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Ein Koffer
voller Märchen

MÄRCHEN FÜR KINDER AB 4 JAHREN

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

E-Book-Ausgabe

Krummwisch bei Kiel 2015

© 2015 by Königfurt Verlags GmbH

D-24796 Krummwisch

www.koenigsfurt-urania.com

Umschlaggestaltung: Jessica Quistorff, Seedorf, unter Verwendung folgender Motive von Fotolia.com:

»valigia vintage verde aperta« © Giuseppe Porzani, »romantic forest view« © Kanea und »Girl reading« © Elena Schweitzer

Lektorat: Claudia Lazar, Kiel

Satz: Stefan Hose, Götheby

ISBN 978-3-86826-326-8

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Märchen allgemein

Bedeutung von Märchen für Kinder

Formale Aspekte

Inhaltliche Aspekte

Ethische Aspekte

Kognitive Aspekte

Auswahl der Märchen

Und noch ein Wort zum Vortragen

Kettenmärchen für den Anfang und immer wieder zwischendurch

Das Rübchen

Der Kloß

Das Böhnchen

Der Floh und die Ameise

Vom dicken fetten Pfannekuchen

Erste Abenteuer

Der süße Brei

Mascha und der Bär

Die Gänse – die Schwäne

Werlioka

Die drei Brüder

Das kleine Halbhähnchen

Die Reise des Enteleins

Wenn das scheinbar Kleine sich durchsetzt – vom Fressen und Gefressen-Werden

Die Büffelkuh und das Fischlein

Die drei Gänse

Die drei Böcke Brausewind, die zur Alm gehen und sich fett machen wollten

Die drei kleinen Hühnchen

Die Entstehung der Sterne

Ivas’ und die Hexe

Piccino spielt mit dem Orco

Die alte Kittelkittelkarre

Sich auf den Weg machen

Schwesterlein Alenuschka und Brüderlein Iwanuschka

Der Brunnen am Ende der Welt

Wie sie es verdient haben, so ist es ihnen auch ergangen

Die Hexe im Walde

Die Königstochter in der Flammenburg

Die drei Hunde

Löwe, Storch und Ameise

Wir sind alle Königskinder

Chawroschetschka

Das Igelpelzchen

Der Glasberg

Der Stinkkäfer

Das weiße Kätzchen

Das Ziegenkind

Hennenpfösl

Zum Staunen, Lachen, Gruseln, Träumen

Der verwunschene Frosch

Oda und die Schlange

Das Totenköpflein

Vom Breikessel

Die Zwergmännchen

Die faule Katl

Der blaue Stier

Quellenangaben

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Über dieses Buch

Diese Sammlung von Märchen, die auf den reichen Schatz der Märchen aus aller Welt zurückgreift, möchte Erwachsenen und möglichst vielen Kindern den Eintritt in die zauberhafte Welt »hinter den sieben Bergen« zugänglich machen. Volksmärchen können Ihnen und den Kindern Freude, Hoffnung, Mut und Zuversicht mit all ihrer über Zeiten eingeflossenen Weisheit mitgeben. Im Vorlesen und Erzählen erfahren Kinder zudem eine wunderbare, sehr intensive Zuwendung von den Erwachsenen.

Begeben Sie sich zusammen auf die Reise ins Land der Märchen – der Koffer ist gepackt – und Sie werden bereichert zurückkommen.

Über die Herausgeberin

Sabine Lutkat hat Erziehungswissenschaften, Germanistik und Psychologie studiert. Sie arbeitet freiberuflich in der Erwachsenenbildung mit Vorträgen und Seminaren zu Märchenthemen, als Märchenerzählerin sowie als Reiseleiterin in Irland. Seit 2004 ist sie Präsidiumsmitglied der Europäischen Märchengesellschaft e. V. (EMG), seit 2012 Präsidentin der EMG.

Wichtige Publikationen: Mitherausgeberin der EMG-Kongressbände: »Sprachmagie und Wortzauber – Traumhaus und Wolkenschloss« (2004); »Dunkle Mächte im Märchen und was sie bannt – Recht und Gerechtigkeit im Märchen« (2007); »Der Vater in Märchen, Mythos und Moderne – Burg und Schloss, Tor und Turm im Märchen« (2008); »Märchenhaftes Irland/Vom glücklichen Ende« (2009); »BergWelt in Märchen, Sagen und Geschichten« (2013) und »›… ich gebe Dir jetzt mein Reich halb …‹ – Vom Geben und Vergeben im Alter/Kinder brauchen Märchen!« (2014). Herausgeberin des Märchenbandes »Feenmärchen« (2007).

Das Anhören eines Märchens und das Aufnehmen seiner Bilder kann mit dem Ausstreuen von Samen verglichen werden, von dem nur ein Teil im Gemüt des Kindes Wurzeln schlägt. Einige Samenkörner fallen unmittelbar in sein Bewußtsein, andere setzen unbewußte Vorgänge frei. Weitere müssen lange Zeit ruhen, bis das kindliche Gemüt so weit ist, daß sie keimen können; viele bleiben ganz ohne Wirkung. Die Samenkörner aber, die auf fruchtbaren Boden fallen, wachsen zu schönen Blumen und kräftigen Bäumen − sie bestärken wichtige Gefühle, vermitteln Einsichten, nähren Hoffnungen und bewältigen Ängste −, und damit bereichern sie das Leben des Kindes in der jeweiligen Zeit und für immer.

Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen.
dtv München 1990 14, S. 55 f.

Vorwort

Kindern Märchen nahezubringen ist wie eine Reise: Man begibt sich zusammen in ein Land der Wunder und Möglichkeiten, erlebt Abenteuer und Gefahren, löst Probleme, und am Ende kommt man nach gelungener Ausfahrt zurück aus dem Reich der Märchen ins Hier und Jetzt, gestärkt, genährt, glücklich. So ist auch dieses Buch angelegt:

Es richtet sich an alle Märchenliebhaber, aber besonders an Menschen, die Volksmärchen gerne an Kinder weitergeben möchten, sei es durch Vorlesen oder Erzählen, sei es im Kindergarten, in der Schule oder zu Hause, sei es beruflich oder privat, sei es einmalig, ab und zu oder regelmäßig.

In diesem Buch finden Sie einen Koffer voller Märchen, ausgewählt aus dem riesigen Schatz der Märchen aus aller Welt. Die Auswahl erfolgte nach Kriterien für Kinder ab vier Jahren bis weit hinein ins Grundschulalter, wobei das besondere Anliegen dieser Sammlung darin liegt, unsere Kinder in die Vielfalt der unterschiedlichsten Märchen einzuführen.

Zum Stellenwert von Volksmärchen speziell für Kinder gibt die Einleitung Hinweise. Hier finden Sie auch einige Gedanken zur Bedeutung der ausgewählten Märchen. Es folgen Anmerkungen zur Auswahl der Märchen und dazu, wie Sie am besten vorlesen und erzählen. Ich habe allerdings bewusst Abstand davon genommen, einzelne Märchen einem bestimmten Alter oder einem bestimmten Problem zuzuordnen, weil Märchen dafür zu vielschichtig und Kinder als Rezipienten zu unterschiedlich sind. Dem Vorleser, der Erzählerin bleibt es überlassen, klug auszuwählen, passend zu der Entwicklungsstufe des Kindes oder der Kindergruppe, abhängig von der eigenen Einschätzung des Märchens und der Situation.

Dieses Buch hat sich auf der Grundlage meiner langjährigen Arbeit mit Märchen sowohl mit Erwachsenen als auch mit Kindern entwickelt. Aus dem Märchenerzählen in Kindergärten und Grundschulen entstand bei mir der dringende Wunsch, ein Buch mit Märchen für jüngere Kinder zur Hand zu haben: Wie schön wäre es, wenn Kinder nicht nur mit den zehn bis fünfzehn bekannten Grimm’schen Märchen in Berührung kommen, sondern weitaus mehr dieser wunderbaren Geschichten hören könnten. In den Seminaren für Erwachsene (Erzieher/innen, Lehrer/innen, Mütter, Väter oder Erzähler/innen) wurde ich ebenso immer wieder nach einer solchen Sammlung von Märchen für jüngere Kinder gefragt. Sie liegt nun mit diesem Buch vor.

Das Buch ist ein »leises« Buch, so wie die Märchen »leise« sind. Unspektakulär nach außen, innen voller Wunder. Es ist keines der Bücher, das schon vorher weiß, was alles in den Märchen steckt, das dürfen diese selbst erzählen. Das Buch will vielmehr auffordern, sich gemeinsam mit den Kindern auf den Weg ins Land der Märchen zu machen. Anhand der Geschichten gilt es Abenteuer zu erleben, Neues zu entdecken und dabei etwas über sich, das Leben und die Welt zu erfahren.

Ich hoffe, dass diese Sammlung mit seinen Märchen den Erwachsenen, vor allem aber möglichst vielen Kindern den Eintritt in diese zauberhafte Welt »hinter den sieben Bergen« ermöglicht. Ich wünsche mir, dass es Ihnen und den Kindern Freude, Hoffnung, Mut und Zuversicht mitgibt und dass die Kinder im Vorlesen oder Erzählen wunderbare Zuwendung von den Erwachsenen erfahren.

Begeben Sie sich zusammen auf die Reise ins Land der Märchen – der Koffer ist gepackt – und Sie werden bereichert zurückkommen.

Sabine Lutkat

Kettenmärchen

FÜR DEN ANFANG
UND IMMER WIEDER
ZWISCHENDURCH

Erste
Abenteuer

Wenn das scheinbar Kleine sich durchsetzt VOM FRESSEN UND GEFRESSEN-WERDEN

Sich auf den Weg machen

Wir sind alle Königskinder

Zum Staunen, Lachen, Gruseln, Träumen

Quellenangaben

Einleitung

MÄRCHEN ALLGEMEIN

Märchen sind eine besondere Art von Geschichten. Allein schon das Wort »Märchen« weckt in uns Erwartungen nach Wunderbarem und Nicht-Realem. Das ist zwar richtig, dennoch ist nicht automatisch jede Geschichte, in der irgendetwas Nicht-Reales geschieht, ein Märchen. »Harry Potter« beispielsweise gehört ins Genre der Fantasy und die Geschichten von Struwwelpeter & Co. sind keine Märchen, sondern Kinderliteratur mit moralisch-belehrender Absicht. Was also sind Märchen oder genauer gesagt Volksmärchen, um die es in diesem Buch geht?

»Märchen« – das Wort ist also ein Sammelbegriff für wunderbare Geschichten aller Art, in denen tatsächlich auch Nicht-Reales geschieht. Dabei unterscheiden die Germanisten Volksmärchen von Kunstmärchen. Bei Kunstmärchen kennen wir in der Regel den Autor, sie wurden von einer Person erdacht, so wie die Märchen von Hans Christian Andersen. Bei den Volksmärchen ist das anders: Sie wurden mündlich überliefert, wurden immer wieder erzählt. Wir wissen nicht, wann sie entstanden sind, wir wissen lediglich, wann sie niedergeschrieben worden sind, zum Beispiel von den Brüdern Grimm.

Das Wort »Märchen« stammt vom mittelhochdeutschen Wort »maere« ab, was so viel wie »Kunde« oder »Botschaft« bedeutet. Ein Mär-chen, die Verkleinerungsform von Mär, ist also eine kleine Kunde, eine kleine Botschaft, und vor allem die Volksmärchen sind kleine Botschaften, die so bedeutungsvoll sind, dass sie über Generationen hinweg weitererzählt wurden.

Volksmärchen sind keine realen Geschichten, das liegt auf der Hand. Dennoch sind sie wahr. Sie erzählen vom Leben und von Lebenserfahrungen, die sich nicht anders als in Bildern ausdrücken lassen. Volksmärchen erzählen von grundlegenden menschlichen Erfahrungen wie Liebe und Freundschaft, Hass und Eifersucht, Tod und Glück und von der Sehnsucht. Mit ihrem guten Ende erzählen sie oft davon, dass das Leben trotz aller Widrigkeiten und Gefahren gelingen kann.

Märchensprache ist Bildersprache, Symbolsprache. Die Volksmärchen wirken aufgrund ihrer Bilder. Genauso sind die in den Volksmärchen vorkommenden Gestalten keine menschlichen Individuen, sondern Typen, Figuren.

Um deutlich zu machen, wie sehr wir uns heute noch im Alltag dieser Bildersprache bedienen, hier ein paar Beispiele: Wir haben Schmetterlinge im Bauch oder schweben auf einer rosaroten Wolke; wir kochen vor Wut und manchmal dreht sich uns der Magen um. Wir greifen vor allem dann zur Bildersprache, wenn es sich um Gefühle handelt, um ganz wesentliche Dinge, die sich gar nicht anders ausdrücken lassen und bei denen unsere logisch-abstrakte Sprache versagt. Diese Bildersprache ist in der Regel emotional besetzt, sie lässt nicht gleichgültig, sie bewegt innerlich, sie regt an − uns und unsere Phantasie, sie fordert zur Auseinandersetzung auf.

Die Volksmärchen kennen drei große Bilder vom gelungenen Leben: den Reichtum, das Königtum und die Hochzeit. Im übertragenen Sinne steht der Reichtum für ein bereichertes Leben, ein Leben voll inneren Reichtums, Seelenreichtum, wenn man so will. Das Königtum hat wenig mit den tatsächlich historischen Königen zu tun, es bedeutet vielmehr, König oder Königin über das eigene Leben zu sein, nicht über andere herrschen zu müssen, sondern sich selbst »beherrschen« zu können. Und die Hochzeit, die Hoch-Zeit, symbolisiert die Verbindung von Gegensätzen wie männlich und weiblich, Tag und Nacht, Tod und Leben, hell und dunkel.

Einige der typischen Kindermärchen weichen von diesen in vielen Volksmärchen sonst üblichen Endszenarien ab: Hier kehren die Kinder nach bestandenen Abenteuern ins Elternhaus zurück. Aber auch das ist nur folgerichtig. Kinder pendeln in ihrer Entwicklung hin und her zwischen dem Wunsch, selbständig zu sein, neue Entdeckungen zu machen, sich auf den Weg zu machen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite der Sehnsucht nach der Rückkehr zur sicheren Basis, zur sicheren Bezugsperson, wie die Bindungstheorie es nennt, dorthin eben, wo man geborgen und nicht bedroht ist, wo man sich fallen lassen und erholen kann, bevor der nächste Aufbruch in die weite Welt und das Bestehen des nächsten Abenteuers beginnt.

Noch ein Wort zur bereits erwähnten Wahrheit der Volksmärchen: Nur etwas, was den Menschen angeht, was ihn bewegt und was mit ihm zu tun hat, wird über Generationen hinweg tradiert. Hätten die Menschen nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen das Gefühl gehabt, dass diese Volksmärchen Geschichten sind, die etwas mit ihnen und ihren Erfahrungen zu tun haben, wären sie nicht weitergegeben worden. Die Märchen erzählen davon, wie wichtig es ist, sich auf den Weg zu machen in die weite Welt, das Leben in die Hand zu nehmen, trotz aller Gefahren und Widrigkeiten, die das Leben für einen bereit hält. Denn eines sind Volksmärchen sicher nicht: rosarote Heile-Welt-Geschichten. Zu deutlich erzählen sie von Gefahren, die uns zerstören können, die das Leben gefährden, von Prüfungen und Aufgaben, denen wir uns stellen müssen. Aber die Märchen wissen auch, dass, wenn man sich auf den Weg macht und sich den Gefahren und Aufgaben stellt, einem wunderbare Hilfe zuteilwerden und das Leben dann gelingen kann.

 

BEDEUTUNG VON MÄRCHEN FÜR KINDER

Kinder gelten vielen Erwachsenen als das Märchenpublikum schlechthin. Dabei ist diese uns so selbstverständlich erscheinende Einordnung von Volksmärchen als Kinderliteratur ein eher junges Phänomen, ursprünglich wurden Märchen von Erwachsenen für Erwachsene erzählt. Zur Kinderliteratur wurden Märchen grob gesagt mit dem Aufschreiben und der Erscheinung der »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm. Dieser Vorgang war an spezifische gesellschaftliche und historische Veränderungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebunden, im Zuge dessen sich unser heutiges Familien- und Kindheitsbild herauszubilden begann. Innerhalb dieses Prozesses wurde das Volksmärchen als Erziehungsmittel entdeckt und seitdem für die unterschiedlichsten pädagogischen Ziele instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Märchen überhaupt »kind-gerecht« sind, und wenn ja, was an ihnen sie für Kinder so geeignet und bedeutsam macht.

Da Volksmärchen, wie oben beschrieben, grundsätzliche menschliche Lebenserfahrungen aufgreifen, greifen sie auch die der Kinder auf. Kinder können sich ebenso wie Erwachsene im Volksmärchen wiederfinden. Doch die Bedeutung von Märchen für Kinder geht noch weiter, und zwar sowohl auf der formalen und wie auf der inhaltlichen Ebene.

Formale Aspekte

Auf der formalen Ebene besteht eine auffällige Wesensverwandtschaft zwischen den Denkstrukturen und dem Weltbild des Kindes auf der einen und der Struktur der Volksmärchen auf der anderen Seite. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist das magische Denken. Im Märchen ist alles möglich, alles kann wahr werden und überall sind geheimnisvolle Kräfte am Werk. Alles ist mit allem magisch verbunden, Verwünschungen treten ein, Zaubersprüche helfen oder schaden, Gegenstände wie Spiegel, Nadeln oder Tierhaare können zauberische Eigenschaften haben. Dieses magische Weltbild hat seine Entsprechung in kindlichen Denkstrukturen. Kinder nehmen zu unbelebten Dingen ebenso Beziehung auf wie zu belebten. Für die Erklärung von Zusammenhängen, die sie rational nicht erfassen können, behelfen sie sich mit magischen Vorstellungen: »Wenn ich das und das tue/schaffe, dann ist Mama nicht mehr böse/alles wieder gut …« Solche magischen Denkweisen und Strukturen finden sich ebenso im kindlichen Spiel wieder. Sogar bei Erwachsenen sind noch deutliche Spuren des magischen Denkens vorhanden, wie das Tragen von Glücksbringern oder die Durchführung bestimmter Rituale zeigen.

Hinzu kommt der Animismus. Animismus heißt, dass alles als belebt, alles als beseelt angesehen wird. In den Märchen können die Natur und Gegenstände lebendig sein und ein Eigenleben führen: So sind die Gestirne lebende Figuren, die dem Menschen hilfreich sein oder schaden können, und nicht nur Backöfen können sprechen. Kinder schreiben sogenannten »toten« Dingen ebenfalls ein Eigenleben zu, vor allem den Dingen, die sich bewegen: Sonne, Mond und Sterne, Wolken, Blätter, die im Winde fliegen, ebenso Gegenstände wie die Tür oder der Tisch können für das Kind belebt sein. Sowohl im Märchen als auch in der Phantasie des Kindes werden Dinge nicht nur beseelt, sondern teilweise auch vermenschlicht. Im Märchen sprechen die Tiere mit menschlicher Stimme, Sonne, Mond und Sterne haben wie Menschen Hunger, und den Dingen werden menschliche Eigenschaften wie lieb, gut, böse, klug zugeschrieben. Kinder geben der gemalten Sonne ein Gesicht oder sie sagen zu dem Tisch, an dem sie sich gerade gestoßen haben: »Du böser Tisch.«

Ein weiteres ganz wesentliches und charakteristisches Stilelement der Volksmärchen ist die Polarisierung von Gut und Böse. Märchen, die für Kinder geeignet sind, zeigen sie deutlicher als manch andere Märchen. Sie ist für Kinder von Bedeutung, denn auf diese Weise wird ihnen ein erstes Modell für eine Unterscheidung von Gut und Böse zur Verfügung gestellt. Bereits Bruno Bettelheim beschreibt in seinem Klassiker »Kinder brauchen Märchen«, dass Kinder diese polare Aufspaltung in Gut und Böse brauchen, da sie zunächst nicht dazu fähig sind, sich beides vereint in einem Menschen vorzustellen. Erst mit etwa acht bis zehn Jahren ist für sie denkbar, dass jemand sowohl gut als auch böse sein kann. Und dabei geht es nicht nur um Gut und Böse, sondern insgesamt um widerstreitende Gefühle. Kinder können sich genauso wenig vorstellen, gleichzeitig traurig und fröhlich zu sein. Diese Annahme wird durch die Entwicklungspsychologie bestätigt.

Die deutlich getrennte Darstellung im Märchen hilft den Kindern, ihre eigenen Gefühle zu ordnen und zu verstehen, sie wirkt unterstützend beim Aufbau und bei der Stabilisierung emotionaler Schemata.

Aufgrund all dieser formalen Entsprechungen fühlt sich das Kind vom Märchen und von demjenigen, der es vorliest oder erzählt, angenommen und verstanden. Märchen sind für Kinder Geschichten mit Lösungen im Rahmen ihres Weltbildes und deshalb für sie ein passender Schlüssel zum Verständnis der Welt.

Inhaltliche Aspekte

Auf der inhaltlichen Ebene gibt es viele Bilder und Themen in den Volksmärchen, die Kinder ansprechen. In den erzählten Grunderfahrungen der menschlichen Existenz kann sich das Kind mit seinen entwicklungsbedingten Ängsten, Hoffnungen und Wünschen wiederfinden: Geschwisterrivalitäten, die Angst, der Kleinste, Dümmste, Schwächste zu sein, Ablösungsprozesse, Aggressionen. Das Volksmärchen greift nicht nur, aber eben auch existentielle Konflikte der kindlichen Entwicklung auf und bietet Lösungswege an. In der Identifizierung mit dem Helden erlebt das Kind eine gelingende Bewältigung der Probleme und erfährt so eine grundlegende Lebenseinstellung der Zuversicht.

Eines der am häufigsten vorgebrachten Bedenken gegen Volksmärchen für Kinder ist die Grausamkeit. Märchen machen Kindern Angst, heißt es da. Worüber sich die Märchenpädagogen und -psychologen, die darüber geschrieben haben, einig sind, ist, dass Märchen den Kindern keine Angst »machen«. Es ist eher so: Märchen geben den Ängsten der Kinder eine Form, ein Bild, einen Namen, so dass mit Angst umgegangen werden kann.

Kinderängste entstehen nicht erst beim Hören von Märchen, sie sind grundsätzlich vorhanden, aber die Märchen machen es möglich, Ängste zu benennen. In dem Moment, in dem die Angst beim Namen genannt wird, kann man sich ihr entgegenstellen. Vorher diffuse Ängste werden konkret und dadurch (be-)greifbar und »bewältigbar«. Die Vorstellung, das menschliche Leben im Allgemeinen und das kindliche im Besonderen müssten angstfrei sein, ist unrealistisch. Menschliche Existenz ohne Angst gibt es nicht, sie gehört zu unserem Leben unausweichlich dazu. Den großen Unterschied macht es, wie wir damit umgehen. Das Volksmärchen vermittelt die Zuversicht, dass das Böse überwunden werden kann. Ängste von Kindern finden im Märchen − symbolisiert durch Riese, Hexe, Wolf und andere − gestaltete und gestaltbare Bilder. Da gleichzeitig Wege zur Überwältigung der Angstfigur aufgezeigt werden, können Volksmärchen einen Beitrag zur Angstbewältigung leisten.

Bei Furcht und Angst im Märchen geht es darum, sich ihr zu stellen. Erst wenn die Bedrohung zu groß wird, wenn es gar nicht anders geht, flüchten die Märchenhelden − eine wichtige Fähigkeit, die auch wieder Mut erfordert, aber in diesem Fall zur Lösung und zum Überleben beiträgt.

Volksmärchen sind Mut-Mach-Geschichten, denn die Märchenhelden und Märchenheldinnen müssen durch ihre Furcht hindurch, und Bilder von Angst, die ins »Auge« gefasst werden können, sind immer schon ein Stück Angstbewältigung. Und Angstbewältigung, der sinnvolle Umgang mit Angst und Furcht, muss wie vieles andere im Leben »geübt« werden, am besten lustvoll gruselig in Geborgenheit und Sicherheit.

Dass Märchen Vertrauen, Hoffnung und Mut vermitteln, ist nun schon öfter angesprochen worden. Sie vermitteln also eine zuversichtliche und optimistische Grundorientierung. Diese Grundorientierung geht aus vom guten Ende der Volksmärchen, was jedoch nicht mit Realitätsferne gleichzusetzen ist, denn das Märchen leugnet die Schwierigkeiten und das Böse des Lebens nicht. Die Auseinandersetzung mit dem Bösen ist im Gegenteil zentraler Bestandteil der Märchen. Das gute Ende ist Ausdruck des Glaubens, dass das Böse überwunden werden kann, dass es möglich ist, trotz aller Schwierigkeiten das Leben zu meistern. Auf diese Weise vermittelt das Märchen nicht nur Hoffnung, sondern es macht Mut und gibt Kraft.

Ein weiterer wichtiger Aspekt tut sich hier auf: Die Volksmärchen erzählen auf ihre Art und Weise davon, dass die Welt und das Leben sinnvoll sind, dass sich alles in einer sinnvollen Ordnung befindet, voller Sinn ist. Und die Märchenheldinnen und -helden zeichnet dieses Urvertrauen in das gute Ende aus: Sie gehen mit einem Vertrauen auf das Sinnvolle und den Sieg des Guten in der Welt durch die schweren Situationen hindurch. Dies rechtfertigt die Übeltaten natürlich nicht. Aber davon zu hören macht für das eigene Leben Mut, auch durch schwere Zeiten hindurchzukommen, durchzuhalten, nicht aufzugeben.

Im Volksmärchen gibt es zwei verschiedene Welten, das Diesseits und das Jenseits. Diese beiden Welten sind jedoch nicht strikt voneinander getrennt, sondern sie, die diesseitige Welt und die Anderswelt, sind miteinander verbunden. Im Volksmärchen gibt es vielfältige Berührungspunkte zwischen diesen Welten. Dass es diese andere Welt gibt, wird im Märchen nicht hinterfragt, sondern vorausgesetzt. Oft genug greift die andere Welt dann ein, wenn alles verloren scheint, wenn die Not am größten ist. Neben dem Vertrauen in den eigenen Weg ist das eine weitere wichtige Botschaft der Märchen: Du bist nicht allein. Du bist eingebunden in ein Netz des Lebens, und dann, wenn du alleine bist, nicht mehr weiter weißt, wird dir von irgendwoher Hilfe zuteil. Das Volksmärchen hat einen tiefen Glauben an den Sinn und das Sinnvolle des Lebens, ein Vertrauen in eine höhere und gute Ordnung. Diesen Glauben vermitteln wir den Kindern, wenn wir ihnen Märchen erzählen oder vorlesen. Es ist ein grundlegendes Urvertrauen, von dem aus alles weitere Leben gedeihen und wachsen kann. Und es ist eine Grundlage jeder Religiosität.

Ethische Aspekte

Auf ihre Art und Weise vermitteln Märchen darüber hinaus grundlegende ethische Werte. Das darf nicht missverstanden werden in dem Sinne, dass die Märchenheldinnen und -helden immer lieb und nett und brav seien, das sind sie beileibe nicht. Sie tun in den einzelnen Situationen das »Richtige«, und manchmal kann es sein, dass das Richtige eben ist, den Frosch an die Wand zu werfen, die Hexe zu verbrennen, Grenzen zu überschreiten, Verbote zu übertreten. Letztendlich geht es beim richtigen Handeln darum, das Leben zu meistern. Und schon gar nicht können die Volksmärchen eins zu eins in tatsächlich konkrete Verhaltensweisen im Alltag umgesetzt werden. Sie sagen uns nicht, du musst genau das und das tun, dann wirst du mit allem Erfolg haben. Aber in der Auseinandersetzung mit den Wegen der Märchenfiguren kann immer wieder eine eigene Haltung entwickelt und überprüft werden. Die Volksmärchen erzählen mit ihren unterschiedlichen Figuren von verschiedenen möglichen Einstellungen, mit denen man durchs Leben gehen kann. Und sie erzählen auch davon, dass, wenn das Leben sinnvoll, voller Sinn ist (und davon gehen, wie bereits gesagt, die Märchen unbedingt aus), es Haltungen gibt, die eher zu einem glücklichen, und solche, die eher zu einem unglücklichen Leben führen. Die Märchen geben aber keine genaue Handlungsanweisung, wie man sich in bestimmen Situationen konkret zu verhalten hat. Das hieße, die Zuhörer zu entmündigen, und das tun Volksmärchen ja gerade nicht. Im Gegenteil: Sie überlassen den Zuhörern die Entscheidung über das eigene Verhalten, darüber, wie die Geschichte aufgenommen wird. Wir kommen im Leben nicht darum herum, immer wieder die Verantwortung für unser Tun und Lassen zu übernehmen, wir haben immer die Entscheidungsfreiheit über unser Verhalten. Wir müssen uns immer wieder entscheiden, wie und mit welcher Haltung wir uns, den anderen, der Welt und der Anderswelt begegnen.

Dass Volksmärchen die Entscheidung über das eigene Verhalten den Zuhörern überlassen, hat mit der Bedeutungsvielfalt