Der heiße Sommertag neigte sich seinem Ende entgegen. Die Sonne war bereits gesunken, nur das Abendrot weilte noch am Horizont und warf seinen glühenden Schimmer über das Meer hin, das ruhig, kaum von einem Hauche bewegt, den letzten Abglanz des scheidenden Tages empfing.

Am Strande des Badeortes C., etwas abseits von der großen Strandpromenade, wo sich, wie gewöhnlich um diese Stunde, das bunte und glänzende Gewühl der Badegäste entfaltete, lag ein einfaches Landhaus. Es zeichnete sich vor den andern, meist viel größeren und prächtigeren Häusern und Villen des Ortes nur durch die Schönheit seiner Lage aus, denn seine Fenster boten eine unbegrenzte Aussicht über das Meer hin. Sonst stand es ziemlich einsam und abgeschlossen da und konnte wohl nur von solchen Gästen bevorzugt werden, die das geräuschvolle Badeleben von C. eher mieden als aufsuchten.

In der geöffneten Glasthür, welche auf den Balkon hinaus führte, stand eine Dame in Trauerkleidung. Sie war von hoher, stolzer Gestalt und konnte noch für schön gelten, obwohl sie den Höhepunkt des Lebens bereits erreicht hatte. Dieses Gesicht mit seinen fest und regelmäßig gezeichneten Linien hatte wohl niemals den Reiz der Anmut und Lieblichkeit besessen, aber ebendeshalb hatten die Jahre ihm auch nichts von seiner kalten, strengen Schönheit nehmen können, die sich noch jetzt siegreich behauptete. Das tiefe Schwarz des Anzuges, der Kreppschleier über der Stirn deuteten auf einen schweren, wohl erst kürzlich erlittenen Verlust, aber man suchte vergebens eine Spur vergossener Thränen in diesen Augen, einen Schimmer von Weichheit in den energischen Zügen. War ein Schmerz dieser Frau wirklich nahe getreten, so war er entweder nicht allzu tief gefühlt worden, oder bereits überwunden.

An der Seite der Trauernden stand ein Herr, gleichfalls von vornehmem Aeußeren. Er mochte in Wirklichkeit nur einige Jahre älter als seine Nachbarin sein, und doch hatte es den Anschein, als läge mehr als ein Jahrzehnt zwischen ihnen, denn an ihm waren die Zeit und das Leben nicht so spurlos vorübergegangen. Der ernste, charaktervolle Kopf mit den scharf und tief ausgeprägten Zügen schien schon manchen Sturm durchlebt zu haben; das dunkle Haar war schon hier und da ergraut; in die Stirn grub sich Falte an Falte, und der Blick hatte etwas Düsteres, Schwermütiges, das sich dem ganzen Antlitz des Mannes mitteilte. Er hatte bisher mit angestrengter Aufmerksamkeit auf das Meer hinausgeblickt und wendete sich jetzt mit einer Bewegung der Ungeduld ab.

»Noch immer nichts zu sehen! Sie werden schwerlich vor Sonnenuntergang zurückkehren,«

»Du hättest uns von deiner Ankunft vorher benachrichtigen sollen,« sagte die Dame. »Wir erwarteten dich erst in einigen Tagen. Uebrigens ist das Boot nicht eher zu erblicken, bis es den waldigen Vorsprung dort umsegelt, und dann ist es auch in wenigen Minuten hier,«

Sie trat in das Zimmer zurück und wandte sich zu einem Diener, der im Begriff war, mehrere Reiseeffekten in eins der anstoßenden Gemächer zu tragen.

»Geh hinunter nach dem Strande, Pawlick!« befahl sie, »und sobald das Boot der jungen Herrschaften landet, benachrichtige sie, daß der Herr Graf Morynski eingetroffen ist.«

Der Diener entfernte sich, dem erhaltenen Befehle gemäß. Auch Graf Morynski gab seinen Ausblick vom Balkon auf und trat in das Zimmer, wo er an der Seite der Dame Platz nahm,

»Verzeih die Ungeduld!«, sagte er. »Das Wiedersehen der Schwester sollte mir vorläufig wohl genug sein, aber ich habe mein Kind ja seit einem Jahre nicht gesehen,«

Die Dame lächelte. »Du wirst von dem ›Kinde‹ nicht mehr allzuviel erblicken. Ein Jahr bedeutet viel in solchem Alter, und Wanda verspricht schön zu werden.«

»Und ihre geistige Entwicklung? Du sprachst dich in deinen Briefen stets mit Befriedigung darüber aus.«

»Gewiß! Sie überflügelte stets ihre Aufgaben; ich habe eher zügeln als antreiben müssen. In dieser Hinsicht blieb mir nichts zu wünschen übrig, wohl aber in einer andern. Wanda besitzt einen stark ausgeprägten Eigenwillen und weiß ihn leidenschaftlich zu behaupten. Ich habe mir bisweilen den Gehorsam erzwingen müssen, den sie sehr geneigt war, mir zu versagen.«

Ein flüchtiges Lächeln erhellte das Gesicht des Vaters, als er entgegnete: »Ein eigentümlicher Vorwurf in deinem Munde! Einen Willen haben und ihn unter allen Umständen behaupten, ist ja wohl ein hervorragender Zug deines Charakters, ein Zug unsrer Familie überhaupt.«

»Der aber bei einem sechzehnjährigen Mädchen noch unter keinen Umständen zu dulden ist, denn da äußert er sich nur als Trotz und Laune,« fiel ihm die Schwester ins Wort. »Ich sage es dir im voraus, du wirst noch öfter damit zu kämpfen haben.«

Es schien, als sei diese Wendung des Gespräches dem Grafen nicht besonders angenehm. »Ich weiß, daß ich mein Kind keinen besseren Händen übergeben konnte, als den deinigen,« sagte er ablenkend, »und deshalb freut es mich doppelt, daß Wanda jetzt, wo ich sie wieder zurücknehme, deine Nähe nicht ganz zu entbehren braucht. Ich glaubte nicht, daß du dich so bald nach dem Tode deines Gemahls zur Rückkehr entschließen würdest, und rechnete auf dein Verbleiben in Paris, wenigstens bis zur Vollendung von Leos Studien.«

Die Dame machte eine verneinende Bewegung. »Ich bin in Paris nie heimisch geworden, trotz unsres jahrelangen Aufenthaltes dort. Das Los der Verbannten ist kein beneidenswertes, du weißt es aus eigener Erfahrung, Fürst Baratowski freilich durfte den heimatlichen Boden nicht wieder betreten, seiner Witwe und seinem Sohne aber kann man die Rückkehr nicht verweigern; deshalb habe ich mich unverweilt dazu entschlossen. Leo muß endlich einmal die Luft seines Vaterlandes atmen, um sich ganz als Sohn dieses Landes zu fühlen. Auf ihm ruht jetzt die alleinige Vertretung unsres Geschlechtes. Er ist freilich noch sehr jung, aber er muß es lernen, seinen Jahren voran zu eilen und sich mit den Pflichten und Aufgaben vertraut zu machen, die nach des Vaters Tode an ihn herantreten.«

»Und wo gedenkst du deinen Aufenthalt zu nehmen?« fragte Graf Morynski. »Du weißt, daß mein Haus dir jederzeit –«

»Ich weiß es,« unterbrach ihn die Fürstin, »aber ich danke dir. Für mich handelt es sich vor allem darum, Leos Zukunft zu sichern und ihm die Möglichkeit zu geben, seinen Namen und seine Stellung vor der Welt zu behaupten. Das war schon schwer genug in den letzten Jahren; jetzt ist es vollends zur Unmöglichkeit geworden. Du kennst unsre Vermögensverhältnisse und weißt, welche Opfer uns die Verbannung gekostet hat. Es muß irgend etwas geschehen. Um meines Sohnes willen habe ich mich zu einem Schritte entschlossen, den ich für mich allein nicht gethan hatte – errätst du, weshalb ich gerade C. zum Sommeraufenthalt wählte?«

»Nein, aber befremdet hat es mich. Das Gut Witolds liegt nur zwei Stunden von hier entfernt und ich glaubte, daß du diese Nähe eher zu vermeiden wünschest. Oder stehst du neuerdings in Verkehr mit Waldemar?«

»Nein,« sagte die Fürstin kalt. »Ich habe ihn nicht gesehen, seit wir damals nach Frankreich gingen, und seitdem kaum eine Zeile von ihm erhalten. Er hat in all den Jahren nicht nach der Mutter gefragt.«

»Aber die Mutter auch nicht nach ihm,« warf der Graf hin.

»Sollte ich mich einer Zurückweisung, einer Demütigung aussetzen?« fragte die Fürstin etwas gereizt. »Dieser Witold hat mir von jeher feindselig gegenüber gestanden und seine unumschränkten Vormundschaftsrechte in verletzendster Weise gegen mich geltend gemacht. Ich bin machtlos ihm gegenüber.«

»Er hätte aber schwerlich gewagt, dir den Verkehr mit Waldemar zu untersagen; dazu stehen die Rechte einer Mutter denn doch zu hoch, wenn du sie nur mit deiner gewöhnlichen Entschiedenheit geltend gemacht hättest. Das ist aber, meines Wissens, nie geschehen, denn – sei aufrichtig, Jadwiga! – du hast deinen ältesten Sohn nie geliebt.«

Jadwiga erwiderte nichts auf diesen Vorwurf. Sie stützte schweigend den Kopf in die Hand.

»Ich begreife es, daß er nicht die erste Stelle in deinem Herzen einnimmt,« fuhr der Graf fort. »Er ist der Sohn eines ungeliebten, dir aufgedrungenen Gatten, die Erinnerung an eine Ehe, die dich noch jetzt mit Bitterkeit erfüllt; Leo ist das Kind deines Herzens und deiner Liebe –«

»Und sein Vater hat mir nie den geringsten Anlaß zu einer Klage gegeben,« ergänzte die Fürstin mit Nachdruck.

Der Graf zuckte leicht die Achseln. »Du beherrschtest Baratowski aber auch vollständig. Doch davon ist jetzt nicht die Rede. Du hast einen Plan? Willst du frühere, halb vergessene Beziehungen wieder aufnehmen?« »Ich will endlich einmal die Rechte geltend machen, deren mich Nordecks Testament beraubte, dieses unselige Testament, in dem der Haß gegen mich jede Zeile diktiert hatte, das die Witwe wie die Mutter gleich rechtlos machte. Es bestand bisher in voller Kraft, aber es spricht Waldemar auch mit dem einundzwanzigsten Jahre mündig. Er hat kürzlich dieses Alter erreicht und ist somit Herr seines Willens. Ich will doch sehen, ob er es darauf ankommen läßt, daß seine Mutter bei ihren Verwandten eine Zuflucht suchen muß, während er zu den reichsten Grundbesitzern des Landes zählt und es ihm nur ein Wort kostet, mir und seinem Bruder auf einem der Güter eine standesgemäße Existenz zu sichern.«

Morynski schüttelte zweifelnd den Kopf. »Du rechnest auf Kindesgefühl bei diesem Sohne? Ich fürchte, du täuschest dich. Seit seiner frühesten Jugend ist er dir entfremdet, und man hat ihn schwerlich gelehrt, die Mutter zu lieben. Ich habe ihn nur als Knaben gesehen und damals den allerungünstigsten Eindruck von ihm empfangen. Eins aber weiß ich mit Bestimmtheit, fügsam war er nicht.«

»Auch ich weiß es,« versetzte die Fürstin mit vollkommener Ruhe. »Er ist der Sohn seines Vaters, wie dieser roh, unbändig, unempfänglich für alles Höhere. Schon als Knabe glich er ihm Zug für Zug, und was die Natur gab, wird die Erziehung bei solch einem Vormunde, wie Witold, wohl vollendet haben. Ich täusche mich durchaus nicht über Waldemars Charakter, aber trotzdem wird er zu leiten sein. Untergeordnete Naturen fügen sich schließlich immer einer geistigen Ueberlegenheit, wenn man es nur versteht, sie in der rechten Weise geltend zu machen.«

»Konntest du seinen Vater leiten?« fragte der Bruder ernst.

»Du vergißt, Bronislaw, daß ich damals ein siebenzehnjähriges Mädchen ohne Erfahrung, ohne Menschenkenntnis war. Jetzt würde ich auch mit einem solchen Charakter fertig werden und mir die Herrschaft über ihn zu sichern wissen. Bei Waldemar steht mir außerdem noch die mächtige Autorität der Mutter zur Seite. Er wird sich ihr beugen.«

Der Graf sah sehr ungläubig aus bei diesen mit großer Entschiedenheit gesprochenen Worten. Zu einer Erwiderung fand er keine Zeit, denn jetzt vernahm man im Vorzimmer einen leichten raschen Schritt. Die Thür wurde in stürmischer Eile geöffnet; ein junges Mädchen flog herein und lag in den nächsten Minuten in den Armen Morynskis, der aufgesprungen war und die Tochter mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an seine Brust schloß.

Die Fürstin hatte sich gleichfalls erhoben. Es schien, als finde sie die gar zu stürmische Begrüßung von seiten der jungen Dame nicht ganz in der Ordnung, indessen äußerte sie nichts, sondern wandte sich zu ihrem Sohne, der soeben eintrat.

»Ihr seid sehr lange ausgeblieben, Leo. Wir warten bereits seit einer Stunde auf eure Rückkehr.«

»Verzeih, Mama! Der Sonnenuntergang auf dem Meere war so schön, daß wir auch nicht eine Minute davon verlieren mochten.«

Mit diesen Worten trat Leo Baratowski zu seiner Mutter. Er war in der That noch sehr jung, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre, und es bedurfte nur eines Blickes in sein Gesicht, um dort die Züge der Fürstin wiederzuerkennen. Die Aehnlichkeit war so auffallend, wie sie nur zwischen Mutter und Sohn möglich ist, und doch trug der jugendlich schöne Kopf des letzteren, mit dem dunkeln, leicht gelockten Haare ein durchaus andres Gepräge. Es fehlte der kalte, strenge Ausdruck darin. Hier war alles Feuer und Leben; in den dunkeln Augen flammte die volle Leidenschaftlichkeit eines heißen, noch ungezügelten Temperamentes, und die ganze Erscheinung war ein solches Bild von Jugendkraft und Jugendschönheit, daß man den Stolz begriff, mit dem die Fürstin jetzt die Hand ihres Sohnes nahm, um ihn dem Oheim zuzuführen.

»Leo hat keinen Vater mehr,« sagte sie ernst. »Ich rechne auf dich, Bronislaw, wo ihm der Rat und die Führung eines Mannes in seiner Laufbahn notwendig ist.«

Der Graf ließ seinem Neffen eine herzliche, warme, aber weit ruhigere Umarmung zu teil werden, als vorhin der Tochter. Das Wiedersehen mit ihr schien für jetzt alle andern Empfindungen bei ihm in den Hintergrund zu drängen. Seine Blicke kehrten immer wieder zu dem jungen Mädchen zurück, das in dem Jahre, wo er es nicht gesehen, die Kindheit fast völlig abgestreift hatte.

Wanda glich ihrem Vater nicht im mindesten. Die Aehnlichkeit, die bei Leo und seiner Mutter so auffallend hervortrat, fehlte hier gänzlich zwischen Vater und Tochter, Die junge Gräfin Morynska war überhaupt ein durchaus eigenartiges Wesen. Die seine graziöse Gestalt gehörte noch halb dem Kinde an und hatte sich augenscheinlich noch nicht zu ihrer vollen Höhe entwickelt, auch die Züge des Gesichts waren noch halb kindlich, obgleich sie bereits den Ausspruch der Fürstin Baratowska rechtfertigten. Etwas bleich war dieses Gesicht, dessen Wangen nur ein leiser Schimmer von Röte färbte, aber die Blässe hatte nichts Krankhaftes und beeinträchtigte nicht im mindesten den Eindruck vollster Jugendfrische. Das reiche, tiefschwarze Haar ließ die Weiße der Hautfarbe noch mehr hervortreten, und unter langen schwarzen Wimpern bargen sich dunkle, feuchtschimmernde Augen. Wanda versprach in der That, dereinst schön zu werden, für den Augenblick war sie es freilich noch nicht, dafür besaß sie aber jenen eigentümlichen Reiz, der manchen Mädchengestalten gerade dann eigen ist, wenn sie auf der Grenze zwischen Kind und Jungfrau stehen. Es war eine reizende Mischung von dem Mutwillen und der Unbefangenheit des Kindes und dem Ernste der jungen Dame, die sich bei jeder Gelegenheit ihrer sechzehn Jahre erinnert. Der Schmelz der ersten Jugend, der erst halb erschlossenen Knospe, der wie ein duftiger Hauch auf der ganzen Erscheinung ruhte, machte sie doppelt anziehend. Die erste Aufregung des Wiedersehens war vorüber und das Gespräch lenkte nun in ruhigere Bahnen. Graf Morynski hatte seine Tochter neben sich auf den Sessel niedergezogen und machte ihr scherzend Vorwürfe über ihre verspätete Rückkehr.

»Ich wußte ja nichts von deiner Ankunft, Papa,« verteidigte sich Wanda. »Und dann hatte ich auch ein Abenteuer im Walde –«

»Im Walde?« unterbrach sie die Fürstin. »Warst du denn nicht mit Leo auf dem Meere?«

»Nur auf der Rückfahrt, liebe Tante. Wir wollten, wie verabredet, nach dem Buchenholm segeln; Leo meinte, der Weg zur See dorthin sei weit näher als der Fußpfad durch den Wald. Ich behauptete das Gegenteil; wir stritten eine Weile darüber und beschlossen endlich, uns gegenseitig den Beweis zu liefern. Leo segelte allein ab, und ich schlug den Waldweg ein.«

»Auf dem du denn auch richtig den Buchenholm erreichtest, als ich bereits eine halbe Stunde dort war,« triumphierte Leo.

»Ich hatte mich verirrt,« erklärte die junge Dame mit großer Bestimmtheit. »Und ich wäre vielleicht noch im Walde, wenn man mich nicht zurecht gewiesen hätte.«

»Wer wies dich zurecht?« fragte der Graf.

Wanda lachte mutwillig, »Ein Waldgeist! Eins von den alten Hünengespenstern, die zuzeiten hier umgehen sollen! Aber du darfst mich jetzt nicht mehr fragen, Papa. Leo brennt vor Begierde, es zu erfahren; er hat mich während der ganzen Rückfahrt mit seinen Fragen gequält, und deshalb erfährt er auch nicht eine Silbe davon.«

»Erfindung!« rief Leo lachend. »Ein Vorwand, um deine verspätete Ankunft zu erklären. Du würdest eher ein ganzes Märchen erfinden, als zugeben, daß ich diesmal recht hatte.«

Wanda war im Begriff, die Neckerei zurückzugeben, als die Fürstin sich einmischte. »Vorwand oder nicht!« sagte sie scharf, »Jedenfalls war dieser einsame und eigenmächtige Spaziergang im höchsten Grade unpassend. Ich hatte dir die Erlaubnis gegeben, in Leos Begleitung eine kurze Meerfahrt zu machen, und ich begreife nicht, wie er dich stundenlang im Walde allein lassen konnte.«

»Wanda wollte es durchaus,« entschuldigte sich Leo, »sie wünschte unsern Streit hinsichtlich des Weges entschieden zu sehen.«

»Jawohl, liebe Tante, ich wollte es« – die junge Dame legte einen so entschiedenen Nachdruck auf das Wort, wie sie es schwerlich gewagt haben würde ohne die schützende Nähe des Vaters – »und da wußte Leo sehr gut, daß es ganz vergeblich gewesen wäre, mich zurückzuhalten.«

Die Miene der Fürstin zeigte deutlich, daß sie es wieder einmal für nötig hielt, dem Eigenwillen ihrer Nichte mit «vollster Strenge entgegenzutreten. Sie war im Begriff, eine sehr ernste Rüge auszusprechen, als ihr Bruder ihr zuvorkam.

»Du erlaubst wohl, daß ich Wanda mit mir nehme?« sagte er, rasch einfallend. »Ich fühle mich doch etwas ermüdet von der Reise und möchte mich auf mein Zimmer zurückziehen. Auf Wiedersehen also!« Damit stand er auf, nahm den Arm seiner Tochter und verließ mit ihr das Zimmer.

»Der Onkel scheint ganz und gar hingerissen zu sein von Wandas Anblick,« bemerkte Leo, als die beiden verschwunden waren. Die Fürstin sah ihnen schweigend nach.

»Er wird sie verziehen,« sagte sie endlich halblaut, »Er wird sie mit derselben blinden Vergötterung umfassen, wie einst ihre Mutter, und Wanda wird bald genug ihre Macht kennen und brauchen lernen. Das war es, was ich fürchtete bei dieser Rückkehr zum Vater. Schon die erste Stunde zeigt, daß ich recht hatte.– Was ist das mit diesem Abenteuer im Walde, Leo?«

Der Gefragte zuckte die Achseln, »Ich weiß es nicht. Vermutlich wieder eine von Wandas Neckereien. Sie machte mich zuerst mit allerlei Andeutungen neugierig, um mir dann hartnäckig jede Auskunft zu verweigern und sich an meinem Aerger zu ergötzen. Du kennst ja ihre Art.«

»Jawohl, ich kenne sie.« Auf der Stirn der Fürstin lag eine leichte Falte. »Wanda liebt es nun einmal, mit allen zu spielen, alle, die in ihre Nähe kommen, ihren Mutwillen fühlen zu lassen. Du solltest ihr das nicht so leicht machen, Leo, wenigstens soweit es dich betrifft,«

Der junge Fürst errötete bis an die Stirn. »Ich, Mama? Ich bin ja oft genug im Streit mit Wanda.«

»Und läßt dich trotzdem am Gängelband ihrer Launen leiten, wie und wohin es ihr beliebt. Laß das gut sein, mein Sohn! Ich weiß, wer bei euren Streitigkeiten schließlich triumphiert–doch das sind für jetzt noch Kindereien. Ich wollte etwas Ernstes mit dir besprechen; schließe die Balkonthür und komme hierher an meine Seite!«

Leo gehorchte; sein Gesicht verriet, daß er verletzt war, vielleicht weniger durch die eben empfangene Zurechtweisung als durch den Ausdruck »Kindereien«.

Die Fürstin nahm jedoch nicht die geringste Notiz von seiner Stimmung.

»Du weißt,« begann sie, »daß ich bereits einmal vermählt war, ehe ich deinem Vater die Hand reichte, und daß ein Sohn aus dieser ersten Ehe existiert. Du weißt auch, daß er in Deutschland erzogen wurde, hast ihn aber bisher noch niemals gesehen. Das wird jetzt geschehen. Du wirst ihn kennen lernen.«

Leo fuhr mit dem Ausdruck der lebhaftesten Ueberraschung empor. »Meinen Bruder Waldemar?«

»Waldemar Nordeck, ja!« Der Nachdruck, den die Fürstin auf den Namen legte, enthielt einen vielleicht unbeabsichtigten, aber ganz entschiedenen Widerspruch gegen jede Zusammengehörigkeit dieses Nordeck mit einem Baratowski. »Er lebt hier in der Nähe auf dem Gute seines Vormundes. Ich habe ihm von unserm Hiersein Nachricht gegeben und erwarte ihn in diesen Tagen.«

Leos früherer Unmut war verflogen. Der Gegenstand des Gespräches interessierte ihn augenscheinlich aufs höchste. »Mama,« sagte er zögernd, »darf ich nicht endlich Näheres über diese düsteren Familiengeschichten erfahren? Ich weiß nur, daß deine erste Ehe eine unglückliche war, daß du mit Waldemars Verwandten und seinem Vormunde gänzlich zerfallen bist, und auch das weiß ich nur aus den Andeutungen des Onkels und der alten Diener unsres Hauses. An dich und den Vater habe ich nie eine Frage über diesen Punkt gewagt. Ich sah, daß sie ihn verletzte und dich erzürnte. Ihr schient beide jede Erinnerung daran verbannen zu wollen.«

In dem Antlitze der Fürstin lag ein seltsamer Ausdruck von Härte, und dieselbe Härte klang auch in ihrer Stimme, als sie erwiderte: »Gewiß! Demütigung und Erniedrigung deckt man am besten mit Vergessenheit, und an beiden ist jene unselige Verbindung überreich gewesen. Frage mich jetzt nicht danach, Leo! Du kennst die Ereignisse – laß dir daran genügen! Ich kann und will dich nicht Schritt für Schritt in ein Familiendrama einführen, an das ich noch jetzt nicht denken kann, ohne daß der Haß gegen einen Toten sich in mir regt. Ich dachte diese drei Jahre gänzlich aus meinem Leben zu streichen und ahnte nicht, daß ich dereinst selbst gezwungen sein werde, sie wieder hervorzurufen.«

»Und wer zwingt dich dazu?« fragte Leo rasch. »Doch nicht etwa unsre Rückkehr? Wir gehen jedenfalls nach Rakowicz zum Onkel.«

»Nein, mein Sohn, wir gehen nach Wilicza.«

»Wilicza?« wiederholte Leo befremdet. »Das ist ja – Waldemars Herrschaft.«

»Es wäre mein Witwensitz gewesen, ohne jenes Testament, das mich verstieß,« sagte die Fürstin schneidend. »Jetzt ist es das Eigentum meines Sohnes – es wird wohl für seine Mutter Platz darauf sein.«

Leo trat mit ungestümer Bewegung einen Schritt zurück. »Was heißt das?« rief er heftig. »Willst du dich vor diesem Waldemar zu einer Bitte erniedrigen? Ich weiß, daß wir arm sind, aber eher will ich alles ertragen, alles entbehren, ehe ich zugebe, daß du um meinetwillen – «

Die Fürstin erhob sich plötzlich. Ihr Blick und ihre Haltung waren so gebietend, daß der Sohn mitten in seinem leidenschaftlichen Widerspruch verstummte.

»Hältst du deine Mutter für fähig, sich zu erniedrigen?« fragte sie. »Kennst du sie so wenig? Überlaß es mir, mein Sohn, meine und deine Stellung zu wahren! Du brauchst mir wahrlich nicht die Grenze zu ziehen, bis zu der ich gehen darf. Ich kenne sie allein.«

Leo schwieg und sah zu Boden. Die Mutter trat ihm näher und nahm seine Hand.

»Wird dieser Feuerkopf denn nie ruhig denken lernen?« sagte sie milder. »Es wird ihm doch noch so notwendig sein im Leben. Meinen Plan mit Waldemar werde ich allein ausführen. Du, mein Leo, sollst nichts von dem empfinden, was ihm vielleicht Bitteres für mich anhaftet. Du sollst den Blick frei behalten und den Mut ungebeugt für die Zukunft, die deiner wartet. Das ist deine Aufgabe; die meine ist es, dir diese Zukunft zu sichern um jeden Preis. Vertraue deiner Mutter!«

Sie zog den Sohn an sich, der wie in stummer Abbitte ihre Hand an seine Lippen drückte, und als sie sich jetzt niederbeugte, das schöne lebensvolle Antlitz zu küssen, da sah man, daß die kalte strenge Frau es doch wenigstens verstand, Mutter zu sein, und daß Leo, trotz der Strenge, mit der sie ihn behandelte, doch der Abgott dieser Mutter war.

»Thun Sie mir den Gefallen, Doktor, und hören Sie endlich einmal auf mit diesen ewigen Lamentationen! Ich sage Ihnen, der Junge ist nicht zu ändern. Ich habe es oft genug versucht; sechs Hofmeister haben mir nacheinander dabei geholfen. Wir konnten alle nichts mit ihm ausrichten, und Sie können es erst recht nicht – also lassen Sie ihm seinen Willen!«

Es war der Gutsbesitzer Herr Witold auf Altenhof, der dem Erzieher seines Mündels im kräftigsten Tone diese Rede hielt. Die beiden Herren befanden sich in der großen Eckstube des Wohnhauses, deren Fenster der Hitze wegen weit geöffnet waren und deren ganzes Aussehen zeigte, daß ihr Bewohner Dinge wie Eleganz und Behaglichkeit für sehr überflüssig, wenn nicht gar für schädlich hielt. Die einfachen, zum Teil sehr altertümlichen Möbel waren ohne die mindeste Rücksicht auf geschmackvolle oder auch nur passende Anordnung da- und dorthin geschoben, wie es gerade die augenblickliche Bequemlichkeit erforderte. An den Wänden hingen Flinten, Jagdgerätschaften und Hirschgeweihe, gleichfalls ohne jede Wahl geordnet. Wo gerade Platz war, hatte man einen Nagel eingeschlagen und den betreffenden Gegenstand daran befestigt, unbekümmert darum, wie er sich ausnahm. Auf dem Schreibtisch lagen Wirtschaftsrechnungen, Tabakspfeifen, Sporen und ein halbes Dutzend neuer Reitpeitschen bunt durcheinander. Die Zeitung befand sich auf dem Teppiche, der allerdings vorhanden war, wenigstens dem Namen nach, dessen Abwesenheit dem Zimmer aber jedenfalls zu größerer Zierde gereicht hätte, denn er zeigte deutliche Spuren davon, daß die großen Jagdhunde ihn als täglichen Ruheplatz erwählt hatten. Überhaupt stand und lag kein Ding an dem Platze, wohin es eigentlich gehörte, vielmehr jedes da, wo es gerade zuletzt gebraucht worden war und wo es nun für spätere Fälle liegen blieb. Von dem Kunstsinne des Bewohners gab nur ein einziger Gegenstand in dem Gemache ein freilich haarsträubendes Zeugnis, ein in den grellsten Farben gemaltes Jagdstück, das über dem Sofa hing und dort an der Hauptwand den Ehrenplatz behauptete.

Der Gutsherr saß in seinem Lehnstuhl am Fenster, ganz umlagert von mächtigen Tabakswolken, die er aus seiner Meerschaumpfeife blies. Er war ein angehender Sechziger, sah aber trotz seiner weißen Haare noch verhältnismäßig jugendlich aus und stand jedenfalls noch in der Fülle der Kraft und Gesundheit. Die Gestalt von bedeutender Größe zeigte einen ebenso bedeutenden Körperumfang; das etwas gerötete Gesicht verriet nicht allzuviel Intelligenz, dagegen trug es einen unverkennbaren Ausdruck von Gutmütigkeit. Der Anzug, ein Gemisch von Haus- und Jagdkleidung, war ziemlich nachlässig, und die urkräftige Gestalt mit ihrer urkräftigen Stimme bildete den schärfsten Gegensatz zu der vor ihr stehenden schmächtigen Figur des Erziehers. Der Doktor mochte im Anfange der dreißiger Jahre sein; er war von mittlerer Größe, aber seine gebückte Haltung ließ ihn klein erscheinen. Das Gesicht war nicht gerade unschön, aber es trug zu deutlich den Ausdruck der Kränklichkeit und einer gedrückten Lebensstellung, um anziehend zu erscheinen. Seine Farbe war bleich und ungesund, die Stirn gefaltet, und die Augen hatten jenen zerstreuten unsichern Blick, der Leuten eigen ist, die selten oder nie mit ihren Gedanken ganz bei der Wirklichkeit sind. Der schwarze Anzug zeigte die peinlichste Sorgfalt, und das ganze Wesen des Mannes hatte etwas Schüchternes, Ängstliches, das sich auch in seiner Stimme verriet, als er leise antwortete:

»Sie wissen, Herr Witold, daß ich mich nur im äußersten Notfalle an Sie wende. Diesmal aber muß ich Ihre Autorität in Anspruch nehmen. Ich weiß nicht mehr aus noch ein.«

»Was hat denn Waldemar schon wieder angestiftet?« fragte der Gutsherr ärgerlich. »Daß er unbändig ist, weiß ich so gut wie Sie, da kann ich Ihnen aber nicht helfen. Mir ist der Junge längst über den Kopf gewachsen; er pariert keinem Menschen mehr, auch mir nicht. – Daß er Ihren Büchern davonläuft und sich lieber auf der Jagd herumtreibt – pah, ich habe es in meiner Jugend auch nicht besser gemacht. Mir wollte der Gelehrtenkram auch nicht recht in den Kopf. Daß er keine Manieren hat – ist auch gar nicht notwendig. Wir leben hier ganz unter uns, und wenn wir einmal mit den Nachbarn zusammenkommen, geht es auch ungeniert genug zu. Das wissen Sie doch am besten, Doktor. Sie nehmen ja immer Reißaus vor unsern Jagd- und Trinkgesellschaften.«

»Aber bedenken Sie doch,« wendete der Erzieher ein, »wenn Waldemar mit seinem unbändigen Wesen später in andre Lebensverhältnisse tritt, wenn er sich dereinst verheiratet –«

»Verheiratet?« rief Witold förmlich beleidigt von dieser Voraussetzung. »Er wird doch nicht! Wozu braucht er zu heiraten? Ich bin Junggeselle geblieben und befinde mich wohl dabei, und der selige Nordeck hätte auch besser daran gethan, wenn er ledig geblieben wäre. Nun, mit unserm Waldemar hat es Gott sei Dank keine Not – der läuft allem, was Frauenzimmer heißt, davon, und daran thut er recht.«

Er lehnte sich mit sehr zufriedener Miene in seinen Stuhl zurück. Der Doktor trat einen Schritt näher.

»Um nun aber wieder auf den Anfang unsres Gespräches zurückzukommen –« sagte er zögernd. »Sie geben es ja selbst zu, daß mein Zögling mir völlig entwachsen ist, und es dürfte somit wohl die höchste Zeit sein, ihn auf die Universität zu senden.«

Herr Witold fuhr mit einem Ruck in die Höhe, daß der Erzieher den eben gethanen Schritt zur Annäherung schleunigst wieder zurückthat.

»Dachte ich es doch, daß wieder so etwas herauskommen würde! Seit vier Wochen höre ich nichts andres von Ihnen. Was soll Waldemar auf der Universität? Sich von den Professoren den Kopf noch mehr mit Gelehrsamkeit vollpfropfen lassen? Ich dächte, das hätten Sie schon hinlänglich besorgt. Was ein tüchtiger Gutsherr braucht, hat er gelernt. Er weiß auf Hof und Feldern genau so gut Bescheid, wie mein Inspektor; die Leute versteht er besser in Respekt zu halten als ich, und im Reiten und auf der Jagd thut es ihm keiner zuvor. 's ist ein Prachtjunge.«

Der Erzieher schien diese enthusiastische Ansicht über seinen Zögling durchaus nicht zu teilen. Er wagte das nun freilich nicht laut werden zu lassen, aber er raffte seinen ganzen, offenbar nicht großen Vorrat von Mut zu einer schüchternen Gegenrede zusammen.

»Aber für den Erben von Wilicza dürfte doch am Ende mehr notwendig sein, als nur die Eigenschaften eines guten Inspektors oder Administrators. Mir scheint eine höhere akademische Bildung dringend wünschenswert.«

»Mir ganz und gar nicht,« rief Herr Witold. »Ist es nicht genug, daß ich den Jungen, der mir ans Herz gewachsen ist, doch später von mir lassen muß, weil seine Güter gerade in dem verwünschten Polackenlande liegen? Soll ich mich jetzt schon von ihm trennen, um ihn auf die Universität zu schicken, wohin er durchaus nicht will? Daraus wird nichts – absolut nicht! Er bleibt hier, bis er nach Wilicza geht.«

Er that einige so grimmige Züge aus seiner Pfeife, daß sein Gesicht für mehrere Minuten gänzlich hinter den Tabakswolken verschwand. Der Erzieher stieß einen Seufzer aus und schwieg, aber gerade diese stille Ergebung schien den tyrannischen Gutsherrn zu rühren.

»Geben Sie sich nur zufrieden, Doktor, mit der Universität!« sagte er in ganz verändertem Tone. »Dazu bringen Sie den Waldemar doch nun und nimmermehr, und für Sie ist es auch viel besser, Sie bleiben hier in Altenhof. Hier sitzen Sie so recht mitten unter Ihren Hünengräbern und Runensteinen, und wie das Zeug alles heißt, an dem Sie den ganzen Tag herumstudieren. Ich begreife freilich nicht, was Sie an dem alten Heidengerümpel Merkwürdiges finden, aber eine Freude muß der Mensch haben, und Ihnen gönne ich sie von Herzen, denn Waldemar macht Ihnen oft genug das Leben schwer – und ich dazu.«

Der Doktor machte eine verlegen abwehrende Bewegung, »O, Herr Witold!«

»Genieren Sie sich nicht!« sagte dieser gutmütig, »Ich weiß ja doch, daß Sie im Grunde unser Leben hier für eine ganz heillose Wirtschaft halten, und uns längst davongelaufen wären, wie Ihre sechs Vorgänger, wenn nicht das alte Heidengerümpel wäre, an dem nun einmal Ihr ganzes Herz hängt, und von dem Sie sich nicht trennen können. Nun, Sie wissen ja, ich bin nicht so schlimm, wenn ich auch hin und wieder einmal auffahre, und da Sie mit Ihren Gedanken doch fortwährend in der Heidenzeit herumstöbern, müßte Ihnen eigentlich bei uns am wohlsten sein. Wie ich mir habe sagen lassen, hatten die Leute damals gar keine Manieren; sie schlugen sich oft aus reiner Freundschaft untereinander tot.«

Dem Doktor schienen die historischen Kenntnisse, die der Gutsherr entwickelte, doch wohl etwas bedenklicher Natur; vielleicht fürchtete er auch eine praktische Anwendung derselben auf seine eigene Person, denn er retirierte unmerklich nach dem Sofa.

»Verzeihen Sie, die alten Germanen –«

»Waren nicht wie Sie, Doktor,« rief der Gutsherr, dem das Manöver nicht entgangen war, überlaut lachend. »So viel weiß ich auch noch. Ich glaube, von uns allen kommt ihnen Waldemar am nächsten, also begreife ich gar nicht, was Sie eigentlich an ihm auszusetzen haben.«

»Aber, Herr Witold, im neunzehnten Jahrhundert –« Weiter kam der Doktor nicht in seiner Auseinandersetzung, denn in diesem Augenblick krachte ein Schuß, der unmittelbar vor dem offenen Fenster abgefeuert wurde. Die Kugel pfiff durch das Zimmer, und das große Hirschgeweih, das über dem Schreibpulte hing, stürzte polternd herab.

Der Gutsherr sprang von seinem Sitze auf. »Waldemar! Was soll das heißen? Schießt uns der Junge jetzt etwa gar noch in die Stube hinein? Wart', das Handwerk werde ich dir legen.«

Er wollte hinauseilen, wurde aber durch den Eintritt eines jungen Mannes daran verhindert, der die Thür öffnete oder sie vielmehr aufstieß, um sie dann in der rücksichtslosesten Weise wieder ins Schloß fallen zu lassen. Er war im Jagdanzuge, hatte einen großen Jagdhund neben sich und die abgeschossene Flinte in der Hand. Ohne Gruß, ohne Entschuldigung wegen seines gewaltsamen Auftretens, ging er auf Witold zu, stellte sich dicht vor ihn hin und sagte triumphierend:

»Nun, wer hat recht? Du oder ich-«

Der Gutsherr war wirklich zornig. »Ist das eine Art, den Leuten über die Köpfe wegzuschießen?« rief er hitzig. »Man ist ja vor dir seines Lebens nicht mehr sicher. Willst du den Doktor und mich durchaus aus der Welt schaffen?«

Waldemar zuckte die Achseln. »Warum nicht gar! Meine Wette wollte ich gewinnen. Du behauptetest ja gestern, ich würde von draußen den Nagel nicht treffen, an dem der Zwölfender hängt – da sitzt die Kugel.«

Er wies nach der Wand hinauf. Witold folgte der Richtung.

»Wahrhaftig, da sitzt sie,« sagte er voll Bewunderung und gänzlich versöhnt. »Doktor, sehen Sie nur – aber was ist Ihnen denn?« »Herr Doktor Fabian hat wahrscheinlich wieder seine Nervenzufälle,« sprach Waldemar höhnisch, indem er seine Flinte beiseite stellte, aber keine Miene machte, seinem Lehrer beizustehen, der halb ohnmächtig von dem Schreck in das Sofa zurückgesunken war und noch an Händen und Füßen zitterte. Der gutmütige Witold richtete ihn auf und redete ihm nach Kräften zu.

»Erholen Sie sich doch! Wer wird denn gleich ohnmächtig werden, weil ein wenig Pulver verknallt ist; die Geschichte ist ja nicht der Rede wert. Es ist wahr, wir hatten gewettet, aber wie konnte ich denn wissen, daß der Junge die Sache auf so unvernünftige Weise ins Werk setzen würde. Anstatt uns hinauszurufen, damit wir in aller Ruhe zusehen können, feuert er uns ohne weiteres in die Stube hinein. – Ist Ihnen nun besser? Gott sei Dank!«

Doktor Fabian war aufgestanden und bemühte sich, sein Zittern zu beherrschen, es wollte ihm aber noch nicht gelingen.

»Sie hätten uns erschießen können, Waldemar!« sagte er mit bleichen Lippen.

»Nein, Herr Doktor, das hätte ich nicht thun können,« versetzte Waldemar in wenig ehrerbietigem Tone. »Sie standen mit dem Onkel vor dem Fenster zur Rechten, und ich schoß durch das zur Linken, mindestens fünf Schritt seitwärts. Sie wissen doch, ich fehle nie.«

»Künftig aber läßt du das bleiben,« erklärte Witold, mit einem Versuche, die Autorität des Vormundes geltend zu machen. »Der Kuckuck kann doch einmal mit solcher Kugel sein Spiel treiben, und dann ist das Unglück fertig. Ich verbiete dir ein für allemal das Schießen auf dem Hofe.«

Der junge Mann schlug trotzig die Arme übereinander. »Das kannst du, Onkel, aber gehorchen thue ich nicht. Ich schieße doch.«

Er stand vor seinem Pflegevater wie das verkörperte Bild des Trotzes und der Unbändigkeit. Waldemar Nordeck zeigte in seinem Äußeren den echt germanischen Typus, auch nicht der kleinste Zug erinnerte daran, daß die Mutter einem andern Volk entstammte. Der hohe, fast riesige Wuchs überragte selbst die stattliche Gestalt Witolds noch um einige Zoll, aber dem Körper fehlte das Ebenmaß; jede Linie trat scharf und eckig hervor. Das blonde Haar schien in seiner überreichen Fülle eher eine Last für den Kopf zu sein, denn es fiel tief in die Stirn herab und wurde von Zeit zu Zeit mit einer ungeduldigen Bewegung zurückgeworfen. Die blauen Augen hatten einen finstern Ausdruck, und in Momenten der Gereiztheit, wie jetzt, gewann der Blick sogar etwas Feindseliges. Das Gesicht war entschieden unschön, auch hier zeigte sich jede Linie scharf, unvermittelt – nichts mehr von den weicheren Formen des Knaben, aber auch noch nichts von den festen Zügen des Mannes, der Übergang trat hier in fast abstoßender Gestalt auf, und die Verwilderung, die sich schon in dem Äußeren des jungen Mannes kundgab, die gänzliche Hintansetzung aller Formen, diente nicht dazu, den ungünstigen Eindruck zu verwischen, den die ganze Erscheinung machte.

Herr Witold gehörte offenbar zu jenen Menschen, deren Persönlichkeit und Auftreten eine Energie voraussetzen laßt, von der sie in Wirklichkeit auch nicht das geringste besitzen. Anstatt dem Trotze und der Ungezogenheit seines Mündels in entschiedener Weise entgegenzutreten, fand der Herr Vormund es für gut, nachzugeben.

»Ich sagte es Ihnen ja, Doktor, der Junge pariert auch mir nicht mehr,« meinte er mit einer Gemütsruhe, die da zeigte, daß dies der gewöhnliche Ausgang solcher Streitigkeiten war, und daß, wenn es dem jungen Herrn beliebte, einmal Ernst zu machen, der Pflegevater ebenso machtlos war wie der Erzieher.

Waldemar kümmerte sich um beide nicht weiter. Er warf sich der Länge nach auf das Sofa, ohne die mindeste Rücksicht darauf zu nehmen, daß seine vom Sumpfwasser durchnäßten Stiefel in Berührung mit den Polstern kamen, während der große Jagdhund, der jedenfalls im Wasser gewesen war, dem Beispiele seines Herrn folgte und es sich mit der gleichen Rücksichtslosigkeit auf dem Teppich bequem machte.

Es entstand jetzt eine etwas unbehagliche Pause. Der Gutsherr versuchte brummend seine inzwischen ausgegangene Pfeife wieder in Brand zu setzen, Doktor Fabian aber hatte sich an das Fenster geflüchtet und schickte einen Blick zum Himmel, der deutlicher als Worte aussprach, daß er das Leben hier wirklich für eine »heillose Wirtschaft« erachtete.

Der Gutsherr hatte inzwischen nach seinem Tabaksbeutel gesucht, den er denn auch richtig auf dem Schreibpulte unter den Sporen und Reitpeitschen entdeckte. Im Begriffe, ihn hervorzuziehen, fiel ihm ein noch uneröffnetes Schreiben in die Hand; er nahm es auf.

»Das hätte ich beinahe vergessen! Waldemar, da ist ein Brief an dich.« »An mich?« fragte Waldemar gleichgültig, aber doch mit jener Verwunderung, die ein ungewöhnliches Ereignis hervorruft.

»Jawohl. Eine Krone im Siegel und ein großes Schild mit allerhand Wappengetier. Wird wohl von der Fürstin Baratowska sein. Es ist freilich lange her, daß wir mit einem allergnädigsten Handschreiben beehrt wurden.«

Der junge Nordeck erbrach den Brief und durchflog ihn. Er schien nur wenige Zeilen zu enthalten, aber trotzdem stieg auf der Stirn des Lesenden so etwas wie eine Wetterwolke auf.

»Nun, was gibt es?« fragte Witold. »Sitzt die Verschwörergesellschaft noch immer in Paris? Ich habe den Poststempel nicht angesehen.«

»Die Fürstin ist mit ihrem Sohne drüben in C.,« berichtete Waldemar; er schien die Bezeichnung Mutter und Bruder absichtlich zu vermeiden. »Sie wünscht mich dort zu sehen, ich werde morgen hinüberreiten.«

»Das wirst du bleiben lassen,« sagte der Gutsherr. »Hat sich die hochfürstliche Verwandtschaft jahrelang nicht um dich gekümmert, so braucht sie es auch jetzt nicht zu thun. Wir fragen wahrhaftig nichts danach – du bleibst hier.«

»Onkel, jetzt ist es genug mit dem ewigen Befehlen und Verbieten,« brach Waldemar auf einmal mit solcher Wildheit los, daß jener ihn mit offenem Munde anstarrte. »Bin ich ein Schulknabe, der bei jedem Schritte erst um Erlaubnis fragen muß? Habe ich mit einundzwanzig Jahren nicht einmal das Recht, selbst über die Zusammenkunft mit meiner Mutter zu entscheiden? Ich habe bereits darüber entschieden, und morgen früh reite ich nach C.«

»Nun, nun, nur nicht gleich so bärenwütig!« sagte Witold, mehr erstaunt als erzürnt über diesen plötzlichen Ausbruch eines Jähzorns, den er sich gar nicht erklären konnte. »Meinetwegen reite, wohin du willst! Ich will nichts mit der Polengesellschaft zu thun haben, das sage ich dir.«

Waldemar hüllte sich in trotziges Schweigen; er nahm seine Flinte, pfiff seinem Hunde und verließ das Zimmer. Der Vormund sah ihm kopfschüttelnd nach, auf einmal aber schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er nahm den Brief, den Waldemar achtlos auf dem Tische hatte liegen lassen, und las ihn gleichfalls durch. Jetzt war es Herr Witold, der bei der Lektüre die Stirn runzelte und bei dem schließlich ein Ungewitter losbrach.

»Dachte ich es doch!« rief er, mit der Faust auf den Tisch schlagend, »Das sieht der Frau Fürstin ähnlich. In sechs Zeilen stachelt sie den Jungen zur Empörung gegen mich auf; darum wurde er auf einmal so aufsässig, Hören Sie nur, Doktor, die saubere Epistel:

»›Mein Sohn! es sind Jahre vergangen, ohne daß ich ein Lebenszeichen von Dir erhalten habe.‹ Als ob sie uns eins gegeben hätte!« – schob der Lesende ein. »›Ich weiß nur durch Fremde, daß Du noch auf Altenhof bei Deinem Vormunde lebst. Ich befinde mich augenblicklich in C., und ich würde mich sehr freuen, wenn ich Dich dort sehen und Dir Deinen Bruder zuführen könnte. Ich weiß nun freilich nicht‹ – geben Sie acht, Doktor, jetzt kommt der Stachel! – ›ob Du die nötige Freiheit zu diesem Besuche hast. Wie ich höre, bist Du trotz Deiner inzwischen eingetretenen Mündigkeit noch gänzlich von dem Willen Deines Vormundes abhängig.‹ – Doktor, Sie sind Zeuge davon, wie der Junge uns beide Tag für Tag maltraitiert. – ›An Deiner Bereitwilligkeit, zu kommen, zweifle ich nicht, wohl aber an der Erlaubnis dazu von seiten des Herrn Witold. Ich habe es dennoch vorgezogen, mich an Dich zu wenden, und ich werde ja sehen, ob Du so viel Selbständigkeit besitzest, um diesen Wunsch Deiner Mutter, den ersten, den sie Dir ausspricht, zu erfüllen, oder ob Du ihr selbst diese Bitte nicht gewähren darfst.‹ Das ›darfst‹ ist unterstrichen, – ›Im ersteren Falle erwarte ich Dich in diesen Tagen und schließe den Grüßen Deines Bruders die meinigen bei. Deine Mutter.‹«

Herr Witold war so erbost, daß er den Brief auf den Fußboden schleuderte. »Und so etwas muß man nun lesen! Meisterhaft ausgedacht von der Frau Mutter. Sie weiß so gut wie ich, welch ein Eisenkopf Waldemar ist, und wenn sie ihn jahrelang studiert hatte, sie könnte ihn nicht besser an seiner schwachen Seite fassen. Der bloße Gedanke, daß ihm Zwang geschehen könnte, bringt ihn außer sich. Jetzt mag ich Himmel und Erde in Bewegung setzen, um ihn zu halten, er wird doch gehen, bloß um zu zeigen, daß er seinen eigenen Willen hat. – Was sagen Sie eigentlich zu der Geschichte?«

Doktor Fabian schien in die Familienverhältnisse hinlänglich eingeweiht zu sein und die bevorstehende Zusammenkunft mit dem gleichen Schrecken zu betrachten, wenn auch freilich aus andern Gründen.

»Um Gottes willen!« sagte er ängstlich. »Wenn Waldemar auch in C. mit seinem gewöhnlichen unbändigen Wesen auftritt, wenn er der Frau Fürstin so vor die Augen kommt, was wird sie denken!«

»Daß er nach seinem Vater geraten ist, und nicht nach ihr,« war die nachdrückliche Antwort des Gutsherrn. »So, gerade so soll sie Waldemar sehen, da wird es ihr wohl klar werden, daß er kein allzu gefügiges Werkzeug für ihre Intriguen abgibt; denn daß da wieder Intriguen gesponnen werden, darauf will ich meinen Kopf verwetten. Entweder der hochfürstliche Geldbeutel ist leer – ich glaube, er ist nie allzu voll gewesen –, oder es soll wieder einmal eine kleine Staatsverschwörung ins Werk gesetzt werden, und dazu liegt Wilicza so recht bequem, dicht an der Grenze. Was sie eigentlich mit meinem Jungen vorhaben, weiß der Himmel, aber ich werde schon dahinter kommen und ihm beizeiten die Augen öffnen.«

»Aber Herr Witold,« mahnte der Doktor. »Wozu den unglücklichen Riß in der Familie noch mehr erweitern, jetzt wo die Mutter die Hand zur Versöhnung bietet! Ware es denn nicht besser, endlich einmal Frieden zu schließen?«

»Das verstehen Sie nicht, Doktor,« sagte Witold mit einer bei ihm ganz ungewöhnlichen Bitterkeit. »Mit der Frau ist kein Frieden zu schließen, wenn man sich nicht willenlos ihrer Herrschsucht unterwirft, und weil der selige Nordeck das nicht that, hatte er Tag für Tag die Hölle im Hause. Nun, ich will ihn nicht gerade herausstreichen. Er hatte seine argen Fehler und konnte einem Weibe das Leben wohl schwer machen, aber das Unglück kam doch daher, daß er gerade diese Morynska zur Frau nahm. Eine andre hätte ihn vielleicht lenken, vielleicht ändern können, aber freilich, ein wenig Herz hätte dazu gehört, und von dem Artikel hat Frau Jadwiga nie etwas aufweisen können. Herzlos ist sie von jeher gewesen und hochmütig dazu. Nun, die sogenannte ›Erniedrigung‹ der ersten Ehe ist ja durch die zweite wieder gut gemacht worden. Schade nur, daß die Frau Fürstin Baratowska mit Gemahl und Sohn nicht auf Wilicza residieren durfte. Das hat sie nie verwinden können, aber da hatte das Testament zum Glück einen Riegel vorgeschoben, und daß Waldemar nicht noch nachträglich eine Dummheit macht, dafür haben wir mit unsrer Erziehung gesorgt.«

»Wir?« rief der Doktor erschrocken, »Herr Witold, ich habe redlich meine Unterrichtsstunden gegeben, wie es mir vorgeschrieben war; auf das Wesen meines Zöglings habe ich leider nie den geringsten Einfluß üben können, sonst –« Er stockte.

»Wäre er anders geworden,« ergänzte Witold lachend. »Nun, machen Sie sich keine Gewissensbisse darüber! Mir ist der Junge recht, so wie er nun einmal ist, trotz all seiner Wildheit. Wenn Sie also wollen, ich habe ihn erzogen. Wenn das zu den intriganten Plänen der Baratowska nicht stimmt, so soll es mich freuen, und wenn morgen meine Erziehung und ihre Pariser Bildung tüchtig aneinander geraten, so soll es mich noch mehr freuen. Das ist doch wenigstens eine Vergeltung für die boshafte Epistel da.«

Mit diesen Worten ging der Gutsherr aus dem Zimmer. Der Doktor bückte sich nach dem Briefe, der noch immer auf dem Fußboden lag, hob ihn auf, legte ihn sorgfältig zusammen und sagte mit einem tiefen Seufzer:

»Und schließlich wird es doch heißen: Ein gewisser Doktor Fabian hat den jungen Erben erzogen. – O du gerechter Himmel!«

Die Herrschaft Wilicza, deren Erbe Waldemar Nordeck war, lag in einer der östlichen Provinzen des Landes und bestand aus einem sehr umfangreichen Güterkomplex, dessen Mittelpunkt das alte Schloß Wilicza mit dem Gute gleichen Namens bildete. Die Art, wie der verstorbene Nordeck in den Besitz dieser Herrschaft gelangt war, wie er schließlich die Hand einer Gräfin Morynska errungen hatte, bildete nur einen neuen Beitrag zu dem in unsern Tagen so oft wiederholten Schauspiele von dem Sinken alter, einst reicher und mächtiger Adelsfamilien und dem Emporsteigen neuer bürgerlicher Elemente, denen mit dem Reichtum auch die Macht zu teil wurde, die jene einst als ihr ausschließliches Vorrecht in Anspruch nahmen.

Graf Morynski und seine Schwester waren früh zu Waisen geworden und lebten unter der Vormundschaft ihrer Verwandten. Jadwiga wurde im Kloster erzogen, und als sie dasselbe verließ, hatte man bereits über ihre Hand verfügt. Das war durchaus nichts Ungewöhnliches in jenen Adelskreisen, und auch die junge Gräfin hätte sich unbedingt gefügt, wäre der ihr bestimmte Gemahl ihr nur ebenbürtig, wäre er nur wenigstens ein Sohn ihres Volkes gewesen. Aber gerade sie hatte man zum Werkzeug von Familienplänen ausersehen, die um jeden Preis verwirklicht werden sollten.

In der Gegend, wo die meisten Glieder der Morynskischen Familie ansässig waren, war vor einigen Jahren ein gewisser Nordeck aufgetaucht, ein Deutscher von niedriger Herkunft, der aber zu großem Reichtume gelangt war und sich nun hier niederließ. Die Verhältnisse in der Provinz machten es damals einem fremden Elemente leicht, Boden zu gewinnen, wo man es ihm sonst bedeutend erschwert hätte. Die Nachwehen des letzten Aufstandes, der, wenn auch jenseits der Grenze ausgebrochen, doch die deutschen Landesteile in Mitleidenschaft gezogen hatte, machten sich noch überall fühlbar. Die Hälfte des Adels war geflüchtet oder verarmt, infolge der Opfer, die sie der Sache ihres Vaterlandes gebracht hatten, und so war es für Nordeck nicht schwer, die verschuldeten Güter für die Hälfte ihres Wertes an sich zu bringen und nach und nach in den Besitz einer Herrschaft zu gelangen, die ihm eine Stellung unter den ersten Grundbesitzern des Landes sicherte.