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Bernhard Salomon

Douglas und die Formel des Lachens

 

 

 

Copyright © 2016 Der Drehbuchverlag / edition a, Wien 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Douglas und die Formel des Lachens 

ISBN: 978-3-99042-807-8 

1

 

Etwa ein Jahr bevor Douglas Bone die Formel entdeckte, trat er seinen ersten Job an. Er war gerade sechzehn Jahre alt und ließ sich als Hilfspförtner einer Munitionsfabrik engagieren. In der Zeit, die man benötigt, um das Grab für einen erwachsenen Menschen auszuheben, produzierte sie genug Material, um die Bevölkerung einer mittleren Kleinstadt auszurotten.

   Douglas saß am Tor in einem weißen Pförtnerhäuschen. Mit zwei Schaltern betätigte er die Schranken der Auffahrt, die zu den riesigen dämmerungsgrauen Hallen führte. Es gab eine breite und eine schmale Schranke. Die breite öffnete er für die schweren Laster und für die Lieferwagen, die schmale für die Fords, Buicks und Volkswagen der Arbeiter und für die dunklen Limousinen der Bosse. Zur Straße  hinunter  verbreiterte  sich  die Auffahrt in einem weichen Schwung. Zwei sattgrüne Rasenflächen mit gelben Rosenbeeten schmiegten sich in ihre Flanken. Mit den Beeten hatte man kunstvoll das Firmenzeichen nachempfunden. Es hatte die Form eines Projektils. In dieser Größe sah es aber aus wie ein Zeppelin, der sich mit Düsenantrieb durch den Luftraum bohrt. Douglas dachte nie darüber nach, was dieses Zeichen darstellte. Er fand es nur hübsch anzusehen. So Gelb auf Grün und stets gepflegt.

   Niemand zwang ihn, arbeiten zu gehen. Mr. Bone hatte nämlich mit Geschick, Instinkt und Wagemut genug Geld verdient, um seine Familie über Generationen hinweg aller finanziellen Sorgen zu entheben. Er war ein Mann mit fleischigen Unterarmen und einer fliehenden Stirn, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Außer vor der zerbrechlichen Schönheit seiner Frau Mary hatte er in seinem Leben vor nichts Respekt gehabt. Mary stammte aus gutem Haus und war in einem noblen Vorort aufgewachsen. Ihre Familie wurzelte im deutschen Adel und lebte noch mit einem Bein in Europa. Normalerweise hätte Douglas' Vater zu diesen Kreisen niemals Zutritt gefunden, aber im Licht seiner ersten Dollar-Millionen hatten seine rüden Umgangsformen dynamisch gewirkt und seine Unbeholfenheit forsch.

   Miriam, Douglas ältere Schwester, hatte sich am College für die künstlerische Richtung entschieden. Inzwischen reiste sie als freie Bühnenbildnerin von Theater zu Theater. Alex, sein älterer Bruder, hatte bei Golf und langen Feten wenige berufliche verwertbare Fähigkeiten entwickelt. Seit seiner ersten größeren Sinnkrise reiste er mit der finanziellen Rückendeckung seines Vaters als mehr oder weniger erfolgreicher Golfprofi durch die Welt und erwog seine Zukunft als Trainer.

   Douglas selbst war ein Nachzügler. Er kam mehr als ein Jahrzehnt nach seinen Geschwistern zur Welt. Niemand hatte noch mit ihm gerechnet, am allerwenigsten seine Eltern selbst. Mr. Bone hatte sich in punkto Nachkommenschaft eher schon auf Enkelkinder vorbereitet. Und Mary hatte die Lücke, welche die flügge werdenden Kinder in ihrem Leben hinterließen, bereits anderweitig zu füllen begonnen: Die Mitgliedschaft in einer wohltätigen Damenrunde etwa beanspruchte einen großen Teil ihrer Zeit.

   Douglas war von Anfang an in seiner Entwicklung hinter seinen Gleichaltrigen zurück. Wenn andere Kinder seines Alters gewöhnlich schon zügig durch die Wohnung marschierten, hatte er offensichtlich noch keinen Schimmer, dass sich die Beine auch als Gehwerkzeug verwenden ließen. Gleiches galt für das Sprechen.

   Das Erste, was er sagte, ließ jedoch aufhorchen: „Guten Morgen“, sagte er, und das auf Deutsch. Wie ein Papagei wiederholte er dabei eine zu Gast weilende Verwandtschaft aus Stuttgart.

   Alle scharten sich verblüfft um ihn, redeten und wollten ihn reden hören. Vielleicht war es gerade diese Aufregung, die ihn dann bewog, viele Monate verstreichen zu lassen, ehe er sich wieder zu Wort meldete.

   Ging es im Kindergarten um Geschicklichkeit, Kraft oder Schnelligkeit, war er grundsätzlich Letzter. Von Anfang an gelang es ihm nicht, jemanden außer seinen Eltern mit Zeichnungen oder Bastelarbeiten zu beeindrucken. Auch mit dem Schreiben hatte er später Probleme. Es sollte ihm nie gelingen, seine eigene Schrift eindeutig zu entziffern. Außerdem war er stets einer der Kleinsten. Er war unscheinbar bis zur Unsichtbarkeit mit seinem aschblonden Haar und seinem spitzen Gesicht. Sein blasser Teint wollte sich selbst bei kostspieligen Kreuzfahrten nicht auffrischen lassen.

   Douglas Geschwister hatte eher komplizierte Persönlichkeiten. Miriam galt unter den Freunden und Verwandten der Familie als beschwingte Künstlerin, die aber auch zur zähen Kämpferin werden konnte. Alex war als ein zielloser Draufgänger bekannt, dessen Witze Funken sprühten, in dessen Augen aber auch oft der matte Schimmer der Schwermut lag. Wenn es hingegen darum ging, Douglas zu beschreiben, so hatte niemand die geringsten Probleme: Douglas war dumm.

   Dass er dumm war, zeigte sich umso deutlicher, je älter er wurde. In erster Linie merkte man es daran, wie er lächelte. Er klappte den Mund ein bisschen auf und zog die Winkel nach oben. Seine  Unterlippe hing dabei wie bei einem Kamel schlaff und müde herab, so dass seine Zahnhälse sichtbar wurden. Gleichzeitig trat ein feuchter Glanz in seine Augen.

   Vor allem aber lächelte er viel zu oft. Ungeduldige Naturen konnte er damit zur Weißglut treiben. Aber niemand konnte ihm deshalb Vorwürfe machen. Denn offensichtlich tat er es nicht absichtlich. Er lächelte einfach jeden Menschen automatisch stupid an.

   Seine Eltern liebten und hegten ihn. Sie kannten ihn und seine Eigenarten. Sie wären nie auf die Idee gekommen, ihn für dumm zu halten. Aber dann legte die Schule ihre Maßstäbe an. Angesichts seiner Leistungen rauften sich selbst seine geduldigsten Lehrer bisweilen die Haare. Und nicht alle waren geduldig.

   Dabei schien er sich redlich zu bemühen. Er verbrachte wohl doppelt so viel Zeit hinter seinen Büchern wie seine Mitschüler. Man sah, dass er es sogar gerne tat. Bei den Klassenarbeiten gab er stets als Erster ab. Mit glühendem Gesicht und glänzenden Augen schien er jedes Mal mit sich und seiner Leistung hoch zufrieden zu sein.

   Aber nach der Korrektur konnten ihn seine Lehrer weder loben noch tadeln. Douglas Arbeiten waren jenseits von gut und böse. Den meisten tat er schlicht und einfach Leid. Umso mehr, als er auch die vernichtendsten Ergebnisse mit einem Lächeln entgegennahm.

   Manche Lehrer tätschelten ihm dann wohlmeinend den Kopf. Andere verspürten Beklemmung, wenn sie sahen, wie er sonnigen Gemütes in die Irre rannte. Wieder andere untersuchten seine Arbeiten auf innere Zusammenhänge und ein möglicherweise darin verborgenes System. Sie konnten einfach nicht glauben, dass jemand mit solcher Ernsthaftigkeit solchen Unsinn produzierte.

   Einer von ihnen riet schließlich zur Konsultation eines Schulpsychologen. Er sprach milde von Douglas „Weltfremdheit“. Sie könne eines Tages zum endgültigen Realitätsverlust führen.

   Douglas Mutter war entrüstet. Sie weigerte sich zuerst, einen solchen Besuch auch nur in Erwägung zu ziehen. Auch Douglas Vater wollte lange nichts davon wissen. Aber dann kam der Urlaub, und danach musste Douglas doch zum Schulpsychologen.

2

 

Mary Bone wollte diese Sommer auf den Malediven verbringen. Sie wollte nichts weiter als mit einem Cocktailglas in der Hand auf das Zerflirren der Minuten unter der Pazifiksonne lauschen. Douglas war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Ihr schwebten gemütliche Abendessen zu dritt vor. Sie selbst, ihr Mann und Douglas. Plaudereien mit Tischnachbarn, die ein ähnliches Arrangement gebucht hatten. Die vielleicht auch ein Kind im passenden Alter hatten. Ihr Mann allerdings hatte ganz andere Pläne. Für faulen Luxus à la carte war er nicht zu haben. „Die Malediven sind der Hot Dog unter den Urlauben“, sagte er. „Aber ich will frisches Grizzly-Fleisch.“ Er wollte nach Kanada. „Um in der Einsamkeit der Wälder verschollenen Jugendträumen nachzuspüren“, wie er es nannte. „Um Wurzeln zu fressen und mit den Bären um die Wette zu schnarchen“, wie sie es nannte. Eine Einigung war nicht abzusehen. Die Entscheidung sollte deshalb Douglas treffen.

   Mr. Bone wollte freilich etwas nachhelfen. Seine Fähigkeit, Pläne zu schmieden und sie konsequent in die Tat umzusetzen, hatte er schon anlässlich seiner Triumphzüge in den verschiedensten Wirtschaftszweigen unter Beweise gestellt. Nun startete er ein groß angelegtes Bestechungsmanöver; das seine Frau zu ihrem Leidwesen viel zu spät durchschaute.

   Punkt eins seines Planes betraf das Schwimmbecken. Es lag etwas abseits der Veranda zwischen einigen alten Kirschbäumen. Mit sechs bis acht Zügen wäre es für Douglas zu durchmessen gewesen, hätte er je schwimmen gelernt. So war es aus Sicherheitsgründen mit einem stabilen Lattenzaun umgeben.

   Mr. Bone beauftragte eine Wartungsfirma, das Becken in frischem Blau zu streichen. Eines warmen Tages zu Ferienbeginn ließen drei Handwerker das Wasser aus und machten sich ans Werk. Ein paar Mal fragte sich Mrs. Bone, ob der Termin dafür nicht denkbar ungünstig war. Aber noch hegte sie keinen Argwohn.

   Die Arbeit war in vollem Gange, als Mr. Bone plötzlich mit einem pompös verpackten Geschenk für Douglas im Garten stand. Mrs. Bone saß auf der Veranda und sah zu, wie er es Douglas überreichte. Es gab keinen Anlass für Geschenke. Und es war ungewöhnlich, dass er mitten in der Woche vormittags nach Hause kam.

   Schon deshalb begann sie allmählich Böses zu ahnen. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie die beiden. Das Gesicht ihres Mannes ließ sie an einen besoffenen Weihnachtsmann denken, der sich in der Jahreszeit geirrt hatte.

   Douglas nestelte das Paket mit einer Hektik auf, als hätte er in seinem Leben noch nie ein Geschenk bekommen. Was er nach und nach aus hellgrünem Krepp, goldenen Schleifchen, einer Menge Karton und noch mehr Styropor schälte, war Christoph Kolumbus Schiff „Santa Maria“. Und zwar in einer armlangen Version zum Fernsteuern, in voller Takelage und mit bunten Wimpeln.

   Douglas wiegte das Schiff ein paar Augenblicke in den Armen wie ein kleines Kind. Dann wollte er zum Schwimmbecken. Als ihm bewusst wurde, dass kein Wasser darin war, kehrte er um. Er stellte das Schiff vor seinem Vater in die Wiese und strahlte ihn an: „Dad, fahren wir an einen See?“

   Mrs. Bone begriff, dass es eine Falle war. Aber es war zu spät, um noch etwas dagegen zu unternehmen.

   Ihr Mann zierte sich: „Nun, du weißt ja, dass ich noch arbeiten muss. Aber nächste Woche beginnt unser Urlaub. Ich kenne eine Gegend, da gibt es Flüsse und Seen, wo immer man seinen Fuß hinsetzt.“

   „Wo ist das?“, hörte Mrs. Bone ihren Sohn fragen. Und da wusste sie: Kanada würde unvermeidlich sein. Nie würde sie Douglas noch davon überzeugen, dass er sein Schiff auch vom Strand des Indischen Ozeans aus schwimmen lassen könnte. Und sie behielt Recht.

 

Sie beschloss, Urlaub nach Vorschrift zu machen. Sie war nicht bereit, das Vergnügen der anderen zu teilen. Schon beim Packen hatte sie mit Unbehagen beobachtet, wie Vater und Sohn in ihrer Vorfreude ein Herz und eine Seele waren. Der eine: gewissenloser Verführer. Der andere: ahnungsloses Opfer.

   Sie starteten in einem gemieteten Campingbus vom Winnipeg See aus. Nach mindestens vierzigtausend Schlaglöchern, die Mrs. Bone alle einzeln kommentiert hatte, machten sie an einem Flüsschen Halt, um für die Nacht zu bleiben.

   Hier konnte Douglas sein Schiff endlich vom Stapel lassen. Zur Taufe besprenkelte er es mit etwas Mineralwasser. Dann schickte er es den träge dahinströmenden Bach hinauf. Während seine Eltern Vorbereitungen für das Abendessen trafen, saß er am Ufer. Mit dem Sender funkte er Geradeausfahrt und sein Blick verlor sich im Kräuseln des Wassers. Er blieb auch dann noch auf Geradeausfahrt, als das Schiff längst außer Sichtweite war.

   Erst als es schon dämmerte und die Batteriewarnlampe blinkte, legte er den Sender zur Seite. Er wartete darauf, dass die Strömung sein Schiff zurück bringen würde. Aber das Schiff kam nicht zurück.

   Reglos blieb er am Ufer sitzen und starrte dorthin, wo es verschwunden war. Dorthin, wo die glitzernde Oberfläche des Baches mit dem letzten Abendlicht verschmolz. Aus den Wäldern stieg das Summen des Abends zum Himmel empor. Tränen der Enttäuschung verschleierten seine Augen.

   Am anderen Ufer tauchte ein Mädchen auf. Sie trug so etwas wie ein Seil in der Hand und kam aus der Richtung, in die sein Schiff verschwunden war. Als sie ihn sah, blieb sie stehen und legte die Hände trichterförmig an den Mund. Aber gleichzeitig rief Mrs. Bone zum Abendessen. Und sofort darauf erscholl auch die Stimme seines Vaters: „Douglas! Bärensteaks!“ Douglas konnte nicht verstehen, was das Mädchen sagte. Und dann war es verschwunden.

   Douglas wollte sich daraufhin nicht mehr von der Stelle rühren. Seine Eltern redeten auf ihn ein. Wenn das Schiff nicht schon gekommen war, dann würde es auch nicht mehr kommen. Und selbst wenn es kommen würde, könnte er es nicht mehr sehen. Sie versprachen ihm, gleich bei Tagesanbruch die Ufer abzusuchen. Sie versprachen ihm ein neues Schiff. Sie beschworen ihn und flehten ihn an. Aber erst, als schon die Sterne am Himmel blinkten, ließ er sich zum Campingwagen führen.

   „Ich will noch warten“, hatte er die ganze Zeit über starrsinnig wiederholt. Nun sagte er gar nichts mehr. Lediglich seine Nasenflügel zitterten.

   Als Mr. und Mrs. Bone am nächsten Morgen erwachten, saß Douglas schon wieder an seinem alten Platz. Er starrte hinauf zu jener Stelle, an der der Bach jetzt das Morgenlicht hinter den Horizont zu tragen schien.

   Frühstück verweigerte er. Sein Vater suchte mit ihm zwei Stunden lang das Ufer ab. Sowohl von dem Boot als auch von etwaigen Zeugen fehlte jede Spur. Dann drängte Mrs. Bone zur Weiterfahrt.

   Auf den folgenden zweihundertfünfzig Kilometern schaute Douglas mit leeren Augen in die Gegend. Nur einmal drückte er seine Nase ans Fenster. Draußen parkte ein anderer Camper am Straßenrand. Ein Mann und eine Frau rollten Decken und Schlafsäcke ein. Etwas abseits in der Wiese lag ein blaues Springseil. Aber Douglas sagte nichts und sie fuhren vorbei.

   Fortan konnte er Stunden damit zubringen, bewegungslos an Flüsschen, Bächen und Seen zu hocken. Seine Eltern begannen sich daran zu gewöhnen. Sie kannten seine Marotten und ihre Tendenz, sich von selbst wieder zu legen.

   Bis er eines Abends verschwunden war. Da warfen sie sich angstvolle Blicke zu und brachen in das Unterholz des Waldes ein. Dort war es schon stockdunkel. Bald war Mrs. Bones Gesicht zerschunden und ihre Arme bluteten aus vielen kleinen Wunden. Ihr Haar war von kleinen Zweigen verfilzt und ihre Stimme heiser vom Rufen.

Sie kämpfte mit letzter Kraft gegen Resignation, Selbstvorwürfe und Verzweiflung an, als sie aus nächster Nähe seine Stimme vernahm: „Hier bin ich.“

   Er rief es nicht. Er sagte es nur so. Als hätte er gewartet, bis sie nahe genug gekommen war, um ihn auch so hören zu können.

   „Ich kann dich nicht sehen“, rief sie zurück. Ihre Stimme kippte vor Erleichterung.

Sie zerteilte ein letztes Gestrüpp. Er saß an einem kleinen Tümpel, dessen Oberfläche die hereinbrechende Nacht spiegelte. Es war das glänzende Schwarz einer riesigen Pupille und Douglas starrte hinein wie in die Seele der Erde.

   „Was...“, fragte sie, „was machst du hier?“

   Im Grunde wusste sie, was kommen würde. „Ich warte auf mein Schiff“, sagte Douglas, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.

   In diesem Moment, fern der Zivilisation inmitten der kanadischen Wildnis, zerschunden, halb aufgelöst und verweint, fasst sie einen Entschluss: Douglas würde einen Schulpsychologen aufsuchen.

3

 

Douglas selbst dachte zum ersten Mal bei diesem Schulpsychologen richtig darüber nach, ob er nun dumm war oder nicht. Der Schulpsychologe war ein jovialer Mensch. Sein Gesicht sah ständig aus, als würde es jeden Moment in einen anderen Aggregatzustand übergehen. Es war allerdings schwer zu sagen, ob es zerfließen, gefrieren oder verdampfen würde.

   Er unterzog Douglas einer Reihe von Tests und schickte ihn dann ins Wartezimmer. Entlang einer Reihe dunkelbrauner Holzstühle trottete Douglas auf und ab. Dabei entdeckte er, dass die Tür nur angelehnt war. Er konnte ein Stück von dem schwarzen Pullover seiner Schwester sehen. Miriam hatte seiner Mutter diesen Weg abgenommen. Und er konnte die Stimme des Schulpsychologen hören: „Ich möchte offen mit ihnen sprechen“, sagte er. „Offener vielleicht, als ich es mit Ihrer Mutter getan hätte. Es besteht kein Grund zur Sorge. Er ist einfach nicht besonders hell im Oberstübchen. Um es exakter zu formulieren: Er ist...äh..strohdumm“. Douglas sei ein Fall, bei dem man nur hoffen könne, dass er seine Intelligenz niemals zum Überleben benötigen würde. Aber soviel man über die Familie wisse, sei dies ja ziemlich ausgeschlossen. Weshalb ja eigentlich alles in Ordnung wäre.

   Douglas traf das nicht besonders hart. In mancher Hinsicht hatte er es schon geahnt. Denn da war die Sache mit seinen Cousins aus Deutschland gewesen. Seit er sechs war, kamen sie jeden Sommer für ein paar Wochen zu Besuch. Aber schon am Anfang fiel ihm auf, dass die beiden anders waren als er. Oft brachen sie ihre Unterhaltung ab, wenn er hinzukam. Zuerst meinte er, es liege an ihrer anderen Sprache: Sie radebrechten zwar etwas Englisch, aber er konnte außer „Guten Morgen“, kein Wort Deutsch.

   Also lernte er es. Er sagte niemandem ein Wort davon. Er nahm sich unbemerkt Sprachlehrkassetten „Deutsch für Anfänger“ und „Deutsch für Fortgeschrittene“ vor, die ganz hinten im Bücherregal seiner Mutter standen. Er klemmte sich die Kassetten in den Walkman und hörte sie ein Jahr lang bei jeder Gelegenheit: vor dem Schlafengehen und vor dem Aufstehen, auf dem Schulweg, in der Badewanne oder wenn er auf dem Fensterbrett saß und sein Gesicht in die Sonne hielt.