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Bernd Mannhardt

KEIMZEIT

Ein Moabit-Krimi

 

 

 

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Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Die Orte der Handlung existieren zwar, dienen jedoch lediglich als Kulisse.

Kurz, alles ist erstunken und erlogen. Und die echten Stadteilsanierer handeln selbstlos wie Mutter Teresa.

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

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ebook im be.bra verlag, 2016

 

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2016

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin

ISBN 978-3-8393-6151-1 (epub)

ISBN 978-3-89809-524-2 (print)

 

www.bebraverlag.de

 

 

Lebenskunst besteht zu 90 Prozent aus der Fähigkeit,

mit Menschen auszukommen,

die man nicht leiden kann.

Samuel Goldwyn

Inhalt

Muckibude

Bereitschaft

Café Achteck

Lagebesprechung

Tyson

Charleys Tante

Kühli

Link

Keimzeit

Verwüstung

Musbach

Roman

Milchgesicht

Putzjob

Aorta

Abendtee

Morgen!

Lüge

Amnesie

Dehnung

Partnerlook

Bemühung

Anmerkungen

Über Autor

Muckibude

Am Abend des 21. Dezember kleidete eine dicke Schneedecke die Hauptstadt in ein Gewand von Friedfertigkeit. Weiße Pracht wurde vom Licht hipper Laternen beschienen, deren oberes Ende mit einem Metallsegel als Reflektor ausgestattet war. Der Weg, den sie säumten, schlängelte sich hin zum weit zurückgesetzten Eingang des Neubaukomplexes in der Hannoverschen Straße.

Gemütlichkeit pur, fand Kriminalhauptkommissar Hajo Freisal. Schneedecke … unberührt … ein Bild von Unschuld, sinnierte der KHK. Da hat sich Frau Holle aber auch so was von ins Zeug gelegt. Irgendwie auch kitschig – dennoch oder erst recht: Mir gefällt’s.

Aber Unschuld? Eine unglückliche Metapher. Freisal wusste, dass Berlin nicht als Hort der Seligen galt. Bedürfte es eines Beweises, genügte wohl ein Blick gen Kriminalgericht an der Turmstraße, das Tag für Tag die Polizeiticker der Hauptstadtpostillen fütterte.

»Guck mal an«, murmelte der Kommissar vor sich hin, »das haben die Wetterfrösche so gar nicht vorausgesagt.« Er blickte durch eines der bis zum Boden reichenden Fenster des im Parterre liegenden Sportstudios, in dem er trainierte, und sah hinüber zum Bolzplatz der Europa-Grundschule, in der sich tagsüber 350 Kinder und 50 Pädagogen aus 20 Ländern begegneten. In den Pausen, dachte Freisal, wird auf dem Schulhof der Teufel los sein. Jetzt aber lag das von dem verklinkerten Schulgebäude begrenzte Gelände still.

Es war halb neun und draußen hatte sich längst die Nacht über den Tag gelegt. Der mit Neonlicht erhellte Trainingsraum spiegelte sich im Glas der, wie Freisal zu sagen pflegte, »Muckibude«. Um auf die Straße hinaussehen zu können, hatte er seine vom Gewichtestemmen erhitzte Stirn an die kühle Scheibe gelegt; sein brav gescheitelter Kurzhaarschnitt war sichtlich außer Form geraten.

Hajo Freisal – vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er noch ein Kampfgewicht von 96 Kilo auf die Waage gebracht (bei nur 165 Zentimetern Mindestkörpergröße für den Polizeidienst) – und Krafttraining? Aber ja: Der KHK hatte nicht nur seine Ernährung umgestellt. Er wollte auch seinen über die Jahre sichtlich aus dem Leim gegangenen Körper straffen. Jetzt wog er schon sechs Kilo weniger.

Also bitte!

Freisal besuchte das Sportstudio in der Hannoverschen Straße, eines von insgesamt neun Studios des, wie er sagte, »Eidgenossen« in Berlin: Werner K., ein Schweizer Fitness-Unternehmer, dessen Franchising-Gesellschaft seinen Namen trug. Über die Jahre hatte sich K. offenbar auf dem hart umkämpften Fitnessmarkt in Berlin behaupten können. Jedenfalls war er von Köpenick über Mitte bis nach Reinickendorf mit Dependancen präsent.

Freisal hatte sich vorgenommen, alle Standorte des »Eidgenossen« abzuklappern. Das gab die Mitgliedskarte her. Er war neugierig, welches das räumlich großzügigste war. Wenngleich, in der Regel trainierte er am Ernst-Reuter-Platz. Das Studio dort lag dem Präsidium in der Keithstraße am nächsten.

»Tolle Ergänzung zum Abspecken«, hatte der Kommissar seiner jungen Assistentin, Yasmine Gutzeit, berichtet. »Mein Gewicht habe ich schon auf neunzig Kilo runtergeschraubt.« Dabei war er von seinem Gutzeits unmittelbar gegenüberstehenden Schreibtisch aufgestanden, hatte zwei, drei Schritte in den Raum gemacht und sich demonstrativ in Pose gebracht. »Und? Sieht man schon was?«

»Hm.« Gutzeit hatte ihren Bürostuhl um neunzig Grad hin zu ihrem Chef umgedreht.

»Macht einen schlankeren Hals, oder?«

Yasmine Gutzeit war sich in diesem Moment gewiss, dass Spaß und Ernst bei ihrem Vorgesetzten mal wieder verdammt eng beieinander lagen. Sie blickte den KHK nachdenklich an. Ihr Blick wanderte von oben nach unten. »Herr Freisal«, sagte sie, »bitte lockern Sie sich – und schauen Sie mal zu mir herüber.«

Freisal schaute zu seiner Kollegin.

»Ah, das Gesicht!«, rief Yasmine Gutzeit. »Tatsächlich, da sind Sie einen Tick schmaler geworden.«

Der Kommissar legte beide Hände übereinander und auf seinen imposanten Bauch. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »So, so … Gesicht … immerhin. Hatte schon befürchtet, Sie würden Nasenspitze sagen.«

Gutzeit reckte den rechten Daumen. »Wird schon«, sagte sie.

An diesem Abend trainierte Freisal also nicht am Ernst-Reuter-Platz, sondern in K.s Dependance in Mitte.

Er war positiv überrascht, dass sich die Trainierenden hier so gut auf die »Kraftstationen« verteilten: kein nerviges Warten auf das Freiwerden einer Maschine, entspannt von Trainingseinheit zu Trainingseinheit hoppen, ohne dass einem der Platz vor der Nase weggeschnappt wurde, was einem das Training schon ziemlich vermiesen konnte.

Schnee satt, konstatierte Freisal im Geiste und blickte weiter aus dem Fenster. Können wir tatsächlich hoffen, weiße Weihnachten zu bekommen? Das war für Berlin ganz und gar nicht selbstverständlich. Erst kürzlich hatte es im Radio geheißen: »Der meteorologischen Definition nach müsste vom 24. bis 26. Dezember mindesten ein Zentimeter Schnee liegen, um von weißer Weihnacht sprechen zu können.« Dies geschehe, statistisch betrachtet, »leider nur alle sieben Jahre in der Hauptstadt«. Es habe sogar schon einmal eine »Schneelücke von sechzehn Jahren« gegeben: zwischen 1940 und 1956.

Schnee von gestern, dachte Freisal und wandte sich wieder dem Training zu.

 

Just in dem Moment, als der Kommissar zur nächsten Kraftstation schritt, machte sich jemand unter dem Nickname Bürgers Zorn ganz eigene Gedanken zur aktuellen Wetterlage. Er oder sie postete im Kiez-Blog MoabitNETZ auf der Internet-Plattform des Moabiter Quartiersmanagements unter der Überschrift: »Schnee tut gut!« Hätte das ein neuer Portal-Besucher gelesen, der Bürgers Zorn, einen Stammgast im Blog, nicht kannte, glaubte er womöglich, dass sich jemand über die frisch gefallene Pracht freute. Das wäre weit gefehlt gewesen. Der Post entpuppte sich wenige Zeilen weiter als blanker Zynismus.

»Habe eben erfahren, dass das Büro des Quartiersmanagements Moabit-Ost verschönert wurde.« Verschönert? Das klang nach Renovierung des QM-Ladens in der Wilsnacker Straße. Und schon folgte Zynismus die Zweite, indem Bürgers Zorn verkündete, dass »Scheiben eingeschlagen« und »Wände mit Slogans« beschmiert worden seien. Nun würde »den Handlangern von Mafioso Rohe bei klirrender Kälte endlich der Arsch abfrieren«. Alles in allem war der Post getragen von einer abgrundtief feindseligen Haltung dem QM gegenüber.

Handlanger von Mafiosi Rohe? War hier Peter Rohe, Inhaber der gleichnamigen Bauträgergesellschaft mbH gemeint? Wieder einige Zeilen weiter stellte sich heraus, dass tatsächlich vom stadtbekannten »Spezialist für Modernisierung und Sanierung von Altbauten aller Art«, wie es auf Rohes Webseite hieß, die Rede war. Rohe galt als alter Hase im Berliner Baugeschäft; sein Wirken reichte weit zurück in die Achtziger, hinein in jene Zeit, in der in Westberlin eine bemerkenswerte Subventionspolitik betrieben worden war.

Bürgers Zorn wurde ein paar Zeilen weiter auch für Neu-User überdeutlich und damit verständlich: »Rohe ist Ende sechzig – dennoch: der bekommt den Hals nicht voll genug, will sich Moabit unter den Nagel reißen mit Luxussanierungen. Wird höchste Zeit für Kenntlichmachung von Wölfen in Schafspelzen, also auch den Handlangern der gesellschaftlichen Teilung in Arm und Reich. Mit dem Demolieren des QM Ladens sei ganze Arbeit geleistet worden. Unter dem Link frohaktion.indymedia.org ist die Aktion dokumentiert. P.S.: Mit besten Grüßen auch an die Bullen – und viel Spaß bei der Gründung einer neuen SoKo.«

 

Hajo Freisal setzte sich an die Kraftstation E2, um den kleinen Delta-Muskel im Schulterbereich mit seitlichem Armeheben zu trainieren. Diese Übung wollte er schnell hinter sich bringen. Aus Erfahrung wusste er, dass diese Muskelpartie nicht so belastbar war und schnell erlahmte.

Immer wieder schön, wenn der bittersüße Schmerz nachlässt, dachte der Kommissar, bevor er mit der Übung begann.

Bereitschaft

Derweil Freisal im XXL-T-Shirt und in Jogginghose an der E2 saß und gegen den Widerstand von Gewichten ankämpfte, klingelte bei Yasmine Gutzeit das Diensthandy.

»Och nee!«, stöhnte sie. Ganze dreißig Minuten hatte sie es sich in ihrer Charlottenburger Wohnung in der Mierendorffstraße auf der Couch mit einem Thriller gemütlich gemacht. Genau genommen mochte sie gar keine Thriller. Der sogenannte Mainstream war ihr schlichtweg zu blutrünstig. Das begann schon bei der Gestaltung der Cover, wie ihr erst neulich in der Buchhandlung aufgefallen war. Es tropfte nur so von Blut. Gottlob, auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel, hatte Gutzeit gedacht, als sie zu jenem Buch griff, in dem eine Geschichte vor dem Hintergrund illegaler Waffenexporte erzählt wurde.

Das Handy klingelte unerbittlich.

Gutzeit hatte die Rufnummer des Präsidiums auf dem Display erkannt und nahm das Gespräch an.

»’N Abend! Was gibt’s?«

»Leichenfund«, hieß es kurz und knapp. »Sie werden am Fundort erwartet: Moabit, Stephanplatz.«

»Gibt’s schon nähere Infos?«

»Ein Mann.«

»Unnatürlicher Tod?«, fragte Gutzeit.

»Würde ich Sie sonst anrufen?«, erwiderte der Kollege von der Einsatzzentrale mürrisch.

»Gegenfragen sind uncool, sagt mein Chef immer. Ich denke, da hat er recht.«

»Unnatürlicher geht’s nicht«, kam es zurück.

»Schuss- oder Stichverletzung?«, fragte sie.

»Das Opfer hat ein Messer im Bauch.«

Gutzeit stand von der Couch auf und trat ans Wohnzimmerfenster. Das Smartphone hielt sie in der Linken, mit der Rechten schob sie die Gardine ein Stück beiseite. »Wie lange schneit es schon?«

»Gut zwanzig Minuten.«

Gutzeit zog die Gardinen wieder zu.

»Wer hat uns alarmiert?«

»Ein anonymer Anrufer. Es ließ sich zurückverfolgen, dass aus einer Kneipe namens Dart-Pinte, nahe des Fundortes, Alarm geschlagen wurde, der Anrufer konnte aber nicht ermittelt werden. Der Wirt erinnert sich nicht, wer telefoniert hat, er habe es nicht mitbekommen, weil immer irgendwer am Telefon hänge. Darauf achte er schon lange nicht mehr.«

Gutzeit runzelte die Stirn. »Sind die Kollegen von der SpuSi …?«

»Kollegin, wie gesagt, man wartet auf Sie.«

»Bin schon unterwegs.« Gutzeit legte auf und blickte auf die Zeitanzeige des Displays: 20.45 Uhr. Sie überlegte, ob sie KHK Freisal alarmieren sollte, und entschied sich dagegen, weil sie wusste, dass ihr Chef in den letzten sportlichen Zügen lag. Sie beschloss, erst einmal selbst die Lage zu peilen. Sie wollte Freisal nicht ohne Not beim Training stören und wusste, dass die Hannoversche nahe am Fundort lag. Keine Gefahr im Verzuge. Alles im grünen Bereich.

In Lederkluft trat Yasmine Gutzeit vor die Tür des Charlottenburger Mietshauses. Ihren Helm trug sie unterm Arm. Es schien so, als realisierte sie erst jetzt das ganze Ausmaß des unverhofften Schneefalls … das Weiß auf dem Trottoir … der Straße … auf Sitz und Tank ihres Cross-Bikes, einer Suzuki.

Ach schön, es schneit!, dachte sie spontan. Dazu blies ein kräftiger Wind. Für sie kein Grund, die Maschine stehen zu lassen – sie war Vollblut-Bikerin, für Schönwetter-Fahrer hatte sie nur ein müdes Lächeln übrig.

Gutzeit wedelte mit ihrem Lederhandschuh den Schnee vom Sitz; dann setzte sie sich auf den Bock und den Helm auf den Kopf. Einen Wimpernschlag später erklang das typische Geknatter einer Geländemaschine.

 

Während sich seine Assistentin auf den Weg nach Moabit machte, umfasste Freisal mit beiden Hände die senkrechten Griffe der E2; er drückte die Ellenbogen an die Polster, die dicht an den Armbeugen anlagen, und seitlich nach oben. Der Widerstand, den es zu überwinden galt, wurde vom Gewicht erzeugt, das hinter ihm an einer Art Flaschenzug hing. Der KHK vollführte die Übung exakt so, wie ihm vor Wochen vom Trainer angeraten: ganz langsam, ohne Hast und beide Arme synchron bewegend, ohne jedoch die Schultern anzuheben. Als die Oberarme so gut wie horizontal auf Schulterhöhe lagen, hielt er inne; es galt, dem Gewicht zu trotzen, zwei Sekunden lang in dieser Position zu verharren. Im Geiste zählte der Kommissar einundzwanzig … zweiundzwanzig – dann bewegte er seine Arme wieder abwärts in die Ausgangsposition, ohne das Gewicht abzusetzen. Das wiederholte er so oft, bis ihm mangels Kraft keine vollständige Aufwärtsbewegung mehr möglich war.

 

Gutzeit steuerte über die Verbindungsbrücke zwischen Goslarer Ufer auf der einen, Neues Ufer auf der anderen Seite; sie fuhr mit Bedacht, denn sie wusste, dass die Rutschgefahr bei Neuschnee nicht zu unterschätzen war.

Sie fuhr über Alt-Moabit in die Stromstraße, die in die Putlitzstraße mündete, um wenig später, unmittelbar vor der Putlitzbrücke, rechts in die Stephanstraße einzubiegen. Alles in allem ein Katzensprung. Der Fundort befand sich fast am anderen Ende der Stephanstraße, genauer gesagt an der Ecke Havelberger Straße.

»Na, schöne Frau, wo wollen wir denn hin?« Ein Uniformierter erhob seine Kelle und stellte sich ihr in den Weg. »Halt, Polizei.«

Gutzeit bremste und hielt unmittelbar vor dem Beamten, dessen Schulterklappen verrieten, dass es sich um einen Polizeimeister handelte. Der Beamte grinste süffisant und sagte, witterungsbedingten Nebel vor dem Mund: »Haben wir uns verfahren, so spät am Abend?«

Gutzeits schob das Visier hoch, sie wartete ab, ob der Kollege noch mehr Sprüche abzusondern gedachte.

Schneefall und Wind hatten zugenommen.

»Mutig, mutig – bei dem Wetter mit Krad«, schob der Uniformierte nach. Nach Gutzeits Empfinden hätte er auch »putzig, putzig« sagen können. »Für Sie geht’s hier nicht weiter. Die Kreuzung ist gesperrt wegen polizeilicher Ermittlungsarbeit.«

Gutzeit blickte dem Kollegen ins Gesicht – und korrigierte ihn: »Sie meinen Sicherungsarbeit.«

Sie blickte über die rechte Schulter des Beamten hinweg und sah, dass ab der Laterne Stephanplatz Ecke Stephanstraße bis hinüber zum Metallzaun des unweit der achteckigen Bedürfnisanstalt liegenden Kinderspielplatzes rot-weißes Plastikband flatterte. Das Terrain war von der SpuSi weitläufig abgesteckt: Den Fundort leuchteten vier auf zwei bis drei Meter hohen Stativen stehende Halogenscheinwerfer gleißend hell aus.

»Soweit ich sehe, sind keine Ermittler da, schöner Mann.«

Dem Schutzpolizisten fiel die Kinnlade herunter; er guckte ziemlich dumm aus der Wäsche.

Wie nebenbei zog Gutzeit einen Handschuh aus, nestelte ihren Dienstausweis hervor, hielt ihn dem Kollegen entgegen, der immer noch verblüfft dreinblickte. Ohne ihn anzusehen, sagte sie: »An Ihrer Stelle würde ich den Mund wieder zumachen, sonst erkälten Sie sich noch. Mal am Rande: Sprechen Sie eigentlich alle Motorradfahrerinnen so an?«

»Aber Kollegin, das war doch nicht böse gemeint.«

»Mag sein, aber damit das klar ist, Herr Polizeimeister: Wo Sie heute Abend noch hin wollen, interessiert mich nicht die Bohne – und wo ich jetzt hin will, liegt hoffentlich auf der Hand.«

»Selbstverständlich.«

Der Polizist gab den Weg frei. Gutzeit ließ den Motor der Susi im Leerlauf kurz aufheulen, sodass ihr Gegenüber vor Schreck einen Schritt zur Seite machte, strauchelte, sich aber wieder fing. Sie zwinkerte ihm zu und sagte: »Mutig, mutig … so herumzuhüpfen bei dem Wetter …«

Sie rollte nur wenige Meter weiter, stieg von der Maschine, bockte die Susi auf, nahm den Helm ab, schüttelte ihre langen, kastanienbraunen Haare und stülpte den Helm lässig über den Lenkradspiegel.

Um die, wie Freisal sagen würde, »Spielwiese der SpuSi« zu betreten, musste sich Yasmine Gutzeit ein Stück weit vornüber unter dem Absperrband durchbücken, das von einer Handvoll Uniformierter gesichert wurde. Ein Dutzend Schaulustige, vermutlich Anwohner, standen in unmittelbarer Nähe.

Der Mediziner und die SpuSi hatten ihren Job offenbar schon gemacht. Die »Spielwiese« schien verwaist, einmal abgesehen von den Schutzpolizisten vor dem Absperrband und der mit einer weißen Folie abgedeckten Leiche, die unmittelbar an der Wand des Pinkelhäuschens lag. Eine vielleicht zehn Zentimeter hohe zeltartige Erhebung unterhalb der Abdeckung verriet dem geschulten Blick der Kriminalen, dass das Tatwerkzeug noch im Körper des Toten steckte.

Die mit Zellophan ummantelten Papiere, die der Mann bei sich geführt hatte, wurden Gutzeit von einem anderen Uniformierten überreicht. Auf ihre Frage, wo die SpuSi und »der Medizinmann« seien, bekam sie zur Auskunft, dass sich einer der Spurensicherer »im Pissoir vergnüge«. Vom »Ober-SpuSi«, dem Gruppenführer, solle man die Ermittler schön grüßen. Er und einige seiner Leute hätten schnellstens zu einem Raubüberfall im Wedding fahren müssen. Personalmangel. Aber vorm Pissoir sei alles gecheckt. Die Berichte kämen per Mail, wie immer. Wichtig sei, und das ließ der Mediziner ausrichten, der zwar eben noch dagewesen sei, jedoch ebenfalls in den Wedding gerufen wurde, dass die Kripo »bitte nicht am Messer herumfummeln« solle. Es könnte der Stichkanal verfälscht werden. Auch Stichstrukturen, hatte der Mediziner den Uniformierten belehrt, könnten zu ermittlungsrelevanten Erkenntnissen führen.

»Mist«, sagte Gutzeit. »Der Mediziner ist auch schon weg.«

»Wie gesagt, gerade eben … als Sie ankamen.« Der Uniformierte zuckte mit den Schultern.

»Normalerweise«, stellte Gutzeit fest, »gibt’s am Fundort eine gemeinsame erste Beschau des Opfers. Wenn vorhanden, natürlich auch der Tatwaffe.«

»Was ist denn heutzutage schon normal?«, brummte eine sonore Männerstimme in Gutzeits Rücken.

Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie drehte sich um. Tatsächlich, hinter ihr stand Professor Schnidt, Mitte sechzig, mit einem von tiefen Furchen versehenen Gesicht. »Schnidts Visage ist aber auch so was von wind- und wettergegerbt«, hatte Freisal in der Polizeikantine einmal angemerkt, »als wäre er Kapitän der Hochseefischerei vor Helgoland und nicht Chefpathologe der Gerichtsmedizin.«

Schnidt lächelte. Altersmilde oder – weise. »Unterbesetzung allerorten«, bemerkte er. »So sieht’s eben aus, wenn man spart, bis es quietscht.« Gutzeit nickte verständig und gab Schnidt die Hand. »Ich saß schon im Wagen. Wusste ja nicht, wann Sie eintrudeln. Wollte eben starten – Sie haben Glück, Frau Gutzeit. Dann woll’n wir mal«, sagte Schnidt und machte ein paar Schritte in Richtung Leiche. »Bin etwas in Eile«, setzte er hinzu.

Der Professor ging neben der Leiche in die Hocke und warf die Abdeckplane zur Seite. Mit einer Kopfbewegung dirigierte er Gutzeit zu sich herunter. Sie hockte sich neben Schnidt, der sich unterdessen Gummihandschuhe überstreifte.

Schnidt fasste mit der Rechten an den offenen Parka des Toten und schlug den Jackensaum auf. Unter dem Parka trug der Mann einen dicken, braun-weiß gemusterten Norwegerpullover, der bis zum Kragen mit Blut vollgesogen war. Wie ein Schwamm, dachte Gutzeit. Das Messer steckte auf Bauchhöhe. Sie schätzte, dass der Tote einen Meter siebzig groß war.

»Er wiegt vielleicht 75 Kilo«, sagte Schnidt. »Durch diesen Körper sind einmal sechs bis sieben Liter Blut pulsiert. Eindeutig zu viel Flüssigkeit für einen auch noch so dicken Norweger.«

Gutzeit blickte auf den Boden neben dem Toten. »Keine Blutspuren«, konstatierte sie. »Wie ist das möglich? Kann Schnee Blut über einen längeren Zeitraum überdecken?«

»Kommt aufs Mengenverhältnis an«, sagte Schnidt. »Denken wir nur mal an Skiunglücke in den Alpen: erst Absturz, dann Lawine … keine Spur!«

Die Kommissarin runzelte die Stirn. Alpen, sicherlich, dachte sie. Was hatte das mit Berlin zu tun? Natürlich nichts. Sie erinnerte sich, dass der Professor bei der Kripo berühmt-berüchtigt war für seine launigen Vergleiche. Gutzeit schabte unmittelbar neben dem Leichnam im Neuschnee. Kein Blut.

»Mysteriös«, sagte sie. »Der Mann ist doch verblutet. Vielleicht nicht hier? Vielleicht ist er von dem oder den Tätern nur hier abgelegt worden?«

»Ich muss mir die Leiche näher angucken«, erklärte Schnidt. »Vorher kann ich dazu nichts sagen. Aber ich will Sie schon mal auf eines hinweisen.« Er zeigte auf das Tatwerkzeug. »Das Messer steckt bis zum Griff im Körper.«

»Sie denken, da muss jemand mit Wucht zugestoßen haben? Lässt das auf einen kräftigen Täter schließen?«

»Kann sein, ja.« Schnidt zog behutsam die schätzungsweise fünfzehn Zentimeter lange Klinge aus dem Pullover. »Der menschliche Körper ist nicht aus Watte. Um ein Messer bis zum Anschlag … also, da muss einiger Widerstand überwunden werden.«

Mit der Linken nestelte Schnidt routiniert eine Plastiktüte hervor und legte die blutverschmierte Tatwaffe hinein. »Noch wissen wir nicht, ob mit dem Messer ein- oder mehrmals zugestoßen worden ist.« Er überreichte Gutzeit den Beutel. »Wie gesagt, Näheres morgen. Augenscheinlich ist jedoch, dass es sich beim Tatwerkzeug …«

»… um ein Küchenmesser handelt.«

»Ist schon mal eine Erkenntnis«, konstatierte Schnidt und stemmte sich in die Vertikale. »Sie bekommen Bescheid, Frau Gutzeit.« Er legte ihr zur Verabschiedung die Hand auf die Schulter. »Muss jetzt los«, sagte er (und verschwand).

Gutzeit war in der Hocke geblieben. Sie legte die Beutel mit den Asservaten neben sich auf den Boden, zog Gummihandschuhe aus ihrer Jackentasche und über die Hände.

Der Tote lag auf dem Rücken, dicht an der hinteren Wand des Pissoirs. Yasmine Gutzeit ließ ihren Blick für einen kurzen Moment über das unmittelbare Umfeld des Fundortes schweifen. Wären die Polizeischeinwerfer nicht gewesen, sie hätte kaum Details erkennen können. Die relativ weit auseinander stehenden Gaslaternen, vierflammige Aufsatzleuchten aus den Zwanzigern mit pudelmützenartigen Hauben, mochten romantisches Licht spenden, erhellten den ohnehin schwer einsehbaren Fundort aber kaum. Möglicherweise hätte man den Mann vor Tagesanbruch nicht gefunden, wäre da nicht der anonyme Anrufer gewesen.

Sie musterte den Kopf des Toten. Ihr fiel eine Platzwunde an der rechten Stirnseite auf. Sie berührte sie mit dem rechten Zeigefinger und schaute auf das Latex am Finger. Kein Blutabdruck. Offenbar unlängst getrocknet, dachte sie, das Blut war in einem feinen Rinnsal an der Schläfe hinuntergelaufen. War der Mann nicht nur erstochen, sondern zuvor geschlagen worden?

Sie deckte die Leiche wieder zu, nahm den Beutel mit dem Messer in die eine, das Plastiksäckchen mit dem Ausweis in die andere Hand und trat einen Schritt hinein ins ebenfalls über Standscheinwerfer hell erleuchtete Pinkelhäuschen. Der SpuSi-Mann kniete in weißem Overall mit dem Rücken zu ihr vor der im vieleckigen Rund verlaufenden Pinkelrinne.

»’N Abend!«, warf Gutzeit in den Raum. »Gutzeit, LKA.«

»Keinen Schritt weiter!«, blaffte der Kniende, ohne sich umzudrehen. »Bin noch nicht durch. Kann noch nichts sagen. Folgt alles schriftlich.«

Der Mann auf allen vieren klang genervt. Gutzeit führte das auf den Einsatzort zurück, aber vielleicht auch darauf, dass man ihn allein zurückgelassen hatte.

Das unter Denkmalschutz stehende Pinkelhäuschen war offenbar noch in Funktion, es roch entsprechend streng. Nach Urin und Spülstein oder umgekehrt.

Appetitlich ist anders, dachte Gutzeit. Dennoch, auch bei der Ermittlungsarbeit machte der Ton die Musik.

»Kollege, ich hab mir den Fundort nicht ausgesucht«, stellte sie freundlich, aber bestimmt fest. »Und dass in Berlin das Personal der Behörden auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen muss, ist auch nicht meine Schuld.«

»Soll heißen?«

»Ich hatte guten Abend gesagt …«

Der Kollege nickte stumm, murmelte »ebenso« in sich hinein, hob, weiterhin mit dem Rücken zu Gutzeit, die Hand zum Gruß, um dann weiter schweigend das Urinal nach Auffälligkeiten abzusuchen.

Yasmine Gutzeit trat ins Freie. Nicht wirklich eine Plaudertasche, der Kollege, dachte sie und atmete die kalte Luft tief ein. Der Geruch des Pissoirs saß in der Nase. Sie atmete kräftig aus. Vor ihrem Mund schwebte eine Wolke Atem.

Sie ging um das Pinkelhäuschen herum. Dort warteten die Fahrer der Gerichtsmedizin schon darauf, den Leichnam bergen und abtransportieren zu können.

»Dauert noch einen Moment«, sagte Gutzeit.

»Was schätzen Sie?«, hakte einer der Fahrer nach. »Ungefähr?«

»Och nee, Leute! Was ist denn heute los? Beinahe den Mediziner verfehlt, der Kollege da drin schlecht drauf, und Sie haben es eilig?!«

»Wollte nur gefragt haben.«

»Sind Sie auf der Flucht, oder was?« Jetzt klang auch Gutzeit gereizt. Sie bemerkte es selber, erinnerte sich an Ton und Musik und schaltete einen Gang zurück. »Lassen Sie mich erst mal mit der Arbeit beginnen, ja? Ich sag Bescheid, wenn’s so weit ist, okay?«

Die Männer schlurften achselzuckend durch den Schnee zurück zu ihrem Kastenwagen und setzen sich in den Fond.

Merkwürdig, dieser Fall, dachte Gutzeit und spürte Unbehagen in sich aufsteigen. Es wäre wohl besser, sinnierte sie, ihren Chef hinzuzuziehen. Sie fühlte sich zwar nicht unbedingt auf verlorenem, aber doch auf einsamem Posten.

 

An diesem Dezemberabend – der Minutenzeiger des an eine Bahnhofsuhr erinnernden und unter der Hallendecke hängenden Chronometers stand auf 20.55 Uhr – war Hajo Freisal das Krafttraining schwerer als sonst gefallen.

»E2 ist besonders fies«, hatte er vor einiger Zeit in der Polizeikantine berichtet, als er mit Yasmine Gutzeit und Kriminalrat Claus mal wieder gemeinsam Pause machte. »Kommt so unscheinbar daher … klingt von der Bezeichnung her so niedlich wie R2-D2 aus StarWars … Zwei Sekunden die Arme oben halten scheint ja auch erstmal überschaubar.«

»Stimmt«, merkte Claus trocken an. »Wo ist das Problem?« Er stocherte versonnen im Rucola.

»Die Summe macht’s«, erläuterte Freisal. »Die Übung muss neun Mal wiederholt werden.«

»Ja und?« Claus schob sich ein Salatblatt in den Mund. Kauend nuschelte er: »Für einen Mann wie ein Baum …«

»Das klingt in Anbetracht der Größe unseres Kollegen …«, mischte sich Gutzeit ein, wurde jedoch von Claus unterbrochen. »Meinen Sie wirklich Größe oder doch eher Länge?«

Ach ja, dachte Freisal, Claus nahm es mal wieder sprachlich sehr genau. Ein Klugscheißer, der Herr Kriminalrat. Aber dafür loyal seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber. Er stellte sich, wenn’s Probleme gab, grundsätzlich vor seine Leute. Das schien Freisal bemerkenswert insofern, als er in den letzten Jahren immer mehr so genannte »Führungskräfte« im Beamtenapparat kennengelernt hatte, die eher dem Radfahrerprinzip huldigten: nach oben buckeln, nach unten treten.

»Von mir aus: Länge«, hatte Gutzeit sich korrigiert. »Aber das mit dem Baum, Herr Claus, klingt in meinen Ohren etwas despektierlich.«

»Genau«, bestätigte Freisal, der sich längst abgewöhnt hatte, immer und überall über jedes Stöckchen zu springen, das ihm sein Vorgesetzter hinhielt. Er drehte den Spieß einfach um und sagte: »Kann immerhin geschlossene Schranken zu Fuß passieren – ohne mich bücken zu müssen.«

Während sich der Kriminalrat ein weiteres Salatblatt in den Mund schob, berichtete der KHK seiner Kollegin, dass sich ihr Chef »vor sechs oder sieben Jahren hübsch selbst ins Knie geschossen hatte – sinnbildlich.«

Claus grinste. »Stellen Sie sich vor: Hauptkommissar Freisal rannte einem Delinquenten nach, den er zuvor mit dem Wagen verfolgt hatte, der aber plötzlich stoppte, um zu Fuß stiften zu gehen.« Claus zwinkerte Freisal zu. »Darf ich die Geschichte erzählen, Kollege?«

»Würden Sie sich von mir abhalten lassen?«, fragte Freisal.

»Erwischt«, intervenierte Gutzeit. »Herr Freisal, Sie sagen doch immer, dass Gegenfragen uncool sind.«

Freisal schwieg und schnitt sich ein Stück von der Rinderroulade ab, die vor ihm auf dem Teller lag.

Claus berichtete weiter, dass der Flüchtende über den mannshohen Zaun eines Privatgrundstücks gesprungen sei, und Freisal – »vielleicht vier oder fünf Meter hinter ihm« – habe es ihm gleichtun wollen. Während der Verfolgte, ein junger und sportlicher Kerl, einer Gazelle gleich das Hindernis genommen habe, »prallte Ihr Chef am Zaun ab wie eine Hummel am geschlossenen Küchenfenster«.

»Empathisch formuliert«, nuschelte Freisal.

»Kommt noch besser: Der Kollege hatte die Erdanziehungskraft unterschätzt.«

»Sie müssen wissen«, erläuterte Freisal, »ich brachte damals schon 85 Kilo auf die Waage.«

Gutzeit legte ihre Gabel neben den Teller. »Ich ahne, was nun kommt: Sie haben nicht aufgegeben, stimmt’s?«

»Natürlich nicht.« Freisal nickte nachdenklich. Er schob sich einen Bissen Fleisch in den Mund und sagte kauend zu Claus: »Hätte Sie die Güte, die Geschichte zum Ende zu bringen. Sie sehen doch, die Kollegin ist ganz wild drauf.«

Claus nickte lächelnd. »Stellen Sie sich vor, Frau Gutzeit: Mit Hängen und Würgen hatte unser Kollege den Zaun erklommen … um auf der anderen Seite wie ein nasser Sack herunterzufallen.«

»Oh je!« Gutzeit fasste Freisal tröstend an den Unterarm.

Der KHK zog den Arm weg. »Keine Heuchelei, bitte – danke!« Er hatte sehr wohl registriert, dass sich Gutzeit von Claus bestens unterhalten fühlte. »Hatte nicht bedacht, dass der Maschendrahtzaun unter meinem Gewicht nachgeben musste.«

Claus wandte sich wieder dem Salatteller zu.

»Wollen Sie nicht weitererzählen?«, fragte Freisal. »Das Beste kommt doch noch.« Claus schmunzelte. Und schwieg.

Ein Genießer, dachte Freisal. »Gut, dann mach ich den Sack zu«, sagte er und wandte sich an Gutzeit. »In Sachen Arztrechnungen hat dann die Versicherung rumgezickt. Sie wollte tatsächlich wissen, von wem ich den Einsatzbefehl erhalten oder ob ich auf eigene Faust gehandelt hätte.«

»Warum das denn?«

»Weil ich mich, ich zitiere, ›außerhalb der individuellen körperlichen Möglichkeit in Gefahr gebracht‹ hätte.«

»Das sei fahrlässiges Handeln gewesen«, schaltete sich nun doch Claus wieder ein. »Man müsse prüfen, ob die Schadenregulierung tatsächlich allein von der Berufsunfallversicherung getragen werden könne oder ob der Beamte selbst mit in Regress genommen werden müsse. Am Schluss hat die Versicherung die Rechnungen aber doch übernommen.«

Gutzeit hielt sich die flache Hand vor den Mund: »Wie krass ist das denn?!« Ihre Anteilnahme schien echt zu sein. »Da gibt der Kollege alles, und dann ist er der Dumme? Vermute ich richtig, Herr Freisal, seitdem …«

»… können mich Zäune kreuzweise, richtig. Wenn jemand stiften geht, sollen das mal die lieben Kollegen klären, die … wie hieß das noch mal?«

»… die ›körperliche Möglichkeit‹ haben«, warf Claus ein.

»Genau.« Freisal machte gute Miene zu bösem Spiel. »In Sachen Show-Einlagen bin ich draußen.«

Vielleicht war der KHK einfach nicht in Form. Indiz dafür war, dass er beim Trainieren besonders empfindsam auf äußere Einflüsse reagierte, das heißt: sich ablenken ließ. Der Sportkamerad vis-à-vis hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er trainierte seinen vorderen Schultermuskel und den großen Brustmuskel, indem er die Griffe der Maschine, an der er saß, nach oben drückte. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Sind wir Kerle wirklich so wehleidig?, fragte sich der KHK. Er erinnerte sich, durchaus auch schon Frauen an diesem Gerät gesehen zu haben. Keine von ihnen hatte auch nur ansatzweise so gepeinigt ausgesehen. Wenn Frauen bei K. Gewichte stemmten, machten sie das ohne viel Aufsehen: kein Grimassieren, Grunzen, Getue. Freisal linste unauffällig zu den Gewichten hinüber, die sich der Mann dort aufgelegt hatte. Ach Gottchen, dachte er, bloß zwanzig Kilo. Da macht der so ’n Gewese?

Als der andere nach der dritten Wiederholung der Übung auch noch zu schnaufen begann wie ein Preisringer, der sich aus einem bösen Klammergriff zu befreien sucht, kapitulierte der Kommissar. Alberner Fatzke, dachte er – und brach das Training ab. Er stand auf, nahm sein Handtuch und schlurfte in die mit blanken Metallschränken eingerichtete Umkleide und hinüber zu den Duschkabinen. Puristisch einerseits, spackig andererseits, dachte Freisal beim Anblick des Sanitärbereichs und erinnerte sich, dass er beim ersten Gebrauch solch einer Kabine positiv überrascht gewesen war, dass auch Leute seines Formats in der Nasszelle Platz fanden.

Jetzt heiß duschen – entspannend, wohltuend, eine Belohnung für die Mühsal zuvor.

 

Yasmine Gutzeit winkte den Uniformierten erneut heran.

»Gibt es Zeugen?«

»Nein. Alles nur Gaffer«, sagte der Kollege und nickte in Richtung der Leute, die hinter dem Absperrband standen. »Wohnen zwar alle hier, haben aber nichts mitbekommen. Wegen des Schneefalls war keiner auf der Straße.«

»Spuren?« Gutzeit schaute auf die zertrampelte Schneedecke um sich herum.

Der Beamte zuckte mit den Schultern. »Gab’s nicht wirklich, so weit ich die SpuSi verstanden habe.«

»Sah das vor der Fundortsicherung auch so aus?«

»Nein. Als wir eintrafen, war die Schneedecke unberührt wie auf einer Weihnachtskarte aus dem Bayerischen Wald.«

Wie aufs Stichwort setzte sich eine Flocke auf die Nasenspitze des Beamten. Er wischte sie weg, zog dann mit beiden Händen seine Wollmütze tief ins Gesicht. »Wie gesagt, die Kollegen …« Er trat frierend auf der Stelle.

»E-Mail, alles klar.«

»Können die Fahrer den Mann jetzt bergen?«

»Nein«, sagte Gutzeit. »Es muss erst der Leitende Kommissar her.«

»Obwohl es keine Spuren im Schnee gibt?«

»Falsch«, widersprach Gutzeit dem Uniformierten. »Obwohl es keine Spuren im Schnee zu geben scheint, muss es heißen.«

»Wie Sie meinen.«

Café Achteck

Hajo Freisal schlug den Kragen seiner dicken Daunenjacke hoch, schob sich die Schiebermütze tief ins Gesicht, schulterte seinen Sportrucksack und trat auf den schmalen Stichweg, der zum Sportstudio führte, ging dann weiter gen Bürgersteig. Er stellte fest: Es hatte aufgehört zu schneien.

Das Öffnen der Beifahrertür seines MX-5 war nicht möglich. Die untere Türkante des tiefliegenden Roadsters stieß gegen eine fünfzehn oder zwanzig Zentimeter hohe Schneekante auf dem Trottoir. Ein kurzer entschlossener Ruck am Türgriff … und schon ließ sich die Tür zumindest so weit öffnen, dass Freisal den Rucksack auf dem Beifahrersitz abstellen konnte.

Er warf die Tür schwungvoll zu; der Schnee rutschte von der Scheibe. Der Kommissar ging um sein Auto herum zur Fahrerseite. Plötzlich rutschte er aus, landete unsanft auf dem Pflaster. »Mann, Mann, Mann«, schimpfte er vor sich hin. Wieder in der Vertikalen, klopfte er Hosenbeine und Jacke ab. »Mist«, fluchte er. »Hab die falschen Schuhe an.« Lederschuhe mit glatter Sohle! Aber dafür italienischer Bauart. Freisal nahm erneut, nun betont bedächtig, Kurs auf die Fahrertür und blieb dabei mit der linken Hand vorbeugend auf Tuchfühlung mit der Motorhaube.

Als er die Fahrertür erreicht und aufgeschlossen hatte, klingelte sein Handy. Jetzt bloß keine unbedachte Bewegung! Er blieb stehen, kramte das Handy aus seiner Jackeninnentasche und ging dran.

»Gutzeit hier. Bei dem Wetter schickt man doch keinen Hund vor die Tür, was?«

Ah, ein Warm-up, fiel Freisal auf. Ganz meine Masche, erkannte er. Folglich würde das dicke Ende gleich kommen. »Also, ich mag Schnee«, erwiderte er. »Sitzt sich prima drauf.«

»Ausgerutscht? Verletzt?«

»Alles gut.« Er fasste sich reflexhaft ans Gesäß. »Sie rufen an wegen …«

»… Leichenfund.«

»Und wo? Komme gerade vom Training.«

»Moabit, Stephanplatz.«

»Verstanden.« Freisal öffnete die Fahrertür und ließ sich in den Sitz fallen. »Bis gleich – schätzungsweise in zehn Minuten.« Er legte auf, zog die Tür zu, dass es nur so schepperte. Auch auf dieser Wagenseite blieb dem Schnee nichts anderes übrig, als von der Scheibe zu Boden zu rutschten.

Er startete, setzte die Scheibenwischer in Bewegung. Der lockere Pulverschnee wurde von den kleinen Wischblättern tapfer zur Seite geschoben. Beim Versuch auszuparken, nahm Freisal zur Kenntnis, dass er vom Hintermann »auf Briefmarkenbreite« zugeparkt worden war. »Mann, Mann, Mann«, fluchte er und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Paragraf eins, erst kommt meins. Na dann, auf gute Nachbarschaft« – und touchierte die Schürze des hinter ihm parkenden SUV. »Wird ja sonst nie was.« Das leichte Knacken, das er vernahm, interpretierte er als witterungsbedingtes Knirschen von Reifen auf Schnee.

Wenig später fuhr der KHK über die Chausseestraße nach Moabit und lenkte den Wagen in die Stephanstraße. Den Fassaden nach zu urteilen, schien die bauliche Substanz an dem einen und anderen Gebäude angegriffen. Aber es gab auch Häuser, die frisch saniert aussahen: heller Putz mit fein herausgearbeitetem Stuck und Putten über den Eingängen, Video-Klingelanlagen aus poliertem Metall … Dies und mehr ließ Freisal vermuten, dass hier viel Geld investiert worden war. Ihm fiel auf, dass vor einem Haus Gerüststreben gestapelt lagen; ihm fiel auch auf, dass nur die linke Seite des Hauses bis zum dritten von insgesamt vier Stockwerken abgerüstet war. War man mit dem Abrüsten auf der rechten Seite nicht fertig geworden? Wie dem auch war, das Gebäude machte auf ihn, soweit er es im Schein der Gaslaternen erkennen konnte, einen frisch sanierten Eindruck: Die Hauswand linker Hand sah im frischen Taubengrau und mit den in Weiß abgesetzten Fenstern und Stuckverzierungen edel, zumindest sehr gepflegt aus. Das Haus schien schon wieder bewohnt zu sein. Jedenfalls brannte in einer Wohnung im ersten Stock Licht. Sein Blick fiel auf das Transparent am Baugerüst mit der Aufschrift »Rohe-Bau« und dem Hinweis »Ihre eigenen vier Wände direkt vom Bauträger« nebst Angabe einer Rufnummer. Der KHK schlussfolgerte, dass hier Eigentumswohnungen entstanden waren. Nichts Besonderes, der Ortsteil Moabit war, wie man so sagte, schwer im Kommen und würde vielleicht sogar irgendwann mit dem Wedding den Prenzlauer Berg und Friedrichshain als »In«-Quartiere ablösen. Ein paar Künstler, hatte er in der Morgenpost gelesen, sollten sich schon in Moabit niedergelassen haben.

Hajo Freisal passierte den Polizisten, der Gutzeit hatte aufhalten wollen. Offenbar war er von seiner Kollegin informiert worden, dass noch ein Kommissar im Sportwagen käme. Der Roadster wurde durchgewunken und rollte knirschend über den frischen Schnee.

Freisal stellte seinen Wagen unmittelbar hinter Gutzeits Krad ab, öffnete die Wagentür und schraubte sich aus dem tiefliegenden Vehikel. Er tauchte unterm Absperrband durch und trat zu Yasmine Gutzeit, die ihn mit Handschlag begrüßte.

Der Tote – er lag unmittelbar vor ihnen an der grünen Metallwand des Pissoirs – sei aufgrund seiner Papiere identifiziert worden, berichtete sie: Es handele sich um einen Mann namens Stephan Klein, 21 Jahre alt. Anhand der Papiere, die bei ihm gefunden worden waren, sei klar, dass er ursprünglich aus dem Schwarzwald stamme, genauer gesagt aus dem schwäbischen Musbach.

»Ein Tourist?«, stutzte Freisal.

»Noch nicht klar«, sagte Gutzeit. Ob der Mann in Berlin gemeldet war, hier gewohnt hatte, müsse übers Einwohnermelderegister in Erfahrung gebracht werden.

»Das Tatwerkzeug ist vorhanden«, berichtete Gutzeit und reichte ihrem Chef die Plastiktüte mit dem Messer. Sie berichtete auch, dass sie mit dem Gerichtsmediziner Schnidt, der vor Ort gewesen sei, gesprochen habe. »Er sagte, Näheres später.«

»Schon klar«, erwiderte Freisal. »Unter uns, der Tote könnte hier mit abgetrenntem Kopf liegen, Professor Schnidt würde zu bedenken geben, dass sich der Mann, bevor er verblutete, an einer Currywurst verschluckt haben könnte.«

Sein Blick blieb an der Außenwand des Pissoirs hängen. »Café Achteck«, murmelte er. »Erstmals 1878 aufgestellt.«

»Was Sie nicht alles wissen«, sagte Gutzeit lakonisch.

»Kollegin«, konterte Freisal, »weil ich so viel weiß, bin ich Ihr Vorgesetzter. Also: Vor vielen Jahren stand ich hier schon einmal und hatte zu ermitteln. Mein damaliger Kollege hatte ein Faible für Berlins altes Stadtbild, von ihm habe ich erfahren, dass der Name Café Achteck vom Volksmund ersonnen wurde und ironisch gemeint war.«

»Nämlich?«

»Hat zwar acht Ecken, das Ding, aber drin können bis zu sieben Männer gleichzeitig ihre Notdurft verrichten.«

Freisal nahm seiner Kollegin den mit Plastik ummantelten Ausweis aus der Hand. »Makaber«, sagte er. »Klein hieß Stephan.« Er deutete auf das Straßenschild hinter sich: Stephanplatz.

Nachdenklich betrachtete er die Tüte mit dem Tatwerkzeug. »Ein Tranchiermesser. Damit schneidet man Fleisch in Scheiben. Sehen Sie: Die Klinge läuft etwas konisch zu, nach oben gerundet zur Spitze.«

»Koch-Show-Wissen?«

»Wie heißt der Typ noch gleich?«, grübelte Freisal laut.

»Johann Lafer?«

»Jens Thobens.«

»Kann Ihnen nicht folgen, Chef. Wer, bitteschön, ist oder war Thobens?«

»Vielleicht Zufall …«

»Herr Freisal, hätten Sie die Güte …«

»Natürlich, Entschuldigung. Anfang der Neunziger. Die Berliner Boulevardpresse sprach vom ›Schlitzer-Jens‹. Der, so damals die Blätter unisono, hatte ›zur Jagd geblasen‹ auf Lesben, Schwule, Transen.«

»›Zur Jagd geblasen‹? Das stand da wirklich so?«

»Yellow Press eben«, meinte Freisal. »Spezialisten beim Produzieren von Mehrdeutigkeiten.« Er schaute auf das Trottoir, als suche er nach alten Spuren. »Thobens war als Kochlehrling gescheitert, ein Küchenhelfer, der zum Schwulenhasser mutierte«, erläuterte der KHK. »Und er hat ein Tranchiermesser benutzt. Gezielt zugestochen … in den Unterleib. Das erste Opfer hat die Attacke nicht überlebt und ist verblutet. Danach hat Thobens noch drei Männer schwer verletzt; Schnittwunden im Genitalbereich, lebensbedrohlich. Die drei kamen Gott sei Dank durch.«

»Und alles am Stephanplatz?«

»Der Tote, ja. Die Verletzten im Fugger-Kiez.«

»Muss man kennen?«

»Kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Auf die eigene sexuelle Präferenz. Der Fugger-Kiez war damals die Hochburg für Leute vom anderen Ufer.«

»Dieser Thobens war also ein Serientäter«, konstatierte Gutzeit. »Den haben Sie wie überführen können? Hilft uns das hier weiter?«

»Wir haben ihn auf frischer Tat ertappt. Ein Polizeischüler hatte sich als Lockvogel zur Verfügung gestellt. Der junge Kollege hat Thobens in eine von uns per Video observierte Klappe gelockt, die über ein Glory Hole verfügte.«

»Glory was?«, fragte Gutzeit. »Könnt ich jetzt übers Internet checken, aber da Sie’s wissen …«

»Glory Hole meint ein Loch in der seitlichen Kabinenwand, durch das ein Mann seinen erigierten Penis steckt, um sich von jemand Unbekanntem auf der anderen Seite der Wand befriedigen zu lassen.«

»Oh, oh, oh«, sagte Gutzeit.

»Thobens legte nicht Hand an, sondern das Messer. Böse Verletzungen. Am Stephanplatz mit tödlichem Ausgang. Vollamputation … Das Opfer war volltrunken, wie sich später herausstellte. Jede Hilfe kam zu spät. Der junge Mann ist auf dem Weg ins Krankenhaus verblutet.«

»Aber der junge Kollege …«

»Ich sagte Lockvogel, nicht Lockopfer.« Freisal schüttelte unwirsch den Kopf. »Wir hatten spekuliert, dass er auf eine Penis-Attrappe hereinfallen würde.«

»Guck mal an!«, sagte Gutzeit. »In unserem Fundus gibt es Dildos?«

»Nix da, voller Einsatz – auch in der Vorbereitung.« Der KHK berichtete, dass er damals höchstpersönlich losgestiefelt sei, um »so ’n Teil« zu besorgen.

»Hut ab!« Yasmine Gutzeit nickte anerkennend. »Aber ein bisschen komisch sind Sie sich schon vorgekommen, oder?«

»Selbstverständlich«, gab Freisal zu. »Aber letztlich schnappte für Thobens die Falle wegen des Tatwerkzeugs zu, das er benutzte: An der Klinge befanden sich DNA-Spuren seiner Opfer.«

Hajo Freisal wollte noch etwas hinzufügen, als plötzlich der Fahrer der Gerichtsmedizin hinter ihnen stand und sich räusperte. Der Kommissar drehte sich auf dem Absatz um.

»Heißen Sie Sorge, oder was?«, brummte er. »Das ist meine demente Nachbarin, die steht auch immer hinter mir, im Hausflur – aufgetaucht wie aus dem Nichts.«

»Tschuldigung, ich stehe schon gut eine Minute hier, wollte Sie nicht unterbrechen. Ich will nur darauf hinweisen, dass der Kollege und ich bereits seit fünfzehn Minuten Dienstschluss haben.«

»Wie jetzt? Sie wollen abrücken? Ja, soll ich den Leichnam bei mir aufs Dach schnallen? Vergessen Sie’s, ist bloß aus Stoff … zu labil.«

»Aber der Kollege will doch nur wissen«, intervenierte Gutzeit, »ob er Klein jetzt in die Pathologie bringen kann.«

»Oder ob Sie hier noch länger brauchen«, ergänzte der Fahrer. »Würde dann die nächste Schicht anfordern.«

»Okay«, sagte Freisal, »eine Minute noch, dann haben wir’s.« Er wandte sich an Gutzeit. »Gehen wir davon aus, dass die SpuSi dokumentiert hat«, er zeigte auf den schneebedeckten Boden, »dass hier kein Tropfen Blut zu sehen ist.«

Gutzeit nickte.

Freisal ließ sich Kleins Leichnam zeigen sowie auf die mit Schnidt besprochenen Besonderheiten hinweisen, bevor er dem Fahrer ein Zeichen zum Bergen des Toten gab.

Lagebesprechung

Während Freisal und Gutzeit den Stephanplatz verließen, um sich in den MX-5 zurückzuziehen, ging es auf MoabitNETZ heiß her. Bürgers Zorn rief einen User auf den Plan, der mit Klarnamen postete.

»Was soll das?«, fragte Klaus Renger: »Das QM Moabit-Ost hat mit dem Bauträger Rohe nichts zu tun. Die Attacke schwächt eine Einrichtung, die Leute im Kiez zusammenbringen will.«

»Renger, ich weiß, dass du einer von denen bist, du kannst die Aktion natürlich nicht gut finden, schon klar.«

Klaus Renger hatte in dem Portal kein Hehl daraus gemacht, dass er beim QM arbeitete. Natürlich nicht, das Portal war ja eins vom QM.

»Die Aktion«, schrieb Bürgers Zorn weiter, »hat auch dir den QM-Sessel unterm QM-Arsch weggezogen, was? So seid ihr endlich mal aus der Deckung genommen worden, seid hervorgehoben aus der scheinbaren Harmlosigkeit spekulantenfreundlichen Tuns. Die Aktion steht für eine sich zunehmend wehrende Gesellschaft. Auch weil die Presse zum Ausverkauf des Kiezes offensichtlich einen Maulkorb bekommen hat, werden der Widerstand, die Solidarität und die Angriffe gegen Betreiber wie Unterstützer neoliberaler und kapitalistischer Gewalt nicht nachlassen. Der Widerstand wird lauter, schneller und konkreter!«