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Dörte Müller

Wieso immer ich?

Kurzgeschichten aus dem Alltag





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Das Drama im Badezimmer

 

Wer unter die Oberfläche dringt,

tut es auf eigene Gefahr.

(Oscar Wilde)

 

 

 

 Ich sitze auf den eisigen Fliesen im Badezimmer und heule. Wie ein Häufchen Elend sitze ich da. Ungeschminkt und ausgelaugt. Ich möchte gar nicht wissen, wie ich jetzt aussehe. Doch der Anblick im Spiegel ist mir glücklicherweise verwehrt. Ich, Pauline Kaufmann, 40 Jahre alt, Einzelhandelskauffrau, sitze hier in meinem Badezimmer wie eine irre Gestalt aus einer Tragikkomödie von Pedro Almodóvar. Dass es einmal so weit mit mir kommen würde ... Die Kälte kriecht mir den Rücken hoch und legt sich um mich wie ein schwerer Mantel. Ich spüre, wie sich eine Gänsehaut über den ganzen Körper ausbreitet. Eine unsichtbare eisige Hand scheint mir die Kehle zuzudrücken. Ich schluchze. Die Tränen sprudeln mir nur so aus den Augen und laufen an meinen Wangen herunter wie wahre Sturzbäche. Alles scheint vor meinen Augen zu verschwimmen. Nebel, überall weißer Nebel. Ich fühle mich wie auf Tauchstation. Immer tiefer zieht mich der Sog, alles dreht sich in meinem Kopf. Ich kann nicht mehr klar denken, schon lange nicht mehr. Doch das Weinen und Wimmern bringt mich auch nicht weiter. Was für ein schrecklicher Tag ... Freitag der 13.! Ich hätte es ahnen können, doch abergläubisch bin ich eigentlich noch nie gewesen. Bis zu dem heutigen Tag.

Wieso ist das gerade mir passiert? Wieso mir? Aber diese Frage stellt sich wohl jeder in meiner Situation. Hätte ich es verhindern können? Wieso war es ausgerechnet heute passiert? Habe ich in meinem früheren Leben etwas verbrochen und muss jetzt dafür büßen? Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich kann in diesem Zustand unmöglich auf die Straße, kann nicht zur Arbeit fahren, kann eigentlich gar nichts.

Dabei war heute Morgen alles noch so normal, so schön ... alles war in Ordnung. Toast in der Küche, der frisch gebrühte Kaffee, ...

Plötzlich sieht die Welt ganz anders aus – Ich schniefe vor mich hin. Tausend Fragen gehen mir durch den Kopf: Wann ist es passiert? Warum ist es passiert? Wie ist es passiert? Und vor allen Dingen: Wo ist es passiert? Das „Wo“ interessiert mich jetzt am meisten ... Doch so sehr ich mir das Hirn zermürbe: Ich komme einfach nicht drauf. Wahnsinn! Wo ist es bloß passiert? Ich schlage mir meine geballten Fäuste an die Stirn. Wo ist es passiert? Im Schlafzimmer? Auf dem Flur? In der Küche? „Denk` nach, Pauline, denk nach!“, schießt es mir durch den Kopf. Am liebsten würde ich mir jetzt selber durch den Kopf schießen ... Es kann praktisch überall passiert sein. Die Lage ist aussichtslos. Ich hasse mich selber dafür. Warum kann ich nicht besser aufpassen? Ich habe selber Schuld an der Misere. Ich versuche mich zu beruhigen und atme tief ein und aus. Das hilft ein wenig. Ich denke an meinen Yogakurs und versuche zu entspannen. Dann krabbele ich auf allen Vieren auf dem Boden entlang und stoße mich an dem Unterbauschrank. Das wird ein Horn geben. Auch das noch. Aber das ist das kleinere Übel. Ich stelle fest: So komme ich nicht weiter. Es hat alles keinen Zweck.

Schließlich bin ich an der Tür angelangt. Irgendwie. Ich taste nach vorne. Ja, das muss die Tür sein. Mit letzter Kraft ziehe ich mich hoch und öffne sie.

Dann brülle ich los, meine Stimme überschlägt sich: „Hans - Jürgen, hol` mir mal meine Brille, ich habe die verdammten Kontaktlinsen verloren!“

 

Eiszeit

Meine rauen Hände bohrten sich zum wiederholten Mal in die Eisschicht. Die Kälte hatte sich schon in meinem ganzen Körper ausgebreitet, meine Fingerspitzen fühlten sich taub und klamm an. Um mich herum: Wasser , Pfützen, Schneeschmelze.  Irgendwie kam mir die Schnulze von Peter Maffay in den Sinn „Eiszeit ...“ Immer und immer wieder ging mir die Melodie im Kopf herum, wie in einem Karussell. Es war entsetzlich. Schon vor einiger Zeit war mir bewusst geworden, dass ich vollkommen die falschen Klamotten anhatte. Aber jetzt war es zu spät. Ich durchdachte eine Sache eben nie so genau, und jetzt musste ich bitter dafür büßen. Es war kalt. Unendlich kalt. Und das mitten im August! Reinhold Messner waren auf einer Expedition einmal Zehen abgefroren – hoffentlich würde es mir nicht genauso gehen. Wie lange dauerte es wohl, bis Finger abfroren? Das wäre entsetzlich, denn ich spiele doch so gerne Klavier ... früher zumindest einmal.  Die Minuten wurden zu Stunden, das Gefühl für Zeit hatte ich schon lange verloren. Kälte hatte ich noch nie gemocht. Ich war ein Sommertyp. Liebte die lauen Nächte und die Hitze am Strand. Den heißen Asphalt unter meinen Füßen ... Doch das hier war ganz und gar nicht das, was ich liebte. Im Gegenteil: Ich hasste Eis und Schnee. Ein Skiurlaub wäre wirklich das aller letzte, wozu ich Lust hätte. Doch manchmal spielt das Schicksal einem einen Streich. Ich wischte mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Ich schwitzte und fror zugleich – was für ein eigenartiges Gefühl.

Mit ganzer Kraft zog ich an dem Brocken aus Eis. Er bewegte sich nicht. Ich biss die Zähne zusammen: Noch einmal, noch einmal, ich musste es schaffen. Jetzt oder nie! Gleichzeitig stieg Wut in mir auf. Warum immer ich? Gedankenfetzen jagten durch meinen Kopf und reihten sich aneinander wie Sequenzen aus einem Actionthriller. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen und mich zu beruhigen. Dabei immer wieder Gedanken an Hans-Jürgen. Im Grunde hatte er mir die ganze Misere eingebrockt. Dieser Vollidiot. Wahrscheinlich lag er jetzt faul auf dem Sofa und guckte Olympia. Wie ich das hasste!

Plötzlich sprang der Eisklotz ab und stürzte in die Tiefe. Endlich. Ein Gefühl der Erleichterung. Doch endlose Eisberge lagen noch vor mir. Die Kristalle leuchteten in ganzer Pracht – ein einzigartiges Schauspiel der Natur – wie verzaubert betrachtete ich die Eiswüste, die sich vor meinen Augen auftat. Auf allem lag eine Schicht von Pulverschnee. Die Eskimos hatten 100 Wörter für Schnee, das hatte ich einmal irgendwo gelesen. Faszinierend. Eine Schicht nach der anderen tat sich vor meinen Augen auf.

Ich dachte an das Buch, das mir meine Schwester zum letzten Geburtstag geschenkt hatte: „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ . Sollte ich es vielleicht doch einmal lesen? Der Film sollte ja auch so gut sein ...

Wieder krallten sich meine Hände ins Eis. Meine Hose – völlig durchweicht – meine Knie: Wund und nass. So hatte ich mir meinen ersten Urlaubstag nicht vorgestellt. Der Eisbrocken bewegte sich kaum. Meine roten Hände zogen und zerrten.

Schmerzen. Schmerzen und Wut. Schließlich hatte ich die Nase voll.

Ich bäumte mich auf und schrie mit letzter Kraft: „Hans-Jürgen, das nächste Mal taust du den Kühlschrank ab!“