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Über dieses Buch

Maurice Lesca wohnt mit seiner Schwester Emily in einer kleinen Wohnung an der Rue de Rivoli in Paris. Einst war er Arzt ohne Berufung, heute geht er keiner Beschäftigung mehr nach. Er ist arm und lebt von den gelegentlichen Zuwendungen einiger großzügiger Bekannter aus früheren Zeiten. Was hat es mit seiner jämmerlichen Untüchtigkeit und seiner unbeholfenen Art auf sich, die er im Umgang mit seiner Schwester etwa oder mit Madame Male, die er regelmäßig in ihrem Buchladen besucht, so meisterhaft einzusetzen versteht? Geld ist ihm gleichgültig. Behauptet er. Und doch spinnt sich das ganze Geschehen um eine Intrige – oder ist es doch keine Intrige? –, bei der Geld im Spiel ist. Was geht hier vor? Wer ist Maurice Lesca?

»Der Schriftsteller als Stoffsammler im eigenen Leben.« (Manuela Reichart in der Berliner Zeitung vom 9. Januar 1999)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Die Übersetzerin

Gabriela Zehnder, geboren 1955, ist freiberufliche literarische Übersetzerin aus dem Französischen und Italienischen und lebt in der italienischen Schweiz. Sie übersetzte Autoren wie Ignacio Ramonet, Jean-Luc Benoziglio, Muriel Barbery, René Laporte, Adrien Pasquali, Etienne Barilier, Giuliana Pelli Grandini, Corinna Bille u. a.

Ein Mann, der wusste

Roman

Aus dem Französischen
von Gabriela Zehnder

Edition diá

 

Es war zehn Uhr morgens. Maurice Lesca nahm die Tasche aus Wachstuch, faltete sie zusammen und klemmte sie unter den Arm. Er schloss die Tür der kleinen Küche. Lesca war ein Mann von siebenundfünfzig Jahren, dem seine große Statur und seine Kraft im Laufe des Lebens eher hinderlich denn dienlich gewesen waren. Er hatte ebenso viele weiße wie braune Haare. Je nach Licht traten die einen oder die andern stärker hervor und ließen ihn älter oder jünger erscheinen. Die Enttäuschungen einer bereits langen Existenz standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er trug einen altersschlappen Hut, den er nicht nur über die Augen, sondern auch über die Ohren und den Nacken gezogen hatte. Sein graugrüner Überzieher war weit. Auf der Straße erkannte man Maurice Lesca schon von weitem an der Art, wie er seine Hände in die senkrechten Tascheneingriffe grub und diese nach vorn zog, als verstecke er etwas, das zu voluminös wäre für eine Manteltasche. Damit man nicht merke, dass er weder Kragen noch Krawatte trug, hatte er einen Schal über der Brust gekreuzt. Seine Hose war zu lang und verdeckte die Absätze. Seine abgetragenen Schuhe besaßen keine deutliche Form mehr und waren nicht einmal genau gleich.

»Ich gehe einkaufen«, sagte er zu seiner Schwester, die seit sieben Monaten im anderen Zimmer der Wohnung logierte.

Er bekam keine Antwort. Er wunderte sich nicht weiter und ging hinaus. Er begann, die vier feuchten Etagen dieses Hauses an der Rue de Rivoli gegenüber dem Kaufhaus La Samaritaine hinunterzusteigen, wo er vor siebzehn Jahren eingezogen war. Über den Treppenabsatz des zweiten Stocks ging er auf Zehenspitzen. Dort winselte hinter einer Tür ein Hund, den man den ganzen Tag alleine ließ, sobald er Schritte hörte. Maurice Lesca konnte es nicht ertragen. Vor der Pförtnerloge hielt er einen Augenblick inne, um einen Blick auf die zwischen Scheibe und Vorhang der Tür geschobenen Briefe zu werfen. Trotz des Regens, eines unsichtbaren Nieselregens, war die Straße voller Menschen. Unter dem Portal blieb er unschlüssig stehen. Gewöhnlich schaute er, wie das Wetter war, bevor er ausging. Heute Morgen hatte er nicht daran gedacht. »Das kommt davon, wenn man immer ans Gleiche denkt.« Er ging rasch die Häuserzeile entlang bis zur Ecke einer engen Straße, wo sich ein kleines Café-Restaurant befand. Er trank etwas am Schanktisch, zündete sich eine Zigarette an, wechselte einige Worte mit dem Wirt und ging wieder hinaus. Kurz darauf stieß er die Tür zu einer Wäscherei auf und fragte, ohne einzutreten, ob seine Wäsche bereit sei. Als man bejahte, sagte er, er werde sie auf dem Rückweg abholen. Dann machte er ein paar Einkäufe für sein Mittagessen. In jedem Geschäft wartete er geduldig, bis er an der Reihe war. Erst wenn die Händlerin sich an ihn wandte, ließ er sich bedienen. Seit siebzehn Jahren verhielt er sich unter den Hausfrauen des Stadtviertels wie ein Neuankömmling, der nicht beschuldigt werden möchte, er wolle sich vordrängen. Im winzigen Laden einer Zeitungshändlerin weinte ein Kind. Man sah es in der stickigen kleinen Kammer, die der hintere Teil des Ladens bildete, inmitten von Papierfetzen auf dem Boden sitzen.

»Aber was ist denn, was ist denn?«, fragte Lesca, während er versuchte, das Kind mit Gesten abzulenken.

Das Kind hörte auf zu weinen. Seine Mutter nahm es auf den Arm.

»Gib dem Herrn Doktor die Hand.«

Lesca lächelte.

Fast sogleich verließ er den Laden. Der Anblick eingeschlossener Kinder tat ihm weh. Er stieg langsam die vier Stockwerke hoch. Auf jedem Treppenabsatz blieb er stehen, seines Herzens wegen. Endlich langte er bei seiner Wohnung an. Er ging in die Küche, um die Einkaufstasche abzustellen. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück und setzte sich in einen großen Ledersessel, ein altes Modell mit gedrechselten Beinen auf Rollen. Das ganze Mobiliar war wie dieser Sessel. Vor siebzehn Jahren war er während eines Spaziergangs zufällig auf einen kleinen Trödler gestoßen und hatte ihm gesagt: »Beschaffen Sie mir alles Notwendige, um zwei Zimmer zu möblieren.« Einige Tage später hatte ihm der Trödler gemeldet: »Ich habe, was Sie brauchen.« Lesca hatte sich nie selber bemühen wollen. »Ich bin sicher, es wird bestens passen. Lassen Sie alles zu mir bringen.«

Er hielt eine auseinandergefaltete Zeitung in der Hand. Er hatte weder Überzieher noch Hut abgelegt. Von Zeit zu Zeit schaute er nach draußen. Es schien ihm jedes Mal, der Regen habe nachgelassen, dann sah er ihn plötzlich dichter fallen als zuvor.

»Emily, ich bin zurück«, sagte er nach einer Weile zu seiner Schwester.

Niemand antwortete. Dabei stand die Tür zum andern Zimmer offen. Die Autobusse ließen die Scheiben erzittern. Die Wohnung war nicht gelüftet worden. Man lüftete sie nie. Die Luft, die zwischen den Fensterritzen durchdrang, genügte, um einem am Abend, wenn man nach Hause kam, ein Gefühl von Erneuerung zu geben. Lesca kniff die Nasenflügel zusammen und behielt dann die Finger unter der Nase. Er liebte den Geruch von Tabak, der sich mit dem Geruch der Haut vermischte. Unvermittelt stand er auf, zog seinen Überzieher aus und legte den Hut ab. Er hatte seine Morgentoilette noch nicht gemacht und fühlte sich hässlich und schmutzig. Er begann auf und ab zu gehen. Seit mehreren Monaten schon warf er keinen Blick mehr in das Zimmer, das seine Schwester jetzt bewohnte. Als er es leid war, ziellos umherzugehen, setzte er sich hinter einen Schreibtisch, der in einer Ecke des Zimmers stand. Wie pompös und armselig doch alles um ihn herum war, dieses Büfett aus massivem Eichenholz, diese Matratze in einer Ecke, die geschnitzte Bettstatt hinter einer Tür, der Esstisch mit den abgerundeten Ecken, und vor allem dieser Schreibtisch, mit seinen verstaubten Nippsachen und seiner grässlichen Schublade auf der Seite, die in mehrere Fächer aufgeteilt war für das Kleingeld, denn eigentlich war es eher ein Zahltisch als ein Schreibtisch! Minutenlang ruhte sein Blick auf dem monumentalen Tintenfass, der kupfernen Miniatur eines Brunnens von Dijon. Dann stand er auf und begann erneut auf und ab zu gehen.

»Emily.«

Er erhielt immer noch keine Antwort. Er setzte sich wieder in den Ledersessel. »Auch das«, murmelte er, »ist ein gutes Stück von einst.« Er zündete eine neue Zigarette an, ließ das Streichholz ganz herunterbrennen. Jedes Mal war eine Zigarette weniger im Päckchen. Aber man konnte schließlich nicht auf alles verzichten. Man konnte sich schließlich nicht jedes Mal, wenn man Lust hatte zu rauchen, sagen, dass man es eigentlich lassen sollte. Er schaute zum Fenster. Vielleicht regnete es nicht mehr. Auf jeden Fall sah man nichts, wegen des Beschlags auf den Scheiben. Es war nicht zu glauben! Da führte er also das Leben eines kleinen Ruheständlers, der selber für sein Mittagessen einkauft, der kocht, seine Wäsche wäscht, seine Knöpfe annäht. Ein kleiner Ruheständler! Nicht einmal das. Er hatte keine Pension mehr. Wer hätte sie ihm überweisen sollen? Er war nie in der Verwaltung gewesen. Er war nirgendwo gewesen. Er war auch kein kleiner Rentner. Er hatte keine Rente. Und doch glaubten alle, er sei ein kleiner Rentner. Wenn man da nicht wütend werden konnte. So ganz und gar wie etwas wirken und keinen der entsprechenden Vorteile genießen. Sechzehnhundert Franc pro Jahr! Die Miete betrug nur sechzehnhundert Franc, und nicht einmal die konnte er aufbringen. Bei jedem Fälligkeitstermin begann wieder die gleiche Geschichte. Er lehnte sich zurück. Seine Augen waren auf die Kranzleiste des Büfetts gerichtet. Der Blick weilte anderswo. Die bedeutenden Männer, die intelligenten Männer, jene mit Charakter vor allem, hatten allesamt Erfolg. Ach! Wäre er dem Weg gefolgt, der sich in seiner Jugend vor ihm aufgetan hatte, wäre er geduldig gewesen, hätte er sich damit begnügt, jedes Jahr ein bisschen reicher, ein bisschen angesehener zu werden als im Jahr zuvor – er wäre heute genauso glücklich wie der Professor. Er würde in einer schönen Wohnung leben. Man würde ihn bedienen. Er hätte eine elegante Frau, die in der Gesellschaft von ihm reden würde, usw. Das Unglück war nur, dass er all das lächerlich gefunden hatte. Er konnte sich also nicht beklagen. Und wenn er heute, anstatt eine ebenso wichtige Persönlichkeit wie der Professor zu sein, von ebendiesem Professor jeden Monat einige hundert Franc borgen musste (nicht ohne jedes Mal zu befürchten, es sei zu früh, er falle ihm auf die Nerven, er gehe zu weit), so war das nur natürlich. Und wenn es heute vorkam, dass ihn der Schwiegersohn jenes Professors empfing und er den zweiten Ehemann der Frau, die einst seine, Lescas, Gattin gewesen war, um die paar hundert Franc angehen musste, die er brauchte, so war das, so außergewöhnlich es scheinen mochte, ebenfalls ganz natürlich. Man begegnete im Leben noch weit außergewöhnlicheren Dingen.

Maurice Lesca richtete sich auf.

»Emily«, sagte er.

Sie antwortete nicht einmal. Hätte sie geantwortet, wenn seine Situation eine andere gewesen wäre? Man musste gerecht sein. Sie hätte vielleicht auch dann nicht geantwortet. Nein, er konnte sich nicht beklagen. Es war nur recht und billig, dass ein Mann, der Anerkennung sucht und dessen Gang, dessen Stimme und Gebärden von diesem Bestreben geprägt sind, gezwungen ist, demütigende Schritte zu unternehmen! Er war dafür geschaffen, Ratschläge zu erteilen, zu beschützen, und stattdessen musste er die Leute um Unterstützung bitten. Es gab keinen anderen Weg. Man musste leben. Manche bereuten aufrichtig, ihm nicht mehr geben zu können. Aber nicht alle waren so. Man musste alles ertragen. Man musste sich hinsetzen, warten, musste sich Ratschläge anhören – sie anhören, wo man doch selber so gerne welche gab. Man musste liebenswürdig sein, musste gegen den Wunsch ankämpfen zu sagen: »Geben Sie etwas, wenn Sie wollen, geben Sie nichts, wenn Sie nicht wollen.«

»Emily!«, rief er.

Sie gab keinerlei Lebenszeichen. Er erhob sich abrupt. Ein Mensch ist nie verloren, denn wie fortgeschritten sein Alter auch sein mag, wie angegriffen seine Gesundheit, er kann durchaus noch zahlreiche Jahre zu leben haben, und solange man lebt, ist alles möglich. Er ging in die Küche. Er zog sein Jackett aus und hängte es an den Türknauf. Er begann seine Toilette. Das Wasser spritzte im Spülstein. »Das ist das Unangenehme, wenn man sich in der Küche wäscht.« Reinlichkeit kümmerte ihn im Übrigen schon lange nicht mehr. Er gewöhnte sich an seine Kleider, sogar an seine Unterwäsche. Diese musste schon einen Geruch ausströmen, den nicht mehr nur er selber wahrnahm, bis er sich entschloss, sie zu wechseln. Das war dann jeweils ein Ereignis, und während der paar Sekunden, in denen er mit nacktem Oberkörper dastand, schien ihm, als sterbe er vor Kälte. An diesem Tag wechselte er seine Wäsche. Als er die Küche verließ, war er rasiert und hatte einen sauberen Kragen umgelegt. Er schaute auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf.

»Emily!«

Da er keine Antwort erhielt, kehrte er in die Küche zurück und briet sich zwei Eier. Als sie fertig waren, trug er sie ins Zimmer. Das Mittagessen trennte den Morgen nur dank einiger Vorstellungskraft vom Nachmittag, denn es dauerte fünf bis zehn Minuten. Dann setzte er sich in den Lehnsessel. Er gewahrte den Regen, der an den Scheiben hinunterrann. Er hatte die Vorhänge um die Fensterriegel geschlungen, um etwas mehr Licht hereinzulassen. Sein Blick war geradeaus gerichtet. »Und wenn man bedenkt, dass ein Tag dem andern gleicht, und dass ich hier bin, und dass es vielleicht zu spät ist, und dass ich vielleicht immer hier sein werde.«

Plötzlich erschien Emily. Sie trug ein Kleid, das sie aus einem alten Mantel aus verblichenem Tuch geschneidert hatte. Sie hatte sich große Mühe gegeben, an den Manschetten eine Reihe kleiner Troddeln anzunähen und die Knopflöcher zu umklöppeln. Das Dekolleté bildete einen spitzen Winkel, der sich, merkwürdig bei einer alten Frau, bis zwischen die Brüste hinunterzog. Eine mit farbigen Steinen besetzte Rosette aus schwarz angelaufenem Silber bildete den Abschluss. Emilys Haare, von der Farbe nasser Baumwollfäden, waren mit einem Stück Band am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, den sie dauernd mit den Fingern zu Locken drehte. Die geringste Unordnung der Frisur legte ganze Teile des Haarbodens frei, die nur mit einer Art Flaum bedeckt waren. Einige frühe Falten, die länger und tiefer geworden waren, verliehen dem Gesicht einen männlichen Ausdruck. Ihre blassblauen Augen waren kurzsichtig. Man spürte, dass sie das Verlangen hatte, sich ganz als Dame zu geben, dass sie, selbst in den alltäglichen Verrichtungen, nie etwas anderes sein wollte als eine Frau, die nur vorübergehend zu arbeiten gezwungen ist. Sie trug einen großen Ehering, und dieses Gold erschien inmitten der ganzen Misere völlig wertlos. Sie schaute ihren Bruder über den Rand des Zwickers hinaus an. Ihre Arme hingen an den Hüften entlang herab, nicht gerade unbeholfen, jedoch ohne Anmut, wie die Arme einer Frau, die die anderen Frauen beobachtet hat und ihnen gleichen möchte. Lesca hatte die Augen gesenkt. Er beobachtete seine Schwester verstohlen.

»Hast du mich vorhin nicht gehört?«, fragte er und musterte sie jetzt unverhohlen.

»Hätte ich dir antworten sollen?«

»Ach, es war nicht nötig«, sagte Lesca lächelnd. »Es war nicht nötig. Es war nicht unerlässlich. Aber es hätte mich gefreut.«

Sie zuckte die Schultern. Dann ging sie in die Küche.

Lesca folgte ihr.

»Wie geht es dir heute Morgen?«, fragte er.

Sie drehte sich abrupt um.

»Sehr gut«, sagte sie in aggressivem Ton.

»Das freut mich.«

Sie öffnete den kleinen Geschirrschrank aus weißgestrichenem Holz, schaute die paar Küchengeräte an, die sich darin befanden, nahm aber keines heraus. »Ich weiß nicht mehr, was ich wollte«, sagte sie.

»Das freut mich«, wiederholte Lesca. »Es freut mich, zu wissen, dass es dir gutgeht. Ich fürchtete …«

»Genug, Maurice«, sagte sie mit einer ungeduldigen Bewegung.

»Ich fürchtete, du seist krank. Du hast mir nicht geantwortet.«

»Was soll das heißen: Ich fürchtete, ich fürchtete … Du hast überhaupt nichts gefürchtet. Lass mich bitte in Ruhe.«

Lesca nahm einen zutiefst verwunderten Ausdruck an.

»Was hast du denn?«

Sie antwortete nicht. »Die Streichhölzer hab ich gesucht«, sagte sie. Sie zündete das Gas an. Ihr Bruder stand direkt neben ihr. Sie schien ihn vergessen zu haben.

»Du meinst also, dass deine Gesundheit …«, sagte er, ohne den Satz zu beenden.

Sie antwortete nicht.

»Ich hatte dir nämlich etwas sehr Wichtiges zu sagen«, fuhr er fort.

»Ah!«, sagte sie.

Er schlug die Augen nieder und beobachtete seine Schwester verstohlen, wie vorhin.

»Ich werde bald Geld haben«, sagte er, als sei diese Neuigkeit ohne Belang.

Emily ließ die Pfanne mit Milch, die sie aufgesetzt hatte, nicht aus den Augen.

»Hörst du mich?«, fragte er.

»Ja, ja.«

»Wundert dich das nicht?«

»Warum sollte es mich wundern?«

»Oh, Emily«, rief er aus, »wie gut du bist!«

Sie wandte kurz den Kopf nach ihrem Bruder um.

»Ich bitte dich, Maurice.«

»Ich werde reich sein, Emily«, fuhr Lesca fort. »Ich kann dir nicht genau sagen, wann, aber spätestens in ein oder zwei Monaten. Reich! Nun, ich übertreibe vielleicht ein bisschen.«

»Bestimmt!«, rief Emily aus.

»Man muss doch reden, nicht wahr?«

Emily bückte sich von Zeit zu Zeit, um zu sehen, ob das Gas noch brannte.

»Ja, du bist gut, Emily. Du hasst es, wenn ich dir Komplimente mache. Aber ich sage es dir trotzdem. Ich muss es dir sagen. Man hat mir immer vorgeworfen, keine Mittel zu haben, nicht wahr? Du antwortest mir nicht?«

»Was soll ich denn antworten?«

Sie begann zu lachen.

»Man kann mir nicht vertrauen, nicht wahr? Ich bin ein Mann, dessen Wort nichts gilt.«

Er näherte sich seiner Schwester.

»Ich teile dir heute eine wichtige Neuigkeit mit. Bald werde ich Geld haben, und mein Leben, hörst du, mein Leben wird sich ändern.«

Er unterbrach sich. Emily schien ihm nicht zuzuhören.

»Emily«, sagte er, »kannst du nicht aufpassen, wenn ich etwas sage?«

»Doch, doch.«

»Dann nimmst du mich also nicht ernst?«

»Oh doch!«

In einer theatralischen Geste streckte Lesca beide Hände aus.

»Danke, danke«, sagte er mit Grabesstimme.

»Mir scheint, für heute sei es genug«, sagte Emily.

»Glaubst du mir? Sag mir, dass du mir glaubst«, flehte Lesca demütig.

»Aber dir ist doch völlig einerlei, ob ich dir glaube oder nicht«, sagte sie unwirsch.

»Mir?«

Sie stellte das Gas ab und suchte im Geschirrschrank nach einer Schale.

»Du hast recht«, sagte er und nahm wieder einen natürlichen Tonfall an. »Aber man muss schließlich Leben in die Unterhaltung bringen.«

Emilys Gesicht verhärtete sich.

»Wie soll man sich denn für dich interessieren?«, sagte sie. Lesca nahm wieder den demütigen Ton von vorhin an.

»Wenn du wüsstest, wie wohl mir deine Worte getan haben!«

»Oh, genug!«

»Doch, ich möchte es dir nochmals sagen. Wenn du wüsstest, wie ich in manchen Momenten darunter leide, von niemandem ernst genommen zu werden, als Spaßvogel, als Lügner dazustehen.«

»Du spielst schon wieder Theater!«

»Es stimmt ja, es stimmt. Es ist nur Theater. Du hast recht.«

Er verstummte unvermittelt. Dann lächelte er. Er war jetzt ganz ruhig.

»Eigentlich ist es mir ganz egal«, sagte er, »ob man mich ernst nimmt oder nicht.«

Emily nahm ihre Milch und ging an ihrem Bruder vorbei, ohne ihn anzusehen. Er folgte ihr.

»Da siehst du’s! Du interpretierst immer falsch, was ich sage«, hob er wieder an.

»Wenn es dir doch egal ist!«

»Aber nein, Emily, es ist mir nicht egal. Verstehst du denn nicht?«

Er setzte sich seiner Schwester gegenüber.

»Verzeih mir, Emily. Ich weiß deine Güte nicht genug zu schätzen. Im Grunde bist du die einzige Person, die mir nicht böse ist.«

»Ich habe keinen Grund, dir böse zu sein.«

Lesca hob eine Hand.

»Glaube mir, ich werde es nicht vergessen. Der Tag, an dem ich Geld haben werde, ist nicht mehr fern. Vergiss nicht, was ich dir jetzt sage. Wenn es so weit ist, werde ich mich daran erinnern …«

»Oh, das ist eine andere Geschichte!«

»Lass mich ausreden. Ich werde mich daran erinnern, dass unser Leben …«

»Unser Leben!«, rief Emily ironisch.

Lesca schien zutiefst überrascht.

»Schockiert dich das?«

»Oh nein, mich schockiert nichts.«

Emily stand unvermittelt auf und kehrte in die Küche zurück.

»Emily!«, schrie Lesca.

Sie antwortete nicht.

»Willst du mir nicht mehr zuhören?«

»Nein.«

Er war einen Moment lang verdutzt.

»Welch ein Unglück!«, murmelte er.

In diesem Augenblick kam sie zurück. Sie war nicht vor ihm geflohen.

»Es interessiert dich also nicht, was ich dir sage?«, fragte er.

»Nicht im Geringsten.«

Er schwieg eine Weile. Dann erhob er sich, schritt eine Weile im Zimmer auf und ab. Schließlich setzte er sich in den Lehnsessel.

»Du hast recht, Emily. Es ist nicht sonderlich interessant.«

Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ein heftiger Regen hatte eingesetzt. Lesca hörte ihn gegen die Scheiben prasseln. Er hörte auch das Kommen und Gehen seiner Schwester, aber er dachte nicht mehr an sie. Er öffnete die Augen. Sie ging eben an ihm vorbei, um in ihr Zimmer zurückzukehren. Er sah sie nicht einmal. Er dachte: »Ich bin gefangen. Mein ganzes Leben lang bin ich gefangen gewesen. Ich glaubte, frei zu sein, aber ich war gefangen. Immer hat mich jemand oder etwas daran gehindert zu tun, was ich wollte. Am liebsten hätte ich eine Bombe. Es gibt Momente, in denen man Lust hat, alles in die Luft zu sprengen. Aber das müsste man erst noch können, alles in die Luft sprengen. Und selbst das kann man nicht. Ich kann nichts, nichts, gar nichts. Ich bin gebunden. Ich bin machtlos.«

Da er seit mehreren Monaten schlecht schlief, hatte es sich Lesca zur Gewohnheit gemacht, am frühen Nachmittag ein Nickerchen zu machen. Er streckte sich auf seinem Bett aus, deckte die Beine mit seinem Überzieher zu. Aber er mochte lange die Augen schließen, der Schlaf wollte nicht kommen. Er dachte an die kleinen Begebenheiten der letzten Wochen, doch er war in so düsterer Stimmung, dass er den Eindruck hatte, sie seien alle gegen ihn gerichtet. Er war gedankenlos gewesen. Die Leute hatten über ihn gelacht. Er hatte sich aufgeführt wie ein Kind. Er war sogar grotesk gewesen.

Um vier Uhr stand er auf und trat ans Fenster, um zu sehen, wie das Wetter war. Es regnete nicht mehr. Alles war triefend nass, aber es regnete nicht mehr. Er ging in die Küche, um sich das Gesicht zu erfrischen. Er bürstete seinen Überzieher aus. Dann verließ er die Wohnung. Der Wirt des kleinen Café-Restaurants stand unter der Tür seines Lokals. Lesca vergaß, ihn zu grüßen. Er merkte es nach wenigen Schritten. Eiligst kehrte er um, entschuldigte sich des Langen und Breiten und führte alle möglichen Gründe für sein Vergessen an. Er entfernte sich. »Schaue ich zurück, oder schaue ich nicht zurück?«, fragte er sich. Er ging die Rue de Rivoli entlang. Die vielen Leute auf dem Gehsteig zwangen ihn bisweilen, trotz der Autos auf die Straße auszuweichen. Wenn er dann und wann in der Menge eine Person erblickte, die ihm sympathisch war, bedachte er sie mit einem Blick von vieldeutiger Eindringlichkeit. Er war alt, er war krank, er war arm (zumindest dachte er das), er konnte für niemanden etwas tun, aber es war ihm wichtig, mit diesem Blick zu zeigen, dass er Sympathie empfand. Was konnte man übrigens schon von ihm erwarten? Doch da gab es, verloren in der Menge, jene ergebenen Seelen, die von denen, die Großes vollbringen wollen, gebraucht werden, und er wusste sie zu schätzen. Er überquerte die Seine. Es war wirklich ein außergewöhnlicher Spätnachmittag. Überall Wasser, und trotzdem der Frühling im blauen Himmel. Die Sonne war schon untergegangen. Sie hatte sich nicht zeigen wollen. Doch in ihrer Großzügigkeit ließ sie die Tore ihrer Gefilde für alle offen stehen. Lesca gelangte zur Place St. Michel. »Wenn ich nur alt, krank und arm wäre, weiter nichts!«, dachte er. »Aber es gibt Momente, da verliere ich jedes Vertrauen.« Er wartete nun nicht mehr auf ein sympathisches Gesicht. Ihm schien, der erste beste Passant verdiene, dass er Blickkontakt zu ihm aufnahm. Über den vom Wasser schwarz gefärbten Boulevard strich ein lauer Wind, der keinen Regen ankündigte, da dieser ja vorbei war. Lesca spürte ein immenses Bedürfnis nach Veränderung in sich aufsteigen. Er bog in die Rue des Écoles ein. In der Ferne wurde das Licht schwächer. Er dachte: »Einmal angenommen, meine Person erwecke jemandes Neugier, und dieser Jemand folge mir, er würde sich wohl fragen: ›Wohin geht dieser Mann?‹« Er drehte sich um. Niemand schien ihm zu folgen. Er murmelte lächelnd: »Dieser Mann! Dieser Mann!« Er wurde immer hellhörig, wenn man ihn einen Mann nannte. Und wenn er sich selbst einen Mann nannte, hatte er irgendwie das Gefühl, aufzuschneiden. Er dachte: »Dieser Mann scheint müde zu sein. Man sieht, dass er ganz in den erbärmlichen Sorgen des Lebens versinkt. Zum Glück ist er nicht allein! Man braucht sich nur umzuschauen. Es gibt Tausende wie ihn. Alle eilig bemüht, für die Zukunft vorzusorgen.« Erneut drehte er sich um. Er sah sich, immer der Gleiche, in allen Spiegeln, in jedem Schaufenster, in den verglasten Caféhausterrassen. Er war nach einem langen Tag, an dem er nichts getan hatte, eben aus seiner Wohnung gekommen. Er sah sich in seinen abgenutzten Kleidern, mit diesem Äußeren eines Mannes, der für niemanden von Interesse ist, und der dennoch zur Gesellschaft gehört. »Ich werde mit Madame Maze sprechen. Es gibt immerhin eines, das ich besitze, und das ist Erfahrung. Wenn ich schon nichts anderes habe, so habe ich wenigstens Erfahrung, eine schöne, eine große Erfahrung. Natürlich, Madame Maze wird mich vielleicht indiskret finden. Sie kann sich vielleicht sogar fragen, ob ich nicht Hintergedanken hege. Aber ich muss meine Pflicht erfüllen.«

Als er am Ende der langen Rue des Écoles ankam, fand er zu seiner Rechten eine ebenso lange Straße vor. In der Ferne wurde diese Straße noch dunkler als die Rue des Écoles. Sie stieg leicht an. Lesca blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, dann setzte er seinen Weg fort, doch viel langsamer jetzt. Bald würde die Nacht hereinbrechen. Zwar war der Himmel immer noch blau, doch die Straßen waren schon ins Halbdunkel der Sackgassen getaucht. Kurz darauf überquerte Lesca die Straße und blieb gegenüber einem kleinen Buchladen stehen, der auf der Straßenseite lag, die er eben verlassen hatte. Zwei, drei Minuten lang ließ er das Geschäft nicht aus den Augen, obwohl er jemanden zu erwarten schien und dauernd den Kopf umwandte. Schließlich überquerte er erneut die Straße. Die Türscheiben in der Schaufensterfront waren beschlagen, und das Licht, das aus dem hinteren Teil des Ladens sickerte, schien von weit her zu kommen und ließ sie wie Raureif glitzern. Nachdem er wieder eine ganze Weile lang so getan hatte, als warte er auf jemanden, ging er auf den Buchladen zu und legte sogar die Hand auf die Türklinke. Mehr wagte er jedoch nicht. Erst mehrere Minuten später entschloss er sich einzutreten.

Kurz vor dem Krieg war Lesca auf einem Spaziergang in diesen kleinen Laden eingetreten, wo man Bücher, Tinte, Hefte und eine ganze Reihe von Lederartikeln verkaufte, die alle vom gleichen Fabrikanten stammten. Er hatte ein Päckchen Briefpapier erstehen wollen. Beim Weggehen hatte er aufgeschaut. Dabei war er dem Blick der Geschäftsinhaberin begegnet. Unvermittelt hatte er das Gefühl gehabt, nicht mehr allein zu sein. Er hatte jedoch den Laden verlassen, als sei nichts geschehen. Im Weitergehen hatte er überlegt. »Ich verstehe jetzt, weshalb ich bei allem, was ich unternommen habe, gescheitert bin. Ich verstehe, weshalb ich arm bin, keine Freunde habe, keine Frau und keine Kinder. Was mir eben widerfahren ist, ist mir schon hundertmal widerfahren. Ich gefalle nur den Leuten, die leiden, nur jenen, die im Leben schon ausgeschieden sind, gefalle nur dort, wo mir nichts Erfreuliches widerfahren kann. Die Besitzerin dieses Ladens ist eine arme, alleinstehende Frau, die bestimmt einmal ganz gut gestellt war, es aber nicht mehr ist, eine Frau, die bittere Enttäuschungen erlebt hat – Enttäuschungen aller Art, finanzielle und sentimentale – und die Buchhändlerin geworden ist, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, weil die Kundschaft in dieser Sparte etwas erlesener ist, wie es scheint. Ein Blick hat genügt, damit sie mich als ihresgleichen erkannt hat: einen Mann, der eine gute Erziehung genossen hat, der ebenfalls Enttäuschungen erlebt hat, der über das Alter der Wutausbrüche und der Lügen hinaus ist.«