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Joachim Starbatty

Die englischen Klassiker der Nationalökonomie

Lehre und Wirkung

Mit einem Beitrag von Heinz Rieter: Deutungsmuster Klassischer Nationalökonomie

Verlag W. Kohlhammer

Die Umschlagbilder zeigen von links Adam Smith, Thomas Robert Malthus, David Ricardo und John Stuart Mill.

1. Auflage 2016

Korrigierte und ergänzte Neuauflage des 1985 erschienenen Bandes

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

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ISBN 978-3-17-025658-3

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pdf:       ISBN 978-3-17-025659-0

epub:    ISBN 978-3-17-025660-6

mobi:    ISBN 978-3-17-025661-3

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Vorwort

 

 

Eine doppelte Freude ist mir unverhofft zuteil geworden. Uwe Fliegauf vom Kohlhammer-Verlag ermunterte mich, das Bändchen »Die englischen Klassiker – Lehre und Wirkung« neu aufzulegen; mein Kollege und Freund Heinz Rieter fand sich bereit, meinen Text in die Rezeptionsgeschichte einzuordnen und ihn mit den Deutungsmustern der englischen Klassik zu konfrontieren.

Wir hatten zunächst überlegt, gemeinsam den Text zu überarbeiten. Aus zwei Gründen haben wir davon abgesehen: Umwälzendes ist in den letzten Jahren nicht erschienen; auch fürchteten wir, dass der ursprüngliche Charakter des Bändchens, den Leser ohne Umschweife mit der Gedankenwelt der englischen Klassik vertraut zu machen, verloren gehen könnte. Stattdessen zeigt Heinz Rieter in seinem Kommentar, wie unterschiedlich die Klassiker gelesen und gerade in der zeitgenössischen Literatur gedeutet werden können. So wird dem Leser neben der Einführung ein konziser Überblick geboten, was die englischen Klassiker in den Augen der Ökonomen geleistet haben und wie sie in die Gegenwart fortwirken. Doch mahnt Rieter, sich von deren Ideenreichtum nicht zu dem Glauben verführen zu lassen, damit sei die Wahrheit erschöpfend behandelt worden.

Wenn der Autor sich noch einmal über das Gedruckte beugt und auch nach den Schriften der Klassiker greift, so wird ihm wieder bewusst, dass sie für Leute geschrieben haben, die sich Aufklärung über ökonomische Zusammenhänge und über Ursache-Wirkungsketten erhofften. Der Leser folgte gerne den ausgebreiteten Argumenten und legte die Werke mit dem Gefühl aus der Hand, verstanden zu haben, dass Arbeit die Quelle des Wohlstands ist und dass der Außenhandel als Ausdruck einer Erweiterung der Arbeitsteilung allen beteiligten Nationen dient. Wenn die Leser nicht überzeugt waren, so wussten sie doch nun, wie bestimmte Sachverhalte von allgemein als kompetent eingeschätzten Ökonomen gesehen wurden. Wenn Joseph Schumpeter – ein wenig spottend – schreibt, dass Adam Smith eine Abneigung gegen alles hatte, was über den gesunden Menschenverstand hinausging, und niemals die Grenzen des Fassungsvermögens selbst der dümmsten Leser überschritt, so übertreibt er zwar, doch sagt er zugleich, dass Smith seine Leser an die Hand nahm und Schritt für Schritt aufklären wollte.1 Der normale Leser brauchte nicht Tage und Wochen wie der Leser von heute, um sich durch Texte zu quälen, die von den Peers der jeweiligen Fachrichtung für wert erachtet wurden, in den führenden Journals gedruckt zu werden. Offensichtlich schreiben Ökonomen heute nicht mehr für ein interessiertes Publikum, sondern für den Beifall ihrer eigenen Fachkollegen. Ob der Leser schließlich etwas Aufklärenswertes erfährt, sei dahin gestellt. Es ist offensichtlich in Vergessenheit geraten, dass die Ökonomie eine schöne und wohlwollende Wissenschaft ist – auf die Besserung der Situation des Menschengeschlechts ausgerichtet. Weiter ist eine Maxime von John Stuart Mill beherzigenswert: Ein guter Ökonom könne niemals der sein, der nur etwas von Ökonomie verstehe.

Was bei nochmaligem Studium der Schriften und der Lebensläufe der Klassiker ebenfalls auffällt, ist ihr Bemühen, im Sinne ökonomischer Vernunft auf die Politik einzuwirken. In diesem Sinne waren die Klassiker Altruisten: Es ging ihnen nicht um die Füllung ihrer persönlichen Schatulle, sondern um die Besserung der Situation des Menschengeschlechts. Adam Smith ist nach London, die Metropole des aufstrebenden England, gezogen, um der Politik nahe zu sein. David Ricardo verschaffte sich einen Sitz im britischen Unterhaus, um für die Abschaffung der britischen Kornzölle zu werben. Thomas Robert Malthus schrieb Eingaben an den britischen Premierminister, um ihn von einer gut gemeinten, aber in seinen Augen ökonomisch schädlichen Armengesetzgebung abzubringen. John Stuart Mill ließ sich ins Unterhaus wählen, um für seinen aufgeklärten Liberalismus und insbesondere für die Gleichberechtigung der Frau einzutreten.

Ich selbst bin als junger Wissenschaftler in die politische Beratung gegangen, um zu erfahren und zu prüfen, was und wie Politiker aus theoretischen Erkenntnissen lernen und wie aus Theorien Politik wird. Vier Jahre dauerte diese Lehrzeit. Wenn mich heute ein junger Wissenschaftler fragt, ob er diesem Beispiel folgen solle, so rate ich ab. Es würde ihm nicht positiv angerechnet, sondern als vertane Zeit im Sinne des modernen Wissenschaftsbetriebs gewertet. Stattdessen rate ich ihm: Geh vier Jahre in die USA, lerne die dort vertretenen Techniken und Taktiken, und du bist aus akademischer Sicht ein gemachter Mann. Aber womöglich wendet sich das Blatt. Mehr und mehr Studenten interessieren sich für Ideen- und Wirtschaftsgeschichte. Und bei den englischen Klassikern lernen sie überdies ökonomisches Denken und Argumentieren.

Daher wünsche ich mir, dass junge Ökonomen in Bibliotheken gehen, die Schriften der Klassiker aus den Regalen nehmen und sich darin vertiefen. Wenn sie überdies noch Bücher in die Hand nehmen, nach denen sie gar nicht gesucht haben, so stoßen sie oft auf Erkenntnisse, die ihnen verborgen geblieben wären, wenn sie bloß auf ihren Computern Texte abgerufen hätten. Vielleicht regt die zweite Auflage der Englischen Klassiker Leser dazu an, wieder in Bibliotheken zu gehen und die Originalliteratur der englischen Klassiker zu studieren. Wenn sich diese Hoffnung erfüllte, dann hat es mein Text verdient, neu aufgelegt zu werden.

Tübingen/Straßburg, im Oktober 2015

Joachim Starbatty

1     Joseph A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. I, Göttingen 1965, S. 246.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Einleitung: Warum die Beschäftigung mit den englischen Klassikern lohnt!
  3. I. Die englischen Klassiker in ihrer Zeit
  4. 1. Wen wir zu den englischen Klassikern rechnen
  5. 2. Smiths frohe Botschaft: Ihr könnt es schaffen!
  6. 3. Malthus‘ und Ricardos düstere Welt: Ihr könnt es nicht ändern!
  7. 4. Mills Botschaft: Ihr könnt es ändern!
  8. II. Die Ordnungselemente des Systems der natürlichen Freiheit
  9. 1. Die Grundidee: Die Steuerung menschlichen Verhaltens durch das institutionelle Arrangement
  10. 2. Privateigentum – von der naturrechtlichen zur utilitaristischen Interpretation
  11. 3. ›Trial and error‹ als ordnungspolitisches Prinzip
  12. III. Die Aufgaben des staates und deren Finanzierung
  13. 1. Smiths Politikerbild
  14. 2. Die Felder staatlicher Tätigkeit
  15. 3. Die Finanzierung der Staatstätigkeit
  16. IV. Die klassische Wert- und Preislehre
  17. 1. Die neue Perspektive
  18. 2. Auf der Suche nach dem »wahren Maßstab« zur Ordnung des Güterkosmos
  19. 3. Malthus‘ und Mills abweichende Auffassung
  20. 4. Allokation und Arbitragegleichgewicht
  21. V. Die unterschiedlichen verteilungstheoretischen Perspektiven der englischen Klassiker
  22. 1. Smiths optimistische Perspektive
  23. 2. Malthus‘ Bevölkerungsgesetz, Änderung der Verteilungsquoten und Stagnation
  24. 3. Die Irritationen der Lohnfondstheorie
  25. VI. Utilitaristische ethik, gesellschaftliche Wohlfahrt und Außenhandel
  26. 1. Vorurteile
  27. 2. Utilitaristische Ethik und gesellschaftliche Wohlfahrt
  28. 3. Umverteilung und Kapitalbildung
  29. 4. Die Einstellung gegenüber den Fabrikgesetzen
  30. 5. Über Freihandel zur gesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerung
  31. VII. Zins, Wachstum und Konjunktur
  32. 1. Zins als Entgelt für Abstinenz
  33. 2. Das »Sparen-gleich-Investieren-Theorem«
  34. 3. Die Vorstellung einer gleichgewichtigen wirtschaftlichen Entwicklung
  35. 4. Wachstum – wozu?
  36. VIII. Von der Zettelbank zur Zentralbank
  37. 1. Geld als reales Phänomen
  38. 2. Die theoretischen Positionen
  39. 3. Der ›Bank Restriction Act‹ von 1797 und die »Bullion-Kontroverse«
  40. IX. Bemerkungen zum methodischen Vorgehen der englischen Klassiker
  41. 1. Wenig Neigung zur Methodologie
  42. 2. Smiths Modell der arbeitsteiligen Tauschgesellschaft
  43. 3. Ricardos klare Welt und sein »Laster«
  44. 4. Malthus‘ unsicherer Stand
  45. 5. Mill ist auf Malthus‘ Seite
  46. Heinz Rieter: Deutungsmuster Klassischer Nationalökonomie
  47. Literaturverzeichnis
  48. Personenregister
  49. Sachregister

Einleitung: Warum die Beschäftigung mit den englischen Klassikern lohnt!

 

 

In einer relativ knappen Studie den Ideenreichtum der Klassiker der Nationalökonomie und ihre Wirkung auf Politik und Wissenschaft einfangen zu wollen, ist ein vermessenes Unterfangen, zumal wenn der Verfasser kein Engländer oder Schotte ist. Alfred Marshall soll belustigt gesagt haben, die klassische Nationalökonomie »sei anscheinend kein guter Seefahrer, nach der Farbe zu urteilen, mit der sie auf dem Festland ankam«.1 Marshall meint, die Interpretation und die Umsetzung des Gedankengutes der Schotten und Engländer könnten in die Irre gehen, weil man nicht den Boden kenne, in dem es wurzele.

Wenn ich mich von dem Wagnis, die Lehre der englischen Klassiker für ein breites Publikum zu Papier zu bringen, nicht habe abbringen lassen, so waren hierfür folgende Gründe verantwortlich: Es hat Vergnügen bereitet, den Ideen der englischen Klassiker nachzuspüren. Man konnte bei ihnen richtig »in die Schule gehen«.2 Sie wollten von der Öffentlichkeit verstanden werden, um Einfluss auf die praktische Politik nehmen zu können; sie sahen die Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichem, sozialem und politischem Kosmos. Dies gilt auch für Ricardo. Knut Borchardt sagt über Ricardos »Grundsätze«: »Es ist ein sehr abstraktes theoretisches Buch, aber seine politischen Konsequenzen sind überwältigend, wie man dann auch aus den damaligen Parlamentspapieren sieht.«3 Weiter verschafft das Studium der englischen Klassiker Klarheit über den geistesgeschichtlichen Hintergrund der westlichen Zivilisation4 und über den eigenen geistigen und politischen Standort, nach Max Weber das höchste, was Wissenschaft zu leisten vermag.

In der dogmengeschichtlichen Studie über die englischen Klassiker habe ich mir folgende Ziele gesetzt:

•  Eine Darstellung dessen, was sie gedacht haben, anhand der Originalliteratur und der Interpretationen, die wir vor allem Joseph Schumpeter, Lionel Robbins, Mark Blaug, Erich Streissler und Thomas Sowell verdanken;

•  die Wirkungen ihrer Ideen auf die wirtschaftswissenschaftliche Entwicklung und die Kritik, die ihnen zuteil wurde, werden skizziert;

•  der wirtschafts- und sozialgeschichtliche Hintergrund soll ausgeleuchtet werden, um zu zeigen, welche zeitgenössischen Probleme oder Ereignisse sie zur Abfassung ihrer Abhandlungen oder Traktate veranlasst haben;5

•  ihr Einfluss auf die praktische Wirtschaftspolitik soll angedeutet werden.

Dieses Buch kann diesen Anliegen nur unvollkommen gerecht werden. Es hätte seinen Zweck erreicht, wenn der Leser es aus der Hand legte, um bei Smith, Malthus, Ricardo oder J. S. Mill selbst nachzulesen, was sie wirklich über das »eherne Lohngesetz« oder über die Bevölkerungsentwicklung dachten, ob sie die Politiker wirklich für verschlagene und listenreiche Geschöpfe hielten, ob Smith wirklich das Vorurteil der alten Griechen gegenüber den Kaufleuten teilte, im Gott Hermes den Schutzpatron sowohl der Diebe als auch der Kaufleute zu sehen. Alfred Amonn stellte seiner Einführung in Ricardos »Grundsätze« folgenden Satz von James Bonar als Motto voran: »Ricardos hundertjähriger Todestag wird am besten gefeiert durch das erneute Studium seiner Werke«.6 Dieses Motto müßte für die englischen Klassiker insgesamt gelten.

1     Diese Äußerung Marshalls wird von Singer (1954, S. 24) berichtet.

2     Über Adam Smith sagt Recktenwald: »Im Grunde sollte eigentlich niemand über wirtschaftliche und politische Grundzusammenhänge urteilen oder die ökonomische Wissenschaft studieren, in ihr forschen oder gar mit Sachverstand darüber lehren wollen, ohne den Wohlstand der Nationen zu kennen.« (H. C. Recktenwald, in: A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerks von H. C. Recktenwald, München 1974, S. LXXIX)

3     1978, S. 14.

4     Robbins: »Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß man unmöglich die Entwicklung und die Bedeutung der westlichen liberalen Zivilisation verstehen kann, ohne die klassische Politische Ökonomie verstanden zu haben« (1952, S. 4). Dies gilt auch oder gerade für denjenigen, der sich für einen Marxisten hält. Die Leistung von Marx wird nur derjenige richtig einschätzen können, der weiß, was jener von den Klassikern gelernt hat. Neumark (Einführung, in: Ricardo, Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, herausgegeben und mit einer Einführung versehen von F. Neumark, Frankfurt a. M. 1972, S. 11) schreibt: »So darf man vielleicht die Behauptung wagen, daß Marx primär wie in philosophisch-methodologischer Hinsicht durch Hegel, so in wirtschaftstheoretischer durch Ricardo (und in bezug auf ökonomisch-soziale Fakten durch die Verhältnisse in England) beeinflußt worden ist.« – Robinson schreibt: »Von Ricardo hatte Marx gelernt, wie man das entwirft, was wir heute ein Modell nennen - Annahmen zu machen und Schlüsse zu ziehen« (1965, S. 48).

5     Blaug (1971, S. 138) schreibt, dass die Lektüre von Smith, Ricardo oder Mill wesentlich interessanter sei, wenn dem Leser die Ziele der Kritik – zeitgenössische Institutionen wie die Armengesetze oder die Korngesetze – bekannt seien.

6     Amonn, 1924, S. 1 (Deckblatt).

I.   Die englischen Klassiker in ihrer Zeit

 

 

1.         Wen wir zu den englischen Klassikern rechnen

Als Vertreter der englischen Klassik sind Adam Smith, Thomas Robert Malthus, David Ricardo und John Stuart Mill ausgewählt worden. Für diese Auswahl sprechen zwei Gründe: Der begrenzte Raum zwingt zur Konzentration auf Leitfiguren; der Aufstieg der Nationalökonomie zur Wissenschaft begann mit Adam Smiths »Wealth of Nations« und fand seinen Abschluss in John Stuart Mills »Principles of Political Economy«. Vorläufer und Zeitgenossen wie David Hume und Nassau W. Senior sind einbezogen, wenn sie Grundlegendes zum Ideengut der Klassiker beitrugen.

Im Folgenden skizzieren wir Lebenslauf und Lebensumstände der Klassiker und das, was sie ihren Zeitgenossen sagen wollten. Sie sollen dadurch für den Leser Profil gewinnen und diesen so für ihre Botschaft aufschließen. Aus Raumgründen wird nur Smiths Leben und Werk ausführlicher gewürdigt.

Die Klassiker waren ein »buntes Völkchen«:

•  Adam Smith lehrte an den Universitäten Edinburgh und Glasgow, war Reisebegleiter des Herzogs von Buccleuch; die danach gewährte Rente ermöglichte Smith, die Fron des Hochschullehrers abzuwerfen und sich ganz der Fertigstellung des »Wohlstands« zu widmen; den Lebensabend verbrachte er als Nutznießer einer Sinekure;1

•  Thomas Robert Malthus war Pfarrer, schrieb einen provozierenden Essay zur Bevölkerungsentwicklung, kam so zur Nationalökonomie und wurde auf einen Lehrstuhl für Geschichte und Nationalökonomie berufen; damit war er der erste »professionelle« Nationalökonom, d. h. der erste, der von der Nationalökonomie lebte;

•  sein sieben Jahre jüngerer Freund und Widerpart, David Ricardo, Sohn jüdischer Einwanderer aus Holland, verdiente sich seine ersten Sporen und sein Vermögen an der Börse, betrieb nationalökonomische Studien, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte; im britischen Unterhaus war er ein allseits anerkannter Sachverständiger;

•  John Stuart Mill, Sohn des mit Ricardo befreundeten James Mill und Opfer dessen pädagogischer Experimentierwut, war leitender Mitarbeiter in der Verwaltung der East India Company; er steuerte neben seiner nationalökonomischen Forschung auf den Gebieten der Logik, Soziologie, Sozialphilosophie und der Staatslehre wegweisende Arbeiten bei; er liebäugelte mit sozialistischen Ideen; seinem Gastspiel im britischen Unterhaus war kein Glück beschieden.

Die Klassiker hatten auch eine unterschiedliche politische Heimat2: David Hume, der wichtigste Wegbereiter, war ein Tory (Konservativer); Adam Smith und Thomas Robert Malthus waren Whigs (Liberale); Ricardo und John Stuart Mill fühlten sich den »Philosophical Radicals« verbunden, einem literarischen Kreis um Jeremy Bentham.3 Die Klassiker verband jedoch ein gemeinsames Interesse an wirtschaftlicher Reform, das sich nicht so sehr in gemeinschaftlicher Unterstützung bestimmter Maßnahmen äußerte, sondern stärker in dem Glauben, dass die Anwendung gewisser Methoden der jüngst entdeckten Wissenschaft, der Politischen Ökonomie, berechtigtere Hoffnungen böte für das, was sie Besserung genannt haben würden.4 Sie teilten auch die Auffassung, dass es nicht Aufgabe der staatlichen Obrigkeit sei, für gesellschaftliche Harmonie zu sorgen. Sie vertraten jedoch keinen »Laissez-faire«-Standpunkt;5 sie hielten es für die Gesellschaft insgesamt für vorteilhaft, es dem Menschen innerhalb eines kunstvollen institutionellen Geflechts, das sich im Zeitverlauf für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder und für die Gesellschaft insgesamt als vorteilhaft herauskristallisiert habe, freizustellen, ihren eigenen Interessen nachzugehen. Innerhalb dieses Rahmens blieb der jeweiligen Regierung genug zu tun.

2.         Smiths frohe Botschaft: Ihr könnt es schaffen!

a)         Lebenslauf und Einflüsse

Joseph Schumpeter hat den Nationalökonomen Adam Smith nicht gemocht. Adam Smiths Hauptwerk, der »Wealth of Nations«6, enthielt nach seiner Meinung kein einziges neues analytisches Element.7 In der Tat fand Smith die Bausteine für sein System vor. Aber niemand, der den »Wohlstand« vorurteilsfrei auf sich wirken lässt, wird leugnen, dass hier eine neue Melodie erklingt. Jeder Komponist bedient sich allgemein bekannter Noten und Techniken und schafft doch noch nie Dagewesenes.8

Der »Wohlstand« lehrte die Menschen verstehen, warum die Dinge so waren, wie sie waren, und was man ändern könnte und müsste, um den Wohlstand der Nation zu heben und damit gerade den Ärmsten, den »labouring poor«, zu helfen. Der »Wohlstand« leitete ein umfangreiches reformerisches Gesetzgebungswerk ein und war für alle nachfolgenden Nationalökonomen eine unerschöpfliche Quelle wissenschaftlicher Inspiration und Auseinandersetzung.

Adam Smith führte ein geordnetes Leben.9 Geboren wurde er am 5. Juni 1723 in Kirkcaldy, einer kleinen schottischen Seehandelsstadt. Abgesehen von einem dramatischen Zwischenspiel – Zigeuner hatten den sechsjährigen Adam in einem Pferdekarren entführt, sein Onkel ritt im Galopp hinterher und befreite ihn – verlief seine Jugend ruhig. Bereits als Vierzehnjähriger bezog er die Universität Glasgow, wo er vor allem den Moralphilosophen Francis Hutcheson hörte, dessen Ethik und Naturrechtslehre ihn prägten. Im Jahre 1740 erhielt er ein gut dotiertes Stipendium der Universität Oxford. Dort hielt er sich jedoch mangels geeigneter Lehrer vornehmlich in der Bibliothek auf und vertiefte sich in alte Sprachen, Literatur und Philosophie. Dies verschaffte ihm die universelle Bildung, die es ihm ermöglichte, mit leichter Hand ökonomische Probleme seiner Zeit zum Beispiel mittels detaillierter Kenntnisse aus der Antike zu erhellen.

Nach Abschluss seines Studiums durch die Promotion zum Bachelor of Arts im Jahre 1746 verbrachte er zunächst zwei Jahre im heimatlichen Kirkcaldy, hielt dann an der Universität Edinburgh – aber außerhalb des normalen Vorlesungskanons – Vorlesungen über englische Literatur und Ästhetik (!), später auch über Politische Ökonomie. Er machte sich einen Namen und wurde im Januar 1750 zum Professor für Logik an der Universität Glasgow gewählt. Kurz darauf tauschte er diesen Lehrstuhl mit dem für Moralphilosophie und wurde damit Nachfolger seines Lehrers Hutcheson. Er las über Moralphilosophie (natürliche Theologie, Ethik, Naturrechtslehre sowie Politik), Logik (einschließlich Rhetorik) und Metaphysik (einschließlich Psychologie). Die Frucht dieser Vorlesungsreihe legte er der Öffentlichkeit im Jahre 1759 in der »Theory of Moral Sentiments« vor. Diese Veröffentlichung rückte ihn in die erste Reihe der zeitgenössischen Schriftsteller.

Smith befasste sich immer stärker mit Politischer Ökonomie, die er durch Fühlungnahme mit Praktikern in der Glasgow Economic Society anzureichern und zu vertiefen wusste. Womöglich haben ihm hier die Kaufleute nach Schluss des offiziellen Teils der Sitzungen der Gesellschaft über einem oder mehreren Gläsern Wein verraten, was sie mit den Preisen anstellten, wenn sie sich ungezwungen zum Frühstück trafen.10 In diese Zeit fällt auch seine Bekanntschaft mit David Hume, aus der sich ein reger brieflicher und mündlicher Gedankenaustausch und eine herzliche Freundschaft entwickelten, die bis zum Tode Humes (1776) anhielt.

Eine Wendung in Smiths Leben ist sein Entschluss, der Universität den Rücken zu kehren und ein Angebot des Herzogs von Buccleuch anzunehmen, ihn bei seiner Reise auf den alten Kontinent zu begleiten. Zweierlei reizte Smith wohl an diesem Angebot: die Chance, die eigene Weltsicht in der Konfrontation mit dem Geist auf dem Kontinent zu erproben, und die großzügige Dotierung in Form einer nach Ende der Reisebegleitung ausgesetzten Lebensrente in Höhe von 300 £ jährlich, was einer Verdoppelung seines Professorengehaltes gleichkam.

Auf diesen Reisen lernte Smith die führenden Geister der französischen Aufklärung kennen. In den Begegnungen und Gesprächen ist Smith wahrscheinlich mehr Nehmender als Gebender gewesen – so jedenfalls die von Rae mitgeteilte Anekdote: Du Pont de Nemours, neben Mirabeau eifrigster Propagandist physiokratischer Ideen, habe J. B. Say mitgeteilt, dass man Smith häufig in physiokratischen Zirkeln angetroffen und für einen verständigen und liebenswürdigen Mann gehalten habe, aber nicht für jemanden, der mit den Ideen des »Wealth« schwanger ging.11

Umstritten ist der Einfluss geblieben, den die physiokratische Lehre auf Smith genommen hat. Smith selbst hat diese Frage souverän und selbstbewusst in der Abgrenzung der eigenen Lehre vom Merkantilismus und der physiokratischen Lehre beantwortet: »Wenn die Rute zu sehr nach der einen Seite gebogen ist, sagt ein Sprichwort, so muss man sie, um sie gerade zu machen, ebenso stark nach der anderen Seite biegen«.12 Ein treffliches Bild, um konkurrierende Systeme der Einseitigkeit zu zeihen und das eigene als das überlegene und natürliche auszuloben.

Unbestritten ist wohl, dass Smith die Öffentlichkeit mit dem Herzstück seiner Lehre lange vor Veröffentlichung des »Wohlstands« bekannt gemacht hat. Zwischen einem Vorlesungsmanuskript und endgültiger Veröffentlichung klaffen jedoch Abgründe, zumal wenn der Autor hofft, ein epochemachendes Werk zu schreiben, und wenn es sich bei dem Autor um einen so bedächtigen und gewissenhaften Mann wie Smith handelt.13 Die Reise nach Frankreich und seine Gespräche mit den größten Geistern seiner Zeit waren für Smith der Probierstein für seine zentralen Ideen. Sein Aufenthalt in Frankreich wird ihn in der Überzeugung gestärkt haben, dass er auf dem richtigen Wege sei14 – eine Erkenntnis, die für die meisten Autoren außerordentlich beflügelnd wird. Den Nachhall der physiokratischen Einflüsse finden wir unter anderem in Smiths Annahme, dass die produktive Kraft von Arbeit und Kapital in der Landwirtschaft am stärksten sei.15

Nach Britannien zurückgekehrt, setzte ihn die gewährte Leibrente in den Stand, sich ganz der Abfassung des »Wohlstands« zu widmen. Knapp sechs Jahre arbeitete er daran, siedelte zur endgültigen Fertigstellung nach London über, wo die Beobachtung des praktischen Wirtschaftslebens und der Umgang mit Sozialphilosophen, Historikern und vor allem mit Politikern der Verbesserung, Umarbeitung und Ergänzung seines Manuskripts sehr zugute kamen.16 Wenn er von jenen »listigen … Geschöpfen« und den »Parteifunktionären« (»men of the system«) sprach, wusste er also, wen er vor sich hatte.

Der »Wohlstand« erschien im Jahre 1776. Insgesamt zwölf Jahre hatte Smith an die Erarbeitung dieses Werkes gesetzt. Der Autor wollte alles verstreute Wissen der Politischen Ökonomie zusammenbringen und nach gründlicher Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Lehren die politisch Verantwortlichen in den Stand setzen, auf dieser Grundlage gesetzgeberisch tätig zu werden.

Den Rest seines Lebens verbrachte Smith mit Erweiterungen und Verbesserungen seines »Wohlstands« und seiner »Theory of Moral Sentiments«, und er sammelte Material für eine allgemeine Rechts- und Staatslehre und eine allgemeine Literaturgeschichte (!). Er fühlte aber wohl, dass er mit dem »Wohlstand« bereits sein Bestes gegeben hatte und dass er den Erwartungen, die man jetzt an ihn stellen würde, nicht gerecht werden könnte. Seine zunehmende Freude an Geselligkeit und seine eifrige Pflichterfüllung als Mitglied der obersten Zollbehörde in Schottland und in der Aufsicht über die Salzsteuer, die ihm das schöne Einkommen von 600 £ einbrachten, waren wahrscheinlich Arbeiten und Annehmlichkeiten, denen er sich unterzog, um sich nicht an die Ausarbeitung der literarischen Aufgaben machen zu müssen.17 Für diese Deutung spricht auch, dass Smith seine Aufzeichnungen verbrennen ließ; das war wohl nicht falsche Bescheidenheit; sein sicheres Urteil im »Wohlstand« beweist, dass Smith seinen eigenen Wert kannte.

Als Amtsinhaber (seit 1778) hätte sich Smith wohl zwiespältig fühlen müssen, hatte er doch in seinem »Wohlstand« alles darangesetzt, die Überbleibsel des Merkantilsystems – und hierum handelte es sich zweifellos bei den obengenannten Ämtern – zu tilgen. Allerdings lässt sich diese »Sinekure«18 auch als Dank der Regierung an Smith für den Dienst ansehen, den er mit seinem »Wohlstand« der Gesellschaft geleistet habe19 – gewissermaßen als gesamtwirtschaftliches Entgelt für die externen Vorteile, die Smith im Autorenhonorar nicht vergütet wurden.

Smith starb am 17. Juli 1790. Er wurde auf dem Canongate-Kirchhof in Edinburgh beigesetzt. »Das Grab ist mit einem schlichten Denkmal geschmückt, auf dem zu lesen steht, dass hier Adam Smith, der Autor des »Wealth of Nations«, begraben liegt«.20

b)         Werk und Wirkung

Gleich in den ersten Sätzen des »Wohlstands« schlägt Smith einen optimistischen Grundton an: Die Versorgung eines Volkes mit allen Lebensbedarfs- und Genussgütern, die es braucht, hängt neben der Bevölkerungsentwicklung von der Geschicklichkeit, Fertigkeit und Einsicht ab, mit der es seine Arbeit im Allgemeinen verrichtet.21 Also nicht exogene Faktoren, wie Goldzufuhr oder Bodenqualität, entscheiden über den Wohlstand der Nationen, sondern Geschicklichkeit der Hände und geistige Findigkeit, die die Arbeitsvorgänge zur Herstellung eines Produktes so gliedert, dass sich mehrere die Arbeit teilen und damit ihre Arbeitsproduktivität verdoppeln, verhundertfachen, vertausendfachen. Die produktive Wirkung der Arbeitsteilung demonstriert Smith an dem berühmt gewordenen Stecknadelbeispiel.22 Lernt und seid fleißig, euer Schicksal liegt in eurer Hand, scheint er seinen Lesern zuzurufen. An späterer Stelle schreibt er, auch die Fruchtbarkeit des Bodens hänge entscheidend davon ab, ob und wie man ihn kultiviere, auf jeden Fall zeige sich, dass diejenigen Länder auf Dauer reicher seien, die auf die Geschicklichkeit der Arbeit setzten, auch wenn andere Völker von der Natur mehr begünstigt seien.23

Smiths Ratschlag für die Regierungen lautete: Lasst die Leute arbeiten und sparen, beseitigt die Investitionshemmnisse, und es wird sich für die gesamte Gesellschaft zum Guten wenden. Diese Botschaft wurde gehört und verstanden. Der »Wohlstand« war zudem in einer Sprache geschrieben, die, wie Schumpeter ein wenig herablassend und vergröbernd meint, niemals die Grenzen des Fassungsvermögens selbst der dümmsten Leser überschritt.24

Den Einfluss, den Smiths Botschaft auf die praktische Gesetzgebungsarbeit ausübte, schildert eine von John Rae mitgeteilte Anekdote: »Niemand in London hatte größeres Interesse, Smith zu sehen als der junge Minister (gemeint ist William Pitt der Jüngere, der schon in jungen Jahren Premierminister war, J. St.), zumal er die Lehren des Nationalökonomen ausgiebig in der praktischen Gesetzgebung anwandte. Beide begegneten sich wiederholt. Einmal trafen sie in Dundas Haus in Wimbledon Green zusammen, worüber Einzelheiten bekannt sind. Addington, Wilberforce Witt und Grenville waren ebenfalls anwesend, und man erzählt, dass sich die ganze Gesellschaft von ihren Plätzen erhoben habe und stehengeblieben sei, als Smith als einer der letzten Gäste eintrat. ›Bleiben Sie doch bitte sitzen, meine Herren‹, sagte Smith. ›Nein‹, antwortete Pitt, ›wir möchten stehen bleiben, bis Sie Platz genommen haben, denn wir alle sind Ihre Schüler‹.«25

Das von Smith inspirierte Gesetzgebungswerk hat Wachstumskräfte der Volkswirtschaft freigesetzt und die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben, doch war er keineswegs – wie Robinson und Eatwell annehmen – »der Prophet der industriellen Revolution«.26 Er hat die industrielle Umwälzung vorbereitet, aber er hat sie nicht visionär vorweggenommen.27 Wir können sogar aus seiner Warnung vor geistiger und moralischer Abstumpfung der Arbeit bei sich ausbreitender Arbeitsteilung28 folgern, dass er die Gestalt, die die industrielle Umwälzung gefunden hat, nicht gutgeheißen hätte.

3.         Malthus‘ und Ricardos düstere Welt: Ihr könnt es nicht ändern!

a)         Der Wandel der Welt

Smiths Optimismus war nicht bloß Resultat seines Systems, sondern auch die Summe der Erfahrungen, die er ins Allgemeine hob. Theorien über Industrie und Handel werfen oft auch ein Licht auf das aktuelle Geschehen der jeweiligen Epoche.29 Die englische Wirtschaft erlebte zu Smiths Zeit einen bedeutenden Aufschwung. Da zugleich die Produktivität der Landwirtschaft zunahm, konnte die Bevölkerung wachsen, ohne dass die Nahrungsmittelpreise in einem Ausmaß stiegen, welches eine explosive politische und soziale Lage hervorgerufen hätte.30 Für den breiten Aufschwung waren vor allem organisatorische Neuerungen verantwortlich: wachsende Spezialisierung des Handels und der Finanzgeschäfte, die das Risiko der Produktion für Überseemärkte kalkulierbar machten, die Fortentwicklung des Kreditgeschäfts, der Wandel vom sich weitgehend selbst versorgenden Familienbetrieb zu marktorientierten Unternehmensformen, die Ausweitung des Außenhandels.31

Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Umwälzung der Produktionstechnik (Spinnerei, Weberei), die Verwendung neuer Antriebsarten (Dampfmaschine) und neuer Primärenergie (Kohle) machten die Arbeit in großen Fabrikationsstätten in den Städten ertragreicher als die bisher vorherrschende Heimarbeit. War bislang der selbständige Handwerker mit ein oder zwei zusätzlichen Arbeitskräften, dem eigenen Stück Land hinter dem Haus und dem Recht auf Nutzung der Gemeindewiese typisch für die Arbeitswelt gewesen, so wurden es nun ausgangs des 18. Jahrhunderts die Massenproduktion und der lohnabhängige, städtische Arbeiter. Die Fabrikherren hatten zunächst noch Schwierigkeiten, Arbeitskräfte zu gewinnen, weil diese nicht in eine Abhängigkeitsposition geraten wollten.32 Als der Fabrikarbeit der Durchbruch erst einmal gelungen war, verdrängte sie immer rascher die traditionelle Handarbeit. Friedrich Engels beschreibt sehr anschaulich in seinem Erfahrungsbericht über »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« wie die Handwerker aus ihren angestammten Berufen vertrieben wurden, wie auf der einen Seite Industrie und Handel aufblühten und auf der anderen Seite sich das Proletariat rasch vermehrte, alle Sicherheit des Erwerbs für die Arbeiter zerstört wurde, wie diese demoralisiert wurden.33 Das Lohnniveau in den Städten sank geradezu dramatisch: Die Reallöhne für Handwerker waren in London im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gegenüber der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beinahe halbiert worden.34

Durch Zusammenschluss konnten die Arbeitskräfte ihre Verhandlungsposition nicht stärken, einmal, weil sie sich wegen des Koalitionsverbotes für Arbeitnehmer nicht gewerkschaftlich organisieren durften,35 und zum anderen, weil sie sich wegen unterschiedlicher Interessenlage und aus Furcht vor Repressalien gar nicht hätten organisieren lassen wollen. In diese Welt hinein sind Malthus und Ricardo geboren worden. Sie haben das Elend sich ausbreiten gesehen. Es hat ihre Weltsicht geprägt.

b)         Malthus‘ apokalyptischer Reiter: Überbevölkerung

Thomas Robert Malthus, geboren am 13. Februar 1766, wuchs auf in einer Welt familiärer Geborgenheit und geistiger Offenheit.36 Der Vater, Daniel Malthus, war mit David Hume befreundet und ein Bewunderer von Jean-Jacques Rousseau. Als Robert drei Wochen alt gewesen sei, so berichtet John Maynard Keynes, »erschienen zwei Paten aus dem Märchenland in ›The Rookery‹ (das ländliche Anwesen, das Daniel Malthus kurz zuvor erworben hatte, J. St.), Jean-Jacques Rousseau und David Hume, und man darf annehmen, daß sie mancherlei Geistesgaben mit einem Kuß auf das Kind übertrugen«.37

Mit 18 Jahren trat Robert als zahlender Student ins Jesus College in Cambridge ein. Aus einem Brief erfahren wir, dass er eine hervorragende und breitgefächerte Ausbildung genossen hat: von Mathematik, Physik, über allgemeine Logik bis hin zu den klassischen Fächern (Griechisch, Latein). Sein Studium schloss er erfolgreich ab,38 wurde 1793 als »fellow« des College zugelassen. Im Jahre 1788 war er zum Priester geweiht worden, obwohl er Bedenken hatte, eine Pfarrstelle zu übernehmen; er stand wegen seines Gaumenfehlers mit einer Reihe von Konsonanten auf Kriegsfuß.

Sein Studentenleben war einigermaßen bewegt. Keynes schreibt: »Während Malthus im späteren Leben vielleicht eine übertriebene Milde und Sanftheit des Temperaments und des Gehabens zeigte, war er in Cambridge ein fröhlicher Geselle«.39 Auch die Porträts des älteren Malthus zeigen einen ausgeglichenen, in sich ruhenden Menschen. Alles andere als temperamentlos war aber seine erste Publikation (1798), sein Essay über das Bevölkerungsgesetz. Zum Widerspruch gereizt fühlte sich der junge Malthus durch eine euphorische Schrift von William G. Godwin über die Zukunft des Menschen. Der Tenor dieser Schrift lautete: Mögen auch jetzt Not, Elend und Verworfenheit herrschen, der Mensch könne seine geistigen Fähigkeiten zum Aufbau einer Welt nutzen, wo es an Gütern keinen Mangel gebe und die Menschen gleich seien. »Krieg und Verbrechen, die sogenannte Rechtspflege und die Regierung werden unbekannt sein … Darüber hinaus wird man einst weder Krankheit noch Kummer, Schwermut und Groll kennen. Jeder wird mit unermüdlichem Eifer für das Wohl arbeiten«.40

Malthus hielt solche Prophezeiungen für unverantwortlich. Sie gaukelten den Menschen vor, dass es bloß einer anderen Einkommensverteilung und der Abschaffung des Privateigentums bedürfe, um alle Probleme zu lösen. Wenn die Menschen nun im Vertrauen darauf Kinder zeugten, so gäbe es ein böses Erwachen; denn die Menschen würden sich schneller vermehren, als neuer Boden urbar gemacht werden könnte. Er drückte seine Bedenken in einem kurzen Essay aus. Sein Angriff gegen die Fortschrittsgläubigkeit, gepaart mit bildhafter und zupackender Sprache, rückten den Essay sofort in den Mittelpunkt des politischen Interesses.

Malthus‘ Essay hatte politische Auswirkungen. Der britische Premierminister, der jüngere Pitt, zeigte sich beeindruckt. Er ließ das neue Armengesetz fallen;41 denn soziale Hilfeleistungen und die Gewährung billiger Wohnungen, wogegen Malthus leidenschaftlich stritt, ließen die Zahl der Eheschließungen und der Kinder ansteigen, mit der Konsequenz desto größeren Elends in der Zukunft. Keynes bemerkt lakonisch zu der Malthusschen Argumentationskette: »Nationalökonomie ist eine sehr gefährliche Wissenschaft«.42

Für Malthus war sie das jedoch keineswegs. Er blieb bei seinen nationalökonomischen Studien und erhielt im Jahre 1805 die Professur für neuere Geschichte und Nationalökonomie. Damit war Malthus »in das gleichmäßige Dasein eines Gelehrten und Lehrers eingetreten. Dreißig Jahre, bis zu seinem Tod im Jahre 1834, blieb er in Haileybury und wohnte in dem Haus unter dem Glockenturm«.43

Ab 1811 war er mit Ricardo bekannt und trat in eine ausgedehnte wissenschaftliche Korrespondenz mit ihm ein. Daraus erwuchs eine innige Freundschaft, obwohl ihre wissenschaftliche Auffassung in wesentlichen Punkten kontrovers blieb und obwohl sie in ihren Veröffentlichungen unverblümt sagten, was sie von den Ansichten des anderen hielten.

Eine Anekdote über das Verhältnis der beiden zueinander, die zugleich etwas über ihren Weitblick und ihr Nervenkostüm aussagt, sei noch mitgeteilt.44 Während seiner Zeit als Mitglied der Börse hat Ricardo für seinen Freund Malthus hin und wieder kleinere Posten öffentlicher Anleihen gezeichnet, die dieser dann nach Plazierung beim breiten Publikum mit einem bescheidenen Gewinn verkaufen konnte. Ricardo hielt auch am Vorabend der Entscheidungsschlacht der Europäischen Alliierten gegen Napoleon im Jahre 1815 für Malthus einen Posten Staatsanleihen; Malthus bat Ricardo, diese für ihn zu verkaufen. Ricardo tat dies, hielt aber seinerseits kaltblütig die größte Hausseposition, die seine Mittel ihm erlaubten, und machte nach Wellingtons Sieg das größte Geschäft seines Lebens. Malthus jedoch haderte mit dem Schicksal und den Franzosen (»dass die Franzosen nicht so gut vorbereitet waren, wie sie es hätten sein sollen«).

c)         Ricardo: Analytiker und Politiker

Eine gute Fee muss unter Ricardos Paten gewesen sein; denn alles, was er begann, glückte ihm. Geboren am 19. April 1772 als Sohn gläubiger jüdischer Einwanderer, wurde er von seinem Vater, einem erfolgreichen Börsenmakler, bereits als Vierzehnjähriger in das Börsengeschäft eingeführt.45 Seine Heirat mit einer Christin – kaum volljährig geworden – führte zu einem Zerwürfnis mit seinen Eltern. Ricardo musste nun auf eigenen Füßen stehen, genoß aber so starke Wertschätzung unter den Mitgliedern der Börse, dass sie ihm das Startkapital in Höhe von 800 £ vorschossen. Innerhalb kürzester Zeit stieg er zum Börsen-Star auf: »Es gelang ihm … sein Vermögen wie seinen Ruf in einem bisher an der Börse unbekannten Ausmaß zu mehren«.46

Erst verhältnismäßig spät entdeckte er seine Leidenschaft für die Nationalökonomie. Schon seine erste Abhandlung, mit der er im Jahre 1809 in den Streit um die Folgen der Aufhebung der Goldeinlösepflicht durch die Bank von England eingriff,47 zog die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich und beeinflusste maßgeblich den Gang der wissenschaftlichen Diskussion. Ricardo zog sich, um sich nun gänzlich der Nationalökonomie widmen zu können, aus dem Börsengeschäft zurück.

Ricardo ist durch die Lektüre von Smiths »Wohlstand« zur Nationalökonomie gestoßen. Natürlich bezeugte er Smith seinen Respekt, galt Smith inzwischen doch als der unbestrittene Lehrmeister. An vielen Stellen war Smith Ricardo einerseits nicht präzise genug, wie die Lektüre der »Grundsätze« zeigt,48 und andererseits konnte er Smiths Optimismus nicht teilen: Es lag nicht in der Hand der Menschen, wie sie ihr Schicksal meisterten, sondern in der Hand der Natur, ob sie Hunger leiden müssten oder nicht.

Malthus‘ apokalyptischer Reiter erscheint: Da die Fruchtbarkeit der Menschen größer ist als die des Bodens, müssen sich die Menschen um ihre Ernährung Sorgen machen. Ricardo hat Malthus‘ Axiom in sein System eingebracht: Bei der Aufteilung des Sozialprodukts oder – wenn wir in Malthus‘ Bild bleiben – an der »Festtafel der Natur« werden diejenigen zuerst bedient, die im Besitze des knappen Faktors »Boden« sind. Stand für Smith die Ursache der Wohlstandsmehrung im Vordergrund, so war es für Ricardo die Verteilung des Wenigen, was die Erde hergibt: »Die Gesetze aufzufinden, welche diese Verteilung bestimmen, ist das Hauptproblem der Volkswirtschaftslehre.«49

In der Tat haben Ricardos »Grundsätze« ihren Ursprung in einer Untersuchung (1815) über den Einfluss der Getreidepreise auf die Kapitalprofite. Sraffa berichtet,50 dass James Mill Ricardo zunächst zu einer erweiterten Fassung dieses Essays überreden wollte; Ricardo sträubte sich, weil er glaubte, dass das über seine Kräfte ginge; Mill habe jedoch keine Ruhe gegeben, mit Erfolg: Nach nur zwei Jahren – 1817 – veröffentlichte Ricardo sein Hauptwerk: »Principles of Political Economy and Taxation« (»Grundsätze«).

In diesem Buch bringt Ricardo zum Ausdruck, dass die Gesetze, denen sich Produzenten und Konsumenten zu beugen haben, stärker sind als politisches Wollen. Mit anderen Worten: Wenn Regierungen und Menschen durch Umverteilung und Mildtätigkeit offensichtlich nur Unheil anrichten können, dann scheint zunächst nichts anderes übrigzubleiben, als die Armen ihrem Schicksal zu überlassen. Das ist Malthus‘ und Ricardos düstere Welt.51 Kein Wunder, dass sich beide die zweifelhafte Auszeichnung teilten, für die Politische Ökonomie den Titel der »dismal science«, der »trostlosen Wissenschaft«, erworben zu haben.52

Nun – gänzlich hoffnungslos sah Ricardo die nächste Zukunft jedoch nicht: Der freie Import von Nahrungsmitteln könnte eine Einkommensumverteilung zugunsten der Lohnempfänger und der Unternehmer bewirken, so dass zumindest der Lebensstandard der derzeit lebenden Bevölkerung gehoben wird. Die Losung »Freihandel« wurde Ricardos »ceterum censeo …«.

Nachdem er die Welt mit seinem System bekannt gemacht hatte, drängte es ihn zu praktischer Erprobung. Entsprechend der damals häufig geübten Praxis kaufte (!) er sich im Jahre 1819 einen Parlamentssitz.535455