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HANS SEDLMAYR

VERLUST DER MITTE

Die bildende Kunst
des 19. und 20. Jahrhunderts
als Symptom und Symbol der Zeit

„Die Mitte verlassen.
heißt die Menschlichkeit verlassen.“

(PASCAL)

„Alle Mitten sind zerbrochen
und es gibt keine Mitte mehr.“

(MAJAKOWSKI, Hymne an Satan)

© 1948 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN

1. Auflage 1948

11. unveränderte Auflage 1998

Umschlaggestaltung: Leo Fellinger

Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg

INHALT

Einleitung

Erster Teil: Symptome

1. Kapitel: Neue führende Aufgaben

2. Kapitel: Auf der Suche nach dem verlorenen Stil

3. Kapitel: Die Zerspaltung der Künste

4. Kapitel: Der Angriff auf die Architektur

5. Kapitel: Das entfesselte Chaos

6. Kapitel: Der Sinn des Fragments

Zweiter Teil: Diagnose und Verlauf

7. Kapitel: Verlust der Mitte

8. Kapitel: Der „autonome“ Mensch

9. Kapitel: An den Ursprüngen der Gegenwart

10. Kapitel: Vorläufer der modernen Kunst

11. Kapitel: Die drei Kunst-Revolutionen des 18. Jahrhunderts

12. Kapitel: Von der „Befreiung“ zur Verneinung der Kunst

Dritter Teil: Zur Prognose und Entsdieidung

13. Kapitel: Zur Wertung der Epoche

14. Kapitel: Zur Wertung der modernen Kunst

15. Kapitel: Die moderne Kunst als viertes Zeitalter der abendländischen Kunst

16. Kapitel: Die Moderne als Zeitwende in der Weltgeschichte

17. Kapitel: Zur Prognose

Schluß: Hetoimasia

EINLEITUNG

Das Thema

„Schon die Kunstgeschichte gehört nicht sidi allein an: sie dient der Kunde vom Menschen.“        (W. Pinder)

In den Jahren und Jahrzehnten vor 1789 hat in Europa eine innere Revolution von unvorstellbaren Ausmaßen eingesetzt: die Ereignisse, die man als „Französische Revolution“ zusammenfaßt, sind selbst nur ein sichtbarer Teilvorgang dieser ungeheueren inneren Katastrophe. Es ist bis heute nicht gelungen, die dadurch geschaffene Lage zu bewältigen, weder im Geistigen noch im Praktischen.

Zu verstehen, was damals wirklich geschehen ist, ist vielleicht die aktuellste Aufgabe, die den historischen Wissenschaften überhaupt gestellt ist: an dieser historischen Wende sind wir nicht nur historisch, sondern ganz unmittelbar interessiert. Denn mit ihr beginnt unsere Gegenwart und von ihr her erkennen wir auch noch unsere Lage, erkennen wir uns selbst.

Die Betrachtung der Kunst ist berufen, entscheidende Erkenntnisse zum Verständnis dieser inneren Revolution beizutragen. Nirgends ist das Unvergleichliche, Neue, das damals begonnen und Epoche gemacht hat, schärfer zu fassen als an einer Reihe von Erscheinungen in dem Gebiete der Kunst, die außerordentliche Prägnanz besitzen. Ist man imstande, diese Erscheinungen nicht bloß als historische Tatsachen zu sehen, sondern als Symptome, dann ergibt sich aus ihnen zwanglos eine Diagnose des Leidens der Zeit. Denn als Leiden werden diese Zustände zweifellos weithin empfunden.

Man hat zwar gelegentlich für eine Deutung der Epoche Erscheinungen der Kunst als Symptome herangezogen, so Spengler. Bei ihm und den meisten anderen sind es aber gerade nicht die eigentümlichen Erscheinungen, sondern solche, zu denen es Analogien auch in anderen Epochen gibt. Es treten aber im Gebiete der Kunst seit rund 1760 Erscheinungen auf, die es nie und nirgendwo in der Weltgeschichte gegeben hat. Mit so großer symbolischer Kraft sprechen sie von Erschütterungen im Inneren der geistigen Welt, daß es einmal unverständlich erscheinen wird, daß die Betrachtung der Kunst nicht sogleich alles verraten hat.

Man hätte wohl schon längst alles erraten, wenn nicht die Angst zu sehen die Augen geschlossen hätte. Denn diese Lage zu sehen und nicht zu verzweifeln verlangt Mut. Anderseits kann aber gerade diese Betrachtung Mut geben.

Zwar darf die Wissenschaft, mag sie auch ihre Erkenntnisse der Tiefe entreißen, sich nicht einbilden, ein Gewicht auf den ungeheuren Waagschalen des Äons zu sein. Aber so wie es bei seelischen Störungen zur Findung des verlorenen Gleichgewichtes beitragen kann, Unbewußtes in das Licht des hellen Bewußtseins zu heben und dadurch zu bannen, so kann eine analoge Betrachtung unseres Zeitalters von der Kunst her – über das bloß theoretische Interesse hinaus, das uns in so entscheidungsreichen Zeiten kaum genug anziehen könnte – wenigstens einige Ansätze zur Lösung eines Zustands zeigen, der viele quält.

Unserer Epoche scheint nicht nur im Individuellen, sondern auch im Kollektiven die Aufgabe gestellt, durch das Bewußtmachen von Unbewußtem hindurch zu einer neuen Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit zu kommen.

Die Methode

Die Möglichkeit, die Kunst als Instrument einer Tiefendeutung von Epochen zu benützen, ist theoretisch schon geschehen. Sehr klar hat den Grundsatz solcher Betrachtungen René Huyghe 1939 formuliert: ..Die Kunst ist für die Geschichte der menschlichen Gemeinschaften das, was der Traum (des individuellen Menschen) für den Psychiater bedeutet.“ Und zwar gilt das gerade auch für die mißlungene Kunst, für ihre Entgleisungen und Fehlleistungen. „Die Kunst erscheint vielen nur als eine Zerstreuung am Rande des wirklichen Lebens, sie sehen nicht, daß sie in das Herz dieses Lebens hinabreicht und seine noch unbewußten Geheimnisse offenbart, daß sie die direktesten, die aufrichtigsten, weil am wenigsten berechneten Geständnisse enthält. Die Seele eines Zeitalters maskiert sich hier nicht; sie sucht sich, sie verrät sich hier mit jenem Vorherwissen, das allem eigen ist, was aus der Empfänglichkeit und der Besessenheit hervorgeht.“ Damit ist das Programm aufgestellt. Aber für die Epoche, die unsere Gegenwart begründet, ist es erst noch zu verwirklichen.

Dazu bedarf es einer Methode, um die wesentlichen Erscheinungen, auf die eine Diagnose sich stützen kann, von den unwesentlichen zu sondern, die jene verhüllen.-Sonst wird die Deutung willkürlich. Denn gerade im 19. Jahrhundert ist im Gebiete der Kunst unendlich vieles „unaufrichtig“, unecht, berechnet, vorgeschützt. Es ist zum Beispiel nicht möglich, von der Sphäre des „Stils“ auszugehen, weil sich gerade im 19. Jahrhundert in ihr Echtes und Vorgeschütztes in zunächst kaum durchschaubarer Weise mischt. Dieses Oberwiegen des „Unechten“ ist eine Grundtatsache für die Erkenntnis des 19. und 20. Jahrhunderts. An ihr sind bisher noch alle Gesamtdeutungen der Epoche gescheitert. Es ist eine Methode notwendig, die imstande ist, das Echte und das Unechte zu unterscheiden, die Masken zu durchdringen. Wie in der Seelendeutung kann sie nicht von den Idealen und dem Bewußten der Zeitkunst ausgehen, sondern von jener unbewußten Zone der „Empfänglichkeit und Besessenheit“, wo sich die Seele des Zeitalters nicht maskiert.

Die Methode, die diese Unterscheidung leistet, nenne ich die „Methode der kritischen Formen“. Sie beruht im wesentlichen auf folgender Überlegung: Unter den Formen, in denen eine Epoche sich im Felde der Kunst verkörpert, sind radikal neue immer sehr selten; weitaus die meisten Formen einer Zeit werden durch Umformungen älterer erzeugt. Und weil radikale neue Formen so selten sind, liegt es nahe, sie als bloße Absonderlichkeiten zu nehmen, als „Launen der Phantasie“, als „Ausnahmen, welche die Regel bestätigen“, als „Entgleisungen“ oder „Absurditäten“. Eine solche radikal neue „Form“ ist zum Beispiel die Idee, die Kugel zur Grundform eines ganzen Gebäudes zu nehmen. Dieser Gedanke erscheint den meisten bloß als ein schlechter Scherz, als Irrsinn, Wohlwollenderen vielleicht als ein „Experiment mit der Form“, und er ist – angewandt auf ein Haus – tatsächlich unsinnig. Wäre er nur das, so stünde es nicht dafür, sich mit dem Kugelbau abzugeben.

Aber eine unsinnige Idee muß nicht notwendig auch sinnfos sein. Es ist vielmehr geradezu zum heuristischen Prinzip zu machen, daß sich in solchen absonderlichen Formen Eigentümlichkeiten enthüllen, die in gemäßigter und deshalb weniger auffallender Weise auch sonst das Schaffen einer Zeit bestimmen, dessen Eigenart in ihnen gleichsam auf die Spitze getrieben wird. Der vorzügliche französische Architekturhistoriker Auguste Choisy hat diese Vermutung auf die Formel gebracht: „Ce sont les abus qui caractérisent le mieux les tendances“ – es sind die Mißbräuche, durch die sich am deutlichsten die Neigungen verraten. Und sie sind zu verschiedenen Zeiten ganz verschieden. Nur eine Epoche zum Beispiel, die die Säule als etwas extrem MenschenfÖrmiges betrachtete, konnte auf den „verrückten Einfall“ der „sitzenden Säulen“ kommen, die in einem Entwurf des Barock-Architekten Fra Andrea Pozzo erscheinen. Sie sind „kritische Form“ und haben exemplarische Bedeutung. Und so ist auch die Kugel als Gebäude „kritische Form“, die tief verräterisch die Untergründe eines ganzen Zeitalters bloßlegt. Sie ist Symptom einer tiefgreifenden Krise der Baukunst und des Geistes überhaupt. Vielleicht wird man das leichter zugeben, wenn man bedenkt, daß der „absurde Gedanke“ unmittelbar vor der Zeit auftaucht, in der der erste Luftballon des Rozier de Pilätre sich in die Luft erhob (1783).

Hier wird jene „Zone des Unbewußten“ erreicht, denn der eigentliche Sinn solcher Formen ist ihren Erzeugern nicht bekannt. Und wenn man sie nach ihm befragt, werden oft ganz andere, offenbar unzureichende Motive für die Berechtigung solcher Formen vorgeschützt.

„Die Kunst der Diagnose besteht darin, die ,Gründe' zu durchschauen und das eigentliche Leben zu erkennen, das jene Gründe vorschickte“ (H. Thielicke).

Für diesen ersten Versuch müssen die Andeutungen zur Methode genügen, die im einzelnen noch besser zu begründen wäre. Auch bleibt das Problem des „Unechten“, bleibt der Unterschied von Zeit-,.Ausdruck“ und Zeit-,.Symptom“ noch genauer zu klären.

Grenzen der Methode

Die Grenzen, die jeder solchen Diagnose „des Ganzen“ gezogen sind, hat am besten K. Jaspers gezeigt. „Die Meinung, wissen zu können, was das Ganze geschichtlich oder gegenwärtig sei, ist ein Grundirrtum; das Sein dieses Ganzen selbst ist fraglich.“ „Doch haben Wissensperspektiven in der Relativität nicht nur ihren Sinn, sondern sind unerläßlich, um in den echten Grund der eigenen Situation zu kommen.“ „Das Kennen meiner eigenen Welt wird der einzige Weg, um zunächst im Bewußtsein die Weite des Möglichen zu gewinnen, dann im Dasein zum rechten Planen und zu wirklichen Entschlüssen zu kommen, schließlich jene Anschauungen und Gedanken zu erwerben, welche mich dazu führen, im menschlichen Dasein das Durchscheinen des Transzendenten zu erkennen.“ „Ziel der Situationserhellung ist es, das eigene Werden in der besonderen Situation mit der größten Entschiedenheit. . . ergreifen zu können. Bilder der Situation sind der Sporn, durch den der einzelne erweckt wird, sich zurückzufinden zu dem, worauf es eigentlich ankommt.“1

Diese grundsätzlichen Grenzen der Methode werden im vorliegenden Fall noch enger gezogen, weil die Basis für die hier versuchte Diagnose nur die Betrachtung der „bildenden Künste“ abgibt, während die gerade für das 19. Jahrhundert so wesentliche Musik ebenso unberücksichtigt bleibt wie die Literatur, die Künste des Theaters und der Film. Dafür besitzt, methodisch, die Betrachtung der bildenden Künste eine eigentümliche Überlegenheit, denn sie macht Dinge sichtbar, die sonst nur schwer und auf Umwegen bewußt gemacht werden könnten.

Wie die Möglichkeiten der Diagnose sind auch die der Prognose begrenzt. Denn „Prognose ist das spekulierende Voraussehen des Menschen, der etwas tun will; er sieht nicht das, was unausweichlich geschieht, sondern das, was geschehen kann, und orientiert sich daran“.1

Begrenzung des Themas

Die Problemstellung dieser Arbeit ist also nicht kunstgeschichtlicher Art, sondern eine „Kritik“ des Geistes, der Versuch einer Diagnose der Zeit, ihres Elends und ihrer Größe, von der Kunst her.

Sie ist nicht kunst-geschichtlidi, denn sie berücksichtigt mehr die Gefährdungen der Epoche als ihre Leistungen, von denen nur ganz allgemein die Rede ist. Und sie ist nicht kunst-geschichllich, denn sie beschäftigt der Zustand des Ganzen und seine Phasen im großen, nicht das Einmalige des Verlaufs, mehr das Neue als das Ineinandergreifen aller historischen Faktoren in konkreter historischer Situation.

Trotzdem ergibt sie meines Erachtens grundlegende Resultate auch für die Kunstgeschichtswissenschaft selbst. Vor allem tritt überhaupt erst in ihr und durch sie in einer unübersehbaren Vielzahl verschiedenartigster Erscheinungen die innere Einheit der Epoche hervor, von der unsere unmittelbare „Gegenwart“, 1948, und auch noch die bevorstehende Zukunft selbst Teilphasen sind. So disparat sind die künstlerischen Phänomene des 19. Jahrhunderts, daß noch jede Darstellung etwas Chaotisches angenommen hat. Mit den Stilbegriffen, wie sie für die ältere Kunst Europas entwickelt worden sind, ist ihr nicht beizukommen. Dieses scheinbar chaotische Durcheinander an der Oberfläche verdeckt mächtige und klar faßbare Grundtendenzen, die das Neue des Jahrhunderts bestimmen; gerade auch im Chaotischen zeigt es einen nicht minder bestimmten Charakter wie die älteren großen Epochen der europäischen Kunst. Und erst wenn man die innere Einheit dieser Epoche erfaßt hat, ist die Basis gegeben, um einmal die Geschichte des Zeitalters im einzelnen zu schreiben (wofür noch sehr viel Vorarbeit zu leisten wäre, denn noch sind weite Gebiete der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts Urwald).

Das wird hier nicht versucht, auch nicht in der Form eines „Abrisses“ der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Vielmehr wird in den abschließenden Kapiteln nur skizziert, wie sich die so gesichtete Epoche in das Gesamtbild der europäischen Kunst und der Weltgeschichte der Kunst einfügt, und wie die Leistungen der Kunst – die zu allen Zeiten eine ist – eng mit jenen Gefährdungen zusammenhängen.

Aufgabe einer Kunstgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aber wäre es. gerade die Leistungen herauszuarbeiten und das Wertrelief der Epoche herzustellen. Denn die Epoche hat mitten im Chaos große Leistungen aufzuweisen, sie besitzt große Begabungen und Geister, die tiefer und leidenschaftlicher sind als die meisten führenden Meister des 18. Jahrhunderts.

____________

1) K.Jaspers. Die geistige Situation der Zeit, 41. bis 50. Tausend (Berlin-Leipzig 1933).

 

HANS SEDLMAYR • VERLUST DER MITTE

ERSTER TEIL

SYMPTOME

„........................

Fragmente dessen, was das Herz erschaut,
Sind unsre Städte mir, ein schwacher Schein.
Das große Babylon ist nur ein Scherz,
Will es im Ernst so groß und maßlos sein
Wie unser babylonisch Herz.“

(Aus „The heart“ von Francis Thompson)

ERSTES KAPITEL

NEUE FÜHRENDE AUFGABEN

„Denn die Aufgabe ist nichts anderes als das nach Gestalt verlangende Leben selbst.“      (H. Schrade)

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts treten neue führende Aufgaben auf, die es entweder überhaupt noch nie gegeben hat oder die doch noch niemals die Führung beansprucht hatten.

Die bisher führenden Aufgaben der Kunst – Kirche und Palast-Schloß – mehr und mehr zurückdrängend, lösen sie einander in rascher Folge in dem Anspruch auf Führung ab: von rund 1760 bis heute lassen sich sechs oder sieben solcher führender Aufgaben unterscheiden, die jedesmal für ganz Europa gültig sind: Landschaftsgarten, architektonisches Denkmal, Museum, Theater, Ausstellung, Fabrik. Keine von ihnen hat also die Führung länger als eine oder höchstens zwei Generationen lang behaupten können. Jede von ihnen ist Symptom.

In ihrer Abfolge ist ein deutlicher Riditungssinn erkennbar.

Der Verlauf im großen wird an den führenden Aufgaben deutlicher erkennbar als an jeder anderen Wandlung der Kunst, obwohl der Vorgang von anderen, ungeordneten Bewegungen verunklärt wird. Diese Betrachtung gibt den sichersten Faden, um sich durch das Labyrinth des 19. und 20. Jahrhunderts hindurchzufinden.

Doch kann man von führenden Aufgaben – diese Einschränkung muß sofort gemacht werden – nur in einem begrenzten Sinn sprechen. Denn nur der Schwerpunkt der Architektur liegt in diesem Bereich. Nur die Architekten und die großen Gartenkünstler sind noch von daher zu erfassen, alle ihre Namen kommen hier vor. Aber von der großen Malerei wird so nur der geringste Teil erfaßt. Ihre bedeutendsten Leistungen entstehen abseits von diesen Aufgaben und vielfach überhaupt nicht mehr für eine bestimmte Aufgabe, sondern als „freie“ Kunst, für sich, ohne öffentlichen Auftrag. Das hängt damit zusammen, daß zum Unterschied von den alten Gesamtaufgaben, Schloß und Kirche, die neuen nicht mehr Gesamtkunstwerke sind, die den bildenden Künsten einen festen Ort und feste Themen anweisen, sondern entweder reine Architektur, wie das architektonische Denkmal, oder bloß architektonischer Rahmen, wie Haus oder Museum, in die „freie“ Kunst zur beliebigen Füllung eintreten kann. Nur in der Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht in dem Theatergebäude eine Renaissance des Gesamtkunstwerks: es ist die einzige unter diesen Aufgaben, für die bedeutende Maler und Bildhauer in gebundenem Auftrag schaffen.

In welchem Sinn kann man aber dann überhaupt noch von führenden Aufgaben sprechen? Ist es nicht Willkür, aus der sehr großen Zahl neuer Aufgaben, die jetzt auf künstlerische Gestaltung Anspruch erheben, gerade diese wenigen herauszugreifen? Es gibt doch daneben Börse, Parlament, Universität; Hotels, Krankenhäuser, Bahnhöfe, Stadien usw.

Führend dürfen diese Aufgaben heißen:

1. weil sich ihnen die gestaltende Phantasie mit besonderer Vorliebe zuwendet;

2. weil hier die größte Sicherheit der Haltung erreicht wird und oft ein fester Typus entsteht;

3. ganz besonders, weil von ihnen, wenn auch in beschränktem Bereich, etwas wie stilbildende Kraft ausstrahlt, weil sich ihnen andere Aufgaben angleichen und unterordnen;

4. weil sie bewußt oder unbewußt mit dem Anspruch auftreten, die Stelle der alten großen, sakralen Architekturen einzunehmen und eine eigene Mitte zu bilden.

An diesen Aufgaben ist noch etwas von der kollektiven Macht der Kunst zu spüren, die dem 19. und 20. Jahrhundert in seinem maßlosen Individualismus sonst weithin verlorengegangen ist. Wenn auch weniger mächtig, sind sie in dieser Hinsicht doch die Erben der großen Gesamtkuristwerke der Vergangenheit.

In der Frühzeit des Abendlandes war die führende Aufgabe das Gebäude der Kirche. Es ist die Gesamtaufgabe für alle Künste, und was es daneben an anderen Aufgaben gibt, kann sich an Bedeutung mit ihm nicht vergleichen und steht stilistisch und motivisch ganz unter seinem Einfluß.

Seit dem späten 13. und dem 14. Jahrhundert kommen neue Aufgaben auf: von diesen hat das Rathaus nur in vereinzelten Gegenden Europas und für kurze Zeit gleiches Gewicht mit dem Kirchengebäude erlangen und eine eigene Bilderwelt entwickeln können. Die Zukunft gehört zwei anderen Aufgaben, die gewissermaßen nur zwei Ausprägungen derselben Aufgabe sind: dem Schloß und dem Palast. Im 14. Jahrhundert geschaffen, bekommen sie seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gleiches Gewicht mit dem Kirchengebäude und übertreffen es zeitweise sogar; sie werden gleichsam Sakralgebäude, Kultstätten des großen, des divinen Menschen, und bilden eine eigene Bilderwelt, eine eigene „Ikonologie“ aus. Neben den kirchlichen stehen jetzt weltliche Gesamtkunstwerke oft sicherer in der Haltung als jene.

 

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Abb. 1
AUS DEM PARK VON MUSKAU (Seite 19)

 

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Abb. 2
LENNÉ, PARK UM SCHLOS CHARLOTTENHOF (Seite 94)

 

Die alten Gesamtaufgaben „welken“

Diese Aufgaben verlieren ihre Führung im Laufe des 19. Jahrhunderts vollkommen. Nicht als ob nicht viele und oft sehr kostspielige Schlösser, Stadtpaläste und Kirchen gebaut worden wären. Aber die Sicherheit der Haltung ist dahin, und stilbildende Kraft geht von ihnen nicht mehr aus.

Die Kirche ist nicht mehr imstande, einen festen neuen Typus des Kirchengebäudes hervorzubringen. Sie tastet unentschieden nach leeren Gehäusen, um in ihnen Halt zu finden: nach altchristlichen, byzantinischen, romanischen, gotischen und Renaissance-Formen. Vorübergehend verbirgt sie sich sogar in der Außenschale eines griechischen Tempels. Wie oberflächlich dieses ganze Formenwesen ist, zeigen in erschreckender Deutlichkeit Schinkels Entwürfe für die Werdersche Kirche in Berlin. Die vollkommen unverändert bleibende, kubische Grundform wird „zur Wahl“ einmal romanisch, dann gotisch, dann antikisch „verkleidet“, maskiert (Abb. 17, 18). Dieses Auseinanderklaffen von Grundform und Kleinform, die man als bloße Dekoration auffaßt, wird nun Schicksal der europäischen Kunst überhaupt. Nirgends aber ist es so schroff sichtbar geworden wie gerade an der Gelegenheit des Kirchengebäudes, was zweifellos tiefere Gründe hat. Die Konzeption des Kirchengebäudes selbst ist eben und nicht nur im protestantischen Raum – im Grunde eine „massive“, „kahle“, aufklärerische. Das religiöse Element an ihr ist nicht sakramental und mythisch, sondern nur poetisch, nicht organisch, sondern „Gewand“, bloßer ideologischer Mantel, entliehen der Vergangenheit.

Nur ein einziges Mal in diesem ganzen Ablauf von 1760 bis heute hatte es den Anschein, als ob die Aufgabe des Kirchengebäudes wieder die Führung übernehmen könnte: zur Zeit der Heiligen Allianz. Damals zeichnete Schinkel seine Entwürfe für einen deutschen Nationaldom in gotischen Formen, es erscheint 1815 die Flugschrift „Die neue Kirche“, bald darauf geht man mit Begeisterung daran, den Kölner Dom auszubauen. Aber wieder verraten alle diese Pläne, daß der Gedanke etwas Ausgehöhltes hat. Und auch später im Jahrhundert, wenn die neugotischen Kirchenbauten sich getreuer an die historischen Vorbilder halten, spricht aus der Gestaltung der Einzelformen das Wesenlose einer Geisterbeschwörung. Immerhin ist im Kirchenbau die neugotische Kirchenform diejenige gewesen, die sich am durchgehendsten und längsten gehalten hat, wobei freilich hinter den gotischen Einzelformen ganz verschiedene geistige Haltungen stehen. Noch bis in die Gegenwart wurden Kirchen in neugotischen Formen gebaut.

Aber die geistige Erneuerung der gotischen Kirche ist – wie auch die Erneuerung der Scholastik – nicht gelungen. Am schärfsten kommt das darin zum Ausdruck, daß der Erneuerung der architektonischen Gotik keine Erneuerung ihrer Bilderwelt entspricht. Die Architektur und die schwächliche religiöse Bildkunst können nicht mehr zusammenfinden. Die Kirche des 19. Jahrhunderts besitzt keine „Ikonologie“ mehr; was an Bildern in ihr erscheint, ist theologisch von seltener Einfallslosigkeit, subjektiv und ohne Zusammenhang. Die Geschichte des Verfalls der christlichen Ikonologie – ihr geht parallel der Verfall der antiken Mythologie – wird einmal noch geschrieben werden müssen, um zu zeigen, was der Kirche im 19. Jahrhundert geschehen ist. Auch kommt es zu keinem gültigen Kultbild mehr. Die Ästhetisierung des Religiösen hat es unmöglich gemacht.

Versuche, die „modernen“ Richtungen des Bauens für das Kirchcngebäude fruchtbar zu machen, haben erst spät eingesetzt und sind trotz achtenswerter Leistungen bedeutender Künstler im großen und ganzen ebenso erfolglos geblieben wie die Versuche, den Arbeiter für das Christentum zu gewinnen. Weder der Arbeiter noch die neue technische Architektur ist christianisiert worden. Dabei möchte es den Anschein haben, als ob die Visionen riesenhafter Gebäude aus Glas und Eisen sehr wohl ein geheimes transzendentes Element enthalten hätten, das die Möglichkeit bot, aus diesen neuen und zukunftsreichen Gebilden die Gestalt einer neuen Kirche zu entwickeln, so wie einst am Ausgang der Antike gerade aus Formen des Profanbaues die neue Form der christlichen Kultgebäude gewachsen war. Diese Gelegenheit ist nicht erkannt oder nicht genützt worden.

Nicht anders steht es mit Schloß und Palast. Das Schloß bewahrt noch bis gegen die Mitte des Jahrhunderts, konservativer als die Kirche, seine traditionellen Formen, wenn auch oft schon ins Museale entwertet. Aber von 1830 an beginnt auch hier alles unsicher zu werden. Ein neuer gültiger Schloßtypus ist nicht mehr entstanden und konnte auch nicht mehr entstehen. Die Schlösser Ludwigs II. von Bayern zeigen dann wie in Übertreibung den allgemeinen Zustand: das Schloß wird zu einem bloßen „Theater“ im schlechten Sinn. Nirgends ist das deutlicher als an der Versailles-Kopie von Herrenchiemsee, deren Bedeutung man vergeblich aufzuwerten versucht hat.1 Dort stehen die Räume, in denen der am Rande des Wahnsinns lebende Monarch die Rolle eines neuen Roi soleil spielen wollte, in dem Entwurf zwischen solchen, deren Bestimmung offengelassen ist: also buchstäblich im Leeren. Das ist Symptom und Symbol der geistigen Lage des Schlosses. Und ebenso leer und steril ist seine kopierte „Ikonologie“.

Die Entwertung des Stadtpalastes aber wird allein schon daran offenbar, daß der Zinshausbau des 19. Jahrhunderts sich der Formen der feudalen Stadtpaläste bemächtigt und sie in „Zinspaläste“ verwandelt.

Gerade an der Unsicherheit dieser alten Aufgaben erkennt man, daß die wirklichen Ansätze zu einer neuen Stilbildung von ganz anderen Themen ausgehen, von Aufgaben, die weder die älteren Epochen der abendländischen Kunst noch andere Kulturen der Weltgeschichte bisher gekannt hatten.

Der Landschaftsgarlen

Der Landschaftsgarten entsteht um 1720 in England als bewußter Widerspruch gegen den französischen architektonischen Garten, dessen geometrische Formen in Gelände und Vegetation man jetzt als „Unnatur“ ablehnt. Seit 1760 erobert der „englische Garten“ in einem Siegeslauf ohnegleichen den ganzen Kontinent. Seine unsicheren Frühformen werden von bedeutenden Künstlern zu immer großartigeren Gestaltungen entfaltet; überall werden die französischen Parks, oft unter gewaltigen Kosten, in englische umgewandelt, gegen Schluß der Epoche – um 1830 – werden ganze Landstriche in Naturparks umgelegt (Abb. 1, 3, 4). Der Enthusiasmus für die neue Kunst ergreift weiteste Kreise. Noch am Ende der Epoche spricht der Fürst Armin von Pückler-Muskau, der zweimal seine großen schlesischen Besitzungen in einen einzigen Landschaftsgarten zu verwandeln unternahm und sich dabei ruinierte, von einer „Parkomanie“.

Seit der Renaissance war der Wettstreit der Künste um den Vorrang ein ständiges Thema der Kunsttheorie.2 Jetzt zum ersten Male beansprucht die Gartenkunst den Primat. Die Kunsttheorie der Zeit motiviert diesen Anspruch mit verschiedenen Gründen. Zunächst ist die Gartenkunst die umfassendste von allen; denn sie schließt Architektur und Skulptur räumlich in sich, wie die Architektur ihrerseits Skulptur, Ornament und Malerei. Sie schafft also die umfassendste Form des Gesamtkunstwerks, die man sich überhaupt vorstellen kann: ein Obergesamtkunstwerk. Aber auch in einem tieferen Sinn ist sie umfassend: Sie schafft, als Rivalin der Architektur und diese an Weiträumigkeit überbietend, großartigste freie Raumgestaltungen, sie komponiert mit den organischen Massen der Baum- und Buschgruppen, der Hügel und Rasenflächen, der Bäche und Teiche, sie schlingt in diese freien Massen das Ornament blühender Gewächse. Sie baut aus Naturbestandteilen Bilder der Natur, die der Maler nur auf die Fläche bannen kann, und zwar – darin der Musik vergleichbar – ganze Folgen solcher Bilder, ein Vorzug, der von anderen Künsten außer der Musik nicht erreicht werden kann; in verschiedenen Szenen kann sie die Abfolge der verschiedensten Empfindungen, der Größe, des Lieblichen, Heiteren, Melancholischen oder Wilden hervorrufen.3 Sie steht endlich – und das ist der gewichtigste Grund – in der innigsten Verbindung mit der Natur, unfaßbar und immer sich wandelnd wie diese. „Keine der nachahmenden Künste ist mit der Natur mehr verwebt, oder gleichsam mehr Natur, als die Kunst der Gärten.“4 Diese theoretische Motivierung des Vorranges würde nur wenig besagen, wenn nicht die Praxis Überall bewiese, daß die Begeisterung der Zeit wie keiner anderen Kunst dem Landschaftsgarten gehört. Oberall äußert sich eine wahre Leidenschaft für diese neuartigen Kunstwerke, die sich nur mit der Bauleidenschaft des Barocks vergleichen läßt.

Das alles verrät, daß der Landschaftsgarten weit mehr ist als nur eine neue Form des Gartens. Er bedeutet eine Revolution gegen die Hegemonie der Architektur und er bedeutet ein ganz und gar neues Verhältnis des Menschen zur Natur und eine neue Auffassung von Kunst überhaupt.

Eine Voraussetzung für das Entstehen des Landschaftsgartens ist, daß das aktive Verhältnis des Menschen zur Natur in ein passives umschlägt.5 Diese neue passive Unterordnung unter die Natur entspricht einem ethisch-religiösen Bedürfnis; das Wort „Natur“ selbst erhält religiöse Färbung. „Natur“ wird jetzt in pantheistischem Sinn als geistige Universalmacht aufgerichtet. Sie steht nicht als etwas Fremdes dem Menschen gegenüber, sondern er ist in sie „sympathisch“ verwoben. In Mensch und Natur offenbart sich die gleiche beseelende Einheit: „ein unaussprechliches Wesen, uns befreundet, waltet in den Dingen. Alles, was die Natur schafft, ist zugleich vollkommen und schön. Man traut der Natur als höchster Instanz Vernunft und die Fähigkeit zur Schönheit zu.“6

Der Engländer Ashley Cooper, dritter Graf von Shaftesbury (1671 bis 1713) – von Goethe zu den bestimmenden Geistern des Jahrhunderts gerechnet –, ist der Prophet dieser pantheistischen Naturreligion, die auf ganz Europa, besonders aber auf Deutschland, einen ungeheuren Eindruck gemacht hat. Dort wird sie um 1800 in den Schöpfungen eines Sckell (1750 bis 1832) und Lenne (1789 bis 1866) kulminieren, die zu den ersten Künstlern der Zeit gerechnet werden müssen. Ihre Leistungen sind viel zuwenig bekannt.

Zu dieser ersten Voraussetzung der Kunst des Landschaftsgartens tritt eine zweite, beinahe mystischer Art. Die Vollkommenheit der Natur besteht nur in der Idee, sei es als Durchscheinen einer metaphysischen Schönheit, sei es nur als Vorstellung von einem paradiesischen Urzustand der Welt, zu dem man zurückzukehren strebt.7 Die Natur war in ihrem ursprünglichen und vollkommenen Urzustand ein Garten. Der religiöse Ursprung dieser Vorstellung ist überdeutlich. Die Aufgabe der Kunst ist es, die Natur in diesem erhöhten ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, der sich in manchen Gegenden noch heute erhalten hat, während im allgemeinen – dies ist eine merkwürdige Wendung des Gedankens – das Bild der vollkommenen Natur nur noch in den Bildern der sogenannten „heroischen“ Landschaftsmalerei gespiegelt wird. In dieser hat der Maler bereits eine Schönheitsauswahl getroffen und nach bestimmten Gesetzlichkeiten zum Bilde gestaltet. Es ist dieselbe, die der Landschaftsgärtner im Räumlichen verwirklicht. Daher die allgemein und emphatisch aufgestellte Stilforderung, daß der Landschaftsgärtner sich mit den Ideen der großen Landschaftsmaler erfüllen und womöglich selbst Landschaftsmaler sein müsse, um sich nachschaffend dem idealen Urbild anzunähern. Die Schöpfung des Landschaftsmalers vertritt gewissermaßen die Stelle der Gottesschöpfung, deren vorgestellte Vollkommenheit nur aus dem Geiste des Malers faßbar ist.8

Diese Bindung an die Vorbilder der Malerei wird später aufgegeben, wenn die neue Kunstgattung zum Bewußtsein ihrer Eigenart und Eigengesetzlichkeit erwachsen ist. Aber auch dann noch sollen die Gärten im Beschauer die Erinnerungen an den Garten Eden, an Arkadien, an Miltons Paradies, ans Elysium und an die Dichtungen aus der Feen- und Idyllenweit erwecken.

Dieser Sinn ist nicht von uns hineingetragen, sondern war den Zeitgenossen – schaffenden Künstlern wie entzückten Betrachtern – mehr oder weniger klar bewußt. Das klingt zart an in der Briefstelle, in der Goethe 1778 der Frau von Stein seine Eindrücke von dem berühmten englischen Park des Herzogs von Anhalt in Dessau – einem der ersten auf deutschem Boden – beschreibt: „Hier ist es jetzt unendlich schön, mich hat’s gestern abend, als wir durch die Seen, Kanäle und Wäldchen schlichen, sehr gerührt, wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen. Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird, und hat ganz den Charakter der Elysischen Felder . . .“9

Das Verhältnis des Menschen zu dieser neuen Kunst ist auf seinen Höhepunkten also ein ausgesprochen religiöses, erhöhtes. (So kann sie sich auch mit christlichem Gehalt und christlichen Symbolen und Bildern erfüllen wie z. B. im Bergpark von Guttenstein in Niederösterreich.10)

Diese Gärten sind Kultstätten eines Naturkults, in denen alles, das Gemüt und die Phantasie, auf ein allmächtig Waltendes verweisen soll, von dem der in diesen Räumen Wandelnde sich auf mannigfaltige Weise angesprochen fühlt.

An diesen Kultstätten erscheint aber der Mensch nicht mehr als Gemeinde, sondern im Idealfall einsam, allenfalls begleitet von dem Freund oder der Geliebten und höchstens in kleinen Gemeinschaften, die ein enges geistiges und Freundschaftsband zu gemeinsamer Andacht umschließt. Es gibt dem Vielgesichtigen der Natur entsprechend auch keinen alle anderen übertreffenden Ort, weder in formaler Hinsicht, wie den point de vue des Barocks, noch in sakraler, wie den Altar in Tempel und Kirche. Es gehört vielmehr zu dem Traumhaften des Erlebens, zu dem Charakter der „elysischen Gefilde“, daß „in der sachtesten Mannigfaltigkeit eins ins andere fließt“ – wie die Empfindungen auch –; „keine Höhe zieht das Verlangen an einen einzigen Punkt, man streicht herum ohne zu fragen, wo man ausgegangen ist und wohin man kommt“.11 Dem Diffusen der Form entspricht das Diffuse des Gefühls – beides dem architektonischen Geist so fremd und unheimlich.

Der Landschaftsgarten ist also führend schon durch das von keinem anderen Werk bildender Kunst Übertroffene seines religiösen Gehalts. Er erweist sich aber als führend auch dadurch, daß er andere Künste mit in seinen Bann zieht. Sogar an der Architektur sucht er den Naturzustand, indem sie an dem Vergehen der Natur teilnimmt und im Begriffe ist, in die Natur zurückzukehren: den Zustand des Ruinösen. Er setzt das frei gewachsene Gebilde des Hauses oder der Burg an die Stelle der Symmetrie des Palastes oder Schlosses. Er führt zu einer Bevorzugung von Bauten aus Naturelementen: formlosen Grotten oder Lauben und Gebäuden aus rohem unbehauenem Stein oder Holz, gleichsam dem Urzustände des Naturmenschen entnommen.12

Das alles wäre noch viel deutlicher, wenn sich nicht in der Allegorie des Parks und in seiner Ausstattung mit Architekturen und Skulpturen Elemente des absterbenden barocken Denkens mit solchen der neuen Empfindung mischten, was eine genauere Forschung erst noch unterscheiden wird müssen.

Innerlich gehören zu dieser Sphäre des Landschaftsparks viele Schöpfungen der zeitgenössischen Dichtung und Musik, die ihrem tieferen Sinn nach Kulthymnen eines Kults der Natur sind, der seine großartigste Verkörperung in diesen Räumen des Landschaftsgartens hat. Auch Goethes Fragment „Natur“ (1781/82) ist ein solcher Hymnus in Prosa.

Wieviel der Park der Zeit bedeutet, erkennt man an seiner langen Dauer. Von 1760 bis 1830, durch siebzig Jahre, ist er das Kunstwerk, das die sicherste innere Entwicklung zeigt und die größte Gleichmäßigkeit der inneren Haltung bewahrt.

Gesellschaftsgeschichtlich erwächst diese Form noch durchaus aus dem feudalen Großgrundbesitz, und wenn man bedenkt, daß ihre großartigsten Verwirklichungen eine Zurückdrängung des fruchtbar bebauten Landes zugunsten einer idyllischen Wildnis bedeuten, ermißt man erst die Vehemenz der geistigen Kräfte, die sich in dieser, so gesehen absurden, Form durchsetzen.

Um 1830 setzt der Verfall ein: Der Park wird museal, eine Art Naturmuseum, man pflanzt in ihm exotische Gewächse wie in einem botanischen Garten. Das Ursprüngliche, allhaft Empfundene und Religiöse geht dem Erlebnis verloren; in Äußerungen des alten Goethe verrät sich dieses Zurückweichen des eigentlichen Gehalts. In der Mitte des Jahrhunderts bekommen die Nachfahren etwas ausgesprochen Ausstellungshaftes.

Aber auch in den Umbildungen lebt, unlebendig geworden, noch immer etwas von dem weiter, was ursprünglich die Form geschaffen hat... Das einmal Erreichte ist nie wieder ganz verlorengegangen, obwohl viele Gartengestalter das Gedankengut falsch verstanden, entstellt oder kleinlich zur Anwendung gebracht haben. Durch allzu farbenreiche Pflanzungen und andere äußerliche Reize und Stimmungserreger, ja durch gelegentliche lächerliche Verkennungen der natürlichen Gegebenheiten geriet der freie Parkstil in Verfall und Verruf.“ Aber es steckt in ihm etwas, das noch bis in unsere Zeiten wirkt und auch uns noch stark berührt. „Was damals seine Anfänge erlebte, im Endergebnis wirkt es weiter in Aufgaben unserer Tage: Raumforschung und Raumordnung im großen, die planmäßige Verschönerung des von uns bewohnten Erdteils, der Wunsch also, überall, wo der Garten Gottes öde blieb oder wüst wurde, im Wandel der Zeiten den Garten des Menschen zu bauen. Noch kann nicht genug geschehen, um hiefür weithin und allgemein die Aufmerksamkeit und Bereitschaft zu wekken . . .“13 So sieht die unausgeschöpften Möglichkeiten des Landschaftsgartens im großen einer, der in unseren Zeiten noch an ihn glaubt. Und daß die Idee noch nicht tot ist, zeigt sich daran, daß bis in unsere Zeiten der Kampf zwischen den Anhängern des freien und des architektonischen Gartens – in neuen Formen und unter neuen Bedingungen – weitergeführt wird. Und noch bis heute lebt die Idee, daß die Natur – zum Beispiel ein Wald – die erhabenste Form der Kirche sei.

Das architektonische Denkmal

Während der Landschaftsgarten sich seiner klassischen Form nähert, erscheint um 1780 eine neue führende Aufgabe: das architektonische Denkmal. Sie beschäftigt die führenden Architekten der Revolution und ihre deutschen Nachfolger in der Generation Hölderlin–Beethoven wie nichts anderes. Bei ihnen allen, bei Ledoux, Boullee, Lequeu, Dubut, bei Gilly, Weinbrenner, Gentz, Haller von Hallerstein, spürt man die Leidenschaft, mit der sie von diesem Thema ergriffen sind. Daran ändert nichts, daß in den stürmischen Jahren der Revolution und der Napoleonischen Kriege fast alle diese ins Gewaltige gehenden Entwürfe auf dem Papier geblieben sind.14

Das architektonische Denkmal ist der entscheidendste Ausdruck einer Absage an den Barock und an die Vermittlungsversuche eines spätbarocken Klassizismus. Bei Delafosse (1734–1789) entsteht das ideale Monument noch aus der Kombination spätbarocker und antiker Elemente, auf dieser neuen Stufe aber kehrt es zu den reinen Elementarformen der Geometrie zurück; es sucht die ungebrochenen Flächen, das Gewaltige der Massen, die feierliche Ruhe und den Ausdruck des Ewigen, Unzerstörbaren (Abb. 9, 10). Nun findet man Archi-Tektur am reinsten realisiert in der Idee des Denkmals und Grabmals.

Architektur und organische Natur, die im barocken Gesamtkunstwerk ganz ineinander verschmolzen waren, werden jetzt vollkommen gegensätzlich. So auch das Verhalten, das ihnen entspricht: zum Landschaftsgarten gehört die leicht „gerührte“, frei schweifende und fortwährend sich wandelnde Empfindung, zum Monument das starre Ergriffensein von einem übermenschlich Erhabenen, das in der Form des Übergroßen erscheint. (Die „Megalomanie“ der Zeit.)

Die Kraft dieser Idee ist daran zu ermessen, daß sie alle anderen Aufgaben in ihren Bann zieht. Am willkommensten sind ihr jene, deren Form sich der des Monuments am meisten angleichen läßt, also Aufgaben, bei denen das Fenster entbehrt oder auf ein Minimum eingeschränkt werden kann. So werden damals Museen und Bibliotheken in lapidar-einfacher kubischer Gestalt geplant, die ihr Licht, denkbar unpraktisch, als reines Oberlicht empfangen, und das Gefängnis mit seiner erschütternden Atmosphäre der Zeitlosigkeit wird ein Lieblingsthema (Fidelio!). Diese Trias: Denkmal–Gefängnis–Museum illustriert den Charakter der Zeit wie nichts anderes. Auch die Kirche wird außen denkmalhaft wie ein Mausoleum und empfängt ihr einziges Licht von oben. Am Haus bevorzugt man die reine Form des Kubus.

Die „Barrieren“ an der Bannmeile von Paris, im Grunde nichts anderes als ein Kranz von Mautämtern an den Ausfallstraßen, verwandeln sich in den Entwürfen Ledoux’ zu schweren Tempel- und Denkmalsformen, zu „Propyläen von Paris“. Gilly entwirft einen Hochofen wie ein Monument für die Urkräfte der Natur (Abb. 14). Noch 1826, am Beginn seiner Reise durch England, erlebt Schinkel die frühindustrielle Landschaft des „Black Country“ als hunderte rauchender Obelisken, ganz von dem Monumentalen, gleichsam ägyptisch Großartigen des Anblicks her.

Das Monumenthafte hat die Tendenz, in alle Bereiche des Gestaltens zu dringen. Sehr auffallend ist die Monumentalisierung des Möbels im Empire, die noch ganz in dieser „Revolution des Monuments“ wurzelt. Möbel werden wie ein selbständiges Stück Architektur betrachtet, ohne Zusammenhang mit dem umgebenden Raum. Ein Schrank kann aussehen wie ein Grabmal, wie eine Tempeltür mit Hieroglyphen, eine Kommode wie der Sockel eines Denkmals oder wie ein Altar, eine Standuhr wie ein Obelisk, ein Ofen wie eine dorische Säule, ein Nachttisdrchen wie ein Säulenstumpf.

Wenn Vegetationsformen mit der Architektur verbunden werden, bevorzugt man jene, die eine möglichst kompakte geometrische Form geben, wie Zypressen oder ihr heimischer Ersatz, die Pappel. Unvermittelt verbinden sich ihre Körper mit dem der Architektur, unvermittelt steht die Architektur in der Umgebung (Abb. 5, 6, 9).

In den großen Staatsfesten der Französischen Revolution erfaßt die Monumentalisierung auch die Menschenmassen. Um den Kubus des Altars werden Militär und Volk zu mächtigen geometrischen Blöcken in lebloser Starre zusammengefaßt: zum ersten Male wird in der Regie dieser Staatsakte die Vermassung des Menschen unmittelbar sichtbar.

In der Malerei entspricht dieser Tendenz zum Monumentalen eine Tendenz zum Elementaren: das Zurückgehen auf die erhabenen Urformen, die die Welt bauen, auf das Ungeheuere der Natur, ihr „Schweigen“ und ihre Unnahbarkeit, die den Menschen klein macht, das Ewige des Gebirges, des Meeres und des polarischen Eises, In den Bildern Caspar David Friedrichs ist diese Tendenz am reinsten verkörpert, doch ist dies nur ein Aspekt seiner Kunst. Bezeichnend, daß in ihnen nicht selten Denkmäler urtümlicher Art, Grabmäler und Friedhöfe erscheinen.

Zu dieser Bevorzugung der ungeschmückten elementaren Formen gehört eine besondere Lichtart. Die Vorliebe für undurchbrochene Außenflächen führt von selbst zur Beleuchtungsform des Oberlichts. Sie wird aber nicht nur als notwendiges Übel in Kauf genommen, um eine geschlossene geometrische Außenform zu ermöglichen, sondern um ihrer selbst willen geschätzt. „Im Kellerlicht“ liegt schon die Beziehung zum Unterirdischen. Zum erstenmal seit den Krypten der romanischen Zeit sucht die Phantasie der Architekten das Unterirdische.15 Ledoux plant seinen Friedhof von Chaux als einen riesigen Verband mehrgeschossiger Katakombengänge, die in einen gewaltigen Kugelraum von 80 Meter Durchmesser münden.16 Die Kugel steckt zur Hälfte in der Erde, zur Hälfte ragt sie über die Erd-Ebene auf. Dieser Kugelraum ist nidit Kultraum, man kann ihn nicht betreten, nur in ihn hineinblicken. Durch eine Rundöffnung im Kugelscheitel erhält er das einzige Licht. Nach Ledoux’ eigener Erklärung symbolisiert er die Ewigkeit und im Aufblick zur Lichtöffnung den Blick aus dem Totenreich in das Licht des Himmels. Die gleichen Register der Symbolik werden am Außenbau gezogen. Wie eine Pyramide ragt die Halbkugel in erhabener Einförmigkeit über die kahle Ebene auf. Kein Baum, kein Gras, kein freundlicher Wasserlauf darf ringsum sein; Rauchwolken der unterirdischen Verbrennungskammern steigen aus dem Boden wie Dämpfe der Unterwelt, damit, wer sich dem Friedhof nähert, schaudernd das Bild des Nichts empfange: l’image du néant.

Aber ähnliche Phantasien erscheinen überall bei den gleichaltrigen und jüngeren Zeitgenossen. Lequeu, der Adept Ledoux’, entwirft eine „entree ä la dcmeure de Pluton“ – den Eingang zur Unterwelt –, einen in die Felswand hineingebauten Tempel für den „dieu inconnu“, wohl den ersten dieser Art seit den römischen Felsentempeln von Petra.17 Bei Weinbrenner und Gilly erscheint immer wieder der Gedanke unterirdischer Grüfte; Gillys Phantasie trägt antikische Formen unter die Erde. Boullée, Altersgenösse Ledoux’ und zweiter großer Führer der Revolutionsarchitektur, macht Vorschläge für eine „architecture ensevelie“; er bevorzugt 𔄬proportions basses et enfouies dans la terre“ und „le noir de l’architecture des ombres dessiné par l’effet des ombres encore plus noires“ (Abb. 10). Er schildert in einer theoretischen Abhandlung, wie ihm das, was er in der Verteilung von Licht und Schatten durch architektonische Massen anstrebt, zum erstenmal an Bauten im Mondlicht aufgegangen sei, das die Bauten monumentaler und bei vollkommen scharfer Begrenzung unfaßbarer und geheimnisvoller erscheinen läßt.18 Dies entspricht einer Erfahrung, die Ernst Jünger scharf formuliert hat: „daß sich im Schattenwert die Formen zugleich enthüllen und vergeistigen. Sie treten in eine höhere Stufe ein, in die der Unzerstörbarkeit, die ihrer Linienführung innewohnt. Die Dinge wirken . . . stoffloser und mächtiger zugleich“.19 – Auch bei anderen Revolutionsarchitekten zeigt sich die Vorliebe für nächtliche Beleuchtung.

Zu dieser Nachtansicht des Architektonischen gehört organisch eine Nachtansicht des Lebens, der Natur und der Antike, ein tiefes Verhältnis zu den „chthonischen Mächten“, zur „dunklen Erde“, zum Tartarus und zum Tode.20 Vorbereitet in Frankreich bei Delafosse, in Italien bei Piranesi – in der Generation von 1720–1730 –, wird diese Nachtansicht das Grunderlebnis für die Generation der um 1770 Geborenen, der gewaltigsten Geburtsschicht, die Deutschland seit der Generation Dürers hervorgebracht hat: Gilly, Friedrich, Runge, Hölderlin, Novalis, Kleist, Hegel, E. T. A. Hoffmann, Beethoven, Görres usw.

Von der Revolutionsarchitektur werden lange verschüttete Urgedanken des Architektonischen wieder heraufgehoben, so das Motiv der geböschten Wand, das seit Jahrtausenden nicht mehr möglich gewesen war. Es erscheint eine ganz neue Sicht des Griechischen, die ihren Schwerpunkt im Urgewaltigen des Archaischen, des Dorischen hat.

Es verbindet sich Ältestes und Tiefstes mit Utopischem und Abstraktestem in kalter Weise.

Die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen dieser Revolution müssen erst noch genau untersucht werden. Eine ihrer Wurzeln ist der bei Diderot erscheinende Kult der Nachwelt, den Becker als eine Säkularisierung der christlichen Religion darzutun versucht hat.21 „Die Ideen, die Wendungen sind wesentlich religiös, wesentlich christlich: Für die Verehrung Gottes hat Diderot die Ehrfurcht vor der Nachwelt eingesetzt, für die Hoffnung auf Unsterblichkeit im Himmel die Hoffnung auf ein Weiterleben im Gedächtnis kommender Generationen.“ Bezeichnend das Wort Diderots: „Nachwelt ist für den Philosophen das, was das Jenseits für den religiösen Menschen ist.“ Der Garant des Weiterlebens im Gedächtnis kommender Generationen sind die Denkmäler; sie alle sind im Grande nicht Denkmäler eines Individuums, sondern Menschheits- oder Nationaldenkmäler: für Newton – als den Geist, der die Gesetze des Alls erforschte –, für die französische Republik, für Napoleon, für Armin den Cherusker. Und denkmalhaft soll alle Architektur sein, weil sie allen kommenden Geschlechtern von der Größe der Zeit künden soll.

Dieser Beziehung zur Nachwelt entspricht eine tiefe Beziehung zur Vorwelt, zu den Uranfängen, die das Größte und Geheimnisvollste, das Dauernde in sich schließen.

Aber der wirkliche Kern dieser „Religion der Denkmäler“ wird damit nur umschrieben, noch nicht bestimmt. Er scheint mir zu beruhen in einem Urerlebnis des EwigenSiemendenkmals22