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Über dieses Buch

»Ein Außenseiter« liest sich wie ein autobiographischer Text dieses virtuosen Zeichendeuters der französischen Moderne. Augenblicklich taucht man in eine fast kafkaeske Situation ein, die unerklärlich bedrohlich wirkt. Der Ich-Erzähler lebt isoliert in einem Hotelzimmer im Pariser Quartier Latin, seine materiellen Mittel sind begrenzt, aber ihre Herkunft scheint zwielichtig. Es gibt eine merkwürdige, fast mysteriöse Verbindung zu einem Arzt, dem alle Attribute eines Wohltäters anhaften. Ein gemeinsames Essen löst eine plötzliche Katastrophe für den Ich-Erzähler aus. Doch der Leser spürt ein unausgesprochenes Ereignis, eine unerhörte Begebenheit im Hintergrund, die diese Bedrohung erklären muss. In einer Rückblende eines Film noir führt der Autor in die wirklichen Zusammenhänge eines Lebens ein, das alles zuvor Erzählte in einem anderen Licht erscheinen lässt, das Leben eines hoffnungslosen Pessimisten, eines Außenseiters, dessen Verhalten den Normen nicht entspricht und der daher ungewollt und unberechtigt in Ächtung gerät. Sparsam im Ton, von Anbeginn spannungsgeladen entfaltet Bove ein tiefgründiges Nachdenken über das Leben eines Außenseiters, über sein eigenes Leben.

»Handelt es sich um eine Autobiographie (oder so etwas Ähnliches)? Man könnte es meinen bei dem einen oder anderen Tonfall, der einen mitunter rührt. Es geht immer um denselben Helden Boves und immer um dieselbe Geschichte. […] Das ist vielleicht nicht allererste Qualität, aber es ist mehr als jemals sonst Bove’sche Qualität.« (Aus dem Ablehnungsschreiben der Éditions Gallimard, 1939)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Der Übersetzer

Dirk Hemjeoltmanns, 1945 in Gotha geboren, Gründer des manholt verlags mit Schwerpunkt französische Literatur (darunter fünf Übersetzungen von Romanen Emmanuel Boves) und Herausgeber der edition manholt im dtv. Zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen. Dirk Hemjeoltmanns lebt in Bremen.

Ein Außenseiter

Roman

Aus dem Französischen
von Dirk Hemjeoltmanns

Edition diá

Inhalt

Richard Dechatellux

Mein Leben

Heute

Impressum

Richard Dechatellux

Ich will keine Geschichte erzählen. Dazu habe ich nicht die Geduld. Der Augenblick ist zu schwierig. Was tun? Mein Gott, was tun? Die Papiertüte, die ich über die Glühbirne gestülpt habe, ist angesengt. Schon zwei Stunden sitze ich vor meinem Tisch. Draußen hat es in Strömen geregnet. Jetzt höre ich nichts mehr. Vielleicht leuchten am dunklen Himmel die Sterne. Aber wie ernst ich bin! Mit welchem Recht versuche ich, den Ton eines Mannes zu finden, der leidet? Ach, ich möchte es gar nicht wissen.

Ein Tag folgte dem anderen, immer gleich, seit vier Jahren, vier langen Jahren. Wie hatte ich die Zeit so verstreichen lassen können? Wie hatte ich auf jede Würde verzichten können? Inzwischen verbrachte ich vierzehn, ja sechzehn Stunden im Bett; an meinem Waschbecken wurde ich vom Geläut der Mittagsglocken überrascht. Es ist unglaublich. War ich mit meiner Toilette fertig, ging ich zum Essen in ein kleines Restaurant hinter Saint-Sulpice, gleich neben einem Stundenhotel. Anspielungen auf diese Nachbarschaft habe ich zur Genüge gehört! Denken Sie nur, ein Stundenhotel zwei Schritte neben einer Kirche. Ich zog die Mahlzeit in die Länge. Ich war nicht hinter den Mädchen her, die bedienten. Meine Nachgiebigkeit war allen Stammgästen bekannt. Nach und nach hatten sie die Gewohnheit angenommen, mich mit allen möglichen Erledigungen zu beauftragen. So fremd auch der Ort ist, an den wir uns gebunden haben, am Ende haben wir dort ebenso viele Verpflichtungen wie im Umkreis der Familie. Ich schloss Freundschaften, ließ mich mit Menschen ein, die mir gleichgültig waren. All das geschah, als ob ich einer Gruppe, zu der ich gehörte, treu sein müsste, ohne eigentlich zu wissen, warum.

Um einen Eindruck von der Art der Ereignisse zu geben, die mich beschäftigten, möchte ich eine kleine Begebenheit berichten. Seit einiger Zeit hatte sich der Besitzer meines Hotels einen Umbau vorgenommen. Jede Woche gab es neue Kostenvoranschläge, die Machenschaften anderer Baufirmen. Verwirrt fragte er mich um Rat. Er befürchtete, was ich ihm auch nicht vorwerfen würde, sich in allzu große Ausgaben zu stürzen. »Es wäre vielleicht besser, wenn Sie auf eine günstigere Situation warten«, schlug ich ihm stets vor, denn ich wollte eigentlich nur, dass er alles beim Alten beließ. Ich hatte kein Geld. Ich sah voraus, dass nach einer Instandsetzung der Preis des Hotels steigen würde. Man würde von mir erwarten, dass ich mich dem anpasste. Die erste Zeit dürfte man sich noch daran erinnern, dass ich ein alter Gast war. Aber danach?

»Was sagen Sie dazu, wenn ich zunächst nur alles neu streichen ließe?«

»Das ist keine schlechte Idee. Aber ich an Ihrer Stelle würde warten, bis ich in der Lage wäre, alle Arbeiten auf einmal machen zu lassen. Ich erlaube mir, Ihnen das vorzuschlagen, weil Sie mich um meine Meinung gebeten haben.«

»Sie haben sicherlich recht«, antwortete er mir voller Respekt.

Nun, am nächsten Tag stellten die Maler ihre Farbeimer in den Eingang.

Am Tag, als der Brief eintraf, kehrte ich spät zurück. Ich spürte, dass ich nicht würde einschlafen können. Ich hatte Lust, mich zu unterhalten, mich in Gesellschaft zu begeben, und ausgerechnet jetzt hatte jeder etwas vor. Im Restaurant waren die Gäste früher als sonst aufgebrochen. Die Hotelrezeption war nicht besetzt. Das Odéon, von dem man zwei oder drei Säulen am Ende der Straße sehen kann, hatte Ruhetag. Ich ging wieder hinaus. In der Rue Cujas befand sich ein langgestrecktes Café, wo ich manchmal bekannte Gesichter antraf. Der große Raum war nicht mehr beleuchtet. Welche Enttäuschung wegen einer solchen Kleinigkeit! Das war der Augenblick, wo ich den Entschluss fasste, meine Einsamkeit hinzunehmen und der Erleichterung, die mir die Anwesenheit eines Menschen verschafft, ihren wahren Platz zuzuweisen. Ich würde auf den nächsten Tag warten. Lesen. Rauchen. Rund um mich vertraute Dinge hinlegen. Schon stellte ich mir den einsamen Menschen vor, der ich in meinem Hotelzimmer sein würde. Es fehlte nicht an Größe. Dennoch beschloss ich, nicht zurückzugehen. Ich stieß andere Cafétüren auf. Sie hatten sich in dieser Nacht in bürgerliche Türen verwandelt. Man musste sie schließen, ohne sie hinter sich zuzuwerfen. Sie waren von einer Zerbrechlichkeit, die ich zuvor nie bemerkt hatte. Leute wandten sich um, wollten sehen, wer sie geöffnet hatte. Und noch immer fiel Regen, unablässig, von der Nacht unsichtbar gemacht. »Aber warum habe ich nicht den Mut, mich schlafen zu legen?«, sagte ich zu mir.

Schließlich traf ich einen gewissen Cyprien, eine elende Figur auf der Suche nach Zuhörern. Er ließ sich weitschweifig am Tresen aus. Die Menschenrechte. Der Tod ohne Phrase. Das Land erwartete ihn. Ab und zu hielt er inne, um ein paar Takte der Carmagnole anzustimmen. Ich ging näher zu ihm hin, war bereit, ihm zuzuhören, ihn ernst zu nehmen, so groß war meine Einsamkeit. Er schwieg.

»Was hat dein Vater gemacht?«, sprach ich ihn in der Hoffnung an, eine so persönliche Frage würde ihn wieder in die Realität zurückholen.

»Haben Sie mich eben geduzt?«

Er hob die Stimme, nahm die Kassiererin zur Zeugin meiner fehlenden Höflichkeit. Seit drei Jahren trafen wir uns in diesem Viertel.

»Soviel ich weiß, haben wir nicht zusammen Schweine gehütet«, sagte er hochtrabend.

»So ein Idiot«, murmelte ich beim Hinausgehen.

»Was haben Sie gesagt?«

Er folgte mir bis zur Tür. Ich sah ihn einige Augenblicke lang durch die Scheibe an. Ich war nicht mehr da, aber er fuhr fort, mich zu beschimpfen, mir zu drohen. Die Echtheit der Empörung, ich kenne das. Dann entfernte ich mich. Der Regen brach die Lichter. Ich legte fünf Finger gespreizt an den Hals, um den hochgeschlagenen Kragen meines Mantels festzuhalten. Ich hatte das Gefühl, als wäre diese bloße Hand ein Stern im Zentrum meiner seltsamen Erscheinung. Es war erst halb elf. Ich ging den Boulevard Saint-Michel hinunter. »Die endgültigen Ergebnisse, die endgültigen Ergebnisse«, schrien die Zeitungsverkäufer. Die Ergebnisse? Gab es denn noch jemanden, der sie nicht kannte, der keine Gelegenheit gehabt hatte, sich eine Zeitung zu kaufen?

Was für ein eigentümliches Schicksal ich hatte! Ich dachte an ein Bild, das, so schien es mir an diesem Sonntagabend, ganz genau zu mir passte. War ich nicht dieser den anderen überlegene Läufer, dem man ein Hindernis in den Weg stellt, das er nicht überwindet, und der deshalb nur als Sechster ins Ziel kommt?

Endlich entschloss ich mich, zurückzukehren. In der Hotelrezeption war niemand außer diesem teilnahmslosen Stubenmädchen, das dort sitzt, wenn der Chef abwesend ist, und das nicht einmal daran denkt, sich wegen dieser Vertrauensstellung aufzuspielen. Man hatte vergessen, mein Fenster zu schließen. Es hatte ins Zimmer geregnet, und die Tropfen auf dem Holzfußboden nahmen mir jedes Gefühl von Geborgenheit.

Ich hatte zum Glück seit drei Wochen einen angenehmen Nachbarn, einen Österreicher. Ich sah noch Licht unter seiner Tür. Ich glaube, er hieß tatsächlich Nachtmann. Ich hätte fast geklopft. Aber wir hatten bislang nur ein paar Worte gewechselt, und er war vielleicht nicht alleine. Alles, was ich ihn hatte sagen hören, war – in dem bemühten Ton, den Ausländer haben: »Gehen Sie nur vorbei, Monsieur.« Heute Abend seine Bekanntschaft zu schließen wäre durchaus verlockend. Ich könnte ganz behutsam klopfen. Einmal. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal.

»Wer ist dort?«

»Ihr Nachbar.«

»Welcher Nachbar?«

»Sie wissen doch, der Herr, zu dem Sie kürzlich sagten: Gehen Sie nur vorbei, Monsieur.«

Er würde öffnen. Ich würde einen kindischen Vorwand anbringen. Streichhölzer. Ich würde mich entschuldigen, man spräche miteinander, und die gegenseitige Zuneigung wäre gefunden.

All das war lächerlich. Ich schloss mich ein. Schlafen, ich sollte mich schlafen legen. Dort, nebenan, musste Nachtmann allein sein. Keine Stimmen. Ab und zu hörte ich ihn seine Pfeife ausklopfen. Oh, Besitzer, wie glücklich er ist, dass Sie ihn jetzt, wo Sie so große Ausgaben ins Auge fassen müssen, nicht hören! Dann ging er auf und ab. Was tat dieser Mann in seinem Leben? Was waren seine Ziele? Waren sie für ihn nicht zu hochgesteckt? Vielleicht war er ein frisch graduierter Mediziner oder ein Journalist. Es wäre besser, ich würde ihn nie ansprechen. Ich schämte mich. Er arbeitete. Er war jung. Er glaubte an sich. Ich könnte vor ihm nicht verbergen, dass ich seit vier Jahren in diesem Hotel wohnte. Er würde höflich lächeln, aber welche Verachtung tief in seinem Inneren!

Ich zog meinen Mantel aus, nahm meinen Hut ab. Ich schloss das Fenster. Ich überzeugte mich, dass die Dinge, die mir gehörten, an ihrem Platz waren. Eine Angewohnheit. Alle meine Angewohnheiten warteten auf mich. Sie waren mir in dieses Zimmer gefolgt. Von Jahr zu Jahr sind es mehr geworden. Und doch bedürfte es nur einer Winzigkeit, um mich wieder von ihnen zu befreien. Es bedürfte eines Ereignisses, das mich vor dem täglichen Leben schützte. Ich entschied, mich nicht hinzulegen. Ich musste angezogen bleiben, um mich zu bewegen, um auf und ab zu gehen, um mich zu verteidigen. Was erregte mich so an diesem Abend? Der Brief von Richard. Richard (welch komischer Vorname) bat mich darum, meinen Besuch um vierzehn Tage zu verschieben. Vierzehn Tage! »So beschäftigt ist er nicht, soviel ich weiß!

Ich zog die Vorhänge zu. Ich war es leid, diese Person zu spielen, die man manchmal von der Straße aus hin und her gehen sehen kann, ohne sich mit jemandem zu unterhalten.

Ich legte mich ins Bett. Aber ich konnte nicht einschlafen. Der Brief von Richard bereitete mir ein Unbehagen, das zur Tortur wurde, sobald ich das Licht gelöscht hatte. Schließlich stand ich wieder auf. Nochmals las ich den Brief. Er bestand aus vier Zeilen. »Ich habe weder diese noch nächste Woche Zeit, Sie zu empfangen. Ich bin sehr beschäftigt. Lassen Sie uns Ihren Besuch um vierzehn Tage verschieben. Kommen Sie bitte an diesem Montag, dem 17. Dezember, zum Mittagessen.« Die Zeilen waren weder datiert noch durch eine Höflichkeitsfloskel eingeleitet, noch unterschrieben. Dieser Montag, also Montag, der 17., und kein anderer. Etwas Entschiedenes in diesem Brief verriet eine ganz neue Entwicklung, die mir unbekannt war. Lag es an der Dunkelheit? Meine Gedanken wurden immer konfuser. Was ich war, was ich besaß, verdankte ich Richard Dechatellux. Wenn er einen Weg gefunden hatte, mich loszuwerden, würde ich dann die entsetzlichen Augenblicke, die ich bereits erfahren hatte, wieder erleben? Da es spät war und letztlich keiner von mir abhing, legte ich mich wieder hin. Wenige Augenblicke später schlief ich ein.

Ich erwachte. Rundum Stille. Ich hatte weder das Surren des elektrischen Staubsaugers noch den Straßenlärm gehört, der durch die geöffneten Fenster eindrang und die Stubenmädchen daran hinderte, auf die Klingelzeichen zu antworten, die ihnen Etage um Etage folgten. Es ging auf Mittag zu. Sofort dachte ich an den Brief. Statt den Vorfall auf sein richtiges Maß zurechtzurücken, ließ der neue Tag ihn mir noch ernster erscheinen. Mir kam wieder in den Sinn, was ich über die Art, wie sich Ereignisse entwickeln, gelernt hatte. Wäre ich jünger, hätte ich gedacht, eine Verbindung, wie wir sie hatten, könne sich nur allmählich lösen. Richard hätte mich geschont. Er hätte sich erst nach einigem Vortasten und Hinweisen von mir getrennt. Gegenwärtig erfuhr ich am eigenen Leibe, dass man sich nicht unbedingt in kleinen Schritten auf einen Eklat zubewegen muss. Eine noch so alte Freundschaft kann mit einem Schlag abbrechen, ohne Erklärung, ohne eigentlichen Grund. Und während ich mich anzog, dachte ich, dass ich mich vielleicht überflüssigerweise aufregte, wenn schon alles erledigt war.

Obwohl unsere Beziehung wie die unter Verwandten war, wagte ich nicht, Richard aufzusuchen, wenn er mich nicht vorher darum gebeten hatte. Gab mir sein Brief das Recht, mich darüber hinwegzusetzen? Es war durchaus möglich, dass ich mich geirrt hatte, dass ich zwischen diesen vier Zeilen etwas las, das dort gar nicht stand.

Doch sobald ich angezogen war, hatte ich den Gedanken, zu dem Haus in der Rue de Rome zu gehen, wo er wohnte. Der Himmel war bedeckt. Der Hotelbesitzer hielt sich im Flur auf. Stets um Vervollkommnung bemüht, stellte er sich vor der Trennwand eines kleinen Büros die Frage, ob man bei ihrer Entfernung nicht die Stützmauern beschädige. Wie gewohnt blieb ich stehen. Ich war der einzige Gast, der für diese Fragen Interesse aufbrachte. Er hatte keine Ahnung, dass ich es aus reiner Höflichkeit tat. Er glaubte – ich frage mich übrigens, wie er sich so einer Illusion hingeben konnte –, dass ich der Verschönerung des Hotels dieselbe Bedeutung zumaß wie er. »Wenn man diese Trennwand entfernt«, meinte er, »dann wäre die Eingangshalle größer.« Ich war so sehr von meinen Sorgen in Anspruch genommen, dass mich jedes andere Problem vollkommen kaltließ. Ich antwortete nur knapp. Aber kaum war ich auf der Straße, überkam mich ein ungewöhnliches Gefühl. Angst. Es war Angst. Es kam mir auf einmal vor, als würde ich teuer für meine Gleichgültigkeit zahlen müssen, als würde die Strafe des Himmels mich nicht übersehen. Beinahe wäre ich wieder umgekehrt.

Ich nahm die Buslinie Place Saint-Michel–Gare Saint-Lazare. Der Gang, den ich vorhatte, beruhigte mich. Hatte ich mir nicht eingebildet, dass Richard Ausflüchte gesucht hatte, dass das eigentliche Anliegen seines Briefes war, mich zu beruhigen, meine Nachforschungen zu verzögern, mich vor vollendete Tatsachen zu stellen? Ich wollte die Fenster seiner Wohnung sehen, wollte mich vergewissern, dass die Läden nicht geschlossen waren, die Eingangstür offen stand und der Verkehr wie gewohnt durch die Rue de Rome floss, dass die Kunden in den Geschäften des Viertels bedient wurden, dass niemand im Umkreis des Hauses irgendwelche Hintergedanken zu haben schien.

Es war halb zwei, als ich am Restaurant ankam. Berthe – ein recht altmodischer Vorname – saß zwischen meinen altbekannten Tischnachbarn. Sie aß nur selten mit mir zusammen, vielleicht einmal im Monat, ohne mir das vorher anzukündigen. Sie kam spät hinzu. Ich war meistens schon beim Kaffee. Ich stand auf, um mich mit ihr etwas abseits hinzusetzen. Diesmal spielte sich das genaue Gegenteil ab.

Nach ein paar Sätzen bemerkte sie:

»Sie sind neugierig wie Conciergen, deine Freunde!«

»Wieso?

»Sie wollten von mir wissen, wer du bist, was du machst. Weniger taktvoll kann man nicht sein, findest du nicht auch?«

Berthe hatte betroffen erscheinen wollen, ich vermutete, dass sie mich nicht mit allzu großem Eifer in Schutz genommen hatte. Sie war so verlässlich wie eine ehemalige Geliebte, die jetzt nicht mehr als eine gute Freundin war. Ich zuckte nicht mit der Wimper. Es war mir gleichgültig. Berthe und die anderen waren für mich ohne Belang. Sie hatten die Freiheit, auf meine Kosten über mich herzuziehen, wenn ihnen danach zumute war. Außerdem trifft es einen nicht so sehr, wenn man es nur indirekt erfährt. Wie groß das Übelwollen auch sei, das wir auf uns lasten fühlen, es verfehlt fast immer sein Ziel.

»Weißt du, was sie am meisten interessiert?«, fragte sie.

Berthe und ich, wir hatten Pläne gehabt. Welche Pläne, mein Gott! Sie waren den niedrigsten egoistischen Gefühlen entsprungen. Um sie umzusetzen, hatten wir keine Skrupel, die Interessen anderer zu verletzen, alte Leute zu schädigen. Aber wir hatten uns getrennt, bevor wir sie ausführen konnten.

Ich musterte Berthe. Sie hatte vergessen, was wir uns mit der Ausrede, zu zweit zu sein, ausgedacht hatten. Sie hatte vergessen, und ich, ich erinnerte mich daran. Der Unterschied zwischen uns kam allein daher. War es nicht allzu verständlich, dass sie im Moment die Rolle einer Vertrauten spielte, die dem Widersacher zuhört, um ihn gleich darauf zu verraten?

»Deine Mittel zum Lebensunterhalt«, fuhr Berthe fort. »Ich habe ihnen gesagt, dass du von deiner Familie Geld bekommst. Das durfte ich doch sagen, nicht wahr?«

»Warum solltest du das nicht sagen dürfen? Du weißt genau, dass das ohne jede Bedeutung ist.«

Ich verließ Berthe und ging aus dem Restaurant. Sie hatte mich abgelenkt. Trotzdem hörte ich nicht auf, an Richard zu denken. Mein Ausflug zur Rue de Rome hatte mich nur vorübergehend beruhigt. Ich betrat ein Postamt und rief Richard an. »Wer ist dort bitte?«, fragte mich das Dienstmädchen. »Legen Sie nicht auf, legen Sie nicht auf …« Jemand hatte geantwortet. Nur das hatte ich wissen wollen.

Drei Tage flossen dahin. Sie schienen mir endlos. Nichts beunruhigte mich mehr als warten. Ich hatte in meinem Leben auf zu viele Ereignisse gewartet, Ereignisse, die erst nach Monaten, ja Jahren eintraten. Diese Zeit war vorüber. Ich wartete auf nichts und auf niemanden mehr. Ich machte keine Pläne mehr. Ich traf keine Verabredungen mehr. Wenn Berthe von mir wegging, bat sie mich immer darum, unser nächstes Zusammensein festzulegen. »Komm, wann du willst. Wenn ich nicht da bin, merkst du es ja.« Allein die Treffen mit Richard blieben pünktlich. Ich musste das akzeptieren. Er notierte sich die Daten meiner Besuche. Zwölf Tage, noch zwölf Tage bis zum 17. Dezember.

Freudlos ging eine Woche dahin. Dieser 17. Dezember war für mich vergleichbar mit meiner Entlassung vom Militär. Die Zeit zog sich immer mehr in die Länge. Die Nachmittage wollten nicht enden. Drei Uhr. Vier Uhr. Wie anstrengend diese in der Ferne liegenden Verabredungen für mich waren! Wie recht ich hatte, sie zu vermeiden, wann immer sich mir die Möglichkeit bot! Lag es nicht teilweise an der Ungeduld, in die sie mich versetzten, dass ich so viele Fehler begangen hatte? Hatte ich nicht schon wieder einen begangen?

Eine englische Dame wohnte oder besser residierte in demselben Hotel wie ich. Welches Unglück bewahrte sie in ihrer Erinnerung, wie hatte sie die sechzig Jahre gelebt, die sie wohl hinter sich hatte, wer war dieser Onkel, der in Devonshire verschwunden war, dieser Bruder, der jedes Jahr für ein paar Stunden nach Paris kam? Ich versuchte nicht, es in Erfahrung zu bringen. Ich nahm an, dass sie sich enthaaren ließ, denn an manchen Tagen hatte ihre Haut eine jugendliche Frische. Ihre farblose, wie von Patina bedeckte Kleidung war nie schmutzig oder fleckig. Ich traf sie oft in der Hotelrezeption, wo sie gerne stehen blieb, denn wie schlicht oder ungezwungen sie sich auch gab, man zollte ihr stets Respekt. Trotz des Interesses an den Hotelumbauten, das ich zur Schau trug, verwies mich ihre Anwesenheit in den Hintergrund. Dort blieb ich meistens recht lange, denn von ihrem Charme gefangen, dachte der Besitzer nicht daran, mir meine gewohnte Bedeutung beizumessen.

Eines Tages zeigte diese Person plötzlich Sympathie für mich. Ich hatte wohl eine Bemerkung fallenlassen, die sie behalten hatte. Es sei denn, die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zog, ermutigte sie, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Seither hielt sie mich jedes Mal fest, wenn sie mich traf, und bat mich, ihr in die Rezeption zu folgen. Doch diese Freundschaft hatte Grenzen. Im Hotel waren wir Freunde, aber kaum hatten wir es verlassen, trennten sich ohne Zögern unsere Wege. Das konnte nicht lange so andauern. Unsere Bekanntschaft war zu herzlich geworden, als dass ich dieser Fremden vorenthalten konnte, mit mir, einem Pariser, auszugehen. Ich zögerte diesen Moment so lange hinaus wie nur möglich. Die Beziehungen, die man im täglichen Leben knüpft, fand ich angenehm, doch nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht über eine bloße Kameradschaft hinausgehen. Das war nicht mehr der Fall.

Eines Nachmittags war ich so niedergeschlagen, dass die zu erwartende Langeweile, mit dieser Frau auszugehen, mir wie eine Erholung vorkam. Wir saßen in dem besagten Büro, dessen eine Wand entfernt werden sollte. Es wurde schon dunkel. Draußen herrschte eisige Kälte. Ich betrachtete die Eingangstür am Ende des Flurs und die Passanten hinter der Scheibe; die ganze Zeit hoffte ich, einer von ihnen beträte das Hotel.

»Möchten Sie, dass wir gemeinsam ausgehen?«, schlug ich auf einmal vor.

»Und wohin?«, fragte sie mich derart erfreut, dass ich sie erstaunt ansah.

»Möchten Sie vielleicht ins Kino gehen?«

»Kennen Sie einen sehenswerten Film?«

»Nein. Wir könnten nur so ins Kino gehen. Das ist alles.«

Eine halbe Stunde später saßen wir nebeneinander in einem kleinen Kino in der Rue des Écoles. Ich schaute nicht auf den Film. Ich dachte an die sechs Tage, die ich noch warten musste, bis ich Richard sehen würde. Aber war das nur männliche Einbildung? Mir kam es vor, als beuge sich meine Nachbarin mit Vorliebe zu meiner Seite, um auf die Leinwand blicken zu können, die von dem Zuschauer vor ihr verdeckt wurde. Ein Anflug von Vergnügen schlich sich in den Nachmittag, obwohl sie kaum begehrenswert war, die gute Frau! Sie redete ganz alleine. Ich dachte an den langen, leeren Abend, der mich erwartete, an den nächsten Tag und den übernächsten. Wieder beugte sie sich zu mir herüber. Sie fing an zu lachen. Ich überlegte, ob diese Frau vielleicht zu jenen wehrlosen Wesen gehörte, die zu nichts nein sagen können. Sie mochte faltig und grau sein, ich hatte ein Ziel. Sie lachte noch immer. Die Zeit verging endlich schneller. Aber wenn ich mich irrte, wenn es ein echtes und nicht nur ein nervöses Lachen war! Ich machte eine zweideutige Bemerkung. Sie lachte weiter. Sollte ich meine Hand auf ihre legen, trotz meines Widerwillens? Einige Augenblicke lang fragte ich mich das. Ich schob meine Hand vor. Meine Nachbarin wich zurück. Ein Desaster. Ich verabscheute sie!

»Was haben Sie denn?«, fragte sie mich trocken.

Und ohne ein Wort hinzuzufügen, stand sie auf und ging.

Ich war noch nicht am Ende meiner Leiden. Am 14. Dezember erhielt ich noch einen Brief von Richard. Er verschob unser Treffen auf Montag, den 24. Das hieß, er wollte mich nicht mehr sehen. Die Weihnachtsfeiertage und Silvester würden neue Vorwände ermöglichen. Ich glaubte, einen wohlüberlegten Plan hinter all den Absagen zu erkennen. Richard wollte, dass ich von mir aus darauf verzichtete, ihn zu sehen. Wut verzerrte mein Gesicht. Es ist ein großes Unglück, eines Tages der Willkür von jemandem ausgeliefert zu sein. Welches Ungeschick hatte ich an den Tag gelegt, um dort hinzugelangen? Ich fühlte mich ganz allein verantwortlich, das machte mich noch wütender. Ich musste irgendetwas tun, das mir Erleichterung verschaffte. Nur das arme Telefon bot sich an. Ich wählte Europa. Aber anstatt wie beim letzten Mal nach Richard zu fragen, ließ ich ihm ausrichten, ohne mich zuvor erkundigt zu haben, ob er zu Hause sei, dass ich am 17. vorbeikäme, dass nichts mich davon abhielte.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Châtillon. Ein Mann wie ich erreicht nicht die Mitte des Lebens, ohne seine Opfer hinter sich zu lassen. Ein Mann wie ich ist schwach. Meine Opfer! Bin ich ein Henker? Ich hatte gelitten. Ich litt. Heute leide ich noch immer. Das Schlechte, was ich getan habe, war immer noch wiedergutzumachen, aber das, was man mir angetan hat … Ich habe vom Leben nichts Außergewöhnliches verlangt. Nur eines. Es ist mir immer verwehrt worden. Ich habe wirklich darum gekämpft. Meinesgleichen hat es, ohne danach zu suchen. Es ist nicht das Geld, nicht die Freundschaft, nicht der Ruhm. Es ist ein Platz unter den Menschen, ein Platz für mich, ein Platz, der mir ohne Neid zugestanden würde, weil er nichts Beneidenswertes hätte. Er unterschiede sich in nichts von dem ihrigen. Er wäre ganz einfach respektabel.

Ich besuchte eine Frau, die ich geliebt hatte oder besser, die ich sehr intim gekannt hatte. Ebenso wie mit Berthe hatte ich auch mit Germaine nicht endgültig brechen können, so dass unsere vergangene, sehr vergangene Beziehung weiterhin einen Hauch von Leben bewahrte. Siebzehn Jahre waren vergangen, seit ich Germaine verlassen hatte. Sie hatte mich beschimpft und verflucht. Und ich war wieder zurückgekommen. Ich wollte frei sein, und zugleich sollte sie mir verzeihen. Sie bildete sich ein, dass ich schwach sei. Vielleicht war ich es wirklich. Jedenfalls fühlte sie sich berufen, große Rollen zu spielen. Ohne von ihrer Härte abzulassen, gab sie plötzlich vor, Mitleid mit mir zu haben. Sie war einverstanden, dass ich sie ab und zu besuchte. Ich erinnerte mich an einen elenden Nachmittag, wo sie Freunde eingeladen hatte, um mich ihnen vorzustellen. Wie fremd mir die Herzlichkeit vorgekommen war, die alle an den Tag gelegt hatten!

Ich fuhr also nach Châtillon. Oh, der Trost einer kleinen Reise! Ich nahm die Straßenbahn an der Porte d’Orléans. Es fror. Der Himmel war blau. Die übliche Traurigkeit der Blumenhändler vor dem Friedhof von Vanves war verschwunden. Der Blick fiel in die trostlos kahlen Gärten und entdeckte dort die versteckten Bänke. Ich war glücklich. Die Straßenbahn schien frei zu sein auf ihrem vorgezeichneten Weg, und als sie anhielt, hatte ich nicht wie in Paris das Gefühl, dass sie zu lange brauchen würde, um zurückzufahren. Ich war nicht mehr an ein paar Straßen in einem Viertel gebunden. Mir kam auf einmal der alberne Gedanke in den Sinn, später mit irgendeiner großen Umgehungslinie, über Saint-Cloud oder den Norden, zurückzukehren. Ach, wie angenehm es wäre, ohne Geld und ohne Ziel seinem Untergang entgegenzufahren, statt weiter in der Erniedrigung zu leben!

In Châtillon stürzte ich in einer Art Stehausschank gegenüber vom Bahnhof zwei Glas Wein hinunter. Ich legte keinen Wert darauf, mich vor Mittag sehen zu lassen. Mir schien, dass der Himmel dunkel wurde, obwohl er strahlend hell war. Ich fühlte, dass ich erst die Rückfahrt abwarten musste, um die Hinfahrt nachträglich genießen zu können.

Ich war nicht grundlos nach Châtillon gekommen. Von fünf Uhr morgens, als ich aufgewacht war (das passiert mir öfters, wenn ich am Abend zuvor nicht einschlafen konnte), bis zum Aufstehen hatte ich an Richard gedacht. Eine eigenartige Idee war mir schließlich gekommen. Warum sollte ich nicht Germaines Sohn bitten, mir brieflich mitzuteilen, dass seine Mutter mich seinetwegen schon lange Zeit in Anspruch nahm? Ich könnte das Schriftstück Richard zeigen. Aber würde ich es zeigen? Verachtete ich nicht im Grunde solch elende Tricks? War ich nicht ein Mann, trotz meiner Gemeinheiten? War ich letztlich nicht gleichgültig gegenüber allem, was Richard entscheiden mochte?

Germaine erwartete mich nicht. Ich überraschte sie in aller Hässlichkeit. Das war nicht das erste Mal. Am Anfang hatte ich mich noch gewundert, dass sie nicht unter irgendeinem Vorwand für kurze Zeit verschwand, um sich ein wenig Puder aufzulegen. Ich nahm nicht an, dass sie eine besondere Befriedigung darin fand, so wenig zu ihrem Vorteil auszusehen. Schließlich ahnte ich, dass sie mir auf diese Weise zu verstehen gab, dass sie nicht mehr das geringste Gefühl für mich hatte.

Sie begrüßte mich herzlich. So groß ihr Groll gegen mich auch sein mochte, immer, wenn ich sie besuchte, rechnete sie mit irgendeiner Wendung der Situation, mit irgendeinem unvorhergesehenen Geschenk. Ich nahm das so deutlich wahr, dass ich instinktiv, kaum dass ich eingetreten war, als Erstes sagte, es gäbe nichts Neues. Sie verbarg ihre Enttäuschung hinter der zusätzlichen Arbeit, die ich verursachte. Sie öffnete Schränke, bat mich, beiseitezugehen. Ich stand auf einmal mitten in der Geschäftigkeit ihres Haushalts, ohne die geringste Rücksichtnahme, ohne die geringste Verlegenheit, als ob es der Gipfel gewesen wäre, mir die alltägliche Hässlichkeit zu ersparen, nach dem, was ich getan hatte.

Als wir uns zu Tisch setzen wollten, tauchte ihr Sohn auf. Ein großer junger Mann in Golferhose und kurzer Lederjacke mit Reißverschluss. Wie seine Einfachheit und seine Frische mich angenehm überraschten! Er war gesund, um ein Wort zu benutzen, das seine Mutter mit Vorliebe verwandte. Er beabsichtigte, auf eine Landwirtschaftsschule zu gehen. Er wunderte sich nicht einen Augenblick darüber, dass ich weder sein Vater noch sein Bruder, noch sein Onkel, noch sein Cousin war.

Germaine strich über seine Krawatte. Er hatte einen kräftigen Hals und breite Schultern. Seine Mutter schaute mich an. Sie schien mir sagen zu wollen, dass ihr Sohn sie zu verteidigen wüsste, wenn er es für notwendig hielt. Dieser wortlose Hinweis auf die physische Kraft ihres Sohnes war noch schäbiger als die so offenherzig vor mir ausgebreitete alltägliche Misere.

Widerwillig hatte ich meinen Mantel ausgezogen. War es in einem solchen Haus nicht vernünftiger, nichts aus dem Auge zu lassen, sich nicht zu setzen, seine Bewegungsfreiheit beizubehalten? Bezahlte ich meinen Verzehr nicht immer im Voraus, um nicht warten zu müssen, um nicht aufgehalten zu werden? Das Essen entsprach den Vorbereitungen. Germaine stellte die Kasserollen auf den Tisch, bat mich, sie weiterzureichen.

Was hatte ich hier bloß gesucht? Einen Brief, auf den ich mich hätte berufen können? Nein.

Ich schämte mich, Richard vor dem Datum, das er mir mitgeteilt hatte, aufzusuchen. Mein Entschluss war im Zorn getroffen worden. Jetzt war ich wieder Herr meiner selbst.

Ohne Zögern klingelte ich. Es gab keinen ernsthaften Grund, der mich von diesem Besuch hätte abhalten können.

Das Dienstmädchen ließ mich in den Vorraum. Würde Richard mich empfangen? Ich vernahm Türenschlagen, Hin-und-her-Gehen. Ich hatte geglaubt, dass ich nie wieder eine unüberlegte Tat beginge. War es denn keine unüberlegte Tat, die mich hierhergeführt hatte? Auf einmal spürte ich Schweißtropfen in meinen Achselhöhlen. Ich merkte, dass ich nicht ohne Grund da war, dass meine Befürchtungen nicht, wie ich im Innersten geglaubt hatte, übertrieben waren.

Nach einigen Minuten erschien wieder das Dienstmädchen. Sie bat mich, ihr zu folgen. Sie führte mich in den Salon. Richard erwartete mich dort. Kaum hatte er mich gesehen, kam er in großen Schritten auf mich zu.

»Wie kommt es, dass Sie mich heute besuchen?«

»Sie haben mich also nicht erwartet?«

Ich deutete Verblüffung an, hoffte, ihm etwas vormachen zu können. Mit naiven Ausrufen dieser Art hatte ich vielen Leuten gefallen. Ich hatte sie scheinbar absichtlich gemacht. Doch so war es keineswegs, denn heute, wo sie mir schadeten, kamen sie wieder über meine Lippen.

»Es stimmt, ich habe Sie nicht benachrichtigt, aber es ist so lange her, dass wir uns gesehen haben!«

»Finden Sie?«

»Ja.«

»Die Zeit kam Ihnen lang vor? Sie konnten nicht mehr ohne mich auskommen?«

»Ja.«

»Und Sie kommen mittags vorbei, zum Essen. Nun gut. Sie werden mit uns essen. Das wird hübsch werden.«

Er ging hinaus.

»Ich habe meine Frau unterrichtet. Sie freut sich sehr darüber, Sie zu sehen«, sagte er kurz darauf, als er wiederkam, um mich zu holen.

Wir saßen seit etwa zehn Minuten am Tisch, als Richard plötzlich aufstand und den Raum verließ.

»Nehmen Sie es ihm nicht übel«, wandte sich seine Frau an mich, »Richard ist zurzeit sehr nervös.«

»Was hat er?«

»Es ist nichts. Ich versichere Sie, es ist nichts.«

Doch als ich ihn zurückkommen sah, überfiel mich Angst. Der Blick, den er mir zuwarf, war von einer unbestimmten Intensität. Statt sie zu mildern, hatte die kurze Abwesenheit seine Unruhe noch gesteigert. Er war also nicht hinausgegangen, um sie zu verbergen. Diese schlichte Tatsache erschreckte mich. Er verharrte einen Moment lang, die Hände auf der Rückenlehne seines Stuhls, aber er setzte sich nicht, sondern umrundete den Tisch und blieb einen knappen Schritt neben mir stehen.

»Sie sind ein mieser Kerl«, sagte er und berührte dabei fast meinen Kopf mit seinem.

Ich regte mich nicht. Seine Frau hatte sich erhoben. Sie fasste ihn am Arm, zog ihn wieder auf seinen Platz.

»Nehmen Sie es ihm nicht übel«, wiederholte sie.

Mein Mund stand halb offen. Ich hatte mich nicht gerührt. Ich spürte, dass ich, solange ich meine krankhafte Starre beibehielt, nicht antworten musste, dass es mir zugestanden war, unter dem Schock der Beschimpfung zu verharren. Doch bald wurde mir bewusst, dass ich diese Haltung nicht auf Dauer einnehmen konnte. Ich musste reagieren. Aber wie? In meiner Unfähigkeit, ein Wort, eine Geste zu finden, fing ich an zu zittern. Schließlich schrie ich:

»Nein, nein, nein … ich werde das nicht hinnehmen … Das ist eine Schande! Sie müssen sich entschuldigen. Ich erwarte eine Entschuldigung.«

Jetzt war es Richard, der nicht reagierte. Er sah mich an, verstand anscheinend nicht den Grund meiner Erregung. Sein Gesicht ließ keinerlei Bedauern erkennen. Doch wenn er für längere Zeit den Blick senkte, spürte ich, dass er langsam seine innere Ruhe wiedergewann. Seine geballten Fäuste öffneten sich.

»Geht es dir besser?«, fragte ihn seine Frau.

Er nickte mehrmals.

»Du solltest dich ausruhen.«