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Das weiße Z und die Flucht ins Gebirge

ISBN 978-3-417-22837-3 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books GmbH, Leck

© 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Der Bibelvers Psalm 23,1-3 ist entnommen aus: Lutherbibel,

Inhalt

Die Hauptpersonen

Prolog

1. Besuch am Set

2. Die Anzeige

3. Die Täufer

4. Die Gestalt am Fenster

5. Verfolgung des Fremden

6. Der Flug in die Alpen

7. Im Schneefeld

8. Eine schreckliche Erkenntnis

9. Die Nacht im Flugzeug

10. Die Flucht

11. Das Versteck

12. In der Höhle des Löwen

13. Johannas Geheimnis

Epilog

Der Autor

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Schloss Döster,
in dem die Familie von Frangenberg lebt.

image      Zorro
eigentlich Sigismund Ottokar Engelhard Dietrich Balduin von Frangenberg, liebt Hip-Hop, aber nicht seine Vornamen.
image      Tessi
eigentlich Therese Amalie Dorothea Kunigunde von Frangenberg, ist die jüngere Schwester von Zorro und ein Computergenie.
image      Backe
eigentlich Caspar-Melchior-Balthasar Huber.
„Meine Eltern haben sich in der Grundschule beim Krippenspiel kennengelernt. Mein Vater war der Melchior und meine Mutter die Maria. Tja, ich darf das jetzt ausbaden.“
image      Montag
eigentlich Kwadwo Yeboah.
„In Gambia ist es nicht unüblich, dem Kind als Vornamen den Wochentag zu geben, an dem es geboren wurde. In der Landessprache meiner Eltern heiße ich dann Kwadwo. Das heißt Montag.“
image      Lilly
eigentlich Otilia-Walburga Lehmann.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal jemanden treffe, den es noch härter als mich erwischt hat. Wir haben schon überlegt, ob wir vielleicht den Club der blöden Vornamen gründen sollten.“

Zorro, Backe, Montag und Lilly gehen in die 8. Klasse in Bad Trekelsingen. Die Freunde wohnen in Dösterfelde.

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Prolog

Er schlug die Zweige zur Seite und hechtete über einen am Boden liegenden Stamm. Dann rutschte er kurz auf dem schlammigen Boden, fing sich wieder und umrundete einen großen Findling mit drei Schritten. Dahinter begann der Weg steil anzusteigen. Zorro blickte stur nach vorn, nur auf den Verlauf des Weges. Es war nicht einmal ein Trampelpfad, nur ein schmaler Streifen, der durch das Gebüsch hindurchführte. Zorro spürte das Schlagen der Äste gegen seine Beine. Sein Atem ging flach und hechelnd und sein Rachen war knochentrocken. Diese unbändige Hitze!

Zorro rannte so schnell er konnte. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals. Er spürte den Schweiß seine Stirn herunterlaufen und über seine Nase tropfen. Dann wurde der Weg noch steiler. Einige Meter vor sich erblickte er zwei umgestürzte Baumstämme und davor Büsche und kleinere Felsbrocken. Zorro griff nach einem der Büsche und zog sich daran hoch. Seine Füße rutschten auf dem feuchten Boden. Er fiel, rappelte sich aber sogleich wieder auf und griff erneut nach einigen Ästen, die sich ihm entgegenstreckten. Dann erreichte er den ersten Baumstamm. Er umklammerte einen größeren Ast und zog sich über den Stamm. Seine Hose ratschte auf der Rinde und es war ihm, als wäre sie zerrissen. Aber es war keine Zeit, darüber nachzudenken. Er musste weiter. So schnell er konnte. Wie nah mochten sie schon hinter ihm sein? Sie durften ihn nicht kriegen, nicht jetzt!

Mit letzter Kraft wuchtete Zorro sich über den zweiten Baumstamm. Dahinter trat er wieder auf feuchten Waldboden. Erneut geriet er ins Straucheln, konnte sich aber gerade noch fangen. Da hörte er ihre Schritte hinter sich. Sie waren näher, als er angenommen hatte. Gleich würden sie über die Baumstämme kommen und ihn erreichen. Das durfte nicht passieren. Dann wäre alles vorbei. Aber Zorro konnte nicht mehr. Wie lange war er schon gerannt? Sein Hals schmerzte, sein Atem war so flach, dass er kaum Luft bekam. Zorro spürte, wie ihm die Sinne schwanden. Es war zu heiß, einfach zu heiß. Seine Beine drohten wegzusacken. Er ließ sich flach auf die Erde fallen. Alles schien sich zu drehen. Plötzlich hörte er Vögel zwitschern, einen Bach plätschern, Blätter im leichten Sommerwind rauschen. Er roch den moosigen Boden, seine Hände gruben sich in die weiche Erde.

Dann ein Knall! Der Knall hallte durch die ganze Umgebung. War das ein Schuss? Waren sie etwa bewaffnet und würden sie von ihren Waffen Gebrauch machen? Mit letzter Kraft schaffte er es auf die Knie, dann kam er auf die Beine und stapfte weiter. An Rennen war überhaupt nicht mehr zu denken. Vielleicht war es sinnlos, vielleicht war es ohnehin zu spät, vielleicht würde er jeden Moment ihre Hände auf seinen Schultern spüren. Aber er musste weitermachen. Es waren nur noch wenige Meter. Vielleicht vier oder fünf oder nur drei? Er sah kaum noch etwas. Der Schweiß lief ihm in die Augen, seine Hände griffen wahllos ins Leere, seine Beine fühlten sich an, als würden tonnenschwere Gewichte an ihnen hängen. Dann sah er die Bergspitze. Da oben musste er hin. Er würde es schaffen. Nur noch die paar Meter, noch ein paar wenige Schritte. So viel Kraft musste er noch aufbringen. Dann wäre es vorbei. Und dann stand er oben und ließ sich fallen.

Eine Sekunde später spürte er das warme, weiche Gummi an seiner Wange, dann hörte er den Ruf: „Und Schnitt!“ Augenblicklich folgte lärmender Applaus.

„Ey, du warst absolut klasse!“, vernahm Zorro Lillys Stimme, als er sich umdrehte. Seine Kleidung klebte an ihm und er schnappte noch immer hechelnd nach Luft. Schweiß lief ihm von der Stirn über das Gesicht.

„Absolut realistisch“, lobte Montag und reckte den Daumen in die Höhe.

„Mir war fast, als wären die wirklich hinter dir her“, sagte Backe. „Du hattest einen so verzerrten Gesichtsausdruck. Absolut überzeugend!“

„Danke“, sagte Zorro, noch immer nach Luft ringend. Dann hockte er sich hin und krabbelte von dem großen Luftkissen, auf das er gefallen war.

„Allerdings, dem stimme ich zu“, hörte Zorro eine weitere Stimme hinter sich. Er drehte sich um und sah Tom, den Regisseur. Der lächelte ihm zu. „Das war absolut spitze! Das Timing, die Gesten, die Dramatik – toll gemacht! Wir haben nun alles im Kasten!“, sagte Tom und schob sich seinen schwarzen Hut in den Nacken.

Tom war Ende zwanzig, hager und hatte einen dunklen Dreitagebart. Er trug ein ausgewaschenes Hemd, ein Halstuch und Jeans, die ihm zu groß zu sein schienen. Zumindest hingen sie einfach an ihm herab. Seine Füße steckten in einem Paar brauner Flipflops.

Tom hob die Hand und Zorro und er klatschten sich ab. „Tja, das war es schon fast, vorletzter Drehtag!“, rief Tom und drehte sich wieder zum Filmteam, das nun erneut freudig applaudierte. „Heute Abend gibt es eine kleine Feier für alle und morgen machen wir dann die letzten paar Einstellungen fertig!“

„Hey, das klingt toll!“, sagte Montag strahlend.

„Wow, unser erster Film. Und morgen ist er fertig“, staunte Lilly und lächelte. „Ist euch das eigentlich klar? Wir kommen ins Kino!“

„Na, ein bisschen dauert das noch“, beschwichtigte Montag und blinzelte ihnen zu.

„Egal“, sagte Lilly. „Hauptsache, der Film wird auch bei uns gezeigt!“

„Ja, cool, bald hängt vor dem Kino in Bad Trekelsingen ein Plakat, auf dem wir zu sehen sind“, sagte Backe beeindruckt. „Hey, wer hätte sich das vor einem Jahr vorstellen können?“

„Niemand, glaube ich“, sagte Zorro und stand auf. „Aber nun brauche ich erst einmal etwas zu trinken.“

Montag, Backe und Lilly klopften ihrem Freund noch einmal auf die Schultern. Gerade kam auch Tessi in ihrem Rollstuhl strahlend angefahren. Gemeinsam gingen sie hinüber zu dem Tisch, auf dem Getränke und kleine Snacks für die Filmcrew standen. Zorro nahm sich eine Flasche Wasser und goss sich ein Glas voll. Eilig trank er es aus und füllte sich gleich noch eins ein. Dann bot er Tessi eine Cola an. Während er das Glas für seine Schwester füllte, sah er aus dem Augenwinkel die beiden Schauspieler auf sich zukommen, die in der letzten Szene seine Verfolger gespielt hatten. Sie sahen wirklich so aus wie Tommy und Jogi, die beiden Entführer, denen Zorro damals gerade noch entkommen war. Die Szene, die eben gedreht worden war, spielte genau jene Verfolgungsjagd nach. Zorro reichte seiner Schwester das Glas. Langsam beruhigte sich sein Atem.

Zorro und seine Freunde kehrten zu ihren Stühlen zurück und setzten sich. Zorro nahm sich das Handtuch, das über der Lehne gelegen hatte, und legte es sich um seinen Hals. Gemeinsam beobachteten sie die Techniker, die die Dekorationspflanzen und die Steine aus Pappmaschee wegräumten. Innerhalb weniger Minuten verwandelte sich die Kulisse des Waldes, in der Zorro eben noch die Anhöhe hochgelaufen war, in ein karges Gerüst, an dem Kabel und Scheinwerfer hingen. Für heute war Zorro fertig. Auch Montag, Backe und Lilly hatten keine weiteren Szenen mehr zu drehen.

Zorro zog sich das jetzt schweißnasse Handtuch über den Kopf und blickte für einen Moment stumm auf den Boden. Hätte ihm jemand vor zwei Jahren erzählt, dass er einmal die Hauptrolle in einem Film spielen würde, er hätte denjenigen für verrückt erklärt. Und nun tat er genau das. Seit zwei Wochen drehten sie an dem Film „Das weiße Z und ein Schloss voller Lügen“. Es war die Verfilmung des gleichnamigen Buches, das vor einem Jahr im Verlag seines Vaters erschienen war. Das Buch erzählt die Geschichte von Zorros erstem Abenteuer, als er von dem angeblichen Musikproduzenten Tommy und dessen Komplizen Jogi entführt werden sollte und nur in letzter Minute entkommen konnte. Er war an einer Raststätte aus dem Wagen der Entführer gestiegen, um zu pinkeln, und dann einfach losgelaufen. Er hatte über am Boden liegende Baumstämme klettern müssen und war mehrfach gestürzt. Genauso, wie er es eben in der Szene dargestellt hatte. Nur waren die Verfolger hier am Set zwei Schauspieler. Er brauchte keine Angst vor ihnen zu haben. Damals hatte er Todesangst gehabt, denn er hatte nicht gewusst, wie weit Jogi und Tommy gehen würden. Auch sie hatten eine Waffe dabei gehabt. Es war eine echte Pistole gewesen. Nicht so wie die Schreckschusspistole, die hier beim Film verwendet wurde. Der Angstschweiß war Zorro von der Stirn geronnen und sein Herz hatte gepocht, als hätte es versucht, durch seinen Brustkorb zu springen.

Doch in jenem Moment war er von einer Kraft erfüllt gewesen, die er sich nicht erklären konnte. Diese Kraft hatte ihn über Bäume springen lassen, durch Dornenbüsche laufen und immer wieder aufstehen lassen, wenn er gestürzt war. Es war auch diese Kraft gewesen, die ihn zunächst ermutigt hatte, wegzulaufen. Sie war wie eine Stimme in seinem Kopf gewesen. Er erinnerte sich daran, wie er im Wagen diese Stimme gehört hatte. Es war keine reale Stimme gewesen. Es war mehr eine Ahnung, eine Vision, die aus seinem Innersten zu ihm gesprochen hatte. Und er hatte sich auf diese Stimme verlassen. Seit diesem Erlebnis verstand Zorro es viel besser, wenn in der Bibel erzählt wurde, dass jemand die Stimme Gottes hörte. Er war sich später sicher, dass es nur Gott gewesen sein konnte, der ihn in diesem Moment geleitet hatte. Denn gerade, als Zorro damals nicht mehr gekonnt und schon daran gedacht hatte, aufgeben zu müssen, war ein Zug gekommen. Ein Güterzug, der langsam genug gefahren war, sodass Zorro hatte aufspringen und seinen Entführern entkommen können. Sollte es ein Zufall gewesen sein? Zorro glaubte das nicht.

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1. Besuch am Set

Kommt, lasst uns zu Martin rübergehen“, sagte Backe auf einmal.

Martin war der Mann, der für die Spezialeffekte zuständig war. Gerade hockte er in einem Teil der Kulisse, der das Zimmer darstellen sollte, in dem Zorro und seine Freunde die Entführer überwältigt hatten. Morgen würden noch Einstellungen von den Bettlaken gedreht werden, mit denen sie die Entführer zu Fall gebracht hatten. Martin schien dafür schon etwas vorzubereiten und Backe fand, dass es interessant aussah.

„Ja, klar“, stimmte Montag sofort zu und auch Lilly erhob sich.

„Ich komme mit“, sagte Tessi und rollte ein Stück vor.

Nur Zorro winkte ab. Er war noch zu erschöpft. Also machten sich seine drei Freunde zusammen mit Tessi ohne ihn auf den Weg. Zorro sah ihnen nach und schloss dann für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete sah er, wie sich ein langer Schatten vor ihm auf dem Boden ausbreitete. Der Schatten gehörte zu einer Person, die neben Zorro stehengeblieben war. Zorro schob das Handtuch ein Stück von seinem Kopf. Vor ihm stand ein Mann. Zorro musterte ihn. Der Mann war groß und hager und hatte graues, schütteres Haar. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und seine Nase erinnerte an den Schnabel eines Adlers. Unterhalb der Nase verlief ein schmaler Bart, der wie mit dem Lineal gezogen aussah. Der Mann trug einen dunkelbraunen Anzug, der ihm eine Nummer zu groß war, und stützte sich mit der rechten Hand auf den Knauf eines schwarzen Regenschirms. In der linken Hand hielt er eine dunkle Aktentasche aus Leder.

Für einen Moment sah der Mann den Technikern beim Umbau zu. „Ist schon ein großes Filmprojekt“, sagte er dann wie zu sich selbst. „So viele Menschen braucht man also, um einen Film zu drehen. Na, es ist ja auch eine spannende Geschichte, oder nicht?“ Mit den letzten Worten drehte der Mann sich zu Zorro um und sah ihn mit einem freundlichen Lächeln an.

Zorro nickte wortlos. Dann bemerkte er, wie der Blick des Mannes auf seine Freunde fiel, die um Martin herumstanden und dessen Ausführungen lauschten.

„So jung, diese Helden. Was muss es für ein Gefühl für sie sein, ihre eigene Geschichte als Kinofilm zu sehen? Besonders für das Mädchen im Rollstuhl ist es bestimmt ein tolles Erlebnis. Sie ist doch die Schwester des Hauptdarstellers, oder nicht?“ Während er die letzten Worte sprach, sah der Mann wieder zu Zorro.

Der nickte stumm. Er wusste nicht, was er von dem Fremden halten sollte. Der Mann kam Zorro zwar irgendwie bekannt vor, aber er wusste nicht woher. Das wiederum wunderte Zorro nicht im Geringsten. In den letzten Wochen war er hier am Set so vielen Menschen begegnet, dass er sich kaum an alle erinnern konnte. Doch dieser Mann sah nicht so aus, als würde er beim Film arbeiten. Sicher war Zorro sich aber nicht. Viele hier am Set sahen nicht so aus, wie er sich Filmleute vorgestellt hatte. Vielleicht gehörte der Mann zu der Firma, die den Film finanzierte? Vielleicht kam er aber auch von der Presse und wollte sich ein Bild von dem Filmprojekt machen?

„Ich kann mir nicht helfen, aber das Mädchen tut mir leid“, sagte der Mann, ohne den Blick von Tessi zu nehmen.

Nun wurde es Zorro zu bunt. Was nahm sich der Mann heraus, über seine Schwester zu reden? „Wissen Sie denn, wie es ihr geht?“, fragte Zorro herausfordernd.

Der Mann erschrak und wandte sich ihm wieder zu. „Nein, natürlich nicht. Es tut mir leid. Es ist nur so …“ Er zögerte einen Moment. „Ich habe ebenfalls einen Bruder, der …“ Wieder ließ er eine Sekunde verstreichen. „… behindert ist.“

Augenblicklich brach Zorros Ablehnung in sich zusammen. „Sitzt er auch im Rollstuhl?“, fragte er.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Er konnte noch nie sitzen“, sagte er. „Er liegt nur im Bett. Ich habe mir als Kind immer gewünscht, dass ich ihm helfen könnte, aber es war hoffnungslos.“

Zorro schluckte.

„Er ist noch heute bettlägerig“, sagte der Mann und seufzte. „Aber genug davon.“

Zorro nickte abwesend und sah zu Tessi, die noch immer bei Martin saß und dem Techniker interessiert lauschte. Dann hörte er sich plötzlich sagen: „Ja, ich wünsche mir auch oft, dass ich ihr helfen könnte. Was würde ich dafür geben, dass sie laufen könnte? Immer hoffen wir, dass es eines Tages vielleicht doch eine Möglichkeit für Tessi gibt.“

Der Mann nickte zustimmend.

„Ich recherchiere ständig im Internet. Manchmal liest man ja, dass es in anderen Ländern große Fortschritte in der Medizin gibt. Zum Beispiel in Amerika“, berichtete Zorro. Er wusste nicht warum, aber er hatte Vertrauen zu dem Fremden gefasst. Und er spürte, dass er es mochte, mit jemandem über dieses Thema zu sprechen.

„Diese Hoffnung hatte ich damals für meinen Bruder auch. Aber nun habe ich mich damit abgefunden, dass ich ihm nicht helfen kann. Mir sind anscheinend die Hände gebunden. Wie bedauerlich, dass die Medizin auch heute noch nicht so weit ist. Obwohl …“, sagte der Mann nachdenklich.

Zorro sah auf.

„Ach nichts“, erwiderte der Mann und lächelte verkniffen. Dann holte er plötzlich tief Luft und sah Zorro direkt an. „Entschuldigung, bist du … ähm, sind Sie Zorro von Frangenberg?“, fragte er.

Zorro nickte. „Und wer sind Sie?“

„Oh, Entschuldigung“, sagte der Mann erneut, lehnte seinen Schirm an einen neben ihm stehenden Stuhl, zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Zorro.

Der bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Backe, Montag und Lilly nun zu ihm herübersahen und den Mann neugierig musterten. Sie erhoben sich und kamen gemeinsam mit Tessi zu ihm zurück. Der Mann lächelte ihnen freundlich zu, als sie Zorro erreichten. Zorros Freunde griffen sich herumstehende Stühle und setzten sich, wobei Backe den Mann skeptisch musterte.

Zorro betrachtete die Karte, die der Mann ihm gereicht hatte. „Albert Einstein, Privatsekretär“ stand darauf. Ein Lächeln huschte über Zorros Gesicht. Da hatte jemand Humor. Er sah wieder hoch zu dem Mann. „Einstein – stimmt das?“, fragte Zorro.

Der Mann schien im ersten Moment nicht zu verstehen. Dann lächelte er verkrampft und sagte: „Ja, mein Vater …“

„Albert Einstein war Ihr Vater?“, platze es plötzlich aus Backe heraus. Seine anfängliche Skepsis war Faszination gewichen.

„Nein, nein“, sagte der Mann zögerlich. „Mein Vater war Naturwissenschaftler und verehrte Einstein, deshalb der Name.“

Backe lehnte sich wieder zurück und nickte verständnisvoll. „Ich dachte schon.“

„Und was kann ich für Sie tun, Herr Einstein?“, fragte Zorro.

„Ich bin Privatsekretär von seiner Durchlaucht, dem Grafen von Döster-Waldberten.“

Zorro zuckte unwillkürlich zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Und er hätte es auch nicht für möglich gehalten. „Sie sind was?“, entfuhr es Zorro.

Was wollte der Graf von ihm und wie konnte er sich erdreisten, ihn zu kontaktieren, nach all dem, was er Zorro angetan hatte? Skeptisch sah er zu Herrn Einstein hin. Nur zu gut erinnerte er sich noch an die Verfolgung durch den angeblichen Versicherungsdetektiv Jansen, der an das Geld und den Schmuck von Johanna von Frangenberg gelangen wollte – und zwar im Auftrag des Grafen.1 Und nun schickte dieser Graf seinen Privatsekretär zu Zorro?

„Richten Sie dem Grafen aus, dass ich nicht interessiert bin. Was immer es auch sein mag!“, sagte Zorro bestimmt und reichte die Visitenkarte zurück an Herrn Einstein.

Dieser war für einen Moment überrumpelt, fing sich aber schnell wieder. „Ich bitte Sie, Herr von Frangenberg, hören Sie mich erst an“, sagte er und zog einen Klappstuhl heran, auf den er sich setzte. Vorsichtig stellte er seine Tasche neben den Stuhl und legte seine Hände auf die schmächtigen Oberschenkel.

Zorro schüttelte den Kopf. „Der Graf hat versucht, das Vermögen meiner Urahnin Johanna zu stehlen. Er hat uns Herrn Jansen auf den Hals gehetzt!“

„Es ist ein starkes Stück, dass er sich überhaupt traut, Sie zu uns zu schicken!“, fügte Lilly empört hinzu.

„Er hat mich nicht geschickt“, sagte Herr Einstein zaghaft und räusperte sich.

„Was soll das denn jetzt heißen?!“, fuhr Backe dazwischen.

Herr Einstein sah nachdenklich zu den fünf Jugendlichen, die ihn erwartungsvoll anblickten.

„Ich bin hier, weil … weil ich denke, dass es Zeit ist, dass der Streit zwischen den Familien von Döster-Waldberten und von Frangenberg endlich beendet wird“, sagte Herr Einstein und räusperte sich erneut.

„Hä?“, fragte Backe. „Streit? Ihr Arbeitgeber ist ein Krimineller!“

Herr Einstein sah erschrocken auf und Zorro bedeutet Backe, sich zurückzuhalten.

„Ja, also, natürlich … was passiert ist, war nicht richtig“, begann Herr Einstein vorsichtig und schien nach Worten zu suchen. „Dennoch glaube ich, dass es für beide Familien ein großer Gewinn wäre, wenn man die Streitigkeiten überwinden würde.“

„Das müssen Sie uns erklären“, mischte sich nun auch Montag ein.

„Das will ich gern machen“, erwiderte Herr Einstein und blickte sich vorsichtig um, als wollte er sicherstellen, dass sie nicht belauscht würden. „Vielleicht können wir das woanders besprechen? Irgendwo, wo wir mehr Ruhe haben?“

Zorro sah sich um. In der Tat war das Set nicht der beste Ort, um etwas in Ruhe zu besprechen. Es herrschte ein emsiges, lautstarkes Treiben. Gerade waren die Techniker dabei, eine neue Kulisse aufzubauen. Sie schoben ein großes Eisengerüst in die Halle und trugen allerlei Requisiten wie Fässer, Bretter, ein rostiges Rad, ein altes Waschbecken, eine Zinkwanne und verschmutzte Blumenkübel herbei. Gleichzeitig richteten andere Techniker an der Hallendecke die Scheinwerfer neu aus und wieder andere zogen Kabel oder markierten Stellen auf dem Boden, an denen Requisiten abgestellt werden sollten. Zorro erkannte in dem Gerüst den Schuppen, in dem er sich bei Montag im Garten versteckt hatte. Während die Techniker alles aufbauten, riefen sie sich unentwegt irgendwelche Dinge zu, reichten Werkzeuge weiter und machten auch ansonsten eine Menge Lärm. Doch Zorro hatte sich in den letzten Wochen am Set schon so an den Geräuschpegel der Filmcrew gewöhnt, dass er das alles gar nicht mehr bewusst wahrnahm. Das Hämmern, Bohren und Schrauben war zum täglichen Hintergrundgeräusch geworden.

„Gut“, sagte Zorro. „Gehen wir zu unserer Garderobe.“

Herr Einstein nickte. Auch Backe, Montag, Lilly und Tessi waren einverstanden. Sie verließen das Studio durch eine schwere Eisentür. Dahinter gelangten sie in einen langen, grauen Büroflur, von dem rechts und links Türen abgingen. Am Ende befand sich eine Tür, die in einen weiteren Flur führte. Nach wenigen Metern machte dieser einen Knick nach rechts. Zorro ging bis zur dritten Tür. Darauf befand sich ein schwarzes Schild, auf dem mit Kreide „Das weiße Z und ein Schloss voller Lügen“ geschrieben stand. Zorro öffnete die Tür. Der Raum, den sie nun betraten, war mit flauschigem Teppich ausgelegt. Im Raum verteilt standen rote Sessel und einige flache Tische, auf denen Zeitungen lagen und Schüsseln mit Obst standen. Auch von diesem Raum gingen weitere Türen ab. Auf denen standen die Namen von Zorro, Tessi, Backe, Montag und Lilly. Zorro ging auf die Tür zu, die seinen Namen trug, und öffnete sie. Seine private Garderobe war ungefähr zwanzig Quadratmeter groß und weiß gestrichen. Auf dem Boden lag ebenfalls ein flauschiger, blauer Teppich und an den Wänden hingen Bilder mit Landschaftszeichnungen. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner, runder Tisch, um den fünf Sessel gruppiert waren. Am Kopfende des Raumes gab es eine Liege, auf der Zorro sich in den Drehpausen ausruhen konnte, einen Kleiderschrank sowie einen Kühlschrank, der Getränke enthielt.

Zorro deutete auf die Sessel. „Bitte setzen Sie sich doch“, forderte er Herrn Einstein auf und zog einen der Sessel zurück.

Auch seine Freunde suchten sich jeweils einen Platz. Als sie alle saßen, bemerkte Zorro, wie unhöflich er gewesen war, und beeilte sich, Herrn Einstein etwas zu trinken anzubieten. Doch dieser lehnte ab. Stattdessen legte er seinen Hut neben sich und stellte die Aktentasche auf dem Boden ab. Zuletzt lehnte er seinen Schirm an den nächsten Sessel.

„Also, dann erklären Sie uns mal, warum Sie den Streit der Familien beenden wollen“, forderte Montag und das Misstrauen in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Herr Einstein zögerte kurz, räusperte sich dann und sagte: „Nun, ich stehe in den Diensten des Grafen von Döster-Waldberten und das schon seit bald zwanzig Jahren. Deshalb kenne ich die Geschichte der Familie recht gut. Ich weiß um das tragische Verhältnis von Karl und Johanna und den rätselhaften Tod Johannas …“

„Die von ihrem Mann umgebracht wurde“, warf Lilly ein.