. Eine Menge Menschen hielten sich dort auf. Die meisten standen wartend in kleinen Gruppen zusammen, andere gingen ungeduldig hin und her.

Maurena war nicht unter ihnen, das erkannte Mike sofort. Sie war eine Frau, die überall auffiel. Wo sie sich auch aufhielt, sie zog wie ein Magnet alle Blicke auf sich. Am Telefon hatte Maurena zwar erklärt, daß sie keine Zeit habe, Mike abzuholen, doch er hatte gehofft, daß sich ihre Absicht inzwischen geändert habe. Bei Maurena kam das oft vor, weshalb man nie sicher sein konnte, ob sie auch meinte, was sie sagte. Das störte Mike zwar ein bißchen, trotzdem liebte er sie. Er war gekommen, um sie zu heiraten. In einigen Tagen würde seine Familie aus Frankfurt nachkommen, denn die Hochzeit sollte groß gefeiert werden.

Noch einmal sah sich Mike suchend um. Irgendwie erwartete er, daß Maurena plötzlich hinter ihm stand, um ihm die Augen zuzuhalten.

Doch nicht hinter ihm, sondern vor ihm stand unerwartet eine junge Frau. Sie hielt Mike ein Kind entgegen und bat eindringlich: »Würden Sie Emely bitte für ein paar Minuten halten? Ich muß dringend telefonieren.«

Mike Cramer trat zur Seite, denn er war überzeugt davon, daß nicht er, sondern jemand in seiner Nähe gemeint war.

»Bitte, ich werde mich auch sehr beeilen.« Zwei dunkle Augen sahen den jungen Deutschen flehend an.

»Ich!« vergewisserte sich Mike erstaunt. »Aber Sie kennen mich gar nicht. Sie können Ihr Kind doch nicht einem völlig Fremden…«

»Sie sind Mike Cramer«, unterbrach ihn die Fremde. »Ihr Vater besitzt ein großes Kunststoffwerk in der Nähe von Frankfurt. Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen. Dort hat man ausführlich über Ihre bevorstehende Heirat berichtet.«

»Echt?« murmelte Mike und griff nach dem Kind, das ihm die dunkelhaarige Frau an die Brust drückte. Eigentlich wollte er das Kleine nur vor dem Herunterfallen bewahren. Doch die Mutter, die sehr in Eile zu sein schien, sah das anders.

»Ich bin gleich zurück«, erklärte sie, bevor Mike eine weitere Frage stellen konnte.

»Moment!« schrie er und stand reichlich hilflos im Strom der Passanten, die inzwischen sehr zahlreich in die Halle drängten. Eine weitere Maschine schien angekommen zu sein, denn es herrschte jetzt dichtes Gedränge. Mike sah gerade noch, wie die Frau zu den Telefonzellen lief, doch dann war sie in der Menge verschwunden.

Rechts und links von ihm hasteten die Menschen vorbei. Sie strebten ihren wartenden Angehörigen zu und umarmten sich gleich darauf mit südländischer Herzlichkeit. Niemand kümmerte sich um Mike.

Er stellte sein Handgepäck ab und umfaßte das kleine Persönchen, das man ihm in den Arm gedrückt hatte, fester. Niedlich sah es aus mit den Löckchen, den dicken Pausbäckchen und dem kleinen Schmollmund, der sich weinerlich verzog.

»Das gefällt dir wohl nicht. Aber keine Angst, deine Mama ist gleich wieder da«, murmelte Mike und hatte keine Ahnung, ob das Kleinkind ihn verstand.

Es schien nicht der Fall zu sein, denn Emely heulte los. Ihre Augen, die so dunkel waren wie die der Mama, füllten sich mit Tränen. Der kleine Mund öffnete sich und brachte erstaunlich laute Töne hervor.

Mike hatte mit seinen siebenundzwanzig Jahren wohl reichlich Erfahrung im Umgang mit großen Mädchen, aber er hatte keine Ahnung, wie so ein kleines weibliches Wesen zu behandeln war. Mit Kindern kannte er sich überhaupt nicht aus. Er wußte nur, daß sie unangenehm laut werden konnten, und diese Meinung bestätigte sich jetzt rascher, als ihm lieb war.

Erschrocken hielt er Emely etwas von sich und ging auf die Zehenspitzen, um nach ihrer Mama Ausschau zu halten. In dieser Position vermochte Mike die Halle gut zu überblicken, denn er war schon in normaler Haltung einsneunzig. Die Fremde, die ihm das Kind übergeben hatte, konnte er allerdings nirgends entdecken. Die Telefonzellen waren größtenteils leer, nur zwei ältere Herren hielten sich in den gläsernen Kabinen auf.

»Sie muß gleich da sein«, raunte Mike dem empört schreienden Kind zu. Er erreichte damit nur eine Verstärkung des Gebrülls. Die Sache war Mike peinlich, denn man sah ihn von allen Seiten vorwurfsvoll an.

Um den anklagenden Blicken zu entgehen, schnappte er sein Köfferchen und schob sich durch die vielen Wartenden in Richtung Telefonzellen. Daß er dort die Mutter der Kleinen nicht treffen würde, war ihm schon zuvor klar. Aber er hatte eine junge Dame entdeckt, die ihm geeignet erschien, die kleine Emely zu übernehmen.

»Hallo, würden Sie mir einen Gefallen tun«, sprach er die Frau an, die ihm schon beim Einchecken in Frankfurt aufgefallen war, und von der er deshalb wußte, daß sie Deutsch verstand. »Würden Sie kurz auf das Kind aufpassen? Die Mutter muß jeden Moment zurückkommen. Ich habe es eilig«, schwindelte Mike. »Ich muß…«

Katja Stein sah den Fremden groß an. Mit seinen blonden Haaren, den strahlend blauen Augen und in legerer Freizeitkleidung wirkte er durchaus sympathisch. Aber sein Ansinnen war doch ziemlich merkwürdig. »Tut mir leid. Auf Ihre kleine Tochter müssen Sie schon selbst aufpassen.« Katja nahm die Sache von der heiteren Seite und lächelte amüsiert.

»Aber das ist ja gar nicht… Man hat mir das Kind einfach in den Arm gedrückt.« Es fiel Mike immer schwerer, die Kleine zu halten, denn sie schlug zappelnd um sich und schrie immer lauter.

Katja war eine gute Beobachterin und hatte ein natürliches Talent, Menschen richtig einzuschätzen. Sie glaubte Mike, obwohl seine Geschichte alles andere als logisch war.

»Vielleicht sollten Sie die Mutter ausrufen lassen«, meinte sie und wischte dem verschwitzten kleinen Mädchen die Tränen von den Bäckchen.

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber ich weiß nicht einmal ihren Namen. Außerdem spreche ich kein Spanisch und kann mich deshalb nur schwer verständlich machen. Könnten Sie nicht für mich…?« Bittend sah Mike seine Gesprächspartnerin an.

»Leider nein. Ich bin als Reiseleiterin hier, nicht zum Vergnügen. In dieser Eigenschaft habe ich die Verantwortung für meine Gruppe. Einige meiner Reisegäste sind bereits zum Bus gegangen, auf die restlichen warte ich hier. Ich kann auf keinen Fall weggehen, weil sich meine Rundfahrtteilnehmer nicht zurechtfinden würden.« Katja lächelte dem Kind zu, das sich mehr und mehr beruhigte.

Mike atmete erleichtert auf. »Sie verstehen sich gut mit Kindern.« Erst jetzt bemerkte er, daß die Frau, von der er Hilfe erwartete, hübsch war. Zwar nicht so kapriziös und auffallend wie Maurena, dafür natürlich und liebenswert.

»Ich habe drei jüngere Geschwister«, antwortete Katja schelmisch lächelnd. Dabei zeigten sich zwei Grübchen in ihren Wangen, eine Reihe hübscher Zähne blitzte. »Deshalb haben meine Eltern auch nicht genügend Geld, mein Studium zu finanzieren, und ich muß in den Semesterferien arbeiten.« Katja sagte es ohne Bedauern.

Ihre Erklärung interessierte Mike nicht besonders. »Was soll ich denn jetzt tun?« fragte er in komischer Verzweiflung.

Katja zuckte die Achseln. »Warten, was sonst? Die Mama wird aufgehalten worden sein, aber sie kommt sicher gleich.« Durch sanftes Streicheln und ein freundliches Lächeln war es Katja gelungen, das weinende Kind in Mikes Armen zu beruhigen. Es lächelte zaghaft zurück.

Nur Cramer stand da, als habe man ihm eben seine gesamte Barschaft geklaut. »Ich bin mir da nicht so sicher«, meinte er mit unglücklichem Gesicht.

»Dann würde ich zur Polizei gehen«, riet Katja, die sich auch in schwierigen Situationen immer zu helfen wußte. Diese Eigenschaft hatte sie sich nicht als Reiseleiterin erworben, sondern als ältestes von vier Kindern, deren Mutter halbtags arbeitete. Verwöhnt war sie nie worden, aber das erwies sich im Leben als Vorteil.

»Polizei?« wiederholte Mike erschrocken und wirkte richtig verstört. Ihm fehlten Katjas Erfahrungen, denn als einziger Sohn des reichen Unternehmers Cramer hatte er das Leben bisher nur von seiner angenehmen Seite kennengelernt.

In diesem Moment flammten in rascher Folge mehrere Blitzlichter auf. Der Vertreter der Regionalpresse hatte Mike Cramer erkannt und ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, über seine Ankunft zu berichten. Die bevorstehende Hochzeit in Marbella, dem Ferienort der Reichen und der Schönen an Andalusiens Küste, war von öffentlichem Interesse. Maurena de Derceville und Mike Cramer stammten beide aus reichen Familien, und ihre Hochzeit war ein gesellschaftliches Ereignis, an dem der Geldadel Europas teilnehmen würde.

»Sch…«, zischte Mike verärgert, denn er wußte genau, daß er Probleme mit Maurena bekommen würde, wenn dieses Bild in der Zeitung erschien. Vielleicht konnte er den Fotografen davon abhalten, wenn er ihm einen Schein in die Hand drückte.

Doch noch bevor Mike auf den Mann mit der Kamera zugehen konnte, tauchte eine Gruppe Reisender auf, die mit ihren Gepäckstücken seine Gesprächspartnerin und somit auch ihn umringten.

Mike stieg über Koffer und Rücksäcke, Taschen und Beutel, doch bis er außerhalb des Kreises war, konnte er den Pressemann nirgends mehr entdecken. Hinzu kam, daß dem Kind diese Aktion nicht zu behagen schien. Es strebte von

Mikes Arm und begann erneut zu weinen, als das nicht gelang.

Mike wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn. Es war Februar und damit in Andalusien wohl wärmer als im nördlichen Europa, aber nicht heiß. Trotzdem schwitzte Mike. Für ihn wurde mehr und mehr zur Gewißheit, daß ihm etwas widerfahren war, was ihm kein Mensch glauben würde, am wenigsten Maurena. Sie war unheimlich eifersüchtig und würde behaupten, daß das Kleine auf seinem Arm sein Kind war. Dabei hatte er in dieser Hinsicht ein gutes Gewissen. Seit er Maurena kannte, und das waren immerhin zwei Jahre, hatte er keine andere mehr angeschaut, obwohl sie sich nur alle zwei Monate sehen konnten. Nach der Hochzeit würde Maurena zu ihm nach Frankfurt ziehen, das hatte sie versprochen. Allerdings war es nicht sicher, daß sie sich daran halten würde.

Doch darüber dachte Mike im Moment nicht nach. Er hatte andere Sorgen.

»Ciao!« winkte Katja herüber und zog mit ihrer Reisegruppe ab.

Noch einige Minuten stand Mike unschlüssig neben seinem Handgepäck und versuchte, Emely durch Streicheln zu besänftigen, so wie Katja das getan hatte. Doch bei ihm reagierte die Kleine sauer. Wütend schlug sie um sich, bäumte sich in seinen Armen auf und strampelte, daß Mike Mühe hatte, sie festzuhalten. Wie die Studentin das Kind so rasch beruhigt hatte, würde Mike ewig ein Rätsel bleiben. Bei ihm funktionierte die Methode nicht.

Er hätte Emely einfach absetzen und davongehen können. Doch so gewissenlos war Mike nicht. Sein Vater war zwar der Ansicht, daß es der Sohn, als sein Vertreter und Nachfolger in geschäftlichen Dingen, am nötigen Ernst fehlen ließ, doch Mike löste Probleme auf seine Art: verspielt und heiter. Der Erfolg gab ihm meistens recht und verblüffte seinen alten Herrn. Nur in der jetzigen Situation hatte Mike keinerlei Erfolg, was ihn nicht gerade friedlich stimmte.

»Deiner Mama werde ich was erzählen, wenn sie kommt«, drohte er. Doch Emelys Mama kam nicht.

*

Nach einer Wartezeit von gut einer halben Stunde wandte sich

Mike an die Flughafen-Polizei. Die Beamten verwiesen ihn höflich an die Dienststelle in der Stadt.

Mike nahm ein Taxi und ließ sich hinbringen. In einem düsteren Flur mußte er auf einer abgewetzten Bank Platz nehmen und warten. Das war etwas, das Mike ohnehin haßte. Jetzt machte es ihn noch nervöser, als er ohnehin war. Am liebsten hätte er sich klammheimlich davongemacht. Doch Emely, die inzwischen vor Erschöpfung in seinen Armen eingeschlafen war, tat ihm leid. Schließlich war es nicht ihre Schuld, daß sie eine »Rabenmutter« hatte. Die Sorgen, die sich Mike um seine Beziehung zu Maurena machte, wurden davon allerdings auch nicht kleiner.

Seinem Empfinden nach dauerte es unheimlich lange, bis man ihn in die nüchterne Amtsstube rief. In Wirklichkeit waren es nur zehn Minuten gewesen, doch Mikes Geduld war zu Ende. Er legte das Kind auf den erhöhten Tisch, der wohl als Absperrung zum übrigen Büroraum gedacht war. »Das möchte ich hier abgeben!« Mike machte Anstalten, sich nach dieser Erklärung sofort zu entfernen.

Der Beamte hinter der Absperrung bekam kugelrunde Augen. Zum einen verstand er Mikes Äußerung nicht, und zum anderen war es für einen spanischen Familienvater wie ihn undenkbar, ein kleines Mädchen einfach irgendwo abzugeben. José Alvorez, so hieß der Mann, der hier Dienst tat, hatte selbst zwei kleine Töchter, und er hätte sich um nichts in der Welt von ihnen getrennt. Daß ein Mann sein Kind weggeben wollte, empfand er als ungeheuerlich. Seinem Äußeren nach war dieser Mann ein Nordeuropäer, der in Andalusien Urlaub machte. Die Polizei hatte Anweisung, die Fremden höflich und freundlich zu behandeln. Doch wenn jemand sein Kind abgeben wollte wie einen gefundenen Regenschirm, da hörte der Spaß auf! José gab seinem Adjutanten einen Wink, den Fremden aufzuhalten.

So wurde Mike Cramer unsanft am Arm festgehalten, noch bevor er die Tür erreichte.

»Hiergeblieben!« wurde ihm auf Spanisch befohlen.