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Marlen Schachinger

denn ihre Werke folgen ihnen nach

Marlen Schachinger

denn ihre Werke
folgen ihnen nach

O T T O  M Ü L L E R  V E R L A G

Für Fabian

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1204-7
eISBN 978-3-7013-6204-2

© 2013 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Coverbild: Sigrid Pfister, Mannheim/fotocommunity

Alles ist Lug und Trug,

ist Täuschung und Traum,

ist nicht das, was es scheint.

(Nikolai Gogol)

Meine Damen, meine Herren, ich rate Ihnen,
diesem Text mit Mißtrauen zu begegnen.

(Joachim Nowotny)

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV.I

Kapitel XXXV.II

I

Ich schlug die Zeitung auf. Unter den Kulturnachrichten prangte schwarz umrandet die Bildzeile:

»Kein Gericht der Welt würde mich schuldig sprechen, und dennoch trage ich die Verantwortung für Luca H.s Tod.«

II

Nein, ich habe keine Schreib-, nennen wir es: -probleme. Es ist bloß eine momentane Desorientiertheit, die sich ein wenig breiter macht als gewöhnlich, es handelt sich nur um eine kurze Phase der Inspirationslosigkeit, denn es anders zu bezeichnen, hieße, dem Schicksal Tür und Tor öffnen. Ich glaube an die Macht der Wörter; dass sie Zustände herbeirufen können, die alsdann eintreten müssen, ja, man könnte sagen, ich bin abergläubisch, das dreimalige Spucken über die Schulter der Schauspieler ist mir vertraut.

Ich suche nach einem Thema, das ich gestalten könnte, klicke Webseiten an und weg, Gemälde, Fotos, Zeichnungen. Ich finde nichts Bewegendes. Vielleicht suche ich seit Tagen auf der falschen Ebene, möglicherweise ist mir eine bloß visuelle Anregung nicht genug? Ich wechsle also zu Cartoons, die weisen zumindest einen Kurztext auf, und als würde ich über Korrekturfahnen sitzen, murmle ich ihre Zeilen in den Raum. Eventuell wäre es möglich, drei oder vier miteinander zu verbinden, eine Kürzestgeschichte, die so entsteht, weshalb nicht? Um zweihundertfünfzig Seiten zu füllen, bräuchte ich folglich siebenhundertfünfzig bis tausendsiebenhundertfünfzig Cartoons, Mittelwert eintausendzweihundertfünfzig, möglicherweise ließe sich ein Textdrittel auch mehrfach nutzen, ohne dass es jemandem auffällt? Es wäre einen Versuch wert. Man könnte es InterTextGewebe nennen.

Ein weiteres Cartoon, auf diesem sind drei Bischöfe zu sehen, sie stehen dickbäuchig und vor Begehren sabbernd um einen Computer. Dass kein Porno über ihren Bildschirm flimmert, sondern sie das Modell einer Internetbeichte vor sich haben, verleitet mich nicht zum Lachen: Wehe dem, der nicht brav seine Buß-Rosenkränze bete, er werde von höllischen Computerviren heimgesucht werden – wo soll da der Witz sein, oder bin nur ich heute zu griesgrämig, um angemessen zu reagieren? Wer würde über so etwas lachen und gibt es Internetbeichten in Wirklichkeit?

Ich tippe das Wort in die Suchmaschine ein. Wer erteilt bei einer solchen Form der Beichte seinen Segen und wie? Kommt der Segen über das Modem? Eine Seelenreinigung durch Versprachlichung einer Befindlichkeit, die sich nicht erfüllen kann, weil sie bereits Vergangenheit ist: Ich weiß, ich habe eine Schreibblockade, obgleich ich es vorziehe, sie anders zu nennen, und diese Verfälschung der Wahrheit ist bedenklich, doch bietet sie Schutz usw. usf. – und danach sollte es einem besser gehen? Wer sagt, dass ich sie mit meiner Inspirationsverzögerung belangen muss? Ich könnte mir doch irgendetwas passend zu den Zehn Geboten herbei fabulieren, stehlen, lügen, begehren, schließlich bereue ich meinen Aberglauben und all seine Konsequenzen, und der Segen, den ich erhielte, er müsste allumfassend sein…

Hier steht, es sei eine Entscheidung Gottes, ob er gebe, was er gebe, wann er gebe, man könne nur bitten.

Aufschreiben statt aussprechen – würde Freud sich heute auch mit elektronischer Post begnügen, um die gequälten Seelen seiner Patienten zu behandeln? Liegt darin eine Geschichte, die ich gestalten könnte?

Ein Engel flattert über die Seite, reichlich kitschig sieht der aus, dazu obendrein das Glockengedröhn, als wäre die Zeit seit Jahrhunderten stillgestanden. In einem Roman würde mir die Lektorin ›Klischee‹ kritisch anmerken.

Ich könnte ausprobieren, was geschieht, wenn einer auf diese Art beichtet. Anderes habe ich schließlich ohnehin nicht zu tun. Ihnen eine Geschichte erzählen, ihnen oder ihm, dem einen Leser, das kann doch nicht so schwierig sein.

Ich starre auf das Feld, in welches die Nachricht einzufügen ist. Das weiße Rechteck blickt mich vorwurfsvoll an. Die vorgegebene Fläche, um eine Beichte einzufügen, ist klein. Alles, was ich schriebe, verschwände sogleich nach oben. Das ist beruhigend. Ich könnte lügen, mich als Mörder, Vergewaltiger, mehrfach Abtreibende ausgeben. Das aber würde Arbeit bedeuten, ich müsste ein Figurenporträt einschließlich biografischem Hintergrund entwerfen, ihm oder ihr eine bestimmte Umgebung zuschreiben, aus alldem eine mögliche Geschichte entwickeln – nein, eine Handlung entlang der wahren Begebenheiten stellte einen weitaus geringeren Arbeitsaufwand dar; nicht »annähernd wahr« oder »den Tatsachen entsprechend«, denn was ist Wahrheit?

Niemals hätte ich die Geschichte eines Sohnes erfunden, denn mir hätte dabei in der Mutterfigur meine eigene Mutter in die Quere kommen können. Ebenso wenig könnte ich mir eine Erzählung über einen Bruder ausdenken, denn es wäre möglich, dass darin – zuerst noch unbemerkt – meine Schwester auftauchen würde, und irgendeines schönen Tages wäre dann wahr geworden, was ich mir ausgedacht hatte. Mag es Aberglaube sein! Ich bin überzeugt, dass Wörtern eine prophetische Kraft innewohnt, dass Ereignisse sich herbei sprechen lassen.

Dies ist ja die quälende Quelle meiner Schreibhemmung: Dass ich mir dies und das als Thema verwehre. Man stelle sich vor: Ich schreibe über einen Bruder, der gesteht, er habe seine Schwester – nein, nicht einmal zu denken wage ich es. Die prophetische Kraft der Wörter, ich bleibe dabei, ich könnte es mir nie verzeihen, käme meine Schwester durch mich zu Schaden.

Ich könnte mit Markus und Darian beginnen, ich könnte von damals erzählen, als wir jung waren:

»De Puff’n bleibt im Auto!«

»Herst Oida, spinnst?«
»Di oda i!«

»Geh, Muffi, hoit dein’ Rand, und setz die Mask’n auf!«

Ich weiß, damit haben Sie nicht gerechnet, gestatten Sie mir bitte trotzdem, die Geschichte authentisch zu erzählen, denn ohne schonungslose Ehrlichkeit macht keine Beichte Sinn, oder? Und eben darum sollte es hier doch gehen. Manche Karrieren beginnen auf absurde Weise, und am Beginn der meinen standen ebenjener Wortwechsel sowie eine Pistole. Knapp einen Monat zuvor hatten wir unseren Grundwehrdienst beendet; wir, das hieß zu jener Zeit stets Markus, Darian und ich. Die Weltwirtschaft steckte mal wieder in der Krise, und keiner in unserem Trio hatte einen Job, ganz zu schweigen von der Aussicht darauf. Markus ging es mit seiner Ach- und-Krach-Matura noch am besten, aber Darian und ich? Mittlere Reife, neun abgebrochene Lehren – er und ich, zusammengezählt.

Doch auch die Wahrheit hinter meinen drei Abbrüchen veränderte kein bisschen jenen Gesichtsausdruck, den ich zu sehen bekam, stellte ich mich in Personalbüros vor, weil man so gnädig (oder mangelhaft vorbereitet) war, mich zu einem Gespräch einzuladen. Drei Lehren. Niemanden interessierte, dass alle dem Einzelhandel zuzurechnen waren, dass ich die erste Stelle, Buchhandel übrigens, bei der man mich einzig als Putz- und Tragekraft einsetzte, gegen eine zweite in der gleichen Branche tauschte, weil man mir eine Stelle in einem vielversprechenden Laden anbot, der jung und hip war, ein Buchcafé, gerade erst von einem Kollegen aus der ersten Lehre gegründet. Dass er nach fünf Monaten Pleite machte und ich somit auch meinen Job verlor, interessierte niemanden. Danach folgte die dritte Lehre, in einem anderen Teilbereich der Branche, denn durch den Wechsel gab man mir in keiner Buchhandlung mehr eine Chance. Ich wählte den – wie ich dachte – sicheren Sektor Elektrogeräte, der mich jedoch nicht interessierte, was meine neue Chefin natürlich innerhalb der Probezeit herausfand und mir deshalb auch sogleich kündigte. Dass diese drei misslungenen Versuche, im Berufsleben Fuß zu fassen, also sehr wohl ihren Hintergrund hatten, tangierte keinen Personalchef.

Obendrein hatte ich während der vergangenen Wochen ausgemachtes Pech gehabt, war nach allen Regeln der Kunst hereingelegt worden. – Darüber zu schreiben fällt mir schwer; nicht weil es meinem damaligen Empfinden nach ehrenrührig gewesen wäre oder es keinesfalls zum ersten Mal geschah, dass ich bis über beide Ohren im finanziellen Debakel steckte – kein Wunder, ich hatte gerade eben dreihundertneunzig monatlich zur Verfügung und mein WG-Zimmer verschlang bereits knapp dreihundert, alles inklusive, zumindest. Ich erzähle deshalb nicht gerne davon, da ein gebrochenes Herz hinzukam. Wer, frage ich Sie, gibt freiwillig zu, dass die innere Einsamkeit einen dazu gebracht hat, einem fremden Menschen den versprochenen Honigmund zu glauben, sich rettungslos zu verfangen, weil ›sie‹ einem per SMS einflüstert, man sei so süß, das Foto, im Internet gefunden, ›sie‹ habe sich sogleich verliebt und hätte es sich nie verziehen, wenn ›sie‹ ihrer Feigheit nachgegeben und mich nicht kontaktiert hätte, solch eine Chance erhalte man nur einmal im Leben. Damit hatte sie nicht Unrecht. Ehe du es dich versiehst, gibst du dein Privatestes preis, schreibst Geheimnisse in die Nacht, und ›sie‹ antwortet mit all dem Gesäusel, das Verliebte von sich geben; mit kühlem Kopf betrachtet wirkt es stets bloß pathetisch, purer Kitsch. Zwei Wochen danach bekam ich die Mitteilung, meine Telefonrechnung betrage rund siebenhundert Euro, und meine Mutter erklärte mir unumwunden, dieses Mal könne ich ihrerseits mit keinem Cent rechnen, genug der »Spompanadeln«, wie sie meinen Lebensentwurf verärgert nannte, ich solle mir verdammt nochmal eine Arbeit suchen, auf welchem Niveau auch immer.

Ihr Fluch ist kein unwesentliches Detail der Geschichte, denn mir verdeutlichte diese Redeweise, welche mit ihrem sonstigen korrekten Lehrerinnenton nicht in Einklang stand, unmissverständlich, dass ihre Geduld am Ende sei, und ich hatte keinen Job in Aussicht. Nicht einmal als Budensteher am Adventmarkt fand ich Gehör: Wer wisse, ob man mir trauen könne, mit solchen Worten wimmelte man mich ab. Dass ich in meinem Innersten Künstler sei wie sie, beeindruckte sie ebenso wenig wie meine finanzielle Not.

An jenem Abend, da mich die Standverkäufer der Reihe nach abwiesen, erzählte ich Markus und Darian von meinem Debakel, und angeregt durch meinen flapsig hingeworfenen Schlussstrich, ›Woher nehmen, wenn nicht stehlen?‹, subsumierte Darian seinen Plan, und ich stimmte ihm zu. (Darian erhielt übrigens jenen Namen, weil seine Mutter – Anne Foster – einen Literaturtick hat und vor seiner Geburt ein Buch nach dem anderen von Dario Fo las, den sie in einer Neuübersetzung im Verlag, in dem sie arbeitete, herausbrachte; Darian Foster, das klang ihr vielversprechend. Leider ist jedoch ein Name nicht grundsätzlich ein Omen, das dachte sich seine Mutter wohl mittlerweile gleichfalls, denn Darian las – abgesehen von Comics und Mahnungen – freiwillig keine Zeile – obwohl, ich bin mir nicht einmal sicher, ob er sich letztere wirklich Wort für Wort zu Gemüte führte, in solchen Mengen, wie sie bei ihm eintrudelten. Das hätte in eine Situation, die man als gestresst bezeichnen könnte, ausarten müssen, zumindest zeitweise, solchen Umständen aber verstand sich Darian seit jeher zu entziehen.) Markus hatte sich unserer Unternehmung angeschlossen, weil wir alles zu dritt machten, seit Jahren schon.

Markus machte sich am Schloss zu schaffen, endlich würde sich die jahrelange Ferialarbeit in der Werkstatt seines Vaters bezahlt machen, und er erzählte, er habe beim letzten innerfamiliären Wettbewerb im Knacken von Schlössern den Alten sowie Bruder samt Gesellen um eine Minute, achtunddreißig Sekunden geschlagen, es war also kein Wunder, dass wir kurz darauf im Stiegenhaus standen, die Treppe hoch, die Tür Nummer 7, ein Kinderspiel. Es gab nicht einmal eine Alarmanlage, alles war exakt so wie Darian es versprochen hatte. Gemäß unseres Plans schwärmten wir aus, leerten unterwegs die Bundesheertaschen von ihrer Fülle aus Gratiszeitungen, streiften mit dem Licht der Taschenlampen durch die Räume; ja, wir hatten unser Abenteuer vorbereitet. Womit wir hingegen nicht gerechnet hatten war, dass auch hier offenbar die Weltwirtschaftskrise dominierte: Der PC vor mir war nicht Schnee von gestern, sondern bereits versickertes Schmelzwasser; in den Schubladen des Schreibtisches – unverschlossen – konnte man außer Stiften, Radiergummis, einem Häufchen Centmünzen und Heftklammern nur einen halben Schokoriegel und eine Flasche Whiskey finden – billiger, amerikanischer Fusel; auf dem Tisch: Post, Bücher, stapelweise Papier; und im Regal Unmengen von Büchern. Das war es. Und wie ich deutlich Darians gehetztem Atem und Markus’ Fluchen entnehmen konnte, sah es in den beiden anderen Bürozimmern nicht besser aus.

Ich betrat den angrenzenden Raum, offensichtlich die Kaffeeküche.

»Haben’s dir ins Hirn g’schissen, oder was? Bei einem Verlag gibt’s sicher was zu holen, ich weiß das, weil meine Mama da arbeitet – was is hier zu holen?«

Mir ist sehr wohl bewusst, dass dies kein angemessenes Vokabular für eine Beichte ist, aber damals waren wir jung, zornig, manchmal verzweifelt. Darian hätte übrigens Markus beim besten Willen keine Antwort geben können, hochrot im Gesicht, die Maske herabgerissen, kämpfte er mit einem Hustenanfall, stammelte unverständliches Zeug.

»Das Einzige, was hier zu holen ist«, sagte ich, »ist das da«, und reichte Darian ein Glas Wasser.

»Scheiße, was willst du denn mit einer Kaffeemaschine?«

»Das ist keine Maschine, sondern der Rolls-Royce unter den Kaffeevollautomaten, das Beste vom Besten. Weiß ich aus meiner dritten Lehre, der hier kostet fast 2.000 Euro, 1.890, um genau zu sein. Zumindest war das sein Preis vor drei Monaten.«

Ich überschlug die vermutliche Verkaufssumme geteilt durch drei und war zufrieden; der restliche Betrag zur Bezahlung meiner durch Leichtgläubigkeit entstandenen SMS-Schuld würde sich schon irgendwo finden, schließlich wäre in Kürze Weihnachten.

Unter Flüchen verstaute Markus in seiner Bundesheertasche das Aluminium-Ding, dessen ›markante Linien die Form der Kaffeebohne‹ aufgreifen, wie unsere Chefin uns fortwährend angehalten hatte, den Werbeslogan zu zitieren. Ich legte das Glas, aus dem Darian getrunken hatte, dazu, DNA, versteht sich von selbst. Das war’s, wir konnten abziehen.

Ein Pop-up-Fenster schob sich plötzlich in die Mitte des Bildschirms und hinderte mich daran, weiter zu schreiben: Die maximale Zeichenanzahl, die dem Beichtenden zur Verfügung stünde, sei erreicht. Der Beicht- und Predigtdienst bedaure. Ich strich ein, zwei unnötige Sätze, eine Aktivität, die mir leicht fiel, und vermerkte am Ende des Textes, dies sei Teil eins meiner Beichte, Teil zwei werde in Kürze folgen, drückte den ›Sende‹-Button. Der Online-Seelsorger des Predigt- und Beichtdienstes versprach eine Antwort innerhalb von fünfzehn Minuten, die ID sei gesegnet.

Ich öffnete ein weiteres Schreibfenster, setzte meine Erzählung fort:

Im Vorraum blieb Darian so plötzlich stehen, dass ich gegen ihn prallte. Er wies mit dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf einen Rollladenschrank neben dem Eingang, welcher durch ein Vorhängeschloss gesichert war. Niemals sollte man mit der Hoffnung der Menschen spielen, und bevor Markus sein Werkzeug auspacken konnte, hatte Darian das Schloss mit einem Knall in hundert Teile zerlegt, was Markus wegen des Lärms erneut in Rage brachte. Ich hingegen zog den Rollladen auf: Nichts. Gar nichts. Außer Papierstapel. Darian, der es nicht glauben konnte, fetzte die Blätter zu Boden, während Markus bereits zur Tür hinaus war.

»Komm schon, los!«

Ich packte Darians Arm, schob meinen Freund zum Ausgang. Er hielt noch immer ein Bündel Papier umklammert – »Wohin damit?«. Ich riss meine Tasche auf, er warf alles hinein, wir rannten die Treppe hinab, zerrten die Masken herunter. Das Starten der alten Karre funktionierte erst beim dritten Versuch, dennoch blieb uns ausreichend Zeit: keine Polizei, keine erleuchteten Fenster.

Am nächsten Morgen stand es in der Zeitung: Der in der Innenstadt gelegene renommierte Verlag D. sei letzte Nacht ausgeraubt worden, die Täter hätten abgesehen von einer Kaffeemaschine (Kaffeevollautomat, bitte!), die der Verlag einem Tick der Cheflektorin L. S. verdanke, nichts erbeutet; Sachschaden an einem Schrank, den ein übereifriger Praktikant mit einem Schloss gesichert habe, obgleich darin bloß unverlangt eingesandte Manuskripte darauf warteten, dass man endlich ausreichend Geld für einen Schredder haben würde, so L. S. zum Journalisten, und danach folgte ein Zitat der Cheflektorin: »Die ermittelnden Beamten gehen davon aus, dass nichts gelesen wurde…«

Wenn das keine Aufforderung war! Ich leerte die Bundesheertasche auf mein Bett.

Die erste Geschichte war eine schwachsinnige Erzählung über einen Mann an einem See, der nichts anderes tat, als fischen; tagaus, tagein, Seite für Seite, er sitzt, wirft die Angel aus, holt sie ein, wirft sie aus – eine Metapher für unser Leben, so stand es zumindest im beigelegten Exposé. Möglicherweise habe ich die Story aber bloß nicht kapiert, weil die ersten vierzig Seiten fehlten, wer weiß? Dafür hörte die zweite Geschichte, drei Frauen in einem Café, (Gott sei Dank!) bei Seite sechsunddreißig unvermittelt auf. Der Bandenkrieg war abgekupferter Müll, und der angeblich überaus spannende Thriller über einen UNO-Mann in Bedrängnis häufte auf den mir vorliegenden fünfundvierzig Seiten siebenhundertdreiundsechzig Klischees aufeinander. Markus rief an: Was denn nun mit der Kaffeemaschine sei – Vollautomat!, du Vollkoffer!, und: Er solle warten, ein paar Tage, bis Gras über die Sache gewachsen war, danach würde ich unser Angebot schon auf den Markt bringen, einen Monat noch bis Weihnachten, wäre ja gelacht, und während ich dachte, was für ein Glück wir hatten, dass bislang kein Schnee gefallen war, setzte ebenjener ein, zuerst sanken nur wenige Flocken herab, dann mehr und mehr.

Ich zog mir die Bettdecke ans Kinn und das fünfte Manuskript heran, es war beinahe vollständig, im Mittelteil fehlten rund zwanzig Blätter, was, wie ich es im Kopf überschlug, bei über fünfhundert Seiten bloß einen Verlust von nicht einmal vier Prozent ausmachte; eventuell hätte ich doch die Buchhaltungslehre beim Heer beginnen sollen, denn Mathe war mir seit jeher leicht gefallen, obgleich mich dieses Wissensgebiet nicht fasziniert. Die Kunst der Berechnung, genau darum ging es in dieser Geschichte, die nun vor mir auf dem Bett lag, oder vielmehr ging es um Marin Mersenne, der sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Naturwissenschaftler einen Namen machte – Primzahlen und Pendel zur Zeitmessung – sowie als Theologe, weshalb Sie ihn vermutlich kennen werden, nicht wahr? Die Autorin, eine gewisse J. Hofer, ließ den Erzähler des Langen und Breiten über Mersennes ärmliche, erbärmliche, mitleiderweckende Kindheit lamentieren – mir wurde während des Lesens selbst das Gähnen zu langweilig. Und hinsichtlich der Strukturprinzipien, die sie anwandte, greift die Bezeichnung ›katastrophal‹ noch zu kurz: Mersenne am Totenbett erzählt unter schmerzvollem Stöhnen und Schnauben dem jungen Mönch, der gleichfalls Marin heißt, sein Leben. Also: Kindheit, Stöhnen, Mutter, Stöhnen, Kindheit, Stöhnen, Primzahl – Was für ein Schwachsinn! Marin Mersenne, es musste über den Mann doch irgendetwas wahrhaft Interessantes zu erzählen geben, und ich zückte in Gedanken den Rotstift, als Darians Anruf mich unterbrach:

»Was denn nun?«

Er solle sich gedulden, ich hätte jetzt wirklich keine Zeit…

Wir alle, davon bin ich überzeugt, sind das Produkt unserer Erziehung, und so tat ich nach fünfhundertzweiunddreißig Seiten Lektüre, was ich jahrzehntelang bei meiner Mutter gesehen hatte: Ich schnaubte vor Wut über die mir zugemutete Dummheit, recherchierte, verbesserte, schrieb um. Was dabei herauskam, war ein gänzlich anderes Werk: Marin Mersenne galt nicht umsonst als erster Networker der Menschheitsgeschichte, denn sein Arbeitsprinzip war Zusammenarbeit und Austausch der Gelehrten untereinander, und des Weiteren legte ich ein Augenmerk auf seine Verteidigung Galileo Galileis gegen die Angriffe der katholischen Kirche; Marin Mersennes Verteidigung Galileo Galileis gegen die Angriffe der katholischen Kirche – das war einfach zu recherchieren, hatte Dynamik und Sprengkraft, insbesondere weil Mersenne den guten Galileo zuerst verteufelte, bevor er ihn zehn Jahre später auf den Sockel hob.

Vor allem aber: Ich strich. Aus fünfhundertzweiunddreißig Seiten Kindheits-Klage wurden fünf Seiten Realismus. Verfasst in knappen, klaren Sätzen, jedes Lehrbuch zum Schreiben hätte meine Leistung mit Stolz zitiert.

Nach einundzwanzig Tagen und siebenundneunzig (vermutlich genervten) Anrufen – Markus, Darian und meine Mutter – beendete ich am Heiligen Abend mein Tun und setzte meinen Namen auf das Titelblatt: Mario Clemens Kamov – strich -lemens und fügte dem verbliebenen C einen Punkt hinzu. Ich speicherte die zweihundertsiebenundsechzig Seiten inklusive der noch als offen markierten Fragen auf einer CD-Rom und tanzte gerade rechtzeitig zur Bescherung bei der lieben Familie an.

Dass Mutter über mein verspätetes Kommen nicht tobte, verstand ich erst, als ich mein übermüdetes Gesicht im Spiegel sah. Während sie sich zum fünften Mal die Nase putzte, ein dämlicher Virus, zischte mir meine brave kleine Schwester Tiggi zu, das würde sie mir heimzahlen, eine Drohung, die keine war; erstens ist sie schmächtig, zweitens ein Gutmensch, wie er im Buche steht, sie kann nicht einmal eine Spinne töten, höchstens andere mit ihrem Gejammer über den Zustand der Welt zu Tode nerven. In ihren Augen bestand meine Vermessenheit darin, dass ich in diesem Jahr während der Adventszeit alle Familientraditionen gebrochen hatte: Kein gemeinschaftliches Kekse-Backen, kein Adventkranz-Binden und vor allem kein Gang Arm in Arm, um die Blaufichte auszusuchen – wie konnte ich nur! Sie habe gleichfalls zu tun, ihr Jus-Studium, das sie gerade erst begonnen habe, fordere das Engagement für wen auch immer – war es Pakistan?, Afghanistan?, ich weiß es nicht mehr; und ich, ich sei ja solch ein Egoist. Ich nickte bloß, zum Umfallen müde, meine ausgestreckten Beine unter dem Weihnachtsbaum, dessen Kerzen meine Schwester anzündete, hörte die Lieder von Stiller-Nacht und Leiserieselt, und ich hatte nichts zu geben; rein gar nichts. Bis auf die CD-Rom. Und genau das tat ich – mit tausend Entschuldigungen, weshalb es nichts anderes sei, unfertig obendrein. Bei der erstbesten Gelegenheit bat ich Mutter um das Gästebett, aufblasbar, unter die Stiege geschoben, und im Halbschlaf fühlte ich mich ein bisschen wie Harry Potter, zumindest ebenso verzweifelt, denn ich hatte nichts getan, damit Mutter glücklich wäre… Albern, oder? Aber wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, wir waren das alte Trio, bevor die Sache mit Darian und Markus begonnen hatte.

Erst in der Nacht auf den 26. Dezember wachte ich auf; nicht unbedingt freiwillig, sondern weil Mutter mich mit der Frage weckte, woher ich dieses Romanmanuskript habe. Die nächste Störung erfolgte durch Markus: Wir sollten einander treffen, er habe den Kaffeevollautomaten verkauft, was mir einen Anteil von vierhundertfünfzig Euro einbrachte. Dass Darian und Markus den höheren Teilbetrag einstrichen, fand ich nur fair, schließlich hatten sie sich letzten Endes um alles gekümmert. Zusammen mit Mutters Weihnachtsgeschenk, war meine Welt beinahe wieder in Ordnung,

Erneut strahlte mir das Pop-up-Fenster entgegen, die maximale Zeichenzahl wurde eingemahnt, selbst Beichten wurde durch diese ständigen Unterbrechungen zur Schwierigkeit! Obendrein hatte ich mir, bevor ich fortfahren durfte, einen neuen Benutzernamen zuzulegen, alles eine höchst ärgerliche Prozedur, die mir Zeit raubte. Ich überlegte, wie es früher gewesen sein mochte, als es noch Priester gab, denen man gegenübersitzen konnte, um stundenlang zu erzählen, sollte es einen danach gelüsten. Nicht dass ich damit Erfahrung hatte, aber so stellte ich es mir vor. Wie aber würde diese Internetbeichte einer empfinden, der an die Präsenz eines lauschenden Ohres gewöhnt war und nun aufgrund des Personalmangels mit einem Computerprogramm allein gelassen wurde? Denn ich hatte meine Bedenken, ob irgendjemand, wenn schon nicht Gott, so zumindest einer seiner Vertreter auf Erden, meine Zeilen lesen würde, Priestermangel und Einsparungspflichten in Ehren, und wie müsste die Antwort, die einem zuteil wird, ausfallen, um das Bedürfnis eines solchen Redewilligen nach einer Beichte zu befriedigen? Nun, ich würde es in Kürze wissen, sollte die maximale Wartezeit bis zum Erhalt einer Antwort korrekt angegeben sein.

Auf der Suche nach zu streichenden Passagen las ich erneut, was ich geschrieben hatte, und wunderte mich. Niemals zuvor hatte ich in einem meiner Werke etwas so Unsinniges wie Wetterverhältnisse thematisiert, außerdem in Form von deprimierten Schneeflocken als abgegriffene Metapher für das Seelenleben? Womöglich lag es an meinen schmerzenden Gelenken, die mit jedem Winter schlimmer wurden. Was würde in Zukunft folgen, wenn die weißen Haare überhandnahmen, die Größe der Nase, die Wucht der Ohren mein Gesicht zu dominieren begannen? Wie viel Zeit bliebe mir bis zur Senilität? Ich beschloss, die Schnee-Worte mit dem Cursor zum Schmelzen zu bringen, und es bereitete mir Vergnügen, dabei zuzusehen. Mittlerweile schmerzte mein Rücken vehement, eine typische Berufskrankheit. Wäre ich einer jener Jungspunde, die Schreiben nach Creative-Writing-Handbuch erlernt haben, hätte ich nun vermutlich mein Notizbuch gezückt, um darin die genaue Beschaffenheit des Schmerzes zu notieren, seine Verortung und Entwicklung, die Assoziationen, welche er hervorrief… Als ich mir dieses Szenario ausmalte, war ich, um die Wahrheit zu sagen, froh darüber, dass ich mir in meinem Alter eine solche Albernheit ersparen durfte. So vermerkte ich stattdessen, dies sei Teil II meiner Beichte, und ich setzte meine begonnene Recherche zur Seelsorge im Internet mit meinem dritten Erzählabschnitt fort, eine Antwort hatte ich bislang nicht erhalten.

Ich verschlief drei weitere Tage, bevor ich mich daran machte, Antworten auf die letzten offen gebliebenen Fragen meiner Geschichte zu recherchieren. Danach sandte ich das Manuskript an den Verlag D., den einzigen, den ich von innen kannte.

Das Fabulieren hatte mir großes Vergnügen gemacht, und so nahm ich mir das nächste Manuskript vor. Aus dem hemingwayschen Abklatsch im Miniaturformat – alter Mann am See – wurde eine Sozialgeschichte des Sadisten Josef, den der Anblick von Menschenkörpern an überdimensionalen Angelhaken ergötzt.

Gestohlen und gelogen, und auch gegen das Gebot meine Mutter zu ehren habe ich verstoßen – ich weiß, das vierte Gebot nennt zuerst den Vater. Ich habe ihn hier nicht zufällig unterschlagen, er glänzte stets durch Abwesenheit, und für solches Verhalten gebührt ihm meines Erachtens keinerlei Ehre. Ich will mich mit dem Verweis auf meinen Vater auch gar nicht aus meiner Schuld herausreden, denn wie man es drehen und wenden mag, immerhin komme ich auf drei gebrochene Gebote, aber glauben Sie mir, ich habe sie während der nachfolgenden Jahrzehnte mehr als gesühnt und beglichen, ja, dessen bin ich mir sicher, denn ebenjener Verlag, den wir zuvor beklaut hatten, Markus, Darian und ich, wurde der meine und sie verdienten gut an meinem Werk: Im Mai nahmen sie meinen Mersenne-Erstling unter Vertrag; der sadistische Fischer folgte im Herbst-, und im Frühjahrsprogramm die Wiener Kaffeerösterei, welche ich aus den drei Kaffeehaus-Tanten entwickelt hatte, eine abenteuerliche Geschichte zweier Freundinnen, welche die Leidenschaft für ausgezeichneten Kaffee um die halbe Welt reisen ließ, ihre Suche nach den besten Bohnen und die Kunst des Röstens, kontrastiert durch den Vormarsch der Bequemlichkeit – versinnbildlicht in der aggressiv beworbenen Kapselunkultur –, was die beiden zu auffallenden Gegenstrategien trieb. Seit der Arbeit an jenem Manuskript darf ich mich außerdem offiziell Kaffee-Experte nennen, nicht nur wegen der Unmengen, die ich davon zu trinken hatte, sondern weil ich auf dem Weiterbildungsweg Grund- und Aufbaukurse hierzu absolvierte, übrigens mit Zertifikat.

Zum Dank für die während jener Anfangsjahre gewährte Unterstützung habe ich meinem Verlag einen besseren Kaffeevollautomaten überreicht, als den einst gestohlenen, und man kann es meines Erachtens kaum mir anlasten, dass die Cheflektorin in der Zwischenzeit – ohne dass ich davon Kenntnis hatte – zu Früchtetee gewechselt war, um ihr rasendes Herz ruhig zu halten – eine Folge der wiederkehrenden Flüche irrer Autoren, die gegen ihre ablehnenden Entscheidungen Amok liefen. Drei Wütende in einer Woche! Das war selbst ihr zu viel gewesen und sie hatte ein Wochenende mit Herzrhythmusstörungen im Krankenhaus verbracht. Doch weiter in meinem Karriere-Verlauf: Aus Kaffee-Leidenschaft im zweiten Aufguss und der Ursprungsvariante des Bandenkriegs wurde mir die Saga der kolumbianischen Kaffee-Plantage Del Conde, der bedrängte UNO-Mann wurde zu einem Krimi über Korruption, Rassismus und die Macht der Drogen-Kartelle.

Danach war mein Bundesheer-Taschen-Fundus erschöpft und ich drehte Däumchen. Ich stellte mir zwar vor, meinen Verlag zu betreten, und, freundlich grüßend, um ein paar unverlangt eingesandte und zur Vernichtung aufbewahrte Manuskripte zu bitten, das Gesicht meiner Lektorin nach einem solchen Ansinnen würde mir auch heute noch Vergnügen bereiten. Doch hütete man sie seit einiger Zeit nicht mehr sorgsam in versperrten Schränken, nein, inzwischen verfügte der Verlag über ein Monster von Schredder, der mächtig und Unheil verkündend gleich links der Eingangstür thronte, anstelle des alten Rollschranks – damit der Praktikant oder die Praktikantin mit der Post nicht so weit laufen müsse.

Mein PC informierte mich mittels Posthornklang über eine eingehende Nachricht:

»Bete ein Ave Maria und drei Vater Unser. Du bereust wahrhaftig. Deine Sünden, mein Sohn, sind dir vergeben. Geh und sündige nicht mehr. – Ein kurzer Hinweis: Ihre Daten werden nicht gespeichert!«

Ich staunte über die Mischung aus väterlichem Du und technischem Sie, im Anhang fanden sich die not wendigen Gebetstexte, ein Bildchen der Muttergottes thronte daneben – »Schutzmantelmadonna« stand darunter. Ich erteilte den Druckbefehl und setzte meine Beichte fort:

Ich bejammerte öffentlich meine ›Schreibhemmung‹, die noch keine Krise sei, und erklärte sie zugleich für beinahe überwunden. In einer Talkshow tauschte ich mich mit drei Kollegen über das Thema ›Inspiration‹ aus, und da einer erwähnte, seine Ideen stammten allesamt aus belauschten Dialogen des öffentlichen Stadtverkehrs, fuhr ich von nun an Autobus; tagein, tagaus. Am siebten Studientag mit der Linie 11A konnte ich seine Aussage zur Ideenfindung unterstützen: Jene Frau, die mir gegenüber saß, erklärte ihrer Freundin wortreich das Dilemma ihres diesjährigen Horoskops, darin werde die Unausweichlichkeit des Herannahens der Scheidung von ihrem elften Mann begründet – glauben Sie mir, elf war die Zahl, ich habe mich erkundigt, eine Frage, die mir einen amüsierten Blick der Begleiterin eintrug und seitens der Beichtenden den Satz »Was geht denn Sie das an?«; aber immerhin keine Ohrfeige, wie ich erstaunt feststellte.

Ich erinnerte mich an Marin Mersennes Abneigung gegenüber mystischen Lehren, fuhr nach Hause und las meinen Erstling erneut, durchsuchte meine Recherchemappen, worin ich auf Pierre Gassendi stieß, Mersennes engsten Freund, diesen hatte ich in meinem Debütroman bloß gestreift. Sein Energieerhaltungssatz wurde mir nun zum zentralen Thema. Er besagt, dass in einem geschlossenen System die Gesamtenergie stets gleich bleibe. Sie könne zwar ihre Form wandeln, doch sei es unmöglich, sie zu erzeugen oder zu vernichten: »In der Welt bleibt stets die gleiche Kraft« – diese Kernaussage Gassendis interpretierte ich sehr frei, indem ich sie auf die Seele des Menschen anwandte: Was uns treibe, sei im Grunde genommen seit Jahrhunderten die gleiche Kraft, es seien die selben Sehnsüchte, und ich stellte Gassendi einen jungen Mann des 21. Jahrhunderts gegenüber; das Buch wurde mein größter Erfolg…

Weshalb ich Ihnen diese Geschichte in aller Komplexität erzähle? Ich brauche Ihren Rat, denn mein Dilemma ist ein weitaus größeres als der damalige und zudem unsinnige Einbruch. Eine Universität – welche, tut nichts zur Sache – trat vor wenigen Tagen mit der Bitte, ich solle poetologische Vorlesungen halten, an mich heran. Mal abgesehen davon, dass ich mich geehrt fühle, ist es mir auch aus anderen Gründen überaus willkommen: Es verschafft mir inmitten meiner Hemmung (nicht: Blockade) eine Pause von einem halben Jahr, während dem ich nicht erzählerisch produktiv sein muss – und meiner alten Mutter die Genugtuung, sagen zu können, aus ihrem träumerischen Sohn wäre wider Erwarten etwas geworden; fast ein Gelehrter sei er.

Meine Freude über dieses Angebot verflüchtigte sich jedoch, als man mir das Thema nannte: ›Werdegang eines Autors‹. Ich würde nicht mehr Peter Pan sein… oder wie meine Mutter es formulierte: ein Kamuffel, ein Hans-Guck-in-die-Luft.

Ich erkundigte mich – nebenher, versteht sich –, ob nicht ein anderer Ausgangspunkt ebenfalls denkbar sei.

»Entweder dazu oder kein Vortrag.« – Nun sag

Ein Pop-up-Fenster informierte mich, der Beicht- und Predigtdienst sei heute bedauerlicherweise überlastet, ich möge es in einigen Stunden erneut versuchen.

Bevor ich meinen Text noch kopieren konnte, schloss sich die Seite, und bei einem erneuten Versuch mich einzuloggen, wurde ich auf Verbindungsprobleme hingewiesen. Ich ärgerte mich, weil für jene Frage, die mir wesentlich war, abgesehen von der intendierten Recherche zum Thema ›Beichte‹, keine Zeit geblieben war. Dabei hatte ich sie in Gedanken bereits ausformuliert: »Nun sagen Sie mir, wie soll ich diesen studentischen Grünschnäbeln meinen Werdegang erzählen? Mir dünkt, meine damaligen Sünden – immerhin drei: lügen, stehlen, Mutter nicht ehren – seien ein geringeres Vergehen als jenes der Anstiftung, denn bleibt in der Welt stets die gleiche Kraft, ist es naheliegend, dass zumindest einer oder zwei eine Karriere auf meine Art versuchen werden.«

Das Posthorn verkündete eine neue E-Mail, auf die Kirche, so dachte ich, war zumindest hinsichtlich ihrer Pünktlichkeit Verlass: 7 Minuten 42 Sekunden – selbst wenn der letzte Teil meiner Beichte abgestürzt war.

»Bete zwei Ave Maria, drei Vater Unser und zünde der Heiligen Rita eine Kerze an. Du bereust wahrhaftig. Deine Sünden, mein Sohn, sind dir vergeben. – Ein kurzer Hinweis: Ihre Daten werden nicht gespeichert! Noch eine Bitte in eigener Sache: Um den Beicht- und Predigtdienst auch künftig Menschen in Not anbieten zu können, ersuchen wir Sie um eine kleine Spende. Mit einem herzlichen Vergelt’s Gott«, darunter eine unleserliche Unterschrift. Als ich die daneben vermerkten Kontodaten anklickte, läuteten mir Kirchenglocken. Ihr Dröhnen füllte mein Arbeitszimmer, ich suchte mit zunehmender Hast nach einer Möglichkeit, sie abzustellen.

Mein Posthorn kündigte weitere eingegangene Nachrichten an, kaum öffnete ich die erste erhaltene E-Mail, kam schon die nächste, »Bete« und »Bete« und »Vergeben sei« und »Bete«, »Bete«… – ich zählte ab und rechnete aus, für jeden Versuch mich einzuloggen offerierte man mir eine Gebetsantwort! Ich hätte es mir also ersparen können, eine lange Rede zu formulieren. Trotzdem fühlte ich mich verpflichtet, eine Kerze für die Heilige Rita anzuzünden, wüsste ich bloß, wo eine solche Statue zu finden sei, und so machte ich mich, Stadtplan in der Tasche, auf den Weg und notierte während meines Fußmarsches jede Idee: Was im Laufe von SechsundfünfzigAveMaria, DreiundsiebzigVaterUnser, ZweiRitaSuchen, EinmalSamtKerzeUndZahlschein geschehen könne, wenn einer nur eines will: Buße tun…

Nach einer Woche der Buße war mir klar, dass ich erhalten hatte, was ich zu finden hoffte: Die Idee für einen neuen Roman; und obendrein die Absolution für meinen einstigen Einbruch, denn dadurch, dass ich mich mehr oder weniger an die Fakten hielt und schrieb, was einst geschah, hatten jedoch die Form der Beichte, dieses Bloßlegen von Verfehlungen, unabhängig davon wie groß oder geringfügig sie objektiv betrachtet sein mochten, ebenso wie die magischen Worte »Es sei dir vergeben«, ihre wohltuende Wirkung nicht verfehlt, weshalb ich beschloss, auch mein weiteres Geständnis in der Form abzulegen, die meine ist: Nicht bloß geschrieben, nein, erzählt – jeder tut, was er kann, ich schreibe; zu anderem tauge ich nicht. Eine fiktive Lebensbeichte sollte mein nächster Roman sein, eine Beichte eines jungen Künstlers, die erst nach und nach ihr wahres Wesen enthüllt und schließlich in erpresserische Machenschaften mündet, gegen welche selbst die Heilige Rita, Helferin in aussichtslosen Fällen, nichts mehr auszurichten vermag. Ich würde mich morgen an die Figurenporträts machen, die Handlungsstränge in ihre Einzelszenen unterteilt nach und nach entwickeln, alsdann das Exposé…

Das Telefon störte zum wiederholten Mal, nun jedoch mit penetrantem Klingelton, der Dringlichkeit suggerierte, und während ich noch überlegte, weshalb die Mobilbox nicht aufzunehmen begann, die mir zur Verfügung stehende Bandlänge eventuell bereits ausgeschöpft sein könnte, nahm ich das Gespräch an. Es war die Universität, oder eigentlich Mark Hoffmann, Lehrender und Autor; natürlich würde ich den Auftrag annehmen – was hätte ich sonst sagen sollen? Mein neuer Roman war bislang einzig ein Gedanke, und meine Finanzen sprachen deutlich von der unumgänglichen Notwendigkeit des Flunkerns, ich würde – wie bisher – meine Geschichte neu erfinden, das war schließlich mein Beruf, und es dürfte mir daher nicht schwerfallen. Dachte ich.

Ja, dachte ich. Zumindest bevor ins Rollen kam, was hernach geschah und letzten Endes zu jenen schwarz-umrandeten Zeilen in der Zeitung führte, »Kein Gericht der Welt würde mich schuldig sprechen«, oder mich darüber hinaus für den Reichtum der einen, das Elend der anderen verantwortlich machen.

III

Tristram Shandy